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13

Ein paar Tage vergingen.

Nagel hielt sich daheim auf, trieb mit finsterer Miene umher und sah gepeinigt und leidend aus; seine Augen waren in diesen zwei Tagen ganz matt geworden. Er sprach mit niemand, auch nicht mit den Leuten des Hauses. Um die eine Hand trug er einen Lappen; eines Nachts, als er wie gewöhnlich bis zu den Morgenstunden draußen gewesen war, war er heimgekommen, die Hand ins Taschentuch gebunden. Die beiden Wunden, sagte er, habe er sich dadurch zugezogen, daß er über eine Egge, die auf dem Kai herumgelegen habe, gefallen sei.

Am Donnerstagmorgen regnete es, und das ungemütliche Wetter drückte noch mehr auf seine Gemütsstimmung. Als er jedoch im Bett die Zeitungen gelesen und sich über eine lebhafte Szene in der französischen Deputiertenkammer belustigt hatte, knipste er plötzlich in die Finger und sprang auf. Ach, der Teufel sollte traurig sein! Die Welt war weit, war reich, war lustig, die Welt war schön; komm mir keiner mit etwas anderem daher.

Noch ehe er ganz angekleidet war, schellte er und unterrichtete Sara davon, daß er beabsichtige, am Abend einige Leute bei sich zu sehen, etwa sechs, sieben Herren, die ein bißchen Leben in die Bude brächten, lustige Kerle, den Doktor Stenersen, Rechtsanwalt Hansen, den Adjunkten und so weiter.

Er sandte sofort die Einladungen aus. Minute antwortete, daß er käme; auch der Bevollmächtigte Reinert wurde gebeten, blieb aber aus. Um fünf Uhr abends waren alle in Nagels Zimmer versammelt. Da es immer noch regnete und der Himmel dunkel war, wurde die Lampe angezündet und die Vorhänge heruntergelassen.

Und dann begann das Bacchanal, ein Saufgelage und ein Höllenspektakel, von dem die kleine Stadt noch tagelang danach sprach …

Sowie Minute zur Tür hereinkam, ging Nagel auf ihn zu und bat ihn um Entschuldigung, weil er bei dem letzten Zusammensein mit ihm so viel gefaselt habe. Er nahm Minutes Hand und drückte sie herzlich, stellte ihn auch dem jungen Studenten Öien vor, dem einzigen, der ihn nicht kannte. Flüsternd dankte Minute für die neue Hose; nun stand er da, vom Kopf bis zum Fuße neugekleidet.

Sie haben noch keine Weste.

Nein, aber das ist auch nicht nötig. Ich bin kein Graf, ich versichere Ihnen, ich brauche keine Weste.

Doktor Stenersen hatte seine Brille zerbrochen und trug nun einen Zwicker ohne Schnur, der ihm jeden Augenblick herunterfiel.

Nein, man kann sagen, was man will, äußerte er, wir leben doch in einer Zeit der Befreiung. Sehen Sie doch nur die Wahlen an, und vergleichen Sie sie mit den letzten Wahlen.

Alle tranken mächtig, der Adjunkt begann bereits einsilbige Wörter zu sagen, und das war ein sicheres Zeichen bei ihm. Rechtsanwalt Hansen aber, der ganz gewiß schon, ehe er hergekommen war, einige Gläser getrunken hatte, begann wie gewöhnlich dem Doktor zu widersprechen und Unsinn zu reden:

Er, Hansen, sei als Sozialist, wenn er es so ausdrücken dürfe, ein wenig weiter gehend. Er sei nicht sehr zufrieden mit den Wahlen; welche Befreiung verhießen sie denn eigentlich, könne jemand ihm das sagen? Zum Teufel noch einmal! Ja, das sei eine wunderbare Zeit der Befreiung. Bekämpfte nicht sogar ein Mann wie Gladstone in schäbiger Art Parnell, aus moralischen Gründen, aus lächerlichen beefsteakmoralischen Gründen? Ach, fahrt zur Hölle!

Zum Satan, welch ein Geschwätz! schrie der Doktor sofort. Sollten die Dinge etwa keine Moral enthalten? Wenn das Volk höre, daß keine Moral in den Dingen sei, wie viele würden dann noch darauf anbeißen? Man müsse die Leute in die Entwicklung hineinlocken, ihnen etwas vorspiegeln, und müsse die Moral ständig in Ehren halten. Der Doktor gebe viel auf Parnell; wenn aber Gladstone ihn unmöglich fand, dann mußte man wohl einräumen, daß dieser Mann sich einigermaßen darauf verstehe. Ja, er möchte natürlich Herrn Nagel ausnehmen, seinen verehrten Gastgeber, der nicht einmal zugeben könne, daß Gladstone ein reines Gewissen habe. Hahaha, ach du guter Gott! … Nebenbei, Herr Nagel, Sie haben ja auch für Tolstoi nicht sehr viel übrig? Ich hörte von Fräulein Kielland, daß Sie auch ihm gegenüber Ihre Bedenken hätten.

Nagel stand im Gespräch mit dem Studenten Öien; hastig wandte er sich um und erwiderte:

Ich entsinne mich nicht, mit Fräulein Kielland über Tolstoi gesprochen zu haben. Ich erkenne ihn als einen großen Dichter und als einen philosophischen Narren an … Gleich darauf aber fügte er hinzu: Nicht wahr, wir dürfen uns heute abend ein wenig derb ausdrücken, wenn wir es für gut halten? Wir sind ja nur Männer unter uns und befinden uns auf der Bude eines Junggesellen. Abgemacht? Augenblicklich bin ich gerade in der Laune, daß ich die Tatze auf etwas legen und knurren möchte.

Ganz wie beliebt! antwortete der Doktor verletzt. Tolstoi ist ein Narr.

