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19

Und in der nächsten Nacht gegen zwölf Uhr verließ Nagel endlich das Hotel. Er hatte keine Vorbereitungen getroffen, hatte aber an seine Schwester geschrieben und für Martha Geld in einen Briefumschlag gelegt; im übrigen standen seine Koffer, sein Geigenkasten und der alte Stuhl, den er gekauft hatte, an ihrem Platz, und auf dem Tisch lagen ein paar Briefe umher. Seine Rechnung hatte er nicht bezahlt; das hatte er vollständig vergessen. Kurz bevor er von zu Hause fortging, bat er Sara, die Fenster zu putzen, bis er wieder zurückkäme, und Sara hatte es auch versprochen, obwohl es mitten in der Nacht war; er selbst wusch sich sorgfältig Gesicht und Hände und verließ dann das Zimmer.

Er war die ganze Zeit ruhig, fast schlapp. Herrgott, war es denn der Mühe wert, deshalb viel Wesens zu machen und großen Lärm zu schlagen? Ein Jahr früher oder später spielte keine Rolle, außerdem war dies doch ein Gedanke, mit dem er schon seit langer Zeit umging. Er war jetzt auch seiner Enttäuschungen, seiner vielen fehlgeschlagenen Hoffnungen, des Humbugs überall, dieses feinen, täglichen Betruges von Seiten aller Menschen durchaus müde. Noch einmal fiel ihm Minute ein, den er ebenfalls mit etwas Geld in einem Briefumschlag bedacht hatte, obwohl ihn sein Argwohn gegen diesen armen, gichtbrüchigen Zwerg niemals verließ. Er dachte an Frau Stenersen, die, krank und asthmatisch, ihren Mann vor dessen Augen betrog und sich niemals mit einer Miene verriet; an Kamma, diesen kleinen, geldgierigen Dummkopf, die ihre falschen Arme nach ihm ausstreckte, wohin er auch reiste, und ständig in seinen Taschen nach mehr, nach immer mehr suchte. Im Osten und im Westen, im Inland, im Ausland hatte er dieselben Menschen getroffen; alles war gemein und unecht und schandbar trostlos, vom Bettler, der eine gesunde Hand im Verband trug, bis zum blauen Himmel, der von Ozon überfloß. Und er selbst, war er selbst besser? Nein, nein, er war nicht besser! Aber jetzt war er ja auch am Ende.

Er nahm den Weg an den Speichern vorbei, um die Schiffe noch, einmal zu sehen, und als er über den letzten Kai ging, zog er plötzlich seinen eisernen Ring vom Finger und warf ihn ins Meer. Er beobachtete, wie er weit draußen niederfiel. Sieh, nun, im letzten Augenblick, machte man noch einen kleinen Versuch, sich vom Humbug zu befreien!

An Martha Gudes kleinem Haus blieb er stehen und sah zum letztenmal durch die Fenster. Alles war wie gewöhnlich, ruhig und still. Und niemand war zu sehen.

Leb wohl! sagte er.

Und er ging weiter.

Ohne es selbst zu wissen, lenkte er seine Schritte zum Pfarrhof hin. Erst als er bereits den Hofplatz wie eine Lichtung im Walde liegen sah, merkte er, wie weit er gekommen war. Er hielt an. Wo wollte er hin? Was wollte er auf diesem Wege? Einen letzten Blick auf die beiden Fenster im ersten Stock werfen, der eitlen Hoffnung nachgeben, ein Gesicht zu sehen, das sich niemals zeigte, niemals? – Nein, man ging nicht dorthin! Freilich, man war die ganze Zeit entschlossen, es zu tun; aber man tat es nicht! Er blieb noch eine Weile stehen und sah mit langen Blicken zum Pfarrhof hin, er schwankte, etwas in ihm bat …

Leb wohl! sagte er wieder.

Dann wandte er sich rasch um und schlug einen Seitenweg ein, der tiefer in den Wald führte.

Jetzt galt es, der Nase nach zu gehen und sich an dem ersten besten zufälligen Platz niederzulassen. Vor allem keine Berechnung. Keine Sentimentalität; worauf war doch Karlsen in seiner lächerlichen Verzweiflung verfallen! Als sei diese kleine Affäre so vieler Anstalten wert! … Er bemerkt, daß eines seiner Schuhbänder aufgegangen ist, und bleibt stehen, stellt den Fuß auf einen Erdhaufen und bindet es wieder. Kurz darauf setzt er sich hin.

