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10

Samstag abend trat Minute in Nagels Zimmer. Er hatte seinen neuen Rock an und strahlte vor Freude.

Ich traf den Bevollmächtigten, und er verzog keine Miene, berichtete er, sondern er fragte mich sogar, von wem ich den Rock bekommen habe. So schlau stellte er mich auf die Probe.

Was antworteten Sie da?

Ich lachte dazu und antwortete, ich würde es nicht sagen, keinem Menschen, er müsse mir verzeihen, – und verabschiedete mich … Ja, ich werde ihm schon antworten … Sehen Sie, es ist jetzt wohl dreizehn Jahre her, daß ich einen neuen Rock angehabt habe; ich habe nachgerechnet … Ich muß Ihnen für das Geld danken, das Sie mir letzthin gegeben haben. Es war viel zuviel Geld für einen verkrüppelten Menschen, was soll ich damit anfangen? Sie verwöhnen mich mit all Ihren Wohltaten so, daß es bei mir schon spukt; es ist, als sei alles in mir losgelöst und könne sich nicht mehr beruhigen. Hahahaha. Gott helfe mir, aber ich bin ein Kind. Ja, ich wußte schon, daß ich den Rock einmal bekommen würde; sagte ich es nicht? Es dauert oft einige Zeit, aber ich warte niemals vergebens. Leutnant Hansen versprach mir einmal zwei wollene Hemden, die er nicht mehr brauchte. Das ist jetzt zwei Jahre her, aber ich bin so sicher, sie zu bekommen, als hätte ich sie bereits an. So ist es immer, die Leute erinnern sich später daran, und wenn die Zeit kommt, geben sie mir, was ich brauche. Aber finden Sie nicht, daß ich in ordentlichen Kleidern wie ein neuer Mensch aussehe?

Es ist lange her, daß Sie hier waren.

Ja, das kommt daher, daß ich auf den Rock wartete und nicht mehr in dem alten zu Ihnen kommen wollte. Ich habe meine Eigenheiten, es kränkt mich, mit einem zerrissenen Rock unter Menschen zu gehen. Gott weiß warum, aber es ist, als sänke ich tief in meiner eigenen Achtung. Entschuldigen Sie, daß ich vor Ihnen von meiner Selbstachtung spreche, als sei diese besonders groß. Das ist sie nicht, sie ist so klein wie nur möglich, versichere ich Ihnen; trotzdem aber fühle ich sie hie und da.

Wollen Sie Wein haben? Nicht. Aber eine Zigarre rauchen Sie doch?

Nagel läutete und ließ Wein und Zigarren bringen. Er selbst trank sogleich tüchtig, Minute jedoch rauchte nur und sah zu. Er sprach in einem fort und schien nicht aufhören zu wollen.

Hören Sie, sagte Nagel plötzlich, mit Hemden steht es bei Ihnen wohl ein wenig schlecht? Verzeihen Sie meine Frage.

Minute antwortete eifrig:

Deswegen erwähnte ich die beiden Hemden nicht. So wahr ich hier sitze, deswegen nicht.

Nein, gewiß! Warum schreien Sie so? Lassen Sie mich sehen, was Sie eigentlich unter dem Rock tragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.

Gerne, ja gerne, gerne! Sehen Sie hier, auf dieser Seite. Und die andere Seite ist nicht schlechter …

Doch, halt, die ist schon etwas schlechter, wie ich sehe.

Aber kann man etwas Besseres erwarten? ruft Minute. Nein, ich brauche jetzt keine Hemden, sicher nicht. Ich möchte sogar behaupten, ein Hemd wie dieses ist zu gut für mich. Wissen Sie, von wem ich es bekommen habe? Von Doktor Stenersen, ja, von Doktor Stenersen selbst. Und ich glaube nicht, daß seine Frau etwas davon weiß, obwohl auch sie die Gebefreudigkeit selbst ist. Ich bekam es sogar zu Weihnachten.

Zu Weihnachten?

Sie finden, das sei eine lange Zeit? Ich zerreiße so ein Hemd doch nicht wie ein Tier, ich lege es doch nicht darauf an, Löcher hinein zu machen. Ich ziehe es auch nachts immer aus und schlafe nackt, um es nicht unnötig abzunützen, wenn ich nur so daliege und schlafe. Auf diese Weise hält es viel länger. Und ich kann mich frei unter den Leuten bewegen, ohne mich schämen zu müssen, weil ich kein anständiges Hemd habe. Und jetzt bei den lebenden Bildern kommt es mir sehr zustatten, daß ich noch ein Hemd habe, in dem ich mich sehen lassen kann. Fräulein Dagny hält immer noch daran fest, daß ich auftreten soll. Ich traf sie gestern bei der Kirche. Sie sprach auch von Ihnen …

Ich werde Ihnen auch eine Hose verschaffen. Es muß sich lohnen, Sie öffentlich auftreten zu sehen. Wenn der Bevollmächtigte Ihnen einen Rock gibt, will ich Ihnen eine Hose geben, das ist nicht mehr als recht und billig. Aber ich tue das nur unter der gewohnten Bedingung, daß Sie Ihren Mund halten.

Gewiß, gewiß.

Sie sollten ein wenig trinken. Nein, nein, halten Sie es, wie Sie wollen. Ich will heute abend trinken, ich bin nervös und ein wenig traurig. Wollen Sie mir eine zudringliche Frage gestatten? Ist es Ihnen bekannt, daß Sie unter den Leuten einen Spitznamen haben? Man nennt Sie Minute, wissen Sie das?

Freilich weiß ich das. Es fiel mir im Anfang schwer, und ich bat Gott, mir doch zu helfen. Einen ganzen Sonntag ging ich im Wald herum und kniete unablässig auf den drei verschiedenen Stellen nieder, die trocken waren – es war im Frühling, zur Zeit der Schneeschmelze. Aber das ist jetzt lange her, viele Jahre, und keiner ruft mich jetzt anders als Minute, und das ist ja auch nicht so schlimm. Warum wollen Sie gerne wissen, ob mir das bekannt ist? Und was könnte ich schließlich auch dagegen tun?

