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Am nächsten Morgen wurde Johan Nagel durch Sara, die anklopfte und ihm seine Zeitungen brachte, geweckt. Flüchtig sah er die Zeitungen durch und warf sie eine nach der anderen auf den Boden. Ein Telegramm mit der Nachricht, daß Gladstone einer Erkältung wegen zwei Tage lang das Bett gehütet habe, nun aber wieder gesund sei, las er zweimal durch und brach darauf in Lachen aus. Dann legte er die Arme unter den Nacken und fiel in folgenden Gedankengang – alles, während er ab und zu laut mit sich selbst sprach:

Es ist gefährlich, mit einem offenen Federmesser durch den Wald zu gehen. Wie leicht kann man so ungeschickt stolpern, daß die Klinge über beiden Handgelenken zuschnappt. Wie erging es doch diesem Karlsen …? Es ist übrigens auch gefährlich, mit einem kleinen Medizinglas in der Westentasche herumzugehen. Man kann hinfallen, das Glas zerbricht, die Splitter dringen in das Fleisch ein, und das Gift geht ins Blut über. Kein Weg ist ohne Gefahr. Was dann? Aber auf dem Weg, den Gladstone geht, gibt es keinen Sturz. Ich sehe Gladstone mit haushälterischer Miene seines Weges gehen. Sehe, wie er jeden Fehltritt vermeidet, wie die Vorsehung und er im Verein zusammenhelfen, ihn zu beschirmen. Nun ist auch seine Erkältung vorbei. Gladstone wird leben, bis er an lauter Zufriedenheit stirbt.

Pastor Karlsen, warum wühltest du dein Gesicht in eine Wasserpfütze? Soll die Frage offen bleiben, ob das geschah, um deine Todesgrimassen zu verbergen, oder ob dich ein Krampf dazu zwang? Du wähltest übrigens deine Zeit wie ein nachtscheues Kind. Den hellen Tag, die Mittagsstunde. Und du lagst mit einem Lebewohl in der Hand da. Kleiner Karlsen, kleiner Karlsen!

Und warum suchtest du zu deinem kleinen brillanten Vorhaben den Wald auf? Kanntest du den Wald, hatte er dir mehr zu sagen als ein Acker, ein Weg oder ein See? Im Walde ging der Knabe jung, den ganzen langen Tag, la la la la. Da haben wir zum Beispiel die Vardalswälder, am Wege nach Gjövik. Dort zu liegen und zu träumen und sich zu vergessen, in die Luft zu starren, in den Himmel zu gucken, hehe, bis man beinahe hört, wie dort oben über einen gewispert und geflüstert wird: Der dort, meint Mama selig, nein, wenn der herkommt, dann gehe ich meines Weges, sagt sie und macht dies zu einer Kabinettsfrage. Hehe, antworte ich, und sage zu mir selbst: Pst, laß dich nicht stören, laß dich nicht stören! Und dies sage ich so laut, daß ich mir die allgemeine Aufmerksamkeit zweier Engelweibchen zuziehe, nämlich der ehrengeachteten Tochter des Jairus und der Svava Björnson. Hehehe. –

Zum Teufel, was liege ich hier, und worüber lache ich? Soll das etwa Überlegenheit sein? Nur Kinder sollten Erlaubnis haben zu lachen, und ganz junge Mädchen, sonst niemand. Das Lachen ist ein Rudiment aus der Affenzeit, ein widerlicher und schamloser Ton aus der falschen Kehle. Wenn man mich unter dem Kinn kitzelt, wird es irgendwo aus meinem Körper herausgetrieben. Was sagte doch der Schlächter Hauge einmal zu mir? Schlächter Hauge, der selbst ein lautes Lachen hatte und sich damit sehr bemerkbar machte? Er sagte, daß keiner, der seine vollen fünf …

Nein, welch reizende kleine Tochter er hatte! Damals, als ich sie auf der Straße traf, regnete es gerade; sie hatte das Geld für die Dampfküche verloren, trug einen Napf in der Hand und weinte. Mama selig, sahst du von deinem Himmel aus, daß ich keinen einzigen Schilling besaß, mit dem ich das Kind hätte trösten können? Und daß ich mir deshalb das Haar auf der Straße raufte? Da kam die Musik vorbei; die hübsche Diakonissin wandte sich um und warf mir einen glänzenden Blick zu; dann ging sie still nach Hause, gesenkten Hauptes, – vermutlich traurig über sich selbst wegen dieses glänzenden Blickes, den sie mir geschenkt hatte. Aber in demselben Augenblick riß mich ein langbärtiger Mann mit weichem Filzhut am Arm zurück, ich wäre sonst überfahren worden. Ja, weiß Gott, ich wäre …

