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Es war dumm, daß der Rechtsanwalt abreiste, er würde sonst für Ordnung gesorgt haben.
Bertelsen war in lustiger Stimmung, er begann schon gleich nach dem Mittagessen mit Wein, erwischte Fräulein Ellingsen und wollte sich großartig vor ihr zeigen, wollte derselbe sein wie früher, mehr als früher, wollte »Prost, Fräulein Ellingsen!« sagen und ihr den Hof machen.
Und sie konnte ihrerseits ja nicht zurückstehen, auch sie mußte bei dieser peinlichen Begegnung frei und überlegen sein. Frau Bertelsen, die frühere Frau Ruben, fand sich soso-lala damit ab, nahm es durchaus nicht tragisch, dazu war sie zu klug, hatte ein zu gutes Köpfchen, wenn sie es gebrauchen wollte. Es war gefährlich schnell mit ihr und Bertelsen gegangen, es war vielleicht nicht das Glücklichste, was sie erlebt hatte, aber sie war nicht verzagt, sie war einmal, die sie war, und hatte ihr Privateigentum in Ordnung.
Oh, dieses Privateigentum, Gott weiß, ob es nicht schon Gegenstand für Attacken gewesen sein mochte.
Außer Fräulein Ellingsen und Bertelsen und Frau war noch eine vierte Person mit beim Gelage, eine Hardesvogtswitwe, oder was sie nun war, Sekretärin eines gewissen Unternehmens mit einer Tischdecke. Sie war eingeladen worden, auf dem vierten Stuhl zu sitzen und die Zahl vollzumachen, und das verstand sie selbst auch sehr gut. Anfangs wollte sie sich geltend machen und lobte Frau Bertelsens gutes Aussehen, aber da war nun nichts zu prahlen, und die gnädige Frau antwortete nur: Na ja! Frau Bertelsen wußte selber, wie ihr Aussehen war, es war mittelmäßig: sie aß wieder – wenig und vorsichtig, damit sie nicht zu dick wurde, aber genug, um sich einigermaßen gesundzuhalten. Daraus entspringen nicht Blüte und Schönheit. Aber Frau Bertelsen hatte doch jedenfalls ihre Augen, einen Blick, der tiefer und herrlicher als jeder andere sein konnte.
Ja, sagte die Witwe, es ist wunderbar, wie gut Sie aussehen, Frau Bertelsen. Ich weiß noch, wie Sie früher waren, voriges Jahr, in der ersten Zeit –
Aber wieder sagte Frau Bertelsen: Na ja.
Hierauf wurde die Witwe sehr bescheiden und ruhig in der reichen Gesellschaft und hing nur an Frau Bertelsens Lippen.
Fräulein Ellingsen hingegen erwies der gnädigen Frau keine besondere Aufmerksamkeit, sie hatte wohl ihre Gründe dafür. Das Fräulein hatte genug mit den eigenen Gedanken zu tun. Als sie Wein bekommen hatte, begann sie von selbst von ihrem Buche zu erzählen, dieser Sammlung Feuilletons, die jetzt zu Weihnachten erscheinen sollten. Sie hatte endlich diese Ferien bekommen, um es fertigzumachen.
Bertelsen hatte zwar oft genug von der Sammlung gehört, aber die Damen fragten aus Höflichkeit, wie sie heißen sollte. »Der Schrei in der Nacht«, antwortete Fräulein Ellingsen.
Ach!
Sie hatte noch keinen Verlag gewählt, aber sie wußte, wie groß das Buch werden sollte und hatte den ganzen Inhalt im Kopfe.
Daß Sie das machen können, daß Sie es fertigbringen! sagten die Damen.
Das sagen alle, antwortete das Fräulein. Aber es ist ja schon so, daß man berufen sein muß. Es fliegt mir zu, ich habe nicht die geringste Mühe, mir den Stoff auszudenken. Wollen Sie zum Beispiel hören, was ich jetzt in der Bahn auf der Herfahrt erlebt habe?
Ja, sagten die Damen, und Prosit, Fräulein Ellingsen! sagte Bertelsen.
Ja, auf dem Sitz mir gerade gegenüber saß ein Mann, ich würde ihn in der größten Volksmenge wiedererkennen, solchen Eindruck machte er auf mich. Er saß da und tat alles mit der Unken Hand.
Nun, fragten die Damen gespannt.
Mit der linken Hand! stellt das Fräulein fest.
Ja, war das so seltsam?
Der Mann, sagte das Fräulein, hatte sicher etwas getan, was nur mit der rechten Hand gemacht werden konnte.
Die Damen verstanden keine Spur.