Wissen Sie auch, wie Sie zu diesem blöden Namen gekommen sind?

Ja, das weiß ich. Das heißt: es ist jetzt lange her, das war noch ehe ich ein Krüppel wurde, aber ich erinnere mich noch gut daran. Es war an einem Abend, oder richtiger in einer Nacht, auf einem Junggesellengelage. Sie haben vielleicht das gelbe Haus unten beim Zollamt gesehen, auf der rechten Seite, wenn man hinuntergeht? Ja, das war damals weiß gestrichen, der Stadtvogt wohnte dort. Der Stadtvogt hieß Sörensen, war Junggeselle und ein lustiger Bruder. Es war eine Frühlingsnacht, ich kam vom Kai, wo ich auf und ab gegangen war und mir die Fahrzeuge angesehen hatte. Als ich an das gelbe Haus komme, höre ich, daß Gäste drinnen sind, denn ein gewaltiger Lärm und das Gelächter von vielen Stimmen dringen heraus. Gerade als ich an den Fenstern vorbeikomme, erblickt man mich und klopft an die Scheiben. Ich gehe hinein und befinde mich Doktor Kolbye, Kapitän William Prante, dem Zollaufseher Folkedahl und noch vielen anderen gegenüber; ja, sie sind jetzt alle tot oder weggezogen, aber im ganzen waren es sieben oder acht und ein jeder sternhagelvoll. Aus reinem Jux hatten sie alle Stühle zerschlagen, denn so wollte es der Stadtvogt haben, hatten auch alle Gläser zerbrochen, und wir mußten aus den Flaschen trinken. Als aber ich auch noch dazukam und auch sternhagelvoll wurde, da fand der Lärm kein Ende mehr. Die Herren zogen sich aus und sprangen vollkommen nackt in den Zimmern umher, obwohl wir die Vorhänge nicht heruntergelassen hatten, und als ich nicht mittun wollte, nahmen sie mich mit Gewalt und zogen mich aus. Ich schlug die ganze Zeit um mich und wehrte mich, so gut ich konnte; ich wußte mir nicht anders zu helfen, ich bat sie um Verzeihung, nahm sie bei der Hand und bat sie um Verzeihung …

Wofür baten Sie um Verzeihung?

Für den Fall, daß ich vielleicht etwas gesagt haben sollte, was ihnen Anlaß geben konnte, auf mich loszugehen. Ich nahm sie bei der Hand und bat sie um Verzeihung, um zu verhindern, daß sie mir noch mehr antäten. Aber das nützte nichts, sie zogen mich gründlich aus. Der Doktor fand auch einen Brief in meiner Tasche, und diesen Brief las er den anderen vor. Da aber wurde ich wieder ein wenig nüchtern, denn der Brief war von meiner Mutter und an mich geschrieben worden, als ich zur See gegangen war. Kurz und gut: Ich nannte den Doktor ein Faß. Denn er war dafür bekannt, daß er viel trank. Ein Faß sind Sie! sagte ich. Darüber wurde er furchtbar wild und wollte mich beim Hals packen, aber die andern hielten ihn davon ab. Wir wollen ihn lieber ganz besoffen machen! sagte der Stadtvogt, als wäre ich nicht schon genügend betrunken gewesen. Und sie schütteten immer mehr in mich hinein. Später kamen dann zwei der Herren, ich weiß heute nicht mehr, wer es war, mit einem Kübel Wasser herein; sie stellten den Kübel mitten auf den Boden und sagten, ich solle getauft werden. Ja, alle wollten, daß ich getauft werde, und erhoben ob dieses Einfalles ein gewaltiges Geschrei. Und sie mischten verschiedene Dinge in das Wasser, um es schmutzig zu machen, spuckten hinein und schütteten Branntwein hinein und holten sogar draußen im Schlafzimmer das Schlimmste, was sie finden konnten, und gossen es ins Wasser, und in das Ganze streuten sie zwei Schaufeln Asche aus dem Ofen, um es noch ein wenig trüber für mich zu machen. Dann sollte ich getauft werden. Wollen Sie denn nicht lieber einen von den anderen taufen? fragte ich den Stadtvogt und umklammerte seine Knie. Wir sind schon getauft, erwiderte er, auf die gleiche Art getauft. Und das glaubte ich ihm auch, denn es war bekannt, daß alle seine Freunde auf diese Weise getauft werden mußten. Komm, ich will dich vor mein Angesicht gelangen lassen! sagte der Stadtvogt gleich darauf zu mir. Aber gutwillig ging ich nicht darauf ein, ich blieb stehen und hielt mich an der Türklinke fest. Komm zur Stunde, dann wirst du zum Minute kommen, ja, er sagte nicht zur Minute, sondern zum Minute, denn er war aus dem Gudbrandstal. Aber nein, ich kam nicht. Da brüllte Kapitän Prante: Der Minute, der Minute, das ist das Wort! Er muß der Minute getauft werden, der Minute! Und alle waren einig, daß ich der Minute getauft werden müsse, weil ich so klein war. Jetzt aber faßten zwei mich an und schleppten mich vor den Stadtvogt und stellten mich vor sein Angesicht, und da ich so unbedeutend von Wuchs war, hob mich der Stadtvogt ganz allein auf und tauchte mich in den Bottich. Er tauchte meinen Kopf ganz unter und rieb meine Nase am Grund des Bottichs, wo Asche und Glasscherben lagen, und danach richtete er mich wieder auf und segnete mich. Dann sollten die Gevattern ihre Pflicht an mir erfüllen, und diese bestand darin, daß mich jeder hoch vom Boden aufhob und mich wieder herunterfallen ließ, und als sie dessen überdrüssig waren, stellten sie sich in zwei Gruppen auf und warfen mich wie einen Ball von der einen Gruppe zur anderen; das taten sie, damit ich wieder trocken werden sollte, und fuhren damit fort, bis es ihnen zu langweilig wurde. Dann rief der Stadtvogt: Halt! Da ließen sie mich los und nannten mich alle miteinander Minute, schüttelten mir die Hand und nannten mich Minute, um meine Taufe zu besiegeln. Aber noch einmal wurde ich in den Kübel geworfen, Doktor Kolbye schmiß mich mit meinem ganzen Gewicht hinein, so daß ich mir an der Seite etwas brach, denn er konnte es mir nicht vergessen, daß ich ihn ein Faß genannt hatte … Von dieser Nacht an blieb mein Spitzname auf mir sitzen. Am Tag darauf wußte die ganze Stadt, daß ich beim Stadtvogt gewesen und getauft worden war.