Horch! eins … zwei … drei; wie langsam es schlägt! Vier … fünf … sechs … sieben … acht; ist es schon acht Uhr? Neun … zehn. Zehn Uhr ist es schon! Ja, da muß ich aufstehen. Wo schlug doch die Uhr? Im Café unten konnte es doch nicht sein? Na, es ist gleichgültig, gleichgültig, gleichgültig. Aber war das gestern im Café nicht ein ganz gelungener Auftritt? Minute bebte, ich kam zur rechten Zeit. Ganz bestimmt hätte es damit geendet, daß er das Bier mitsamt der Zigarrenasche und den Zündhölzern getrunken hätte. Was dann? Darf man dich naseweisen Grünspecht fragen: Was dann? Warum mischst du dich eigentlich in die Angelegenheiten anderer? Wozu bin ich überhaupt in diese Stadt gekommen? Geschah es wegen irgendeiner Katastrophe im Universum, zum Beispiel wegen Gladstones Erkältung? Hehehe, Gott helf dir, Kind! Wenn du ehrlich bist, mußt du sagen, was wahr ist: eigentlich warst du auf dem Heimweg, wurdest aber vom Anblick dieser Stadt – so klein und elend sie ist – plötzlich heftig gepackt und warst nahe daran, vor geheimnisvoller und unfaßbarer Freude zu weinen, als du alle diese Flaggen sahst. – Übrigens war es der zwölfte Juni, man flaggte für Fräulein Kiellands Verlobung, zwei Tage später traf ich sie selbst.

Warum mußte ich sie gerade an jenem Abend treffen, als ich in einer zerrissenen Stimmung war und nicht darauf achtete, was ich tat? Wenn ich an das Ganze denke, schäme ich mich wie ein Hund:

Guten Abend, mein Fräulein! Verzeihen Sie, ich bin fremd hier, ich machte einen Spaziergang und weiß nun nicht mehr, wo ich bin.

Minute hat recht, sie errötet sofort, und wenn sie antwortet, errötet sie noch mehr.

Ja, wo wollen Sie hin? sagt sie und mißt mich mit den Augen.

Ich nehme meine Mütze in die Hand und stehe barhäuptig da, und in dieser Stellung verharrend, fällt mir ein zu antworten:

Möchten Sie so freundlich sein und mir sagen, wie weit es bis zur Stadt ist. Die genaue Entfernung.

Das weiß ich nicht, erwidert sie; nicht von hier aus. Aber der erste Hof, an den Sie kommen, ist der Pfarrhof, und von dort ist es eine Viertelstunde bis zur Stadt. Damit will sie ohne weiteres gehen.

Ja, tausend Dank, sage ich, wenn aber der Pfarrhof auf der anderen Seite dieses Waldes liegt und Sie dorthin oder noch weiter wollen, so erlauben Sie mir, Sie zu begleiten. Die Sonne scheint nicht mehr, darf ich Ihren Sonnenschirm tragen? Ich werde Sie nicht belästigen, nicht einmal sprechen, falls es Ihnen so lieber ist. Wenn ich nur an Ihrer Seite gehen und dem Zwitschern der Vögel zuhören darf! Nein, gehen Sie nicht, nicht gleich! Warum laufen Sie davon?

Als sie aber trotzdem weiterlief und nicht auf mich hören wollte, sprang ich ihr nach, damit sie meine Entschuldigung hören konnte:

Der Teufel mag Ihr helles Angesicht holen, wenn es nicht den stärksten Eindruck gemacht hat!

Nun aber rannte sie so wild davon, daß sie mir in ein paar Minuten aus den Augen war. Den schweren blonden Zopf nahm sie beim Laufen einfach in die Hand. So etwas war mir auch noch nicht vorgekommen.

So trug es sich zu. Ich wollte sie nicht belästigen, hatte nichts Böses im Sinn; ich möchte wetten, daß sie ihren Leutnant gern hat, es konnte mir nicht einfallen, mich in dieser Beziehung ihr aufzudrängen. Aber es ist gut so, es ist alles gut; ihr Leutnant würde mich vielleicht fordern, hehe, er würde sich mit dem Bevollmächtigten, dem Bevollmächtigten der Hardesvogtei, zusammentun und mich fordern …

Übrigens möchte ich wissen, ob der Bevollmächtigte Minute einen neuen Rock geben wird. Wir können einen Tag warten, wir können vielleicht zwei Tage warten, hat er es dann aber immer noch nicht getan, so erinnere ich ihn daran. Punktum. Nagel.