Ja, ja, wir wollen unsere Meinung sagen, rief plötzlich auch der Adjunkt. Der Adjunkt war bei seinem Rausch gerade in das rechte Stadium gekommen und scheute von jetzt ab nichts mehr. Keine Einschränkung, Doktor, denn sonst werfen wir dich hinaus. Jeder hat seine Meinung: Stöcker zum Beispiel ist ein unverbesserlicher Schlingel. Ich werde es beweisen … beweisen!

Darüber lachten alle, und es dauerte eine Weile, ehe sie wieder über Tolstoi sprechen konnten. Er sei ein großer Dichter und ein großer Geist.

Nagels Gesicht flammte plötzlich auf:

Ein großer Geist ist er nicht. Sein Geist ist in Art und Beschaffenheit so herzlich durchschnittlich wie nur möglich, und seine Lehren sind nicht um Haaresbreite tiefer als das Hallelujageschrei der Heilsarmee. Ein Russe ohne Adel, ohne den alten vornehmen Namen, ohne Tolstois Millionen blanker Rubel würde wohl kaum so berühmt geworden sein, weil er einigen Bauern das Schuhflicken beigebracht hat … Übrigens wollen wir doch lieber ein wenig lustig sein. Ihr Wohl, Herr Grögaard!

Nagel stieß in kleinen Zwischenräumen mit Minute an und zeigte ihm überhaupt während des ganzen Abends viel Aufmerksamkeit. Noch einmal kam er auf sein Geschwätz bei ihrem letzten Zusammensein zurück und wollte, daß Minute es vergesse.

Ich für mein Teil erschrecke über nichts mehr bei Ihnen, sagte der Doktor und straffte sich auf.

Ja, es ist wahr, ich widerspreche gar zu gerne, fuhr Nagel fort, und heute abend bin ich besonders dazu aufgelegt. Das kommt zum Teil von ein paar unangenehmen Erlebnissen, die mich vorgestern ziemlich hart getroffen haben, zum Teil von diesem traurigen Wetter, das ich gar nicht ausstehen kann. Herr Doktor, das begreifen Sie wohl am besten und entschuldigen mich … Um von Tolstoi zu sprechen: es ist mir nicht möglich, seinen Geist tiefer zu finden als zum Beispiel den des Generals Booth. Beide sind Verkünder, nicht Denker, sondern Verkünder. Sie setzen vorhandene Güter um, machen einen Gedanken, den sie fertig vorfinden, volkstümlich, mundgerecht für das Volk, und lenken die Welt. Wenn man aber umsetzen will, dann gilt es mit Gewinn umzusetzen. Tolstoi setzt mit schwindelnden Verlusten um. Zwei Freunde schlossen einmal eine Wette: der eine wettete zwölf Schillinge, daß er auf zwanzig Schritte Abstand eine Nuß aus der Hand des anderen schießen würde, ohne die Hand zu verletzen. Gut, er schoß, schoß miserabel, schoß die ganze Hand in Fetzen, und das mit Glanz. Da stöhnte der andere und rief mit seiner letzten Kraft: Du hast die Wette verloren, her damit, her mit den zwölf Schillingen! Und dann bekam er die zwölf Schillinge. Hehe, her damit, her mit den zwölf Schillingen, sagte er! … Gott helfe mir, wie Tolstoi sich abmüht, die frohen Lebensquellen der Menschheit bis auf den letzten Tropfen auszutrocknen und die Welt vor lauter Liebe zu Gott und jedermann ganz dick zu machen. Ich schäme mich bis ins Innerste. Es mag naseweis klingen, zu sagen, ein Graf beschäme einen Agronomen so tief; aber das tut er … Es könnte mir nicht einfallen, darüber zu sprechen, wenn Tolstoi ein Jüngling wäre, der Versuchungen zu überwinden, einen Kampf zu bestehen hätte, um die Tugend zu predigen und rein zu leben. Aber der Mann ist ja ein Greis, dessen Quellen vertrocknet sind und der keine Spur von menschlichen Neigungen mehr hat. Aber – könnte man sagen – das trifft ja seine Lehre nicht! Doch das trifft auch seine Lehre! Erst wenn man vom Alter zäh und wasserdicht und vom Genuß satt und verhärtet geworden ist, geht man zu dem jungen Menschen hin und spricht: Entsage! Und der junge Mensch kostet davon, denkt darüber nach und erkennt, daß es richtig ist, nach der Schrift. Und der junge Mensch entsagt trotzdem nicht, sondern sündigt vierzig Jahre lang königlich weiter. Das ist der Lauf der Welt! Wenn aber vierzig Jahre um sind und der junge Mann selbst ein Greis geworden ist, da sattelt auch er seine weiße, weiße Mähre und reitet, die Kreuzesfahne hoch in der knöchernen Hand, davon und trompetet etwas von der Entsagung des Jünglings in die Welt hinaus und immer wieder von der Entsagung des Jünglings. Hehehe, ja, das ist eine Komödie, die immer wiederkehrt. Tolstoi belustigt mich, ich bin entzückt, daß der alte Mann noch so viel Gutes zustande bringt; na, schließlich wird er ja wohl zu seines Herrn Freude eingehen! Im übrigen aber treibt er es nicht anders, wie es so mancher Greis vor ihm getrieben hat und wie so mancher Greis es nach ihm treiben wird. Das ist alles. –

Darf ich Sie nur noch – von allem anderen abgesehen – daran erinnern, daß Tolstoi sich als wahrer Freund der Bedürftigen und Verlassenen erwiesen hat, sollte das wirklich nicht das mindeste zu sagen haben? Zeigen Sie mir den vornehmen Mann hier bei uns, der sich so der Geringen in der menschlichen Gemeinschaft angenommen hätte wie er. Ich finde, es ist eine recht hochmütige Art, zu sagen, weil Tolstois Lehre nicht befolgt wird, ist sie in eine Reihe mit den Lehren der Narren zu stellen.

