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21

Nein, alles lief unglücklich ab. Ob er sich nun im Zimmer aufhielt oder sich in den Straßen umhertrieb, er fand keine Ruhe; tausend Dinge hatte er im Kopf, und jedes Ding brachte seinen besonderen Teil an Qual mit sich. Warum war doch alles gegen ihn? Er konnte es nicht begreifen; aber die Fäden zogen sich immer mehr um ihn zusammen. So weit war es sogar schon gekommen, daß er Minute wirklich nicht dazu hatte überreden können, einen kleinen Brief anzunehmen, den er ihm hatte geben wollen.

Alles war traurig und unmöglich. Dazu kam, daß er von einer nervösen Angst gequält wurde, als lauere eine heimliche Gefahr aus irgendeinem Hinterhalt auf ihn.

Oft fuhr er in dumpfem Schrecken zusammen, nur weil die Vorhänge an den Fenstern sich blähten. Welche neuen Plagen tauchten jetzt auf? Seine etwas harten Gesichtszüge, die nie schön gewesen waren, waren durch den dunklen Stoppelbart, der ihm auf Kinn und Wangen wuchs, noch weniger ansprechend geworden. Es kam ihm auch vor, als sei sein Haar an den Schläfen stärker ergraut.

Ja, was nun? Schien nicht die Sonne, und war er nicht glücklich darüber, daß er noch lebte und gehen konnte, wohin er wollte? War ihm irgendeine Herrlichkeit verwehrt? Die Sonne lag über dem Marktplatz und über dem See, die Vögel sangen in den kleinen niedlichen Gärten an jedem Haus und hüpften unablässig von Zweig zu Zweig. Überall floß Gold, der Kies in den Straßen badete sich darin, und oben auf der Turmspitze stand die versilberte Kugel und zitterte gegen den Himmel wie ein ungeheurer Diamant.

Er gerät in eine exaltierte Freude, in ein so starkes und unbändiges Entzücken, daß er sich stehenden Fußes aus dem Fenster beugt und den Kindern, die vor der Treppe des Hotels spielen, einiges Silbergeld hinunterwirft.

Seid nun artige Kinder! sagt er und kann vor Bewegung die Worte kaum hervorbringen. Wovor sollte er Angst haben? Er sah jetzt auch nicht schlechter aus als vorher; außerdem, wer konnte ihn hindern, sich zu rasieren und schön zu machen? Das stand nur bei ihm. Und er ging zum Friseur.

Auch einige Besorgungen, die er hatte machen wollen, fielen ihm ein; er durfte das Armband nicht vergessen, das er Sara versprochen hatte. Und summend und jubelnd erledigt er seine Einkäufe mit der sorglosen Zufriedenheit eines Kindes. Es war nur Einbildung, daß er sich vor etwas gefürchtet hatte.

Seine gute Stimmung hält an, und er fällt in freundliche Gedanken. Vor kurzem erst hatte er mit Minute eine scharfe Abrechnung gehabt, und das war in seinem Gedächtnis schon wieder halb ausgelöscht, er erinnerte sich des Ganzen nur noch wie eines Traumes. Minute hatte seinen Brief nicht annehmen wollen; aber hatte er nicht auch für Martha einen Brief? In dem Drang, anderen von seiner überströmenden Freude mitzuteilen, wollte er jetzt einen Ausweg finden, den Brief fortzubringen. Wie sollte er es anstellen? Er untersuchte seine Brieftasche und fand ihn. Er wagte wohl nicht, ihn in aller Heimlichkeit an Dagny zu senden. Nein, er wagte nicht, ihn an Dagny zu senden. Er dachte nach und wollte den Brief absolut sofort loswerden; den Brief, der nur ein paar Scheine, keine Zeile, nicht ein Wort enthielt. Vielleicht konnte er Doktor Stenersen bitten, ihn zu besorgen? Und zufrieden mit diesem Gedanken geht er zu Doktor Stenersen.