Ich weiß hier eine arme Frau. Sie hat mich so schamhaft angesehen, als wollte sie mich um etwas bitten, hat es aber noch nicht gewagt. Von ihren Augen bin ich vollkommen besessen, obwohl ihr Haar weiß ist. Viermal habe ich einen Umweg eingeschlagen, um zu vermeiden, daß ich sie treffe. Sie ist nicht alt – nicht das Alter hat sie weiß gemacht. Ihre Augenbrauen sind noch erschreckend schwarz, grausam schwarz, die Augen darunter glimmen. Sie trägt beinahe stets einen Korb unter der Schürze und schämt sich dessen. Immer wenn sie an mir vorbeigekommen ist, drehe ich mich nach ihr um und sehe dann, daß sie auf den Markt geht und ein paar Eier aus dem Korb nimmt. Diese zwei, drei Eier verkauft sie an irgend jemand, worauf sie wieder mit ihrem Korb unter der Schürze heimgeht. Sie wohnt in einem winzigen Haus unten am Kai. Das Haus hat nur ein Erdgeschoß und ist nicht angestrichen. Ich habe sie einmal durch das Fenster gesehen. Es sind keine Vorhänge dort. Nur einige weiße Blumen sah ich. Sie selbst stand weit drinnen in der Stube und starrte zu mir her, als ich vorbeiging. Gott weiß, was das für eine Frau ist; ihre Hände sind ganz klein. Ich könnte dir vielleicht ein Almosen geben, weißes Mädchen, aber lieber würde ich dir auf andere Art helfen.

Übrigens weiß ich sehr wohl, warum deine Augen mich so fesseln, ich wußte es von Anfang an. Es ist seltsam, daß einem eine Jugendliebe so lange nachgehen kann und sich dann und wann immer wieder meldet. Und doch hast du ihr gesegnetes Antlitz nicht, weiße Frau, auch bist du viel älter als sie. Ach ja, aber sie verheiratete sich dann mit einem Telegraphenbeamten und zog nach Kabelvaag! Nun, soviel Köpfe, soviel Sinne; ich konnte nicht auf ihre Liebe warten und sollte sie auch nicht bekommen. Dabei war nichts zu machen … So, da schlägt es halb elf Uhr … Ist das möglich! Nun, daran ist nichts zu ändern. Aber wenn du nur wüßtest, wie innig ich zwölf Jahre lang an dich gedacht und dich niemals vergessen habe … Hehe, das ist ja aber auch mein eigener Fehler gewesen, sie konnte nichts dafür. Während andere ein Jahr lang daran denken und damit basta, gehe ich umher und denke zehn lange Jahre daran.

Ich helfe der weißen Eierfrau, sowohl durch ein Almosen wie auch auf andere Weise – um ihrer Augen willen! Geld gibt es in Fülle, ich brauche nur zuzugreifen, zweiundsechzigtausend Kronen für ein Landgut, bar in der Hand. Hoho, ich brauche nur einen Blick auf den Tisch zu werfen und sehe hier vor meinen Augen drei telegraphische Dokumente von größtem Wert … Es ist zum Lachen! Man ist Agronom und Kapitalist, man verkauft nicht ohne weiteres beim ersten Angebot, man schläft einmal darüber und bedenkt sich. Ja, man bedenkt sich. Und niemand stutzt, obwohl man mit Absicht den Witz so grob macht und das Ganze so dick wie nur möglich aufträgt. Mensch, dein Name ist Esel! Man kann dich an der Nase herumführen, wie es einem einfällt.