Bravo, Doktor! brüllte der Adjunkt wieder mit feuerrotem Kopf. Bravo! Aber sagen Sie es schärfer, sagen Sie es gröber. Jeder hat seine Meinung. Eine hochmütige Art, in Wahrheit, eine hochmütige Art von Ihnen! Ich werde das beweisen …

Ihr Wohl! sagte Nagel, vergessen wir nicht, wozu wir hier sind. Wollen Sie wirklich sagen, Doktor, daß es irgendeiner Bewunderung wert ist, zehn Rubel zu verschenken, wenn man eine blanke Million besitzt? Ich verstehe Ihren und aller Leute Gedankengang nicht, ich muß anders beschaffen sein! Und wenn es mich das Leben kosten würde, kann ich nicht einsehen, daß jemand – am allerwenigsten ein Reicher – Bewunderung verdient, wenn er ein Almosen gibt.

Das ist gut! bemerkte der Rechtsanwalt aufreizend. Ich bin Sozialist, das ist auch mein Standpunkt.

Aber dies irritierte den Doktor, er wandte sich zu Nagel und brach los:

Darf ich fragen, ob Sie wirklich so gut darüber unterrichtet sind, wie viele und wie große Almosen Tolstoi im Laufe des Jahres verteilt? Es muß doch irgendeine Grenze dafür geben, was man sagen darf, selbst an einem Junggesellenabend.

Und für Tolstoi, erwiderte Nagel, stellte es sich so dar: Es muß eine gewisse Grenze dafür geben, wieviel ich verschenken darf! Weshalb er seine Frau die Schuld dafür auf sich nehmen läßt, daß er nicht mehr verschenkt! Hehehe, na, aber das wollen wir überspringen … Doch hören Sie: Schenkt man denn wirklich eine Krone her, weil man gut ist, oder weil man meint, damit eine gute und moralische Handlung zu begehen? Wie ist doch diese Anschauung naiv! Es gibt Leute, die eben nicht anders können, die verschenken müssen. Warum? Weil sie dabei einen wahrhaft psychischen Genuß empfinden. Sie tun das nicht aus logischer Berechnung, sie verstecken sich, um es zu tun, sie verabscheuen die Öffentlichkeit dabei, denn das würde ihnen einen Teil des Genusses rauben. Sie tun es heimlich, mit bebenden und hastigen Händen, die Brust von einem seelischen Wohlgefühl gehoben, das sie selbst nicht verstehen. Es überfällt sie plötzlich das Bedürfnis, etwas zu verschenken, es tritt in Form eines Gefühls in der Brust auf, eines augenblicklichen und sonderbaren Dranges, der in ihnen emporschießt und ihnen das Wasser in die Augen treibt. Sie geben nicht aus Güte, sondern aus Trieb, um ihres persönlichen Wohlseins willen; manche Menschen sind so. Man spricht mit Bewunderung von den mildtätigen Menschen – wie gesagt: ich muß anders beschaffen sein als die anderen Leute, ich bewundere die mildtätigen Menschen nicht. Nein, das tue ich nicht. Wer, zum Teufel auch, wollte nicht lieber geben als nehmen. Darf ich fragen, ob es auf der weiten Erde einen Menschen gibt, der nicht lieber der Not abhelfen möchte, als selbst notleidend zu sein? Und Sie selbst, Herr Doktor, zum Beispiel: Sie gaben neulich dem Burschen, der Sie ruderte, fünf Kronen. Ich hörte es zufällig. Na, warum aber gaben Sie ihm diese fünf Kronen? Gewiß nicht, um eine Gott wohlgefällige Handlung zu begehen, das fiel Ihnen sicher nicht ein; vielleicht brauchte der Mann es durchaus nicht sehr notwendig, aber Sie taten es doch. Und Sie folgten in jenem Augenblick sicher nur einem bestimmten, hellen Impuls, etwas zu verschenken und andere zu erfreuen … Ich finde es so unsagbar schäbig, soviel Aufhebens von der menschlichen Wohltätigkeit zu machen. Man geht eines Tages auf der Straße, es ist das und das Wetter, und man sieht die und die Menschen, das alles zusammen erzeugt in einem die und die Stimmung. Plötzlich fällt der Blick auf ein Gesicht, ein Kindergesicht, ein Bettlergesicht – sagen wir ein Bettlergesicht –, das einen erzittern macht. Ein eigentümliches Gefühl bebt durch die Seele, man stampft mit dem Fuß auf und bleibt stehen. Dieses Gesicht hat eine ungewöhnlich empfindsame Saite in einem angeschlagen, und man lockt den Bettler in ein Tor und drückt ihm einen Zehnkronenschein in die Hand. Wenn du davon sprichst, wenn du ein Wort davon sagst, bringe ich dich um! flüstert man, knirscht beinahe mit den Zähnen und weint vor Heftigkeit, während man das sagt. So sehr ist es einem darum zu tun, unentdeckt zu bleiben. Und das kann sich Tag für Tag wiederholen, so daß man dadurch selbst manchmal in die ärgste Klemme kommt und keinen Ör mehr in der Tasche hat … Das ist natürlich kein Zug von mir; aber ich kenne einen Mann, einen anderen Mann, ja, ich kenne eigentlich zwei Männer, die so beschaffen sind. Nein, man gibt, weil man geben muß, und damit basta! Was aber die Geizigen betrifft, so möchte ich hierin doch eine Ausnahme machen. Die Geizigen und sehr Filzigen bringen wirklich Opfer, wenn sie etwas verschenken, darüber gibt es keinen Zweifel. Und deshalb möchte ich sagen, daß solche Leute, wenn sie sich dazu überwinden, sich von einem Ör zu trennen, mehr zu achten sind als ein Mann wie Sie und der und ich, die wir aus Genuß eine Krone verschenken. Grüßen Sie Tolstoi und sagen Sie ihm, daß ich für seine ganze widerliche öffentliche Güte keinen Pfifferling gebe, – nicht, ehe er alles verschenkt, was er besitzt, und nicht einmal dann … Im übrigen bitte ich um Entschuldigung, falls ich jemand gekränkt haben sollte. Noch eine Zigarre, Herr Grögaard! Herr Doktor, Ihr Wohl!