Es war sechs Uhr.

Er klopft an die Sprechzimmertüre des Doktors; sie war geschlossen. Während er durch den Hof geht und sich in der Küche erkundigen will, ruft ihm Frau Stenersen aus dem Garten zu. Dort sitzt die Familie an einem großen Steintisch und trinkt Kaffee. Es waren mehrere Leute da, ein paar Damen, ein paar Herren. Dagny Kielland war auch da; sie hatte einen weißen Hut auf, der Hut war ringsum mit kleinen hellen Blumen geschmückt.

Nagel wollte sich zurückziehen und stammelt:

Der Doktor, ich wollte den Doktor …

Mein Gott, ob er krank sei?

Nein, nein, er sei nicht krank.

Na, dann dürfe er nicht wieder gehen.

Und Frau Stenersen zog ihn am Arm. Dagny stand sogar auf und wollte ihm ihren Stuhl überlassen. Er sah sie an, beide sahen einander an. Sie war sogar um seinetwillen aufgestanden, mit leiser Stimme hatte sie gesagt: Bitte, hier ist ein Stuhl!

Er aber suchte sich neben dem Doktor einen Platz und setzte sich.

Dieser Empfang verwirrte ihn ein wenig. Dagny sah ihn sanft an und hatte ihm geradezu ihren Stuhl überlassen wollen. Sein Herz klopfte heftig; vielleicht konnte er ihr doch Marthas Brief geben?

Nach einer Weile kehrte auch seine Ruhe zurück. Man sprach so wunderbar lebhaft über alles mögliche; die helle Freude bemächtigte sich seiner wieder und ließ seine Stimme beben. Er lebte doch, er war nicht tot und sollte auch nicht sterben. Rings um einen Tisch mit weißer Decke und blankem Silberzeug saß in diesem grünen, dichtbelaubten Garten eine Gesellschaft froher Menschen, die lachten und die Augen spielen ließen; gab es denn einen Grund dafür, daß einem unheimlich zumute war?

Wenn Sie nun recht liebenswürdig wären, dann würden Sie Ihre Geige nehmen und uns vorspielen, sagte Frau Stenersen.

Nein, wie könne sie darauf verfallen!

Als auch die anderen ihn baten, lachte er laut und sagte:

Aber ich besitze ja nicht einmal eine Geige!

Sie wollten jedoch die Geige des Organisten holen lassen, das würde nur einen Augenblick dauern.

Nein, das helfe nichts, er rühre sie nicht an. Und außerdem sei die Geige des Organisten durch die kleinen Rubinen, die auf dem Griffbrett eingelegt waren, ganz verdorben, sie habe dadurch einen gläsernen Ton bekommen, die Steine hätten auf keinen Fall an dieser Seite angebracht werden dürfen, das sei nicht auszuhalten. Übrigens könne er den Bogen nicht mehr führen, ja eigentlich hätte er das auch niemals gekonnt; nicht wahr, das müßte er selbst doch wissen? … Jetzt aber erzählte er, wie es ihm bei dem ersten und einzigen Mal, an dem sein Spiel öffentlich besprochen worden war, ergangen sei; es lag beinahe ein Symbol darin. Er hatte die Zeitung am Abend bekommen und sie im Bett gelesen; er war damals sehr jung, wohnte daheim, und es war nur eine Lokalzeitung, die ihn besprochen hatte. Oh, wie glücklich war er über diese Zeitung gewesen! Er las sie viele Male und schlief ein, ohne das Licht auszulöschen. In der Nacht wachte er auf, noch todmüde, die Kerzen waren heruntergebrannt, und es war dunkel in seinem Zimmer; aber auf dem Boden sah er etwas Weißes schimmern, und da er wußte, daß in seinem Zimmer ein Spucknapf war, dachte er: Das ist doch der Spucknapf! Man möge ihm verzeihen, aber er habe gespuckt und gehört, daß er traf. Und da er beim erstenmal so ausgezeichnet traf, spuckte er noch einmal und traf wieder. Dann legte er sich wieder zum Schlafen zurück. Am Morgen aber sah er, daß er auf die kostbare Zeitung gespuckt, auf die sehr wohlwollende öffentliche Meinung gespuckt hatte. Hehe, das war sehr traurig!