Ohne darüber nachzudenken, ohne es zu wissen, hatte er sich hingesetzt. Er sah sich um: große Kiefern, überall große Kiefern, hie und da ein Wacholderbusch, Erde, Heidekraut. Gut, gut!

Dann zieht er seine Brieftasche hervor und legt die Briefe an Martha und Minute hinein. In einem besonderen Fach liegt Dagnys Taschentuch in Papier eingeschlagen, und er nimmt es heraus, küßt es viele Male, kniet nieder, küßt es wieder viele Male und reißt es dann langsam in kleine Fetzen. Das beschäftigt ihn eine lange Zeit, es wird ein Uhr, wird halb zwei, und immer noch reißt und reißt er das Tuch in diese winzig kleinen Fetzen. Endlich hat er das Taschentuch vollkommen unkenntlich gemacht, es sind fast nur noch Fäden übrig, er steht auf und legt alles unter einen Stein, versteckt es vollkommen, damit niemand es finden kann, und setzt sich wieder. Ja, das war wohl alles? Und er besinnt sich, aber es fällt ihm nichts mehr ein. Dann zieht er seine Uhr auf, wie er es jeden Abend zu tun pflegte, wenn er zu Bett ging.

Er späht umher; es ist ziemlich dunkel im Wald, er kann nichts Verdächtiges sehen. Er lauscht, hält den Atem an und lauscht, kein Ton ist zu hören, die Vögel sind stumm, die Nacht mild und tot. Und er greift in die Westentasche und holt die kleine Flasche heraus.

Die Flasche hat einen Glaspfropfen, über diesen ist mit einer blauen Apothekerschnur eine dreifache Papierhülle gebunden. Er löst die Schnur und nimmt den Pfropfen ab. Klar wie Wasser, mit einem schwachen Mandelgeruch! Er hält das Glas vor die Augen, es ist halb voll. Und im gleichen Augenblick hört er in weiter Ferne einen Laut, ein paar singende Schläge; es war die Kirchenuhr, die in der Stadt zwei Uhr schlug. Er flüstert: Die Stunde hat geschlagen! Und rasch hebt er das Glas zum Mund und leert es.

Im ersten Augenblick saß er noch aufrecht, mit geschlossenen Augen, das leere Glas in der einen und den Pfropfen in der anderen Hand. Das Ganze war so leicht gegangen, daß er es nicht richtig verfolgt hatte. Hinterher begannen die Gedanken ihm nach und nach zum Kopf zu strömen, er öffnete die Augen und sah sich erschreckt um. All das, diese Bäume, diesen Himmel, diese Erde, sollte er jetzt nie mehr sehen. Wie seltsam war das! Schon schlich das Gift in ihm um, zog sich durch seine Gewebe, brach sich einen blauen Weg bis zu seinen Adern; bald würde er in Krampf verfallen, bald steif daliegen.

Deutlich spürt er einen bitteren Geschmack im Mund und fühlt, wie seine Zunge sich mehr und mehr zusammenzieht. Dann fuchtelt er ziellos mit den Armen, um zu sehen, wie weit er schon tot ist; er beginnt, die Bäume zu zählen, kommt bis zehn und gibt es auf. Nein, sollte er wirklich sterben, jetzt, heute nacht, sterben? Nein, ach nein doch! Nein, nicht heute nacht? Wie merkwürdig war das!

Doch, er sollte sterben, er nahm ganz deutlich wahr, wie die Säure in seinen Eingeweiden ihre Wirkung tat. Nein – warum jetzt, warum sofort? Herrgott, es durfte nicht gerade jetzt geschehen! Mußte es denn sein? Wie dunkel es schon vor den Augen wurde! Wie es über dem Wald rauschte, obwohl kein Wind ging! Warum mußten nun auch rote Wolken über die Baumwipfel zu treiben beginnen? … Ach, nicht sofort, nicht sofort! Nein, hörst du, nein! Was soll ich tun? Will ich nicht? Himmlischer Gott, was soll ich tun?