Pause.

Wie viele Menschen glauben Sie in Ihrem Leben bekehren zu können? fragte der Doktor.

Bravo! rief der Adjunkt, ein Bravo von Adjunkt Holtan!

Ich? fragte Nagel. Niemand, gar niemand. Müßte ich davon leben, die Leute zu bekehren, würde ich bald krepieren. Aber ich kann es nur nicht fassen, daß nicht auch alle anderen Menschen genau so über alles denken wie ich. Folglich bin ich es wohl, der am meisten unrecht hat. Aber nicht ganz unrecht, ich kann unmöglich ganz unrecht haben.

Bis jetzt habe ich noch nicht gehört, daß Sie irgendeine Sache oder einen Menschen anerkannt hätten, sagte der Doktor. Es sollte uns freuen, zu wissen, ob sich nicht doch jemand findet, mit dem auch Sie einverstanden sein könnten.

Darf ich mich ein wenig erklären, es wird mit ein paar Worten getan sein. Sie wollten wohl eigentlich sagen: Paßt nun auf, er hat niemand, zu dem er aufsieht, er ist der personifizierte Hochmut, er kann es mit niemand halten! Das ist ein Irrtum. Mein Gehirn umspannt nicht viel, es reicht nicht weit; und doch könnte ich Hunderte und aber Hunderte gewöhnlicher, anerkannt großer Männer aufzählen, die die Welt mit ihrem Ruhm erfüllen. Ich habe die Ohren voll davon. Aber ich möchte es vorziehen, die zwei, vier, sechs größten Geisteshelden zu nennen – Werte schaffende, gigantische Halbgötter – und mich im übrigen am liebsten an einige unbedeutende Menschen halten, eigenartige, feine Genies, von denen niemals die Rede ist, die nur kurze Zeit leben und jung und unbekannt sterben. Es kann wohl sein, daß ich von diesen verhältnismäßig viele nennen würde. Hingegen würde ich Tolstoi sicher vergessen.

Hören Sie, sagte der Doktor abfertigend und um der Sache ein Ende zu machen – er zuckte sogar stark mit den Achseln –, glauben Sie wirklich, daß ein Mensch einen solchen Weltruhm wie Tolstoi erlangen könnte, ohne ein Geist von hohem Rang zu sein? Es ist fabelhaft unterhaltend, Ihnen zuzuhören, aber Sie reden Unsinn. Sie faseln, hol mich der Teufel, daß einem schlecht werden könnte.

Adjunkt Holtan brüllte:

Bravo, Doktor! Wir wollen uns wirklich durch unseren Gastgeber nicht den Atem rauben lassen … den Atem …

Der Adjunkt erinnert mich daran, daß ich tatsächlich kein gemütlicher Gastgeber bin, sagte Nagel lachend. Aber ich werde mich jetzt bessern. Herr Öien, Sie haben ja nichts zu trinken! Warum in aller Welt trinken Sie nicht?

Student Öien hatte die ganze Zeit wie versteinert dagesessen und dem Gespräch zugehört, er hatte kaum ein Wort verloren. Seine Augen waren neugierig und klein, und wenn er lauschte, stellte er förmlich die Ohren auf. Der junge Mann war stark interessiert. Man erzählte sich, daß er – wie andere Studenten auch – in den Ferien an einem Roman schreibe.

Sara kam mit der Nachricht, daß das Abendessen fertig sei. Der Rechtsanwalt, der etwas zusammengefallen dasaß, riß plötzlich die Augen auf und sah zu ihr hin, und als sie wieder zur Tür hinaus war, sprang er auf, holte sie auf der Treppe ein und sagte voll Bewunderung:

Sara, du bist erquicklich anzuschauen. Das muß ich sagen.

Dann kam er wieder herein und setzte sich so ernst wie zuvor auf seinen Platz. Er war stark angeheitert. Als sich nun Doktor Stenersen auch noch wegen seines Sozialismus über ihn warf, konnte er gar nicht mehr Rede und Antwort stehen. Ja, er sei ein köstlicher Sozialist! Ein Schinder sei er, ein jämmerlicher Zwischenhändler zwischen Macht und Ohnmacht, ein Jurist, der vom Streit der anderen lebe und sich dafür bezahlen ließe, daß er der Rechthaberei Recht, gesetzliches Recht, verschaffe. Und so etwas wolle Sozialist sein!

Ja, aber im Prinzip, im Prinzip, wandte der Rechtsanwalt ein.