Alle lachten darüber, und der Humor stieg. Frau Stenersen sagte jedoch:

Aber Sie sehen wirklich ein wenig bleicher aus als früher!

Ach, antwortete Nagel, das hat nichts zu bedeuten, es fehlt mir nichts. – Und er lachte laut darüber, daß bei ihm etwas nicht ganz in Ordnung sein solle.

Plötzlich steigt ihm eine Röte in die Wangen, er steht auf und sagt, es fehle ihm doch etwas. Er verstehe es nicht, aber es sei, als solle ihm etwas Unerwartetes begegnen, er habe ein wenig Angst. Hehe, hätte man so etwas gehört! Es sei lächerlich und habe nichts zu bedeuten; nicht wahr? Es sei ihm auch etwas begegnet.

Nun wurde er gebeten, zu erzählen.

Nein, warum das? Es sei ohne Bedeutung, sei närrisch, warum solle er die Zeit der Anwesenden damit in Anspruch nehmen? Es würde vielleicht auch langweilen.

Aber nein, durchaus nicht!

Ja, aber es sei eine so lange Geschichte. Es beginne in San Francisco und handle davon, wie er Opium geraucht habe …

Opium? Mein Gott, wie lustig!

Nein, gnädige Frau, es ist eher ein wenig peinlich, da ich nun hier am hellichten Tag umhergehe und Angst vor etwas habe. Sie dürfen nicht glauben, daß ich jeden Tag Opium rauche; ich habe nur zweimal geraucht, das zweite Mal war jedoch nicht interessant. Das erste Mal aber erlebte ich wirklich etwas Besonderes, das ist wahr. Ich war in ein sogenanntes Den geraten. Wie ich dort hingeraten bin? Ohne Überlegung! Ich treibe mich hier und da in den Straßen umher, sehe mir die Menschen an, wähle mir eine einzelne Person aus, die ich mit Abstand verfolge, und sehe, wo sie endlich verschwindet. Ich scheue mich nicht, in das Haus und die Treppe hinauf zu gehen, um nachzuforschen, wo sie hingegangen ist. In großen Städten ist das in den Nächten ungeheuer interessant und kann zu den merkwürdigsten Bekanntschaften führen. Na, davon sprechen wir nicht! Ich bin also in San Francisco und schlendere durch die Straßen. Es ist Nacht, vor mir geht eine hohe, magere Frau, die ich im Auge behalte; im Licht der Gaslaternen, an denen wir vorbeikommen, kann ich sehen, daß sie dünne Kleider anhat, um den Hals aber trägt sie ein Kreuz von grünen Steinen. Wo wollte sie hin? Sie geht durch mehrere Viertel, biegt um Straßenecken und geht und geht immerzu, und ich bin ihr beständig auf den Fersen. Endlich sind wir im Chinesenviertel, die Frau steigt in ein Kellerloch hinab, und ich folge ihr. Sie geht durch einen langen Gang, und ich folge ihr auch hier nach. Zur Rechten ist die Mauer, aber links sind Cafés, Rasierstuben und Wäschereien. Dann bleibt sie an einer Tür stehen, klopft an, ein Gesicht mit schiefen Augen schaut durch die Scheibe in der Tür, und sie wird eingelassen. Ich warte ein wenig und stehe ganz still, dann klopfe auch ich an, die Türe öffnet sich wieder, und auch ich werde eingelassen.