Dort aus meiner Westentasche zum Beispiel sieht ein kleiner Flaschenhals heraus. Medizin, Blausäure. Ich trage das Zeug der Kuriosität halber mit mir herum und habe nicht den Mut, davon Gebrauch zu machen. Wozu besitze ich nun diese Blausäure, und warum habe ich sie angeschafft? Humbug, auch dies, nur Humbug, moderner Dekadenzhumbug, Reklame und Aufschneiderei. Pfui …

Oder nehmen wir ein so unschuldiges Ding wie meine Rettungsmedaille. Ich habe sie, wie man zu sagen pflegt, ehrlich verdient, man pfuscht überall ein bißchen hinein, man rettet auch Menschen. Aber Gott weiß, ob das nun in Wirklichkeit ein Verdienst von mir war. Urteilen Sie selbst, meine Herren und Damen: Ein junger Mann steht am Geländer, er weint, seine Schultern zucken; als ich ihn anspreche, sieht er mich verstört an, und plötzlich eilt er in die Kajüte hinunter. Ich folge ihm, aber er ist bereits zu Bett gegangen. Ich lese die Liste der Fahrgäste durch, finde den Namen des Mannes und sehe, daß er nach Hamburg reist. Dies ist am ersten Abend. Von nun ab behalte ich ihn ständig im Auge, ich überrasche ihn an ungewöhnlichen Plätzen und blicke ihm ins Gesicht. Warum tue ich das? Meine Herren und Damen, urteilen Sie selbst! Ich sehe ihn weinen, etwas peinigt ihn fürchterlich, und oft sieht er irr und hingerissen in die Tiefe hinunter. Was geht das mich an? Doch wohl gar nichts, und deshalb urteilen Sie selbst, nehmen Sie sich kein Blatt vor den Mund! Ein paar Tage vergehen, wir haben Gegenwind und hohe See. Nachts um zwei Uhr geht der junge Mann nach achtern. Ich bin schon auf der Lauer und beobachte ihn, der Mond wirft einen gelben Schein auf sein Gesicht. Was jetzt? Er sieht sich nach allen Seiten um, streckt die Arme empor und springt über Bord, die Beine voraus. Einen Schrei jedoch kann er nicht mehr unterdrücken. Bereute er seinen Entschluß? Befiel ihn im letzten Augenblick Angst? Wenn nicht, warum schrie er dann? Meine Damen und Herren, was hätten Sie an meiner Stelle getan? Ich überlasse Ihnen die Entscheidung. Vielleicht würden Sie den ehrlichen, wenn auch ein wenig versagenden Mut eines Unglücklichen respektiert haben und still in Ihrem Versteck liegengeblieben sein. Ich dagegen brülle zum Kapitän auf der Brücke hinauf und springe über Bord, ich auch. Und vor lauter Eile springe ich sogar mit dem Kopf voran. Ich schlage um mich wie ein Rasender, suche nach allen Richtungen und höre, daß oben auf dem Schiff mit Donnerstimme Kommandoworte gerufen werden. Dann stoße ich plötzlich auf seinen einen Arm, er ist ausgestreckt und steif, die Finger sind gespreizt. Er stampft ein wenig mit den Beinen. Gut, ich nehme ihn beim Nacken, er wird schwerer und schwerer, legt sich auf die faule Seite und stampft auch nicht mehr. Schließlich macht er doch einen Ruck, sich zu befreien. Ich werde mit ihm herumgewirbelt, die See geht hoch und schlägt unsere Schädel zusammen, vor meinen Augen dunkelt es. Was sollte ich tun? Ich knirsche mit den Zähnen, fluche in wilden Tönen und halte den Burschen getreu und beharrlich die ganze lange Zeit am Nacken, bis das Boot endlich herankommt. Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Ich rettete ihn wie ein roher und rücksichtsloser Bär, und was weiter? Ja, habe ich es Ihnen nicht schon überlassen, selbst zu urteilen, meine Damen und Herren? Auf mich brauchen Sie durchaus keine Rücksicht zu nehmen. Aber denken Sie sich den Fall, sage ich, dem Mann wäre sehr viel daran gelegen gewesen, nicht in Hamburg zu landen. Da haben wir die Bescherung! Er sollte vielleicht jemand treffen, den er eben nicht treffen wollte. Die Medaille aber ist eine Medaille für verdienstvolle Taten. Und ich trage sie in meiner Tasche herum und werfe sie durchaus nicht vor die Schweine. Auch darüber müssen Sie urteilen, urteilen Sie nur, zum Henker, was bekümmert das mich? Das Ganze geht mich so wenig an, daß ich mich nicht einmal mehr an den Namen des unglücklichen Menschen erinnere, obwohl er ganz gewiß noch heute lebt. Weshalb tat er es? Vielleicht aus hoffnungsloser Liebe, vielleicht ist wirklich eine Frau mit im Spiel gewesen, was weiß ich, es ist ja auch gleichgültig. Basta! …