Prinzip! Der Doktor sprach mit dem größten Hohn von Rechtsanwalt Hansens Prinzip. Während sich die Herren in den Speisesaal hinunterbegaben, machte er einen Ausfall nach dem anderen gegen ihn, spottete über Hansen als Rechtsanwalt und griff das ganze sozialistische Treiben an. Der Doktor war Liberaler mit Leib und Seele, er war kein Maulsozialist. Was ist das sozialistische Prinzip? Zum Teufel damit! – Jetzt war der Doktor auf dem hohen Roß: Der Sozialismus ist, auf eine knappe Formel gebracht, die Racheidee der unteren Klasse. Sehen Sie sich den Sozialismus als Bewegung an! Ein Volk von blinden und tauben Bestien, die mit zum Halse heraushängender Zunge hinter dem Führer hertraben. Denken sie weiter als bis zu ihrer Nasenspitze? Nein, das Volk dachte nicht. Wenn es dächte, so würde es zu den Liberalen gehen und etwas Nützliches und Praktisches auszurichten versuchen, anstatt sein ganzes Leben lang dazuliegen und an einem Traum zu kauen. Pfui Teufel. Nehmen Sie irgendeinen von den sozialistischen Führern, was sind das für Leute? Zerlumpte und magere Burschen, die in ihrer Dachkammer auf einem Holzstuhl sitzen und Abhandlungen über die Verbesserung der Welt schreiben! Das können natürlich ganz anständige Leute sein, wer wollte über Karl Marx etwas anderes sagen? Aber da sitzt nun ein solcher Marxist und kritzelt die Armut aus der Welt – theoretisch. Sein Kopf hat sich jede Art von Armut, jeden Grad des Elends ausgedacht, sein Gehirn umfaßt alle Leiden der Menschheit. Dann taucht er die Feder ein und schreibt brennenden Geistes eine Seite nach der anderen, füllt große Bogen mit Zahlen, nimmt dem Reichen und gibt dem Armen, verteilt Summen, pflügt die ganze Ökonomie der Erde um, schleudert Milliarden über die erstaunten Armen hin – alles wissenschaftlich, alles theoretisch! Und zu guter Letzt zeigt es sich, daß man in aller Einfalt von einem grundfalschen Prinzip ausgegangen ist: von der Gleichheit der Menschen! Pfui Teufel! Ja, ein grundfalsches Prinzip! Und das, anstatt sich etwas Nützliches vorzunehmen und die Linke in der Reformarbeit zur Förderung der wahren Demokratie zu stützen …

Auch der Doktor war nach und nach heiß geworden und kam mit vielen Redensarten und Behauptungen daher. Bei Tisch wurde er noch schlimmer, man trank eine Menge Champagner, und die Stimmung stieg wild: selbst Minute, der neben Nagel saß und bisher geschwiegen hatte, mischte sich mit einigen Bemerkungen ins Gespräch. Der Adjunkt saß steif da und schrie ein über das andere Mal wegen eines Eies, dessen Inhalt ihm auf den Anzug getropft war und weshalb er sich nicht rühren konnte. Er war ganz hilflos. Als aber Sara kam und ihn abwischen wollte, benützte der Rechtsanwalt die Gelegenheit, sie zu erhaschen. Er nahm sie in die Arme und trieb den größten Unsinn mit ihr. Der ganze Tisch war ein Wirrwarr.

Mitten darunter bestellte Nagel einen Korb Champagner auf sein Zimmer. Bald darauf erhob man sich vom Tisch. Der Adjunkt und der Rechtsanwalt gingen Arm in Arm und sangen vor lauter Lustigkeit, und der Doktor begann wieder, sich in eifrigem Ton über das Prinzip des Sozialismus auszubreiten. Aber auf der Treppe hatte er das Pech, seinen Zwicker zu verlieren, der ihm sicher zum zehnten Male herunterfiel und endlich entzweiging. Beide Gläser zerbrachen. Er steckte die Einfassung in die Tasche und war nun für den ganzen Abend halb blind. Das ärgerte ihn und machte ihn noch hitziger; zornig setzte er sich neben Nagel und sagte spöttisch:

Wenn ich Sie recht verstehe, sind Sie ein religiöser Mann?

Das sagte er in vollem Ernst und erwartete eine Antwort. Nach einer kleinen Pause sagte er weiter, er habe nach dem ersten Gespräch, das sie miteinander geführt hätten – an dem Tag von Karlsens Begräbnis –, den Eindruck bekommen, daß er – Nagel – wirklich ein religiöser Mann sei.

Ich verteidige das religiöse Leben im Menschen, antwortete Nagel, nicht speziell das Christentum, durchaus nicht, sondern überhaupt das religiöse Leben. Sie meinten, alle Theologen sollten aufgehängt werden. Warum? fragte ich. Weil ihre Rolle ausgespielt ist, antworteten Sie. Und darin war ich mit Ihnen nicht einig. Das religiöse Leben ist ein Faktum. Der Türke ruft: Allah ist groß! und stirbt für diese Überzeugung; der Norweger kniet noch heute vor dem Altar und trinkt Christi Blut. Jedes Volk hat irgendeine Kuhglocke, an die es glaubt, und in diesem Glauben stirbt es selig. Das Entscheidende ist nämlich nicht, woran man glaubt, sondern wie man daran glaubt …

Ich bin erstaunt, solch ein Geschwätz von Ihnen zu hören, sagte der Doktor verärgert. Ich frage mich wirklich immer wieder, ob Sie im Grunde nicht doch nur ein verkappter Anhänger der Rechten sind. Eine wissenschaftliche Kritik nach der anderen kommt über Theologen und theologische Bücher heraus, ein Skribent nach dem anderen steht auf und schlägt diese Predigtsammlung und jene theologische Abhandlung kurz und klein. Und trotzdem gehen Sie nicht davon ab, daß zum Beispiel die Komödie mit Christi Blut noch in unseren Tagen ihren Wert habe. Ich verstehe diesen Gedankengang nicht.

Nagel dachte nach und sagte dann:

Mein Gedankengang ist in Kürze folgender: Welchen Gewinn bringt es uns im Grund – entschuldigen Sie übrigens, wenn ich vielleicht schon vorher einmal danach gefragt haben sollte – welchen Gewinn bringt es uns im Grund, rein praktisch gesprochen, aller Poesie, allen Träumen, aller schönen Mystik, allen Lügen das Leben zu rauben? Was ist die Wahrheit, wissen Sie das? Wir bewegen uns doch nur durch Symbole vorwärts, und diese Symbole wechseln wir, je nachdem wir vorwärtsschreiten. Vergessen wir übrigens unsere Gläser nicht.