Der Raum war von dickem Rauch und lauten Stimmen erfüllt. Am Schenktisch steht die magere Frau und streitet sich mit einem Chinesen in blauem Hemd, das ihm über die Hose hängt. Ich trete ein wenig näher und höre, daß sie ihr Kreuz gegen etwas verpfänden will, daß sie aber das Kreuz nicht ausliefern, sondern es selbst aufbewahren will. Es war zwei Dollar wert, sie war auch von früher her etwas schuldig, so daß es alles in allem drei Dollar ausmachte. Gut, sie jammert ein wenig, weint auch und ringt die Hände, und ich fand sie sehr interessant. Auch der hemdärmelige Chinese war sehr interessant, er wollte das Geschäft nicht machen, wenn er das Kreuz nicht ausgeliefert bekäme; Geld oder Pfand!

Ich setze mich hin und warte ein wenig, sagt die Frau, und ich weiß, daß ich es schließlich doch tue, daß ich schließlich doch darauf eingehe. Aber ich sollte es nicht tun! – Und dann schluchzt sie und sieht dem Chinesen dabei ins Gesicht und ringt die Hände.

Was sollen Sie nicht tun? frage ich.

Aber sie hört, daß ich Ausländer bin, und antwortet mir nicht.

Sie war außerordentlich interessant, und ich beschloß, etwas zu unternehmen. Ich konnte ihr das Geld leihen, um zu sehen, wie es weitergehen würde. Ich tat es nur aus Neugierde und steckte ihr nachträglich noch einen Dollar zu, um zu sehen, wie sie auch diesen anwenden würde. Das mußte besonders spannend sein.

Sie starrt mich an und dankt mir, sagt nichts, sondern nickt wiederholt und sieht mich mit tränenfeuchten Augen an, und ich hatte es doch nur aus Neugierde getan. Gut, sie bezahlt am Schenktisch und verlangt sofort ein Zimmer. Sie hatte all ihr Geld hergegeben.

Sie geht, und ich folge ihr nach. Wir kommen wieder durch einen langen Gang, auf beiden Seiten sind numerierte Zimmer. Die Frau gleitet in eines dieser Zimmer hinein und schlägt die Türe zu. Ich warte eine Weile, sie kommt nicht zurück; ich rüttle ein wenig an der Türe, sie ist verschlossen.

Dann trete ich in das Nebenzimmer und warte. Dort ist ein roter Diwan und ein Läutwerk, das Zimmer wird von einer Lampe erleuchtet, die an der Wand befestigt ist. Ich lege mich auf den Diwan, die Zeit schleicht, und ich langweile mich. Um etwas zu tun, drücke ich auf den Knopf und läute. Ich will nichts, aber ich läute.

Ein Chinesenjunge kommt, sieht mich an und. verschwindet wieder. Einige Minuten vergehen. Komm, laß dich noch einmal anschauen! sage ich, um die Zeit zu vertreiben; warum kommst du nicht wieder? und ich läute noch einmal.

Da kommt der Knabe zurück, lautlos, wie ein Geist, auf Filzschuhen einhergleitend. Er sagt nichts, ich auch nicht; aber er reicht mir eine winzig kleine Porzellanpfeife mit einem langen, dünnen Rohr, und ich nehme sie. Dann reicht er mir Glut, und ich rauche. Ich hatte nicht um diese Pfeife gebeten, aber ich rauche. Bald darauf beginnt es vor meinen Ohren zu sausen …

Von da ab erinnere ich mich an nichts mehr, bis ich fühlte, daß ich irgendwo in der Höhe war. Ich beginne aufzusteigen, zu schweben; ich schwebe. Um mich her war es unsagbar hell, und die Wolken, denen ich begegnete, waren weiß. Wer war ich und wohin flog ich? Ich besinne mich, kann mich jedoch an nichts mehr erinnern, aber ich glitt wunderbar hoch hinauf. In der Ferne sah ich grüne Wiesen, blaue Seen, Täler und Berge in goldenem Glanz; ich hörte Musik von den Sternen, und der Raum um mich schaukelte von Melodien auf und nieder. Die weißen Wolken aber taten mir über alle Maßen gut, sie flossen durch mich durch, und ich hatte ein Gefühl, als sollte ich vor Herrlichkeit sterben. Dies währte und währte endlos, ich wußte von keiner Zeit und hatte vergessen, wer ich war. Dann flimmert eine irdische Erinnerung durch mein Herz, und plötzlich beginne ich zu sinken.