Und in der Seite hatten Sie sich etwas gebrochen. Aber am Kopf hatten Sie sich nicht verletzt, ich meine, im Kopf selbst?

Pause.

Das ist nun zum zweitenmal, daß Sie mich fragen, ob ich einen Schaden am Kopf erlitten habe, und Sie meinen vielleicht etwas Bestimmtes damit. Aber ich verletzte mich damals nicht am Kopf, ich bekam keine Gehirnerschütterung, wenn Sie das befürchten sollten. Ich fiel nur gegen den Kübel und brach eine Rippe. Aber das ist alles wieder gut, Doktor Kolbye behandelte mich bei diesem Rippenbruch umsonst, und ich trug weiter keinen Schaden davon.

Nagel hatte während Minutes Erzählung tüchtig getrunken, er läutete, bestellte mehr Wein und trank wieder. Plötzlich sagte er:

Da fällt mir ein: glauben Sie, daß ich mich bis zu einem gewissen Grad auf die Menschen verstehe? Machen Sie keine so erstaunten Augen, das ist nur eine kameradschaftliche Frage. Halten Sie mich für fähig, die Leute, mit denen ich spreche, ein wenig zu durchschauen?

Minute sieht ihn scheu an und findet keine Antwort. Dann sagt Nagel wieder:

Sie müssen übrigens entschuldigen. Schon das vorige Mal, als ich das Vergnügen hatte, Sie bei mir zu sehen, brachte ich Sie mit einigen höchst dummen Fragen aus der Fassung. Sie erinnern sich, daß ich unter anderem Ihnen soundso viel Geld anbot, wenn Sie die Vaterschaft für ein Kind übernehmen würden, hehehe. Ich machte damals diesen Schnitzer, weil ich Sie nicht kannte; jetzt setze ich Sie von neuem in Erstaunen, und das, trotzdem ich Sie doch wirklich gut kenne und sehr viel auf Sie halte. Sehen Sie, heute nun tue ich das einzig und allein, weil ich nervös und bereits sehr betrunken bin. Das ist das Ganze. Sie merken ja natürlich ganz genau, daß ich toll und voll bin? Ja freilich merken Sie das; warum wollen Sie sich verstellen? Aber was wollte ich doch sagen, – ja, es würde mich wirklich interessieren zu wissen, wieweit Sie mich für fähig halten, die menschliche Seele zu durchschauen. Hehe, ich meine zum Beispiel in der Stimme jener Leute, mit denen ich spreche, einen ganz feinen Unterton hören zu können; ich höre nämlich unglaublich scharf. Wenn ich so dasitze und mit jemand spreche, brauche ich ihn nicht anzusehen, um ihm bei dem, was er spricht, genau folgen zu können, ich höre sofort heraus, ob er mir einen Bären aufbindet oder sonst etwas verfälscht. Die Stimme ist ein gefährliches Instrument. Verstehen Sie mich recht: ich meine nicht gerade den greifbaren Ton der Stimme, der kann hoch oder tief sein, klangvoll oder rauh, ich meine nicht das Stoffliche der Stimme, den Klang selbst, nein, ich halte mich an das Mysterium hinter der Stimme, an die Welt, aus der sie hervorkommt. Zum Teufel übrigens mit dieser Welt dahinter! Immer soll eine Welt dahinter sein! Was zum Satan geht mich das an?

Nagel trank wieder und sprach weiter:

Sie sind so still. Lassen Sie sich durch meine Großsprecherei über meine Menschenkenntnis nur keinen Floh ins Ohr setzen, so daß Sie sich nicht mehr zu rühren wagen. Hehehe, ja das würde nett aussehen! Aber jetzt habe ich vergessen, was ich sagen wollte. Nun, dann erzähle ich Ihnen etwas anderes, das mir nicht auf dem Herzen liegt, das ich aber trotzdem sage, bis mir das erste wieder einfällt. Mein Gott, wie ich daherfasle! Was halten Sie von Fräulein Kielland? Lassen Sie hören, was Sie über sie denken. Meiner Meinung nach ist Fräulein Kielland so kokett, daß es ihr im Grund eine wilde Freude wäre, wenn auch andere, am liebsten so viele wie möglich – ich mit einbegriffen – hingingen und sich um ihretwillen das Leben nähmen. Das ist meine Meinung. Sie ist entzückend, ja das ist sie, und es müßte ein süßer Schmerz sein, sich von ihrem Absatz zertreten zu fühlen, ja, und deshalb werde ich sie vielleicht auch noch einmal darum bitten, ich kann nicht für mich einstehen. Im übrigen ist es noch nicht soweit, ich habe noch Zeit … Aber Gott bewahre mich, ich erschrecke Sie heute abend noch vollständig mit meinem Gerede! Habe ich Sie verletzt, ich meine Sie persönlich?