Der Doktor erhob sich und ging durch das Zimmer. Ärgerlich bemerkte er, daß ein kleines Stück vom Teppich bei der Türe zusammengerollt war, und kniete sogar nieder, um es glattzustreichen.

Du könntest mir doch wohl deine Brille leihen, du, Hansen, wenn du doch nur dasitzt und schläfst, sagte er förmlich aufgebracht.

Aber Hansen wollte seine Brille nicht hergeben, und unwillig wandte sich der Doktor von ihm ab. Er setzte sich wieder zu Nagel.

Ja, das ist Unsinn, ein Unsinn ist es, das Ganze ist im Grunde Plunder, sagte er, von Ihrem Standpunkt aus gesehen. Sie haben vielleicht bis zu einem gewissen Grad recht. Sehen Sie nun Hansen dort, hahaha, ja entschuldige, daß ich über dich lache, Hansen, Rechtsanwalt und Sozialist Hansen. Solltest du nicht jedesmal, wenn zwei gute Bürger in Streit geraten und einander verklagen, eine gewisse innerliche Freude empfinden? Nein, du würdest sie am liebsten in aller Güte versöhnen und keinen Schilling dafür annehmen! Und am nächsten Sonntag würdest du wieder in die Arbeitervereinigung gehen und vor zwei Handwerkern und einem Metzgerburschen einen Vortrag über den sozialistischen Staat halten. Ja, ja, der Nutzen eines jeden soll seiner Fähigkeit zu produzieren entsprechen, würdest du sagen, alles ist so ausgezeichnet geordnet, und keinem soll Unrecht geschehen. Da aber steht der Metzgerbursche auf, der Metzgerbursche, der, Gott behüte mich, ein Genie ist im Vergleich mit euch anderen allen, er steht also auf und sagt: Ich aber habe eine gewisse großhändlerische Anlage zu konsumieren, im Produzieren jedoch bin ich nur ein armer Metzgerbursche, denn in dieser Beziehung bin ich nicht besser begabt, sagt er. Müßtest du da nicht bleich und ergrimmt dastehen, du Schafskopf? … Ja, schnarch du, dabei geht es dir am besten, schnarch nur weiter! – Der Doktor war schwer berauscht, seine Zunge versagte kläglich, und er sah mit schwimmenden Augen vor sich hin. Nach einer Pause wandte er sich wieder zu Nagel und fuhr düster fort: Übrigens meinte ich nicht, daß sich nur die Theologen umbringen sollten. Nein, das sollten wir, Gott verdamm mich, alle miteinander tun, wir sollten die ganze Welt ausrotten und die Kugel weiterrollen lassen.

Nagel stieß mit Minute an. Der Doktor bekam keine Antwort, er wurde zornig und rief laut:

Hören Sie nicht, was ich sage? Wir sollten uns alle miteinander umbringen, sage ich, Sie auch natürlich, Sie auch. Und dabei sah der Doktor ganz bissig aus.

Ja, antwortete Nagel, daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich für meine Person habe nicht den Mut dazu. – Pause. – Ich behaupte also durchaus nicht, daß ich den Mut dazu habe; aber sollte ich eines Tages den Mut bekommen, dann habe ich die Pistole schon bereit. Und für alle Fälle trage ich sie immer bei mir.

Und er zog aus der Westentasche ein kleines Medizinglas, das ein Giftzeichen trug, und hielt es in die Höhe. Das Glas war nur halb voll.

Echte Blausäure, reinstes Wasser! sagte er. Doch ich habe nie den Mut; es fällt mir zu schwer … Herr Doktor, Sie können mir wohl sagen, ob das genug ist. Ich habe bereits die eine Hälfte bei einem Tier angewendet, und es wirkte ausgezeichnet. Es gab einen kleinen Krampf, eine kleine herbe Komik im Gesichtsausdruck, zwei, drei Schnapper nach Luft, das war alles; in drei Zügen matt.

Der Doktor nahm das Glas, sah es an, schüttelte es einige Male und sagte:

Das ist genug, mehr als genug … Eigentlich sollte ich Ihnen ja dieses Glas wegnehmen; aber wenn Sie doch nicht den Mut dazu haben …

Nein, ich habe nicht den Mut dazu.

Pause. Nagel steckte das Fläschchen wieder in die Westentasche. Der Doktor sank immer mehr zusammen, trank aus seinem Glas, sah mit toten Augen umher und spuckte auf den Boden. Plötzlich rief er zum Adjunkten hinüber:

Hei, wie weit bist du, Holtan? Bringst du es noch zur »Ideenassoziation«? Ich nämlich nicht mehr. Gute Nacht!

Der Adjunkt öffnete die Augen, streckte sich ein wenig, stand auf und ging zum Fenster, wo er stehenblieb und hinaussah. Als das Gespräch wieder anfing, benützte er die Gelegenheit, sich davonzumachen; unbemerkt schlich er sich an der Wand entlang, öffnete die Türe und war draußen, ehe es jemand gesehen hatte. Adjunkt Holtan pflegte stets auf diese Weise eine Gesellschaft zu verlassen.

Auch Minute stand auf und wollte fort; als er aber gebeten wurde, noch eine kleine Weile zu bleiben, setzte er sich wieder hin. Rechtsanwalt Hansen schlief. Die drei, die noch nüchtern waren, Student Öien, Minute und Nagel, begannen von Literatur zu sprechen. Der Doktor hörte nur mit halboffenen Augen zu und sagte kein Wort mehr. Bald darauf schlief auch er.

Der Student war sehr belesen und hielt viel auf Maupassant: man müsse sagen, Maupassant sei bis zuinnerst in die Geheimnisse der Frau eingedrungen und sei als Dichter der Liebe unerreicht. Welche Kühnheit in der Schilderung, welch eine wunderbare Kenntnis des Menschenherzens! Nagel aber antwortete lächerlich auffahrend, schlug auf den Tisch, trumpfte auf, griff die Schriftsteller ohne Unterschied an, machte beinahe reinen Tisch und verschonte nur ganz wenige mit dem Tode. Seine Brust schien unter all dieser Heftigkeit ganz ehrlich zu wogen, und der Schaum stand ihm um den Mund.