Ja, die Frauen, die Frauen! Da haben wir nun zum Beispiel Kamma, die kleine Dänin Kamma. Gott bewahre mich! Zärtlich wie eine kleine Taube, ganz krank vor Zärtlichkeit, und voller Hingabe, aber trotzdem imstande, einem den letzten Schilling herauszulocken, ja einen bis zur Armut auszusaugen, und dies nur, indem sie ihren Kopf listig auf die Seite legt und flüstert: Simonsen, bitte, Simonsen! Na, Gott mit dir, Kamma, du warst voller Hingabe, fahr nun zur Hölle, wir sind quitt …

Und jetzt stehe ich auf …

Nein, vor dieser Art muß man sich in acht nehmen. Mein Sohn, hüte dich vor Frauengunst, sagt ein großer Dichter, – oder was nun eben ein großer Dichter sagt. Karlsen war ein schwacher Mann, ein Idealist, der für seine starken Gefühle in den Tod ging, das heißt, für seine dünnen Nerven, was wiederum heißt, aus Mangel an kräftiger Kost und Arbeit im Freien … hehe, und Arbeit im Freien. »O wäre doch dein Stahl so scharf, wie es dein letztes Nein gewesen!« Er verdarb sich die ganze gute Nachrede mit dem Zitat eines Dichters. Angenommen, ich hätte Karlsen noch rechtzeitig getroffen, wenn auch am letzten Tag, so doch wenigstens eine halbe Stunde vor der Katastrophe, und er hätte mir da erzählt, daß er in seiner Todesstunde jemand zitieren wollte, hätte ich ihm ungefähr folgendes gesagt: Sehen Sie mich an, ich habe meine vollen fünf Sinne, ich bin im Namen der Menschheit daran interessiert, daß Sie Ihre letzte Stunde nicht mit dem Zitat irgendeines großen Dichters beschmutzen. Wissen Sie, was ein großer Dichter ist? Ein großer Dichter ist ein Mensch, der sich nicht schämt, der sich wirklich nicht schämt. Andere Narren haben Augenblicke, in denen sie im stillen Kämmerlein vor Scham über sich selbst erröten, der große Dichter aber nicht. Sehen Sie mir nun noch einmal in die Augen: Wollen Sie jemand zitieren, so zitieren Sie einen Geographen und stellen Sie sich nicht bloß. Victor Hugo – haben Sie Sinn für das Komische? Baron Lesdain sprach eines Tages mit Victor Hugo. Im Lauf des Gespräches fragte der hinterlistige Baron Lesdain: Wer ist Ihrer Meinung nach Frankreichs größter Dichter? – Victor Hugo schnitt ein Gesicht, biß sich in die Lippe und sagte endlich: Alfred de Musset ist der zweitgrößte! Hehehe. Aber Sie haben vielleicht keinen Sinn für das Komische? Wissen Sie, was Victor Hugo im Jahre 1870 tat? Er schrieb eine Proklamation an die Bewohner der Erde, worin er den deutschen Truppen auf das strengste verbot, Paris zu belagern und zu bombardieren. – Ich habe hier sowohl Enkel wie auch andere Familienmitglieder, ich wünsche nicht, daß diese von Granaten getroffen werden, sagte Victor Hugo.

Aber, was soll denn das, ich habe noch immer keine Stiefel! Wo bleibt denn Sara damit! Es ist bald elf Uhr, und sie hat sie noch immer nicht gebracht.