Und plötzlich stürzen die Gedanken der ganzen Welt mit übermächtiger Gewalt auf ihn ein. Er war noch nicht bereit, noch tausend Dinge mußte er vorher tun; sein Gehirn leuchtet und flammt von all dem, was er hätte tun sollen. Er hatte seine Rechnung im Hotel noch nicht bezahlt, er hatte es vergessen, ja, bei Gott, es war ein Versehen, und er wollte es wiedergutmachen! Nein, für diese Nacht mußte er verschont bleiben, Gnade, Gnade, eine Stunde noch, ein wenig mehr als eine Stunde! Großer Gott, er hatte auch vergessen, noch einen Brief zu schreiben, eine, zwei Zeilen an einen Mann in Finnland, es handelte sich um die Schwester, ihr ganzes Eigentum! … So klar war sein Bewußtsein mitten in dieser Verzweiflung, und sein Gehirn arbeitete so wunderbar angespannt, daß er sich sogar mit den verschiedenen Abonnements der Zeitungen, die er sich hielt, beschäftigte. Nein, er hatte auch die Zeitungen nicht gekündigt, sie würden unablässig kommen, sie würden niemals aufhören, würden sein Zimmer vom Boden bis zur Decke füllen. Was sollte er tun? Und jetzt war er beinahe halbtot!

Mit beiden Händen reißt er Heidekraut aus, wirft sich auf den Bauch und versucht das Gift wieder herauszubekommen, steckt den Finger in den Hals, aber vergebens. Nein, er wollte nicht sterben, nicht heute nacht, auch morgen nicht, er wollte niemals sterben, er wollte leben, ja, wollte die Sonne noch eine Ewigkeit sehen. Und dieses bißchen Gift wollte er nicht bei sich behalten, heraus mußte es, bevor es ihn tötete, heraus, heraus, zum heißesten Satan, es mußte heraus!

Vor Schrecken wild springt er auf und beginnt im Wald herumzutaumeln und nach Wasser zu suchen. Und er ruft: Wasser! Wasser! daß weit weg ein Echo hallt. Mehrere Minuten lang rast er so umher, läuft nach allen Richtungen, prallt gegen Baumstämme, setzt mit weiten Sprüngen über Wacholderbüsche und stöhnt laut. Und er findet kein Wasser. Endlich stolpert er und fällt hin. Seine Hände reißen im Fallen die Heideerde auf, und an der einen Wange fühlt er einen schwachen Schmerz. Er versucht sich zu rühren, aufzustehen, der Sturz hatte ihn betäubt, er sinkt wieder zurück, wird immer matter und steht nicht mehr auf.

Ja, ja, in Gottes Namen, dann war also nicht mehr zu helfen! Herr, mein Gott, dann mußte er also doch sterben! Vielleicht wäre er gerettet gewesen, wenn er noch Kräfte genug gehabt hätte, irgendwo Wasser zu finden! Ach, wie schlecht endete es mit ihm, und wie gut hatte er es sich einmal gedacht. Jetzt sollte er vergiftet, unter freiem Himmel, zugrunde gehen! Aber warum war er nicht schon steif? Er konnte noch die Finger rühren, die Augenlider heben; wie lange es dauerte, wie lange es doch dauerte!

Er streicht sich über das Gesicht, es ist kalt und ganz naß von Schweiß. Er war nach vorne gefallen und lag mit dem Kopf nach abwärts. Er bleibt liegen und macht keine weiteren Umstände mit sich. Alle seine Glieder beben noch; er hat eine Wunde in der Backe und läßt sie ruhig bluten. Wie lange es dauerte, wie lange es doch dauerte! Und geduldig liegt er da und wartet. Wieder hört er die Kirchenuhr schlagen, sie schlägt drei Uhr. Er stutzt. War es möglich, daß er das Gift schon eine Stunde in sich getragen hatte, ohne zu sterben? Er stützt sich auf den Ellbogen und sieht auf die Uhr. Ja, es war drei Uhr; wie lange es doch dauerte.