Ich sinke, sinke, das Licht nimmt ab, um mich her wird es dunkler und dunkler, ich sehe die Erde unter meinen Augen und finde mich wieder zurecht, Städte sind da, Wind und Rauch. Dann bleibe ich stehen. Ich blicke um mich, ringsum ist Meer. Ich fühle mich nicht mehr glücklich, stoße gegen Steine und friere. Unter meinen Füßen ist weißer Sandboden, und über mir sehe ich nichts als Wasser. Ich schwimme ein paar Meter weit, komme an vielen seltsamen Gewächsen vorbei, dicken, grünen Blattpflanzen, Meerblumen, die auf ihren Stengeln hin und her schwanken – eine stumme Welt, in der kein Laut zu hören ist, in der aber alles lebt und sich bewegt. Ich schwimme wieder weiter und komme an ein Korallenriff. Es waren keine Korallen mehr da, das Riff war geplündert worden, aber ich sagte mir: Hier ist schon früher jemand gewesen! Und ich fühlte mich nicht mehr so einsam, da früher schon jemand hier gewesen war. Wieder schwimme ich, ich will an Land kommen, aber diesmal mache ich nur ein paar Stöße, dann halte ich an. Ich halte an, weil vor mir auf dem Grund ein Mensch liegt. Es ist eine Frau, sie ist groß und hager und liegt mit zerrissenem Körper über einem Stein. Ich rühre sie an und sehe, daß ich sie kenne; aber sie ist tot, und ich verstehe nicht, daß sie tot ist, da ich sie doch an dem Kreuz mit dem grünen Stein erkenne. Es ist die gleiche Frau, der ich vor kurzem durch die langen Gänge nachgefolgt bin, bis zu den numerierten Zimmern. Ich will weiterschwimmen, aber ich halte an und lege sie zurecht; sie liegt über einen großen Stein gebreitet, und es machte einen unheimlichen Eindruck auf mich. Sie hat die Augen weit offen. Ich ziehe sie zu einem weißen Fleck hin, sie trägt noch das Kreuz um den Hals, und ich schiebe es ihr unter das Kleid, damit die Fische es nicht wegnehmen können. Dann schwimme ich fort …

Aber am Morgen erzählte man mir, daß die Frau während der Nacht gestorben sei. Sie war bei dem Chinesenviertel ins Meer gesprungen; man hatte sie gegen Morgen gefunden. Das ist sehr sonderbar, aber sie war tot. Vielleicht könnte ich sie wieder einmal treffen, wenn ich mich darum bemühe! dachte ich. Und ich rauchte noch einmal Opium, um ihr zu begegnen, aber ich traf sie nicht.

Wie merkwürdig war das! Später einmal aber geschah noch etwas. Ich war nach Europa zurückgekommen, war daheim. In einer warmen Nacht ging ich spazieren, kam an den Hafen, zu den Pumpwerken, wo ich mich eine Zeitlang aufhielt und den Gesprächen auf den Schiffen zuhörte. Alles war so ruhig, die Pumpen standen still. Schließlich wurde ich müde, wollte aber doch nicht heim, weil es so warm war. Ich stieg in das Gerüst einer der Pumpen und setzte mich dort hin. Aber die Nacht war so still und warm, ich konnte mich nicht wach halten und schlief fest ein.

Da erwache ich durch eine Stimme, die mich ruft, ich sehe hinunter: unten bei den Steinen steht eine Frau. Sie ist groß und hager; wenn das Gaslicht aufblafft, kann ich sehen, daß ihre Kleider sehr dünn sind.

Ich grüße.

Es regnet, sagt sie.