Also zitieren wir einen Geographen …

Diese Sara hat übrigens eine herrliche Figur. Wenn sie geht, beben die Hüften genau wie die Lenden einer zum Platzen fetten Stute. Das ist ganz großartig. Ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, ob sie in ihrem Leben schon einmal verheiratet gewesen ist. Auf jeden Fall kreischt sie nicht sehr, wenn man sie in die Seite pufft, und sie ist wohl zu allem möglichen aufgelegt. Ich habe einmal eine Ehe gesehen, sozusagen miterlebt! Hm. Meine Herren und Damen, das war an einem Sonntagabend auf einer Bahnstation in Schweden, auf der Station Kungsbacka. Darf ich Sie bitten, genau zu beachten, daß es an einem Sonntagabend war. Sie hatte große weiße Hände, er eine nagelneue Kadettenuniform und noch keinen Schnurrbart, so jung war er noch. Sie fuhren zusammen nach Göteborg, und jung war auch sie, sie waren alle beide reine Kinder. Ich beobachtete sie, hinter meiner Zeitung versteckt; sie waren vollkommen hilflos, weil ich dabeisaß. Die ganze Zeit sahen sie einander an. Das Mädchen hatte blanke Augen und konnte nicht still sitzen. Vor Kungsbacka pfiff der Zug. Er ergriff ihre Hand, sie verstanden einander, und sobald der Zug anhielt, sprangen sie beide eiligst hinaus. Nun läuft sie zu dem Häuschen »Für Frauen«, und er schreitet ihr nach, dicht hinterher, – bei Gott, er irrt sich, er geht zu den »Frauen« hinein, er auch! Und hastig schließen sie die Türe hinter sich. Im selben Augenblick beginnen die Kirchenglocken in der Stadt oben zu läuten, denn es war Sonntagabend. Unter vollem Glockengeläute waren sie da drinnen. Drei Minuten, vier Minuten, fünf Minuten vergehen. Wo bleiben sie? Die Glocken läuten immer noch, Gottvater mag wissen, ob sie nicht zu spät kommen! Da öffnet er endlich die Türe und schaut heraus. Er ist barhäuptig, sie steht dicht hinter ihm und setzt ihm die Mütze auf, er dreht sich zu ihr um und lächelt. Dann springt er über die Treppe hinunter, sie kommt nach, noch an ihren Kleidern nestelnd, und als sie den Zug erreichten und ihre Plätze einnahmen, hatte keine Seele sie beobachtet, nein, niemand außer mir. Die Augen des Mädchens waren ganz golden, sie sah mich an und lächelte. Aber ihre kleine Brust hüpfte hoch auf und nieder, auf und nieder. Einige Minuten später waren sie beide eingeschlafen. Sie starben weg, wo sie saßen, so herrlich müde waren sie.

Wie finden Sie dies, meine Herren und Damen? Meine Erzählung ist zu Ende. Ich übergehe die vortreffliche Dame dort, die mit dem Zwicker und dem steifen Herrenkragen, das heißt, die mit den blauen Strümpfen. Ich wende mich an jene zwei oder drei unter Ihnen, die ihre Tage nicht mit zusammengebissenen Zähnen und in gemeinnütziger Wirksamkeit verbringen. Entschuldigen Sie, wenn ich jemand verletzt habe, ich bitte ganz besonders die verehrte Dame mit dem Zwicker und den blauen Strümpfen um Vergebung. Sehen Sie, jetzt erhebt sie sich, sie erhebt sich. Bei Gott. Entweder geht sie nun ihres Weges oder sie will jemand zitieren. Und wenn sie jemand zitieren will, so will sie mich damit widerlegen. Aber wenn sie mich widerlegen will, wird sie ungefähr so sagen: Hm, wird sie sagen, dieser Herr hat die roheste Vorstellung vom Leben, die ich je angetroffen habe, und wie sie nur einem Mann möglich ist. Heißt das leben? Ich weiß nicht, ob diesem Herrn vollkommen unbekannt ist, was einer der größten Denker der Welt über das Leben gesagt hat: Leben – ein Krieg mit den Wichten in unserem Herzen und Hirn, sagt er …

Leben – ein Krieg mit den Wichten, ja. In unserem Herzen und Hirn. Das stimmt. Meine Herren und Damen, der Norweger Per Postillon fuhr eines Tages einen großen Dichter. Während sie nun fuhren, fragte der einfältige Per Postillon: Mit Verlaub, was ist das nun eigentlich, das Dichten, nach Ihrer Meinung? – Der große Dichter formt einen zusammengekniffenen Mund, strafft seine Vogelbrust zum äußersten auf und bringt folgende Worte hervor: Dichten – sich selber richten, mit unbefangener Stirn. – Worauf sich der Norweger Per Postillon in jeder Faser getroffen fühlt.

Elf Uhr. Die Stiefel, zum Teufel, wo bleiben die Stiefel? … Nun, wenn man aber alle und jeden angreifen wollte –

Eine hohe, bleiche Dame, schwarz gekleidet und mit dem rosigsten Lächeln, wollte mein Bestes und zog mich am Ärmel, um mir Einhalt zu tun. Bringen Sie selbst eine solche Bewegung zustande wie dieser Dichter, sagte sie, dann haben Sie wenigstens das Recht, mitzureden.

Hehe, antwortete ich. Ich, der ich nicht einmal einen Dichter kenne und niemals mit einem gesprochen habe; ich, der ich Agronom bin und von klein auf mein Leben mit Guano verbracht habe, ich, der nicht einmal einen Sonnenschirm andichten konnte, nicht zu reden vom Tod und vom Leben und dem ewigen Frieden!