Ja, in Gottes Namen, es war trotzdem am besten, er starb jetzt! Und als ihm plötzlich Dagny einfiel, der er jeden Sonntagmorgen vorsingen und der er so viel Gutes erweisen wollte, wurde er mit seinem Schicksal zufrieden und bekam Tränen in die Augen. Sentimental, unter Gebeten und stillem Weinen begann er in seinem Kopfe alles zusammenzusuchen, was er für Dagny tun wollte. Oh, wie wollte er sie vor allem Bösen beschützen! Vielleicht konnte er schon morgen zu ihr fliegen und ihr nahe sein, guter Gott, wenn er das schon morgen tun und sie richtig strahlend erwachen lassen könnte! Es war häßlich von ihm gewesen, daß er noch vor einem Augenblick nicht hatte sterben wollen, wenn er ihr doch Freude bereiten konnte. Ja, er bereute es nun und bat um Verzeihung; er wußte nicht, wo seine Gedanken gewesen waren. Jetzt aber konnte sie sich auf ihn verlassen, er sehnte sich danach, in ihr Zimmer zu schweben und vor ihrem Bett zu stehen. In einigen Stunden, vielleicht in einer Stunde war er dort, ja, dann war er dort. Und wenn er selbst nicht hinkommen könnte, würde er ganz sicher einen Engel Gottes bitten, es an seiner Stelle zu tun; er würde ihm etwas sehr Schönes dafür versprechen und sagen: Ich bin nicht weiß, du aber kannst es tun, du bist weiß, und dafür kannst du dann mit mir machen was du willst. Du siehst mich an, weil ich schwarz bin? Gewiß bin ich schwarz, deshalb brauchst du mich nicht anzustarren. Aber ich will gerne noch lange, lange Zeit schwarz bleiben, wenn du mir dafür die Gnade erweisen willst, um die ich dich bitte. Ich will auch gerne noch eine Million Jahre schwarz bleiben und viel schwärzer als jetzt, wenn du es verlangst, und für jeden Sonntag, an dem du ihr singst, können wir noch eine Million Jahre zulegen, wenn du es so haben willst. Ich lüge nicht, ich will dir alles dafür anbieten, was ich nur kann, und mich nicht schonen, höre mich nur! Du sollst nicht allein fliegen, ich werde dabei sein, ich will dich tragen und für uns beide fliegen, mit Freuden werde ich das tun und dich nicht beschmutzen, wenn ich auch schwarz bin. Ich will alles auf mich nehmen und du sollst die ganze Zeit ausruhen. Gott weiß, ob ich dir nicht auch etwas schenken werde, falls ich etwas besitzen sollte. Vielleicht könntest du es brauchen; ich will immer daran denken, wenn mir etwa jemand etwas geben würde. Vielleicht habe ich Glück und kann viel für dich verdienen, das kann man nicht wissen …

Doch, er würde ganz gewiß einen Engel Gottes dazu bringen können, ihm diesen Gefallen zu erweisen, dessen war er sicher …

Und wieder schlägt die Uhr. Halb abwesend zählt er vier Schläge und denkt nicht mehr darüber nach. Es galt, geduldig zu sein. Dann faltete er die Hände und bat, schnell sterben zu dürfen, in einigen Minuten, dann konnte er vielleicht noch zu Dagny kommen, ehe sie erwachte. Er wollte dankbar alles und alle dafür preisen; es war eine große Gnade, und er habe jetzt nur noch diesen einzigen, innigen Wunsch …

Er schloß die Augen und schlief ein.

 

Drei Stunden lang schlief er. Als er erwachte, schien die Sonne auf ihn nieder, und durch den ganzen Wald scholl ein lautes, brausendes Vogelgezwitscher. Rasch stand er auf und sah um sich; er erinnerte sich sofort an alles, was in der Nacht geschehen war. Die Flasche lag noch neben ihm, und er erinnerte sich auch noch, wie innig er zum Schluß Gott gebeten hatte, recht bald sterben zu dürfen. Und er lebte noch! Wiederum hatte irgendein unerwarteter und übler Umstand seinen Weg gekreuzt! Er begriff nichts, dachte vergebens über alles nach und fühlte nur, daß er immer noch nicht tot war!

Er stand auf, nahm die Flasche an sich und machte einige Schritte. Nein, wie sich ihm doch immer wieder und bei allem Hindernisse entgegenstellten, so ehrlich er es auch meinte! Was war mit dem Gift los? Es war echte Blausäure, ein Arzt hatte es für hinreichend erklärt, ja für mehr als genug. Er hatte auch den Hund des Pfarrers mit einer ganz kleinen Probe mausetot gemacht. Und es war das gleiche Glas, es war halb voll gewesen, er wußte noch, daß er dies mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, bevor er es leerte. Er hatte das Fläschchen auch niemals aus der Hand gegeben, er trug es immer in der Westentasche. Was waren das doch für heimtückische Mächte, die ihn überall verfolgten?