Die Dichter! Hehe, ja, man müsse sagen, daß sie bis zutiefst ins Menschenherz eingedrungen seien! Was sind die Dichter, diese wichtigtuerischen Wesen, die es verstanden hatten, die Macht im modernen Leben an sich zu reißen, was sind sie eigentlich? Ja, ein Ausschlag, eine Krätze am Körper der menschlichen Gemeinschaft, reizbare und geschwollene Bartfinnen, die man zart behandeln muß, mit Vorsicht und Pietät anfassen, sonst spielen sie sich auf, denn sie vertragen keine harte Behandlung! Ja, ja, von den Dichtern müsse man unbedingt viel Aufhebens machen, besonders von den dümmsten, den menschlich am wenigsten entwickelten, den Heinzelmännchengreisen; sonst trollen sie sich ins Ausland! Hehe, ins Ausland, ja! Ach du guter Gott, welch eine köstliche Komödie. Und gab es einen Dichter, einen wirklich geistesberauschten Sänger mit echten Tönen in der Brust, dann konnte man den Teufel darauf schwören, daß er weit hinter den großen bücherschreibenden Handwerkern, wie Maupassant einer ist, eingereiht würde! Hinter einem Mann, der viel über die Liebe geschrieben und gezeigt hat, daß ihm die Bücher leicht von der Hand gehn; ja, Recht muß Recht bleiben! Ach, ein kleiner hell schimmernder Stern, in seinem Bereich ein wirklicher Dichter, Alfred de Musset, bei dem die Liebe nicht brünstige Routine war, sondern ein feiner und feuriger Frühlingston in seinem Menschen, und bei dem die Worte auf den Zeilen förmlich flammten, dieser Dichter hatte vielleicht nicht halb soviel Überzeugte auf seiner Seite wie der unbedeutende Maupassant mit seiner außerordentlich groben und seelenlosen Wadenpoesie …

Nagel überschritt alle Grenzen. Er fand auch Gelegenheit, über Victor Hugo herzufallen und schließlich die größten Schriftsteller der Welt zum Teufel zu wünschen. Man möge ihm gestatten, eine einzige kleine Probe von dem hohlen poetischen Getöse eines solchen Weltschriftstellers zu geben. Passen Sie auf: »O wäre doch dein Stahl so scharf, wie es dein letztes Nein gewesen!« Wie fand man das, klang das nicht gut? Was meinte Herr Grögaard?

Nagel warf gleichzeitig einen durchbohrenden Blick auf Minute. Er starrte ihn an und wiederholte noch einmal, die Augen unablässig auf Minutes Gesicht geheftet, diese alberne Zeile. Minute antwortete nicht, seine blauen Augen weiteten sich ganz erschreckt, und in der Verwirrung nahm er einen großen Schluck aus seinem Glas.

Sie erwähnten Ibsen, fuhr Nagel immer noch gleich erregt fort, ohne daß Ibsens Name genannt worden war. Seiner Meinung nach gab es nur einen Dichter in Norwegen, und das war nicht Ibsen. Nein, wahrhaftig nicht. Man sprach von Ibsen als Denker; sollte man nicht lieber zwischen populärem Raisonnement und wirklichem Denken unterscheiden? Man sprach von Ibsens Berühmtheit, hielt uns beständig seinen Mut vor; sollte man nicht lieber zwischen dem praktischen und dem theoretischen Mut, zwischen dem uneigennützigen, rücksichtslosen Revolutionsdrang und der häuslichen Aufruhrfrechheit unterscheiden? Der eine strahlt im Leben, der andere verblüfft im Theater. Ein norwegischer Schriftsteller, der sich nicht aufblase und nicht eine Stecknadel wie eine Lanze handhabe, sei gar kein norwegischer Schriftsteller; gegen irgendeinen Zaunpfahl müsse man anrennen, sonst war man keine mutige Ameise. Ja, es war wirklich sehr vergnüglich, so von weitem zuzusehen. Schlachtengetümmel und Mannesmut wie in einem napoleonischen Treffen. Aber Gefahr und Risiko wie bei einem französischen Duell. Hehehe … Nein, ein Mann, der revoltieren wollte, durfte nicht ein kleines schreibendes Kuriosum sein, ein bloßer und rein literarischer Begriff für die Deutschen, sondern ein kraftsprühender, wirkender Mensch im Getümmel des Lebens. Ibsen würde von seinem Revolutionsmut ganz sicher niemals aufs Eis geführt werden; das mit dem Torpedo unter der Arche war eine ärmliche Departementstheorie, verglichen mit der lebenden und lodernden Tat. Na, übrigens war das eine vielleicht so gut und so schlecht wie das andere, solange wir überhaupt bis über die Ohren in einer solchen Frauenzimmerarbeit steckten und Bücher für die Leute schrieben. Wenn es auch noch so jämmerlich war, hatte es doch auf jeden Fall den gleichen Wert wie Leo Tolstois unverschämtes philosophisches Gefasel. Der Teufel hole das Ganze.

Das Ganze? Alles miteinander?

Ja, beinahe. Übrigens haben wir wenigstens einen Dichter, das ist Björnson in seinen besten Stunden. Er ist doch unser einziger, trotz allem, trotz allem …

Aber würden nicht die meisten Einwendungen gegen Tolstoi auch Björnson treffen? Ist nicht auch Björnson nur ein Verkünder, ein Sittlichkeitsprediger, ein gewöhnlicher und langweiliger Greis, nur ein Bücherschreiber und so weiter?