Ja, ja, oder wie ein anderer großer Mann, sagt sie dann. Sie machen sich wichtig und reißen alle großen Männer herunter. Aber die großen Männer stehen immer noch und werden stehenbleiben, solange Sie leben, das werden Sie sehen.

Meine gnädige Frau, antwortete ich, und ich beugte ehrfürchtig meinen Kopf; meine gnädige Frau, du großer Gott, wie halbgebildet, wie entsetzlich halbgebildet klingt das, was Sie da sagen. Entschuldigen Sie übrigens, daß ich so frei herausrede; aber wären Sie ein Mann und keine Frau, so würde ich auf meine Seligkeit schwören, daß Sie zur Linken gehören. Ich reiße nicht alle großen Männer herunter, aber ich beurteile doch nicht die Größe eines Mannes nach dem Umfang der Bewegung, die er hervorruft, ich beurteile ihn aus mir selbst heraus, aus dem Ermessen meines kleinen Gehirns, aus meinem seelischen Schätzungsvermögen heraus. Ich beurteile ihn sozusagen nach dem Geschmack, der mir von seiner Wirksamkeit auf der Zunge bleibt. Das ist keine Wichtigtuerei, es ist ein Ausschlag der subjektiven Logik meines Blutes, es kommt nicht vor allem darauf an, eine Bewegung hervorzurufen, in der Gemeinde Höivaag bei Lillesand Kingo durch Landstad verdrängen zu lassen. Es handelt sich durchaus nicht darum, einen Aufruf unter einer Schar von Juristen, Lehrerinnen, Journalisten oder galiläischen Fischern zu machen oder eine Schrift über Napoleon le petit herauszugeben. Es kommt darauf an, auf die Macht einzuwirken und sie zu erziehen, auf die Auserwählten und Überlegenen, die Herrenmenschen, die Großen, Kaiphas, Pilatus und den Kaiser. Was hülfe es, auf das Pack Einfluß zu haben, wenn ich trotzdem dem Kreuze überantwortet würde? Man kann das Pack so zahlreich machen, daß es mit den Krallen ein Stück Herrentum an sich reißt; man kann ihm ein Schlächtermesser in die Hand geben und ihm gebieten zu stechen und zu morden, und man kann es wie die Esel vor sich hertreiben, um bei einer Abstimmung die Oberhand zu gewinnen. Aber den Sieg gewinnen, im geistigen Sinn gewinnen, die Welt um Fußbreite vorwärtsbringen, – nein, das kann das Pack nicht. Die großen Männer sind vortreffliche Konversationsthemen, aber der hohe Mann, die hohen Männer, die Herren, die Weltgeister zu Pferde, die müssen sich erst lang besinnen, bevor sie wissen, wer gemeint ist, wenn von den großen Leuten gesprochen wird. Da bleibt dann das große Mannsbild zurück und wird vom großen Haufen, der wertlosen Majorität, dem Juristen, der Lehrerin, dem Journalisten und dem Kaiser von Brasilien bewundert.

Nun, meinte die gnädige Frau ironisch … Der Vorstand klopft auf den Tisch und bittet um Ruhe, aber die Dame sagt beharrlich: Nun, da Sie aber nicht alle großen Männer angreifen, müßten Sie doch einige oder wenigstens einen nennen können, der auch vor Ihren Augen Gnade findet. Das zu hören wäre amüsant.

Da antworte ich:

Das könnte ich wohl. Jedoch, Sie würden mich zu brutal beim Wort nehmen. Wenn ich nun einen oder zwei oder zehn nennte, so würden Sie nur glauben, daß ich außer diesen keine andern mehr wüßte. Und im übrigen, wozu sollte das Ganze dienen? Ließe ich Ihnen zum Beispiel die Wahl zwischen Leo Tolstoi, Christus und Immanuel Kant, würden sogar Sie sich bedenken, ehe Sie den richtigen von diesen auswählten. Vielleicht sagten Sie, alle drei seien große Männer gewesen, jeder in einer Art, und darin wäre die ganze liberale und fortschrittliche Presse mit Ihnen einig …

Ja, wer ist nun also Ihrer Meinung nach der Größte von diesen? unterbricht sie mich.

Meiner Meinung nach, gnädige Frau, ist nicht der Größte, der den größten Umsatz erzielt, obwohl dies ja immer den meisten Lärm in der Welt machen wird. Nein, die Stimme meines Blutes sagt mir, daß der der größte ist, der dem Dasein am meisten Grundwert gegeben hat, den meisten positiven Vorteil. Der große Terrorist ist am größten, seine Dimension ist die unerhörte Hebelkraft, die Weltkörper zu heben vermag.