Wie ein Blitz durchfährt es ihn, daß das Glas doch schon in fremden Händen gewesen war. Er bleibt stehen und knipst unwillkürlich mit den Fingern. Ja, ein Irrtum war nicht möglich. Minute hatte es eine ganze Nacht bei sich gehabt. An dem Junggesellenabend im Hotel seinerzeit hatte er Minute seine Weste geschenkt; das Fläschchen, die Uhr und einige Papiere waren in den Taschen geblieben. Minute hatte die Sachen früh am nächsten Morgen zurückgegeben. Oh, dieser alte, närrische Krüppel, da hatte er sich wieder mit seiner durchtriebenen Gutmütigkeit eingemischt! Welch eine Pfiffigkeit, welch ein ausgeklügelter Streich!

Verbittert biß Nagel die Zähne zusammen. Was hatte er in jener Nacht in seinem Zimmer gesagt? Hatte er nicht ausdrücklich erklärt, daß er nicht den Mut habe, das Gift zu nehmen? Und da hatte nun eine heuchlerische und grundverdorbene Mißgestalt von einem Mannsbild neben ihm auf einem Stuhl gesessen und hatte insgeheim nicht an seine Worte geglaubt! Der Lump, der Maulwurf! Er war sofort heimgegangen, hatte das Glas ausgeleert, es vielleicht sogar gut gespült, gereinigt und darauf halb mit Wasser gefüllt. Und nach dieser schönen Tat war er zu Bett gegangen und hatte ruhig geschlafen!

Nagel ging in der Richtung der Stadt. Er war ziemlich ausgeruht und dachte bitter und klar über die Dinge nach. Das Ereignis der Nacht hatte ihn gedemütigt und ihn in seinen eigenen Augen lächerlich gemacht. Zu denken, daß dieses Wasser sogar nach Mandeln gerochen hatte! Er hatte gemerkt, wie sich seine Zunge von diesem Wasser zusammenzog, hatte durch dieses Wasser das Gefühl des Todes in sich gespürt! Und er hatte gewütet und war um dieses Schluckes ganz gewöhnlichen Tauf- und Brunnenwassers willen himmelhoch über Stock und Stein gesprungen! Zornig und schamrot blieb er stehen und schrie gerade hinaus; aber bald sah er sich um, besorgt, jemand könnte es gehört haben, und begann zu singen, um es zu verbergen.

Und je weiter er ging, desto milder wurde er gestimmt von diesem warmen, strahlenden Morgen und dem ununterbrochenen Vogelgesang in der Luft. Ein Karren kommt ihm entgegen, der Bursche grüßt und Nagel grüßt; ein Hund, der nachläuft, wedelt vor ihm und sieht zu ihm auf … Aber warum war es ihm nicht geglückt, heute nacht ehrlich und redlich zu sterben? Er war immer noch darüber traurig. Mit dem angenehmen Gefühl, am Ende zu sein, hatte er sich zur Ruhe gelegt, eine sanfte Freude war über ihn gekommen, bis er die Augen geschlossen hatte und eingeschlafen war. Jetzt war Dagny aufgestanden, vielleicht war sie schon ausgegangen, und er hatte sie auf keine Weise erfreuen können. Wie schmählich fühlte er sich betrogen! Minute hatte eine neue gute Tat zu den vielen anderen gefügt, von denen sein Herz voll war, hatte ihm einen Dienst erwiesen, ihm das Leben gerettet – genau den gleichen Dienst erwiesen, den er selbst einmal einem fremden, einem unglücklichen Mann erwiesen hatte, der Hamburg nicht hatte erreichen wollen. Bei dieser Gelegenheit hatte er sich seine Rettungsmedaille verdient, hehe, seine Rettungsmedaille verdient! Ja, man rettet die Menschen, man bedenkt sich mitunter nicht, gute Werke zu tun, rasch und entschlossen geht man hin und rettet die Leute vom Tode!