Wenn Sie wüßten, wie schön Fräulein Kielland von Ihnen gesprochen hat! Ich traf sie gestern, sie unterhielt sich lange mit mir …

Sagen Sie einmal – ja, entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht aussprechen lasse; vielleicht aber besitzen auch Sie ein wenig von jener Gabe, zu hören, was hinter Fräulein Kiellands materieller Stimme bebt! Aber jetzt merken Sie sicher, daß ich ungeheuren Unsinn schwätze? Ja, nicht wahr? Also! Doch es würde mich freuen, wenn auch Sie sich ein wenig auf die Menschen verstünden, dann würde ich Sie nämlich dazu beglückwünschen und sagen: wir beide, höchstens wir beide haben diese Gabe. Kommen Sie, wir wollen uns zu einer kleinen Gesellschaft, einem kleinen Verein zusammentun und niemals unser Wissen gegeneinander anwenden – gegeneinander, verstehen Sie – so daß zum Beispiel ich mein Wissen niemals gegen Sie gebrauche, selbst wenn ich Sie noch so sehr durchschaue. Na, jetzt werden Sie wieder unruhig und sehen scheu aus! Lassen Sie sich von meiner Prahlerei nur nicht ins Bockshorn jagen, ich bin betrunken … Aber da fällt mir gerade wieder ein, was ich vorhin sagen wollte, als ich anfing, von Fräulein Kielland zu sprechen, obwohl es mir nicht weiter am Herzen lag. Wozu sollte ich auch mit meiner Meinung herausplatzen, wenn Sie mich doch nicht gefragt haben! Ich habe wohl Ihre gute Laune verdorben; können Sie sich erinnern, wie lustig Sie waren, als Sie vor ungefähr einer Stunde hereinkamen? Dieser ganze Unsinn kommt vom Wein … Nun aber will ich nicht noch einmal vergessen, was ich sagen wollte: als Sie von dem Junggesellenabend beim Stadtvogt sprachen, Sie erinnern sich, an dem Sie getauft wurden, da entstand merkwürdigerweise in mir der Gedanke, daß auch ich einen Junggesellenabend veranstalten möchte, ja, Tod und Teufel, einen Junggesellenabend für einige Geladene. Unbedingt, das will ich, und auch Sie müssen kommen, ich rechne bestimmt auf Sie. Sie dürfen sich darauf verlassen, daß Sie nicht noch einmal getauft werden, ich werde dafür sorgen, daß man Sie mit der größten Zuvorkommenheit und Achtung behandelt; überhaupt wollen wir keine Stühle und Tische zertrümmern. Aber ich würde gerne eines Abends einige Freunde bei mir sehen und am liebsten so bald wie möglich, sagen wir, Ende der Woche. Was meinen Sie dazu?

Nagel trank wieder, trank zwei große Gläser aus. Minute antwortete auch darauf nichts. Seine erste kindliche Freude war offenbar verschwunden, und er schien nur noch aus Höflichkeit dem Geschwätz seines Gastgebers zuzuhören. Auch jetzt wollte er nichts trinken.

Sie sind auf einmal so merkwürdig still, sagte Nagel. Es ist ganz lächerlich, aber wissen Sie, daß Sie in diesem Augenblick aussehen, als fühlten Sie sich von etwas betroffen, von einem Wort, einer Andeutung betroffen. Ja, wirklich sonderbar, von etwas betroffen! Ich habe bemerkt, daß es Ihnen eben jetzt einen kleinen Ruck gab. Na, dann nicht; dann habe ich mich geirrt! Haben Sie sich jemals vorgestellt, wie es einem heimlichen Fälscher zumut sein müßte, wenn eines Tages ein Beamter des Erkennungsdienstes die Hand auf seine Achsel legte und ihm in die Augen sähe, ohne etwas zu sagen? …