Aber von den drei genannten ist es doch wohl Christus, der …?

… ist es Christus, ja! beeile ich mich zu sagen. Da haben Sie ganz recht, gnädige Frau, und es freut mich, daß wir uns doch in diesem Punkt einig sind … Nein, überhaupt halte ich von der Gabe, Umsatz zu erzielen, von der Verkündergabe sehr wenig, von dieser rein formellen Begabung, immer das rechte Wort im Maul zu haben. Was ist ein Verkünder, ein berufsmäßiger Verkünder? Ein Mann, der den negativen Nutzen eines Zwischenhändlers hat, ein Agent in Waren. Und je mehr er in Waren macht, desto größere Weltberühmtheit erlangt er! Hehe, so ist es, je marktschreierischer er ist, desto mehr kann er sein Geschäft erweitern. Aber welchen Wert hat es, meinem guten Nachbar Ola Nordistuen Fausts Ansichten über das Dasein zu verkünden! Wird das vielleicht die Denkungsart des kommenden Jahrhunderts verändern?

Aber wie soll es denn Ola Nordistuen ergehen, wenn keiner …?

Ach, zum Teufel mit Ola Nordistuen! unterbrach ich sie. Ola Nordistuen hat in dieser Welt nichts anderes zu tun, als umherzugehen und auf sein seliges Ende zu warten, das heißt, je früher, je lieber sich zu drücken. Ola Nordistuen ist dazu da, die Erde zu düngen, er ist der Soldat, über den Napoleon mit beschlagenem Pferde hinwegreitet, das ist Ola Nordistuen – daß Sie es wissen! Ola Nordistuen ist, der Teufel hol mich, nicht einmal ein Anfang, von einem Ende gar nicht zu reden; er ist nicht einmal ein Komma in dem großen Buch, sondern nur ein Flecken im Papier. Das ist Ola Nordistuen …

Schweigen Sie! Um Gottes willen! sagt die Dame erschreckt und sieht zum Vormann hin, ob er mich nicht hinauswerfen lassen wird.

Gut! antworte ich, hehehe, gut, ich werde nichts mehr sagen. Gleichzeitig aber fällt mein Blick auf ihren schönen Mund, und ich füge hinzu:

Entschuldigen Sie, meine gnädige Frau, daß ich Sie mit solchem Unsinn und Geschwätz so lange aufgehalten habe. Dürfte ich Ihnen aber wenigstens für Ihre gute Absicht danken? Wenn Sie lächeln, ist Ihr Mund so wunderbar schön. Leben Sie wohl.

Nun aber errötet sie über das ganze Gesicht und lädt mich zu sich ein. Einfach heim in ihr Haus. Zu sich. Hehehe. Sie wohnt in der und der Straße, die und die Nummer. Sie möchte gerne noch ein wenig länger mit mir über dies alles sprechen, sie sei nicht einig mit mir und hätte vieles einzuwenden. Wenn ich morgen abend käme, würde sie ganz allein sein. Ob ich also morgen abend kommen wolle? Danke. Auf Wiedersehen also.

Und dann wollte sie doch nichts anderes von mir, als mir eine neue weiche Decke zeigen, ein nationales Muster, ein Gewebe aus dem Hallingtal.

Und draußen scheint die Sonne …

Er sprang aus dem Bett, zog die Vorhänge auf und sah hinaus. Die Sonne schien auf den Markt, es war schönes Wetter. Er klingelte. Er wollte Saras Nachlässigkeit mit den Schuhen benützen, ihr heute ein wenig näherzukommen. Wir wollen sehen, aus welchem Stoff dieses Drontheimer Mädchen mit den sinnlichen Augen gemacht ist. Es ist gewiß nur Humbug.

Er nahm sie einfach um den Leib.

So lassen Sie mich doch! sagte sie zornig und stieß ihn fort.

Da fragte er kalt:

Warum habe ich meine Stiefel nicht früher bekommen?

Ach ja, entschuldigen Sie nur, antwortete Sara. Wir haben heute Wäsche und so viel zu tun.

Bis zwölf Uhr hielt er sich daheim auf, dann ging er auf den Kirchhof zum Begräbnis von Karlsen. Wie gewöhnlich hatte er den gelben Anzug an.


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