Das Fräulein mit Nachdruck: Er simulierte Linkshändigkeit.
Simulierte Linkshändigkeit? sagte Frau Bertelsen. Ach so. Ja, aber woher wissen Sie das? Was in aller Welt – ich verstehe nicht –
Fräulein Ellingsen begann sich wieder zu verlieren, sie ertrug keine Frage, man durfte ihr nicht auf den Leib rücken. Und als Frau Bertelsen fragte: Aber was weiter? schüttelte das Fräulein den Kopf und antwortete: Es gibt nicht mehr – bis jetzt nicht.
Bertelsen griff ein. Gott weiß, ob der gute Bertelsen nicht ein bißchen für sich arbeitete und seine Frau in irgendeiner Beziehung mürbe machen wollte, er sagte: Ich verstehe nicht, was es für Spaß machen kann, so gründlich nach allem zu fragen. Fräulein Ellingsen hat den feinsten Spürsinn, den ich kenne, sie weiß schon, was sie sagt. Prosit, schöne Dame!
Ich finde, es war Unsinn, sagt Frau Bertelsen. Entschuldigen Sie, daß ich das sage!
Fräulein Ellingsen sah zu Boden, aber die sonst so ruhige Dame zitterte ein wenig und ließ ihre schiefen Augen mit einem schmalen Schimmer vom Boden zu Frau Bertelsens Knien hinaufgleiten. Ich habe einen Anhalt, sagte sie, vom Telegraphentisch, sagte sie. Es könnte ja sein, daß ich ein wenig über den Mann im Zuge wüßte. Aber ich darf nicht mehr sagen, ich habe meinen Eid.
Ja, da hörst du! sagte Bertelsen zu seiner Frau. Er stand auf, gähnte und sagte: Hier ist so viel Rauch, daß wir uns gegenseitig nicht sehen können. Haben die Damen etwas dagegen, daß ich das Fenster ein wenig öffne?
Es stimmte, der Rauch war dicht, er brannte der Hardesvogtswitwe in den Augen, und weder die große Hängelampe über dem Tisch noch die Stearinkerze in der Ecke bei der Tür vermochte ordentlich zu leuchten.
In diesem Augenblick, als Bertelsen das Fenster öffnete, war es, daß er den Selbstmörder unten auf dem Hofe erblickte und heraufrief.
Ein vielfältiger Ausruf im Zimmer – und Frau Bertelsen schrie: Mach' das Fenster zu! Siehst du nicht, daß die Lampe ausgegangen ist!
Er zog mit Mühe das Fenster wieder zu und fluchte ein bißchen über den starken Wind. Jetzt leuchtete nur die Stearinkerze im Zimmer. Die Witwe wollte die Lampe wieder anzünden, verbrannte sich jedoch die Finger an dem heißen Glase und gab es auf. Sie wurden einig, daß sie Licht genug hatten, und unterhielten sich weiter im Halbdunkel. Bertelsen schalt eine Weile auf den Selbstmörder, der nicht einmal auf die Einladung geantwortet hatte, schimpfte auf den Wind, der ihm fast das Fenster aus den Händen gerissen hätte, und murrte über die elende Stearinkerze, die so schlecht leuchtete, daß er sein Glas nicht finden konnte – viel Ärger, viel Mißgeschick, und eine Weile darauf schlief Bertelsen.
Ja, der gesunde, starke Mann brauchte immer ein Schläfchen, wenn die Kneiperei sich ein wenig in die Länge zog. Die Damen nahmen keine Notiz davon, sie unterhielten sich weiter, und es war, als ob sie sich jetzt, da sie allein waren, immer mehr fanden. Frau Bertelsen wußte am meisten über Theater und Musik, sie saß da, spielte mit einem ihrer teuren Ringe und erzählte interessant von einer Sängerin, einem großen Stern, die jetzt bei ihrem letzten Konzert in Kristiania keinen Ton in der Kehle gehabt hatte, so daß es einen Skandal gab.
Die Witwe wunderte sich mit wenigen Worten, daß die Sängerin nicht beizeiten aufgehört habe.
Frau Bertelsen: Es ist so traurig, sie sind zu dieser letzten Tournee gezwungen. In den guten Jahren singen sie sich Reichtum zusammen, aber sie brauchen ihn auf, und dann werden sie alt und stehen mit leeren Händen da.
Ja, so geht es, sagt Fräulein Ellingsen auch, um liebenswürdig zu sein.
Und die Damen sprachen und sprachen, Bertelsen schlief. Es vergingen ein paar Stunden oder mehr, die Witwe paßte auf, ob Frau Bertelsen das Zeichen zum Aufbruch geben würde, denn dann wollte sie gleich Lebensart zeigen und sich erheben, das wollte sie, das schuldete sie sich und der angesehenen Dame, bei der sie zu Gast war.