Aber was soll ich denn mit Ihnen anfangen, Sie werden immer trauriger und verschlossener? Ich bin nervös heute und rede Sie tot, aber ich muß sprechen, wenn ich betrunken bin, das ist so meine Gewohnheit. Und Sie dürfen auch noch nicht fortgehen, denn dann wäre ich gezwungen, noch eine Stunde mit Sara, mit dem Mädchen, zu sprechen, und das könnte vielleicht unpassend sein, nicht davon zu reden, daß es langweilig wäre. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen eine kleine Begebenheit zu erzählen? Meine Erzählung ist ohne Bedeutung, aber sie könnte Sie vielleicht ein wenig unterhalten, wie sie gleichzeitig Ihnen meine Gabe, mich auf die Menschen zu verstehen, beweisen soll. Hehehe, die Sache verhält sich nämlich so: wenn es jemand gibt, der diese Gabe nicht besitzt, dann bin ich es, – falls diese Erklärung Sie vielleicht aufmuntern kann. Kurz und gut: ich kam einmal nach London – ja, es ist übrigens drei Jahre her, nicht länger –, und dort machte ich die Bekanntschaft einer entzückenden jungen Dame, der Tochter eines Mannes, mit dem ich eine kleine geschäftliche Angelegenheit zu erledigen hatte. Ich lernte die Dame ziemlich genau kennen, wir waren drei Wochen lang täglich zusammen und wurden gute Freunde. Eines Nachmittags will sie mir London zeigen, wir ziehen los, schauen Museen, Kunstsammlungen, Prachtgebäude und Parks an, und es wurde Abend, bevor wir uns auf den Heimweg begaben. Inzwischen machte ein Bedürfnis der Natur sich bei mir geltend, ich kam offengestanden in eine gewisse Verlegenheit, in die man wohl, nachdem man einen ganzen Nachmittag spazierengegangen ist, kommen kann. Was sollte ich tun? Mich wegschleichen konnte ich nicht, und um die Erlaubnis bitten, einen Augenblick abseits gehen zu dürfen, wollte ich nicht. Kurz und gut: ich gebe nach, wo ich gehe und stehe, gebe einfach nach, lasse der Geschichte ihren Lauf und werde natürlich bis in die Schuhe hinein tropfnaß. Was aber, zum Satan, sollte ich sonst machen, sagen Sie mir das? Glücklicherweise hatte ich einen ganz langen Mantel an, und ich hoffte, damit meinen Zustand verbergen zu können. Nun wollte der Zufall, daß wir in einer hell erleuchteten Straße an einer Konditorei vorbeikamen, und hier bei dieser Konditorei bleibt, Gott helfe mir, meine Dame stehen und bittet mich, ihr eine Kleinigkeit zu besorgen. Na, dies war ja ein ganz begreifliches Verlangen, wir waren einen halben Tag umhergewandert und ganz erschöpft. Ich aber mußte mich trotzdem weigern. Da sieht sie mich an und findet es gewiß häßlich von mir, daß ich mich weigere, sie bittet mich, den Grund zu nennen. Ja, sage ich da, der Grund ist der und der, ich habe kein Geld bei mir, ich besitze keinen Penny, nicht einen Penny! Nun, das war ein gültiger Grund, das konnte man nicht leugnen, und die Dame hatte tatsächlich auch kein Geld bei sich, nein, nicht einen Penny, und da stehen wir nun und sehen einander an und lachen über unsere Lage. Aber dann findet sie doch einen Rat, sie wirft einen Blick über die Häuser und sagt: Warten Sie ein wenig, bleiben Sie einen Augenblick hier stehen, ich habe eine Freundin in jenem Haus dort, im ersten Stock, die kann uns Geld geben! Und damit eilt meine Dame fort. Sie bleibt mehrere Minuten lang aus, und in dieser ganzen langen Zeit durchlebte ich die schlimmsten Qualen. Wie in aller Welt sollte ich mich benehmen, wenn sie jetzt mit dem Geld zurückkam? Ich konnte nicht in die Konditorei gehen, wo das Licht so fürchterlich hell war und wo sich so viele Menschen aufhielten; ich würde sofort zur Türe hinausgeworfen werden, und dies letztere würde dann noch schlimmer sein als das erstere. Ich müßte die Zähne zusammenbeißen und sie bitten, mir den persönlichen Gefallen zu tun und selbst hineinzugehen. Ich würde dann auf sie warten. Noch ein paar Minuten vergingen, dann kam meine Dame zurück. Sie war sehr vergnügt, ja geradezu fröhlich und sagte nur, ihre Freundin sei nicht zu Hause gewesen, was ja auch schließlich gleichgültig sei; sie könnte es gut noch einige Minuten aushalten, in einer Viertelstunde wären wir ja zu Hause, und dann könnte sie sich an ihren eigenen Abendtisch setzen. Sie bat mich auch, es zu entschuldigen, daß Sie mich hatte warten lassen. Und wer war froher als ich, obwohl ich doch eigentlich durchnäßt weitergehen mußte und übel daran war. Jetzt aber kommt das Beste von allem, – ja, Sie haben den Rest vielleicht schon geahnt? Doch, ich glaube bestimmt, daß Sie den Rest schon geahnt haben; aber trotzdem will ich auch diesen noch erzählen: erst heuer, im Jahre 1891, ist es mir klargeworden, wie strohdumm ich mich eigentlich betragen hatte. Ich habe die ganze Sache noch einmal überdacht und in einer Bagatelle nach der anderen die größte Bedeutung gefunden: Meine Dame ging gar keine Treppe hinauf, sie war durchaus nicht in irgendeinem ersten Stock. Sie öffnete vielmehr nur eine Durchgangstür zu einem Hinterhof und glitt hinein; ich vermute, daß sie auch durch genau die gleiche Türe aus dem Hinterhof wieder herauskam, still und gleitend. Was beweist das? Freilich nichts; doch war es nicht trotzdem eigentümlich, daß sie nicht in den ersten Stock hinauf, dagegen aber in den Hinterhof ging? Hehehe. Ja, Sie verstehen das Ganze ausgezeichnet, das kann ich sehen, aber mir wurde das nicht eher klar als im Jahre 1891, drei Jahre später. Sie trauen mir doch wohl nicht zu, daß ich mir das Ganze schon im voraus ausgedacht hatte und den Spaziergang so lange wie möglich ausdehnte, um meine Dame bis zum Äußersten zu bringen, etwa, daß ich mich nicht von einer versteinerten Höhlenhyäne in einem Museum losreißen konnte, sondern dreimal dorthin zurückkehrte und gleichzeitig die junge Dame nicht aus den Augen ließ, damit sie nicht auf irgendeine Weise in einen Hinterhof entschlüpfen könnte? Das trauen Sie mir doch selbstverständlich nicht zu? Es mag ja Menschen geben, die so merkwürdig veranlagt sind, daß sie lieber selbst leiden, ja lieber selbst vom Gürtel abwärts naß werden, als sich die sonderbare Befriedigung entgehen zu lassen, eine junge, niedliche Dame in irgendwelchen Folterqualen sich winden zu sehen. Aber mir ist das, wie gesagt, erst in diesem Jahr klargeworden, drei Jahre, nachdem die Geschichte passierte. Hehe, ja, wie finden Sie das?

Pause. Nagel trank und fuhr fort:

Nun sagen Sie vielleicht: Ja, aber was hat diese Geschichte mit uns beiden und dem Junggesellenabend zu tun? Nein, bester Freund, gewiß, sie hat soweit nichts damit zu tun. Es fiel mir nur eben ein zu erzählen, als eine Probe meiner Stupidität der menschlichen Seele gegenüber. Ach, die menschliche Seele. Was sagen Sie dazu, daß ich – Johan Nilsen Nagel –, als ich vor einigen Tagen an Konsul Andresens Haus dort oben auf der Anhöhe vorbeiwanderte, mich bei dem Gedanken ertappe, wie hoch oder niedrig es wohl in seiner Wohnstube bis zur Decke sein könnte? Was sagen Sie dazu? Das aber ist, wenn ich es so ausdrücken darf, wiederum die menschliche Seele. Keine Bagatelle ist für sie zu gering, alles hat seine Bedeutung für sie … Welchen Eindruck macht es zum Beispiel auf Sie, wenn Sie eines Nachts von irgendeiner Zusammenkunft, irgendeiner Expedition spät heimkommen, ruhig Ihres Weges gehen und plötzlich auf einen Mann treffen, der an einer Ecke steht und Sie ansieht, ja sogar den Kopf nach Ihnen dreht, während Sie vorbeigehen, und Sie nur anstiert und nichts sagt? Nun setze ich noch obendrein den Fall, daß der Mann schwarz gekleidet ist und Sie von ihm nichts anderes sehen können als sein Gesicht und seine Augen, was dann? Ach, es geht in der menschlichen Seele vieles vor sich! … Sie kommen eines Abends in eine Gesellschaft, von, sagen wir, zwölf Personen, und die dreizehnte – es kann eine Telegraphistin sein, ein armer Rechtskandidat, ein Kontorist, ein Dampfschiffskapitän, kurz gesagt: ein Mensch ohne jede Bedeutung – sitzt in einem Winkel und beteiligt sich nicht an der Unterhaltung und macht auch sonst in keiner Weise irgendwelchen Lärm. Aber diese dreizehnte Person hat trotzdem ihren Wert, nicht nur an und für sich, sondern auch als ein Faktor in der Gesellschaft. Gerade weil sie in bestimmter Weise gekleidet ist, weil sie sich so stumm verhält, weil ihre Augen einigermaßen dumm und nichtssagend die übrigen Gäste anblicken und weil ihre Rolle im ganzen genommen darin besteht, so unbedeutend zu sein, trägt sie dazu bei, der Gesellschaft ihren Charakter zu geben. Eben weil sie nichts sagt, wirkt sie negativ und schafft den schwachen Ton der Düsterkeit im ganzen Zimmer, der die anderen Gäste gerade so laut und nicht lauter sprechen läßt. Habe ich nicht recht? Diese Person kann dadurch buchstäblich die mächtigste in der Gesellschaft werden. Ich verstehe mich, wie gesagt, nicht auf die Menschen, aber es belustigt mich doch oft, zu beobachten, welch unheimlichen Wert die Kleinigkeiten besitzen können. So war ich zum Beispiel einmal Zeuge, wie ein wildfremder armer Ingenieur, der absolut seinen Mund nicht auftat … Aber das ist eine andere Geschichte und gehört nicht hierher, es sei denn insofern, als dies alles mein Gehirn passiert und dort seine Spuren hinterlassen hat. Um aber im Gleichnis zu bleiben: wer weiß, ob nicht gerade Ihre Schweigsamkeit heute abend diesen ganzen besondern Ton über meine Worte legt – abgesehen von meinem ungeheuren Rausch –, ob nicht gerade Ihre Miene, dieser halb, scheue und halb unschuldige Ausdruck Ihrer Augen mich besonders dazu reizt, so zu sprechen, wie ich es tue! Das ist ganz natürlich. Sie hören zu, was ich sage – was ich, ein betrunkener Kerl, sage –, hie und da fühlen Sie sich auf die eine oder andere Art betroffen – um den bereits gebrauchten Ausdruck betroffen zu benutzen –, und ich fühle mich versucht, noch weiter zu gehen und Ihnen wohl noch ein halbes Dutzend Worte ins Gesicht zu schleudern. Ich führe dies nur als ein Beispiel für den Wert der Kleinigkeiten an. Übersehen Sie die Kleinigkeiten nicht, lieber Freund! Um Gottes willen, die Kleinigkeiten haben einen gewaltigen Wert … Herein!

Es war Sara, die anklopfte und meldete, daß das Abendessen fertig sei. Minute erhob sich sofort. Nagel war jetzt sichtlich betrunken und redete nicht einmal mehr vernünftig; im übrigen widersprach er sich beständig und faselte immer schlimmer. Seine nachdenklichen Augen und die an den Schläfen angeschwollenen Adern zeigten, daß er viele Gedanken in seinem Kopf bewegte.