Gut, ich hatte nicht bemerkt, daß es regnete, aber es war doch am besten, unter Dach zu kommen. Und ich krieche von dem Gerüst herunter. In diesem Augenblick beginnen die Pumpen zu poltern, eine Schaufel schwingt durch die Luft und verschwindet, eine zweite Schaufel schwingt durch die Luft und verschwindet, die Pumpen gehen. Wäre ich aber nicht zur rechten Zeit weggekommen, würde ich zerrissen, vollkommen zerquetscht worden sein. Das begriff ich sofort.

Ich sehe um mich, es beginnt wirklich ein wenig zu regnen; die Frau ist im Begriff zu gehen, ich sehe sie vor mir und erkenne sie wohl, auch diesmal trug sie das Kreuz. Gleich von Anfang an hatte ich sie erkannt, aber ich tat, als wüßte ich nicht, wer sie sei. Jetzt wollte ich mich ihr wieder nähern, und ich folgte ihr, so rasch ich konnte, erreichte sie aber nicht. Sie trat nicht mit den Füßen auf, sie glitt dahin, ohne sich zu rühren, bog um eine Ecke und verschwand vor mir.

Das ist vier Jahre her.

Nagel schweigt. Der Doktor möchte offenbar am liebsten lachen, sagt aber doch, so ernst er kann:

Und seitdem sind Sie ihr nicht mehr begegnet?

Doch, dann sah ich sie heute wieder. Deswegen habe ich jetzt ab und zu ein Gefühl von Angst. Ich stand in meinem Zimmer am Fenster und sah auf die Straße hinaus, da kam sie gerade auf mich zu, quer über den Marktplatz, gleichsam von den Speichern und vom Hafen her, blieb vor meinen Fenstern stehen und sah herauf. Ich war nicht sicher, ob sie mich ansah, und ging an ein anderes Fenster; aber sie folgte mir mit den Augen und sah mich auch dort an. Ich grüßte zu ihr hinunter; als sie das aber sah, wandte sie sich rasch um und schwebte über den Marktplatz wieder zu den Speichern zurück. Dem Hund Jakobsen sträubten sich die Haare, und er sprang in weiten Sätzen aus dem Hotel und bellte. Das machte einigen Eindruck auf mich. Ich hatte sie in dieser langen Zeit beinahe vergessen, da kommt sie nun heute wieder. Vielleicht wollte sie mich vor etwas warnen.

Jetzt brach der Doktor in Lachen aus.

Ja, sagte er, sie wollte Sie warnen, zu uns zu gehen.

Nein, natürlich, diesmal hatte sie sich geirrt, es ist nichts zu befürchten. Das letztemal aber waren es ein paar Schaufeln, die mich zerrissen hätten. Und mir wurde ein wenig angst. Na, es bedeutet also nichts; nicht wahr? Hehe, es müßte sich auch gut ausnehmen, wenn man auf solche Weise allem möglichen ausgesetzt würde. Ich muß über das Ganze lachen.

Nervosität und Aberglaube! meinte der Doktor kurz.

Jetzt aber begannen auch die übrigen Geschichten zu erzählen, und die Uhr schlug eine Stunde nach der anderen, es ging auf den Abend zu. Nagel saß die ganze Zeit schweigsam da; er begann zu frieren. Schließlich stand er auf und wollte gehen. Er konnte Dagny doch wohl nicht mit dem Brief bemühen, darauf mußte er lieber verzichten; vielleicht würde er den Doktor morgen treffen und konnte ihm den Brief übergeben. Seine glückliche Stimmung war ganz verflogen.

Als er gerade im Begriff war zu gehen, stand zu seiner großen Verwunderung auch Dagny auf. Sie sagte:

Nein, ihr erzählt so viel Unheimliches, daß ich auch noch ganz ängstlich werde. Ich will jetzt sehen, daß ich heimkomme, bevor es dunkler wird.