Endlich schnarcht Bertelsen ein wenig zu laut auf seinem Stuhl, und Frau Bertelsen sagt: Ich weiß nicht, es ist vielleicht spät geworden? Nicht, um die Damen zu verjagen –
Alle erhoben sich.
Aber jetzt ließ Frau Bertelsen ihren Ring fallen. Sie guckte auf dem Fußboden nach, und die andern Damen halfen ihr suchen. Fräulein Ellingsen holte das Licht und leuchtete herum, sie umkreiste Frau Bertelsen, es war doch merkwürdig, daß der Ring ganz verschwunden sein sollte. Sie kam hinter Frau Bertelsen und leuchtete. Hier ist er! sagte sie. Im selben Augenblick stand Frau Bertelsen in lichten Flammen –
Das nächste ist eine Mischung von Geschrei und Feuer, die gnädige Frau sucht wohl Wasser, Teppiche zu fassen, sie wirbelt in den Alkoven und steckt unterwegs die Portiere in Brand, überall, wohin sie kommt, zündet es, Geschrei und Feuer, Geschrei und Feuer.
Schließlich wacht Bertelsen auf und schreit, halb betrunken, noch lauter als die andern: daß sie nicht so schreien, daß sie ruhig bleiben sollen! Als er in den Alkoven will, um seiner Frau zu helfen, fängt auch er an der Portiere Feuer, er weicht zurück und will aus dem Fenster springen, entzündet aber die Gardinen, er kehrt zum Tische zurück und leert Weinreste auf seine brennenden Kleider, aber das ist das reine Flickwerk und hilft nichts. Fräulein Ellingsen tut etwas Vernünftiges, sie reißt die Tischdecke herunter, so daß Gläser und Flaschen zu Boden rasseln, und wickelt das Tuch um den brennenden Mann. Aber das reicht ja nicht, das Tuch bedeckt ihn nicht, und außerdem steht er nicht still, sondern rast herum; das nächste, was Fräulein Ellingsen merkt, ist, daß sie auch brennt. Sie wirft sich auf den Boden und wälzt sich, schreit, heult, wirft den Tisch um. Die einzige, die jetzt etwas hätte ausrichten können, steht da wie eine Säule und schluckst, die Witwe unternimmt nichts, sondern steht gelähmt da und schluckst. Plötzlich befreit Bertelsen sich von der brennenden Tischdecke, reißt sie sich als eine lange Flamme herunter, schleudert sie soweit wie möglich fort, zur Witwe hinüber, zu deren Füßen sie hinfällt und sie auch anzündet –
Jetzt brennen alle und alles.
Drüben im Leuteanbau merken sie, daß es so stark im Schlosse leuchtet; als sie hinauslaufen und den Rauch sehen, begreifen sie, daß ein Unglück geschehen ist. Es ist Sturm geworden, sie können nicht aufrecht gehen, sie müssen sich mit gesenkten Köpfen vorwärtsschieben, sie rufen: Feuer! um alle Menschen zu wecken, bleiben dann an der Verandatür stehen und warten, daß sie von drinnen geöffnet werde und jemand herauskomme. Nein. Als es so lange Zeit dauert, holt der Schweizer ein Beil aus dem Holzschuppen und schlägt die Tür ein. Aber niemand kommt heraus. Schweizer, Inspektor und Briefträger laufen durch den Korridor ins Schloß und die Treppe hinauf und brüllen: Feuer! Als der Rauch sie zuletzt zur Umkehr zwingt, flüchten sie wieder auf die Veranda heraus.
Flammen schlagen jetzt hoch in die Luft vom Dach, der Sturm verbreitet das Feuer nach oben und unten, dies große Gebäude, das auf Säulen und Nadeln steht, brennt wie Papier. Was sollen die Leute machen? Zwei Leitern gegen willkürlich gewählte Fenster stellen und im übrigen zusehen. Sie sind hilflos, können nur schreien, Eimer mit Wasser haben keinen Zweck. Nackte Gäste öffnen in allen Stockwerken die Fenster, rufen herunter, aber in dem Sturm ist nichts zu hören, ein paar von ihnen springen im Wahnsinn heraus, ihre flatternden Hemden fangen unterwegs Feuer, und sie kommen als Meteore herab. Die Leute klettern die Leitern empor und wollen ein Opfer herausheben, es gelingt ihnen aber nicht. Eine Dame, die Hände voller Kleidungsstücke, liefert erst die Kleider ab, wagt aber selbst nicht zu folgen, es ist Orkan und Untergang, jetzt brennen die Wände, die Leitern sind vom Feuer versperrt, die Leute müssen Stufe für Stufe wieder hinab.