Ja, sagte er, es wundert mich nicht, daß Sie die Gelegenheit zum Gehen ergreifen, nach all dem Geschwätz, das Sie heute abend haben aushalten müssen. Aber über verschiedenes hätte ich gerne noch Ihre Meinung gehört, so haben Sie mir zum Beispiel meine Frage, was Sie in Ihrem innersten Herzen von Fräulein Kielland halten, durchaus nicht beantwortet. Vor mir steht sie wie das seltenste und unerreichbarste Wesen, voller Köstlichkeit und rein und weiß wie Schnee, – stellen Sie sich reinen und tiefen Seidenschnee vor. So steht sie in Gedanken vor mir. Wenn Sie von dem, was ich vorher gesagt habe, einen anderen Eindruck bekommen haben sollten, so ist das falsch … Nun will ich also das letzte Glas in Ihrer Gegenwart leeren; Ihr Wohl! … Doch jetzt fällt mir gerade noch etwas ein. Wenn Sie die Geduld hätten, sich noch zwei kurze Minuten lang mit mir zu beschäftigen, wäre ich Ihnen wirklich besonders verbunden. Die Sache ist die – kommen Sie ein wenig näher her, denn in diesem Hause sind die Wände dünn –, ja, also die Sache ist die: ich bin rettungslos in Fräulein Kielland verliebt. Jetzt habe ich es gesagt! Das sind nur ein paar harte und armselige Worte, aber Gott im Himmel weiß, wie närrisch ich sie liebe und wie ich um ihretwillen leide. Na, das ist eine Sache für sich, ich liebe, ich leide, es ist gut, das gehört nicht hierher. Also! Aber ich hoffe, Sie werden meine Offenherzigkeit mit der ganzen Diskretion behandeln, die sie verdient; versprechen Sie mir das? Danke, lieber Freund! Aber, wollen Sie sagen, wie kann ich denn in sie verliebt sein, wenn ich sie doch noch vor kurzem eine große Kokette nannte? Erstens kann man sehr gut eine Kokette lieben; dem steht nichts im Wege. Doch hierbei will ich mich nicht aufhalten. Es kommt noch etwas anderes dazu. Wie war das doch vorhin, gaben Sie eigentlich zu, daß Sie die Menschen kennten, oder nicht? Wenn Sie die Menschen kennten, würden Sie nämlich auch begreifen, was ich jetzt sage: es kann unmöglich meine Überzeugung sein, daß Fräulein Kielland wirklich eine Kokette ist. Das ist nicht mein Ernst. Sie ist im Gegenteil ein sehr natürlicher Mensch, – was halten Sie zum Beispiel von ihrer offenen Art zu lachen, obwohl sie doch nicht einmal ganz weiße Zähne hat! Trotzdem aber kann ich das Meine dazu beitragen, die Ansicht zu verbreiten, daß Fräulein Kielland eine Kokette ist; das stört mich nicht. Und ich tue das nicht, um ihr zu schaden oder mich zu rächen, sondern um mich selbst aufrecht zu halten, ich tue es aus Eigenliebe, denn sie ist unerreichbar für mich, sie spottet allen meinen Anstrengungen, sie in mich verliebt zu machen, denn sie ist verlobt und bereits gebunden, sie ist für mich verloren, ganz verloren. Sehen Sie, dies ist mit Ihrer Erlaubnis eine neue und abschweifende Seite der menschlichen Seele. Ich könnte ihr auf der Straße entgegentreten und mit dem größten Ernst in Anwesenheit aller Leute zu ihr sagen, scheinbar nur, um sie herabzusetzen und um ihr Schaden zuzufügen: Guten Tag, gnädiges Fräulein, ich gratuliere zum reinen Hemd! Ja, haben Sie schon so etwas Verrücktes gehört? Aber das könnte ich sagen. Was ich dann täte – ob ich nun heimliefe und in mein Taschentuch schluchzen würde, oder ob ich ein paar Tropfen aus dieser kleinen Flasche, die ich hier in der Westentasche trage, zu mir nehmen würde – das überspringe ich. Ebenso könnte ich eines Sonntags in die Kirche gehen und, während ihr Vater, Pastor Kielland, Gottes Worte spricht, durch das ganze Kirchenschiff spazieren, vor Fräulein Kielland stehenbleiben und laut sagen: Würden Sie mir erlauben, Sie ein wenig an der Puffe anzufassen? Ja, wie finden Sie das? Mit der Puffe würde ich nichts Besonderes meinen, es sollte nur ein Wort sein, über das sie erröten müßte; aber: Vergönnen Sie mir, Sie ein wenig bei der Puffe anzufassen, würde ich sagen. Und hinterher würde ich mich ihr vor die Füße werfen und sie flehend bitten, mich anzuspucken … Jetzt habe ich Sie gründlich erschreckt; ja, ich gebe zu, daß ich vermessene Reden führe, um so mehr, als ich zu einem Pfarrerssohn von einer Pfarrerstochter spreche. Verzeihen Sie mir, mein Freund, das geschieht nicht aus Bosheit, nicht aus reiner Bosheit, sondern weil ich betrunken bin wie ein Alk … Hören Sie zu: Ich kannte einmal einen jungen Mann, der einen Kandelaber stahl, ihn an einen Alteisenhändler verkaufte und das Geld in Saus und Braus verzechte. Das ist bei Gott wahr; es war sogar ein Bekannter von mir, ein Verwandter des verstorbenen Pfarrers Haerem. Aber was hat das mit mir und Fräulein Kielland zu tun? Nein, da haben Sie wieder recht! Sie sagten nichts, aber ich konnte sehen, daß Ihr Mund im Begriff war, es zu sagen, und das ist eine ganz richtige Bemerkung von Ihnen. Was aber Fräulein Kielland betrifft, so ist sie für mich vollständig verloren, und ich beklage deshalb nicht sie, sondern mich selbst. Sie, der Sie hier so total nüchtern dastehen und die Menschen durchschauen, würden es auch verstehen, wenn ich einfach eines Tages in der Stadt das Gerücht ausstreute, daß Fräulein Kielland auf meinen Knien gesessen hätte, daß ich sie drei Nächte hintereinander an einem näher bezeichneten Ort im Wald getroffen und daß sie dann Geschenke von mir angenommen hätte. Nicht wahr, Sie würden das verstehen? Ja, denn Sie verstehen sich verteufelt gut auf die Menschen, mein Freund, ja, ganz gewiß, nur keine Ausreden …! Ist es Ihnen noch niemals vorgekommen, daß Sie eines Tages auf der Straße gingen, in Ihre eigenen, unschuldigen Gedanken vertieft, ohne jede Ahnung, bis alle Menschen Sie anstarrten, Sie von oben bis unten musterten? Dies ist eine äußerst peinliche Lage. Beschämt bürsten Sie sich vorn und hinten ab, wie ein Dieb sehen Sie an Ihrem Anzug herunter und untersuchen, ob Sie etwa mit aufgeknöpften Kleidern einhergehen, und Sie sind so voll banger Vermutungen, daß Sie sogar den Hut abnehmen und nachsehen, ob möglicherweise noch der Preiszettel daransitzt, obwohl es ein alter Hut ist. Doch das alles hilft Ihnen nichts, Sie finden nichts in Unordnung, und Sie müssen es schon aushalten, daß jeder Schneidergeselle und jeder Leutnant Sie nach Gefallen fixiert … Aber, bester Freund, wenn dies schon eine Höllenpein ist, was soll man dann erst sagen, wenn man zu einem Verhör vorgeladen wird … Jetzt gab es Ihnen wieder einen Ruck. Ja, war es nicht so? Mir schien es ganz deutlich, als habe es Ihnen einen kleinen Ruck gegeben … nun, aber so zu einem Verhör vorgeladen, vor den listigsten Teufel von einem Polizeimann gestellt zu werden, vor dem ganzen Publikum in ein Kreuzverhör, bei dem man auf zwölf verschiedenen Schleichwegen immer wieder auf den einen einzigen Punkt zurückkommt, genommen zu werden, – – oh, welch ein ausgesuchter Genuß für den, der mit dem Ganzen nichts zu schaffen hat, sondern nur dasitzt und zuhört! Nicht wahr, darin sind wohl auch Sie mit mir einig? … Wer weiß, vielleicht ist doch noch ein Glas Wein in dieser Flasche, wenn ich sie auswinde …

Er goß den letzten Rest des Weines hinunter und fuhr fort:

Ich muß Sie übrigens um Entschuldigung bitten, weil ich beständig das Gesprächsthema wechsle. Diese vielen und plötzlichen Sprünge in meinem Gedankengang kommen sicherlich zum Teil daher, daß ich so jämmerlich betrunken bin, zum Teil aber ist es überhaupt ein Fehler von mir. Die Sache verhält sich so: ich bin nur ein simpler Agronom, Schüler einer Kuhdreckakademie, bin ein Denker, der das Denken nicht gelernt hat. Na, gehen wir nicht auf diese Einzelheiten ein, die interessieren Sie nicht, und für mich, der ich meine Verhältnisse von früher her kenne, sind sie geradezu widerwärtig. Wissen Sie, wenn ich hier allein sitze und an allerhand Dinge denke und mich selbst genauer prüfe, geschieht es oft, daß ich mich mit lauter Stimme Rochefort nenne. Ich schlage mich auf die Brust und nenne mich Rochefort. Was werden Sie aber erst sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich einmal ein Petschaft mit einem Stachelschwein bestellte? … Das bringt mich auf den Gedanken an einen Mann, den ich seinerzeit als einen ehrbaren, ganz alltäglichen und achtenswerten Studenten der Philologie an einer deutschen Universität kennenlernte. Er artete aus, im Laufe von zwei Jahren wurde er ein Trunkenbold und Romanschriftsteller. Traf er Fremde, und man fragte ihn, wer er sei, antwortete er schließlich nur noch, er sei eine Tatsache. Ich bin eine Tatsache! sagte er, und vor lauter Hochmut kniff er den Mund zusammen. Na, das interessiert Sie nicht … Sie sprachen von einem Mann, einem Denker, der das Denken nicht gelernt hatte. Oder war ich es selbst, der davon sprach? Verzeihung, jetzt bin ich nämlich stockbesoffen; aber das macht nichts, lassen Sie sich dadurch nur nicht anfechten. Übrigens wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir gestatten wollten, Ihnen das mit dem Denker, der nicht denken konnte, zu erklären. Soweit ich Ihre Äußerung verstand, wollten Sie ihn angreifen. Doch, ich bekam wirklich diesen Eindruck, Sie sprachen in einem höhnischen Ton. Aber der Mann, den Sie da nannten, verdient einigermaßen als Ganzes gesehen zu werden. Erstens einmal war er ein großer Narr. Doch, doch, daran muß ich festhalten, er war ein Narr. Er trug stets einen langen roten Schlips und lächelte vor lauter Narrheit. Ja, er war so närrisch, daß er stets, wenn jemand zu ihm kam, in ein Buch vertieft dasaß, obwohl er niemals las. Er trug auch keine Strümpfe in den Stiefeln, nur um sich eine Rose ins Knopfloch leisten zu können. So war er. Das beste von allem aber war: er besaß etliche Photographien, Photographien einiger dürftiger, netter Handwerkertöchter, und auf diese Bilder hatte er irgendwelche hohen und klangvollen Namen geschrieben, nur um den Eindruck zu erwecken, daß er eine Menge vornehmer Bekanntschaften habe. Auf einem der Bilder stand deutlich »Fräulein Stang«, damit man glauben solle, das Mädchen sei mit dem Staatsminister verwandt, obwohl dieses Menschenkind höchstens Lie oder Haug heißen konnte. Hehehe, was soll man zu einer solchen Großtuerei sagen? Er bildete sich ein, die Leute beschäftigten sich mit ihm und verleumdeten ihn hinter seinem Rücken. Die Leute verleumden mich hinter meinem Rücken! sagte er. Hehehe, glauben Sie wirklich, daß es jemand der Mühe wert fand, ihn zu verleumden? Eines Tages kam er sogar in einen Juwelierladen und rauchte gleichzeitig an zwei Zigarren. An zwei Zigarren! Eine hielt er in der Hand und die andere im Mund, beide brannten. Er wußte vielleicht gar nicht, daß er zwei Zigarren auf einmal rauchte, und als Denker, der das Denken nicht gelernt hatte, fragte er auch nicht …

Jetzt muß ich gehen, sagte Minute schließlich leise.

Nagel erhob sich sofort.

Müssen Sie gehen? sagte er. Wollen Sie mich jetzt wirklich verlassen? Ja, diese Geschichte ist ja wohl auch zu lang, wenn man den Mann nämlich als Ganzes sehen will. Heben wir es uns für ein andermal auf. Ach nein, wollen Sie jetzt absolut gehen? Hören Sie: Tausend Dank für heute abend! Ich bin jetzt ganz merkwürdig betrunken; wie sehe ich eigentlich aus? Legen Sie einmal einen Daumen unter die Lupe und sehen Sie ihn sich an, hm? Ja, ich verstehe Ihre Mienen. Sie sind ein gottlos kluger Mann, Herr Grögaard, und es ist mir ein Fest, Ihre Augen zu beobachten, so unschuldig sind sie. Zünden Sie sich bitte noch eine Zigarre an, bevor Sie gehen. Wann kommen Sie nun wieder? Tod und Teufel, das ist wahr: Sie müssen zu dem Junggesellenabend kommen, hören Sie! Es soll Ihnen kein Haar auf dem Haupte gekrümmt werden … Nein, es wird nur eine kleine, gemütliche Abendgesellschaft, eine Zigarre, ein Glas Wein, ein Gespräch und neunmal neun Hurras fürs Vaterland, um des Doktors Stenersen willen; nicht wahr? Das wird schön sein. Und die Hose, von der wir gesprochen haben, sollen Sie bekommen, der Teufel soll mich holen! Natürlich zu den bekannten Bedingungen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld heute abend. Lassen Sie mich Ihre Hand drücken! Zünden Sie sich eine neue Zigarre an, Mensch … Hören Sie, ein Wort noch: gibt es nichts, womit man Ihnen eine Freude machen könnte? Denn in diesem Falle … Na, wie Sie wollen. Gute Nacht! Gute Nacht!


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