Nein! rief Nagel mit lauter Stimme. Er gestikulierte und verteidigte Björnson mit heftigen Worten: Man könne Björnson und Tolstoi nicht miteinander vergleichen, teils, weil dies gegen jede gerade agronomische Vernunft streiten würde, teils, weil sich der innere Mensch in einem dagegen sträuben müßte. Erstens sei Björnson ebenso ein Genie wie Tolstoi. Nagel schätzte die ganz gewöhnlichen großen und tagtäglichen Genies nicht sehr hoch ein – Gott mochte wissen, das tat er nicht –, diese Stufe jedoch hatte Tolstoi immerhin erreicht, Björnson aber hatte ihn noch weit überholt. Das hinderte natürlich nicht, daß Tolstoi Bücher machen konnte, die besser seien als viele von Björnson; was aber bewies das? Sogar dänische Kapitäne, norwegische Maler und englische Frauen könnten gute Bücher machen. Zweitens aber sei Björnson ein Mensch, eine überwältigende Persönlichkeit, kein Begriff. Er tobe wie ein lebender Körper auf unserem Erdball umher und brauche Ellbogenfreiheit für vierzig. Er mache sich nicht zur Sphinx für die Menschen und nicht groß und mystisch wie Tolstoi in seiner Steppe oder Ibsen in seinem Café. Björnsons Inneres ist wie ein Wald im Sturm, er streitet, ist überall und verdirbt sich seine Geschäfte beim Publikum des Grand-Cafés gar herrlich. Er ist als Masse angelegt, ist ein gebietender Geist, einer der wenigen Befehlshaber. Er kann auf einer Tribüne stehen und ein beginnendes Gepfeife mit einer Handbewegung zum Schweigen bringen. Er habe ein Gehirn, in dem es unaufhörlich bohrt und wühlt; er siege kräftig und fehle gröblich, beides aber mit Persönlichkeit und Geist. Björnson sei unser einziger Dichter mit Inspiration, mit dem göttlichen Funken. Es beginne in ihm wie ein Rauschen durchs Korn am Sommertag, und es ende damit, daß man nichts, nichts mehr außer ihm, außer ihm höre; die Bewegungsart seiner Seele sei der Anlauf, die Bewegungsart des Genies. Ibsens Dichtung sei mit der Björnsons verglichen eine rein mechanische Büroarbeit. Ibsens Verse bestünden in hohem Maße darin, daß Reim auf Reim trifft, so daß es knallt; die meisten seiner Schauspiele seien dramatisierte Holzmasse. Wo, zum Teufel, käme man hin … Na, lassen wir es übrigens gut sein; das Ganze lebe hoch …

Es war zwei Uhr. Minute gähnt. Schläfrig nach einem arbeitsreichen Tag und von Nagels endlosem Geschwätz müde und gelangweilt, steht er wieder auf und will gehen. Als er sich schon verabschiedet hatte und bis zur Türe gekommen war, trat jedoch etwas ein, was ihn zwang stehenzubleiben, – ein kleines verschlagenes Ereignis, das erst viel später die größte Bedeutung erhalten sollte: der Doktor wacht auf, schlägt heftig mit den Armen um sich und wirft in seiner Kurzsichtigkeit mehrere Gläser um, und Nagel, der dem Doktor am nächsten saß, wurde mit Champagner übergossen. Er sprang auf, schüttelte lachend seine nasse Brust und rief ausgelassen hurra.

Minute machte sofort den dienenden Geist, er lief mit Taschentuch und Handtuch zu Nagel hin und wollte ihn abtrocknen. – Besonders die Weste habe viel abbekommen, wenn Nagel sie nur einen Augenblick, eine Minute lang ausziehen wolle, dann sei es sofort wieder in Ordnung gebracht. Aber Nagel wollte die Weste nicht hergeben. Jetzt erwachte auch der Rechtsanwalt von dem Lärm und begann hurra zu rufen – er auch, ohne zu wissen, was vorging. Noch einmal bat Minute für einen Augenblick um die Weste. Nagel schüttelt nur den Kopf. Plötzlich sieht er Minute an; es fällt ihm etwas ein, augenblicklich steht er auf, zieht die Weste aus und überreicht sie ihm rasch und heftig.

Hier, bitte! sagte er. Trocknen Sie sie ab, behalten Sie das Ding; doch, doch, Sie sollen sie behalten, Sie haben ja keine Weste. Sst, kein Gerede! Sie sei Ihnen von Herzen vergönnt, lieber Freund. – Als aber Minute immer noch Einwendungen machte, klemmte Nagel ihm die Weste unter den Arm, öffnete die Türe und puffte ihn freundschaftlich hinaus.

Und Minute verschwand.

Das ging so schnell vor sich, daß nur Öien, der der Türe am nächsten saß, es bemerkte.

Jetzt schlug der Rechtsanwalt in seinem Galgenhumor vor, auch noch den Rest der Gläser zu zertrümmern. Nagel hatte nichts dagegen, und so belustigten sich vier erwachsene Männer damit, ein Glas nach dem anderen an die Wand zu schleudern. Danach tranken sie aus den Flaschen, grölten wie Matrosen und tanzten umher. Es war vier Uhr, als das Gelage ein Ende fand. Der Doktor war über alle Maßen betrunken. Noch in der Türe wandte sich der Student Öien zu Nagel um und sagte:

Aber was Sie von Tolstoi sagten, kann man ja auch von Björnson sagen. Sie sind nicht konsequent …

Hahaha! lachte der Doktor besessen. Er verlangt Konsequenz … zu dieser Tageszeit! … Können Sie »Enzyklopädisten« sagen, lieber Mann? »Ideenassoziationen«? Kommen Sie nun, ich will Sie heimbringen … Haha, zu dieser Tageszeit! …

 

Es regnete nicht mehr. Aber es war auch keine Sonne da; das Wetter war still und versprach einen milden Tag.


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