Förmlich beschämt vor sich selbst, schlich er sich im Hotel in sein Zimmer und setzte sich hin. Es war sauber und gemütlich hier, die Fenster waren geputzt und auch frische Vorhänge waren aufgemacht. Auf dem Tisch stand ein Strauß Feldblumen im Glase. Noch nie vorher hatte er Blumen im Zimmer gehabt, diese Überraschung versetzte ihn in Erstaunen und Freude, und er rieb sich die Hände. Welch ein Zufall gerade an diesem Tag! Welch ein liebenswürdiger Einfall eines armen Zimmermädchens! Ein guter Mensch, diese Sara! Ja, es war wirklich ein hinreißend schöner Morgen. Sogar alle die Gesichter auf dem Marktplatz unten sahen froh aus. Der Gipsfigurenhändler saß an seinem Tisch und rauchte behaglich aus seiner Tonpfeife, obwohl er nicht für einen Ör verkaufte. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, daß die wilden Pläne von heute nacht gescheitert waren! Mit Grauen dachte er an den Schrecken, den er durchlebt hatte, als er nach Wasser umhergelaufen war; es schüttelte ihn noch, wenn er daran dachte. Und in diesem freundlichen, hellen, durchsonnten Zimmer, auf seinem sicheren Stuhl sitzend, hatte er in diesem Augenblick das herrliche Gefühl, von allem Bösen erlöst zu sein. Aber zum siebenten- und letztenmal gab es doch noch ein gutes und unfehlbares Mittel, das er nicht versucht hatte! Das erstemal konnte es ein wenig mißglücken, man starb nicht, man erhob sich wieder; aber da gab es nun zum Beispiel einen kleinen, sicheren, sechsläufigen Revolver, den man jederzeit in der ersten besten Waffenhandlung bekommen konnte. Aufgeschoben war nicht aufgehoben …

Sara klopfte an. Sie hatte ihn kommen hören und wollte Bescheid geben, daß das Frühstück fertig sei. Als sie wieder gehen wollte, rief er sie zurück und fragte, ob die Blumen von ihr seien.

Ja, die seien von ihr, oh, nichts zu danken.

Er nahm sie trotzdem bei der Hand.

Lächelnd fragte sie: Wo waren Sie heute die ganze Nacht? Sie sind ja überhaupt nicht daheim gewesen!

Hören Sie, antwortete er, das mit den Blumen ist geradezu ein hübscher Zug von Ihnen; Sie haben heute nacht auch die Fenster geputzt und frische Vorhänge aufgemacht. Ich kann nicht sagen, wie Sie mich damit erfreut haben, ich wünsche Ihnen dafür alles Gute. – Und plötzlich kommt ihm einer dieser ganz tollen Augenblicke, in denen er nur Stimmung ist, unberechenbarer Einfall, und er sagt: Hören Sie, ich hatte einen Pelz dabei, als ich hierherkam. Gott weiß, wo er jetzt hingekommen ist, aber ich hatte wirklich einen Pelz dabei, und den will ich Ihnen schenken. Doch, doch, ich tue das aus Dankbarkeit, das ist bereits fest beschlossen, der Pelz gehört Ihnen.

Sara brach in ein helles, herzhaftes Lachen aus. Was sollte sie mit einem Pelz tun?

Nein, da habe sie allerdings recht; aber das sei ihre Sache. Sie solle ihn nur annehmen, ihm die Freude machen, ihn anzunehmen … Und ihr frisches Gelächter ließ ihn mitlachen. Er scherzte: Gott, was für schöne Schultern sie habe! Aber sie dürfe ihm glauben, er habe einmal ein wenig mehr von ihr gesehen, als sie selbst wisse. Ja, das sei im Speisesaal gewesen, sie habe auf einem Tisch gestanden und die Zimmerdecke gereinigt, er sah sie durch den Türspalt; ihr Kleid war hoch aufgeschürzt, er habe einen Fuß, ein Stück Wade gesehen, doch, er habe wirklich eine halbe Elle ganz wunderbarer Wade gesehen. Hehehe. Aber wie dem auch sei, er wolle ihr bis heute abend, bis in ein paar Stunden, ein Armband schenken; sie dürfe ihm glauben. Und außerdem solle sie sich merken, daß der Pelz ihr gehöre …

Der närrische Mensch, war er denn ganz verrückt geworden? Sara lachte, begann aber doch vor seinen vielen seltsamen Einfällen ein wenig Angst zu bekommen. Vorgestern hatte er einer Frau, die ihm seine Wäsche brachte, viel mehr Geld gegeben, als sie haben sollte; heute wollte er seinen Pelz wegschenken. Man sprach auch in der Stadt allerhand über ihn.


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