Und sie verließen zusammen den Garten. Nagel wurde warm vor Freude; nun konnte er ihr doch den Brief geben! Niemals würde er dazu bessere Gelegenheit finden.

Wollten Sie nicht mit mir sprechen? rief ihm der Doktor nach.

Nein, eigentlich nicht, entgegnete er ein wenig verwirrt. Ich wollte Sie begrüßen und … Es war so lange Zeit her seit dem letzten Mal. Leben Sie wohl!

Sie waren beide unruhig, während sie durch die Straßen gingen, auch Dagny war unruhig. Sie begann vom Wetter zu sprechen; wie milde war es heute abend!

Ja, still und mild!

Auch er wußte nichts zu sagen, er ging und sah sie an. Sie hatte noch die gleichen Samtaugen und denselben hellen Zopf über den Rücken hinab; alle Gefühle seines Herzens erwachten von neuem, ihre Nähe berauschte ihn, und er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Jedesmal, wenn er sie wieder sah, war sie schöner und schöner, jedesmal! Er vergaß alles, vergaß ihren Hohn, vergaß, daß sie Martha vor ihm verborgen und daß sie ihn in unbarmherziger Weise mit einem Taschentuch in Versuchung geführt hatte. Er mußte sich abwenden, um nicht von neuem einem brennenden Ausbruch zu erliegen. Nein, jetzt mußte er sich aufrecht halten, er hatte sie vorher zweimal bis zum Äußersten gebracht; er war doch ein Mann! Und er hielt beinahe den Atem an, um sich hart zu machen.

Sie waren in die Hauptstraße gekommen; das Hotel lag zur Rechten. Sie sah aus, als wolle sie sprechen. Stillschweigend schritt er neben ihr her. Ob er wohl mit ihr durch den Wald gehen durfte? Plötzlich sah sie ihn an und sagte:

Ich danke Ihnen für Ihre Erzählung! Sind Sie jetzt ängstlich? Das dürfen Sie nicht sein!

Doch, sie war heute sanft und gut; er wollte sofort das Gespräch auf den Brief bringen.

Ich würde Sie gerne um einen Gefallen bitten, fing er an. Aber ich darf vielleicht nicht, Sie wollen mir jetzt wohl keinen Gefallen erweisen?

Doch, sogar gerne, erwiderte sie.

Sie wollte es gerne, sagte sie! Er fuhr mit der Hand in die Tasche, um den Brief herauszuholen.

Ich wollte Sie bitten, diesen Brief zu besorgen. Es ist nur eine Mitteilung, etwas … Nicht von Wichtigkeit, aber … Er ist an Fräulein Gude. Sie wissen vielleicht, wo Fräulein Gude sich aufhält? Sie ist verreist.

Dagny blieb stehen. Ein merkwürdig verschleierter Blick drang aus diesen blauen Augen, eine Zeitlang blieb sie vollkommen unbeweglich stehen.

An Fräulein Gude? sagte sie.

Ja. Wenn Sie so freundlich sein wollen? Es eilt ja nicht, er kann vielleicht auch liegenbleiben …

Doch, doch! sagte sie plötzlich, geben Sie ihn nur her, ich werde doch wohl einen Brief von Ihnen an Fräulein Gude besorgen. – Und als sie den Brief in die Tasche gesteckt hatte, nickte sie plötzlich und sagte:

Ja, ja, Dank für heute abend. Jetzt muß ich gehen.

Damit sah sie ihn wieder an und ging.

Er blieb zurück. Warum hatte sie so schnell abgebrochen? Und sie hatte ihn doch nicht böse angesehen, als sie ging, im Gegenteil. Und trotzdem war sie auf einmal gegangen! Jetzt bog sie in der Richtung zum Pfarrhof ab … jetzt war sie weg …

Als er sie nicht mehr sehen konnte, ging er ins Hotel. Sie hatte einen schneeweißen Hut aufgehabt. Und sie hatte ihn so merkwürdig angesehen …


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