Hierher mit den Leitern! Der Ingenieur mit seinen Leuten von der Elektrizitätsanlage übernimmt das Kommando. Jawohl, die Leitern werden von Fenster zu Fenster, von Platz zu Platz gehoben, ein junger Mann, ein Wagehals, jede Leiter hinauf, Gott sei Dank, sie kommen ganz hinauf, sie blicken in ein Zimmer voll Feuer und Rauch, aber keine Menschen, die Menschen sind eins geworden mit dem Feuer und dem Rauch und sind selbst nichts mehr. Die Wagehälse hasten wieder hinunter, sie haben selbst Feuer an den Kleidern, sogar die Leitern brennen.
Der Doktor taucht auf, er ist in Unterzeug und barhaupt, er kann ebensowenig wie die andern etwas machen, aber er schreit nicht, er schweigt. Da kommen endlich ein paar Gäste fluchtartig zur Verandatür heraus, zwei oder drei folgen, alle unbekleidet, einige aber mit Kleidungsstücken in den Händen. Sie schreien und brennen, aber sie kommen heraus. Es war der letzte Augenblick, jetzt schlagen die Flammen auch durch die Verandatür heraus.
In der Ecke, ganz oben unter dem Dach kommt ein angekleideter Mann in einem Fenster zum Vorschein. Er sieht hinunter und überlegt nicht eine Sekunde, sondern ergreift die Regenröhre und schwingt sich heraus. Er hätte sich auf einer Leiter retten können, aber es ist keine Leiter mehr da. Er rutscht von Dach zu Dach an der Röhre herab und kommt der Erde immer näher. Als ihn das Feuer im zweiten Stock aufhält, scheint er verloren, er klammert sich mit den Händen an und scheint sich zu bedenken, ob er loslassen soll. Plötzlich verschwindet er, Rauch und Feuer verhüllen ihn, und unten auf dem Hofe wird er wiedergefunden. Zerschmettert? Nicht zerschmettert, aber brennend, er wälzt sich auf der Erde, reißt die Jacke ab und löscht sie aus, klopft mit dem Hut und den bloßen Händen am Körper herab und löscht, löscht –
Da steht er. Es ist der Selbstmörder.
Er hat sich gerettet, indem er sich beim Loslassen mit dem Fuße von der Regenröhre abstieß. Dadurch rutschte er schräg herunter auf einen Balkon im zweiten Stock, fiel allerdings von hier aus weiter, aber es war ein Fall in zwei Stufen, und die letzte Stufe daher nur der Rest eines Falles. Ein Glück, ein Wunder, der um sein Leben besorgte Selbstmörder hatte gewagt, sich aus einer solchen Höhe durch ein Feuermeer zu retten!
Er will durch die Veranda hinein, muß aber umkehren. Ich hab' sie eingesperrt! schreit er. Ich hab' den Schlüssel, sie kann nicht heraus! Es ist 106.
Aber wo ist 106? Zimmer 106 ist ausgebrannt.
Er bekommt keine Hilfe, es gibt keine Leitern mehr, keine Wand, um Leitern anzustellen, kein Fenster, nichts, nur ein Flammenmeer. Er heult seine Nummer, er hält einen Schlüssel mit seinen beiden verbrannten Händen empor und will wieder durch die Veranda hineindringen – aber da ist nichts mehr, nur Feuer –
Noch konnte ein Gesicht hoch oben zum Vorschein kommen, ein Paar erhobene Hände, Feuer im Haar einer Frau, dann verschwindet das Bild.
Dann verschwindet alles.
Der Sturm machte es zu einem Brand großen Stils, das Feuer sprang vom Schloß auf die Dependancen über, auf den Speicher, den Kuhstall, von diesen fünf Gebäuden mit allem, was dran und drum ist, steht alles in Flammen mit Ausnahme des Holzschuppens. Es gab keine Rettung, der Ingenieur und seine Leute schossen eine Weile auf dem Dache der einen Dependance herum und versuchten, überall, wo es sich entzündete, zu löschen, als aber der Sturm begann, große brennende Stücke vom Schloß herüberzuschleudern, mußten sie es aufgeben. Es kam auch Mannschaft vom Kirchspiel herauf, ohne etwas ausrichten zu können, der gute Wille der Menschen half nichts. Was zu tun war, wurde getan: der Schweizer ließ beizeiten die Kühe aus dem Stall und trieb sie nach dem Walde. Und der Doktor schickte die Leute aus dem Kirchspiel wieder heim, um Fuhrwerk zum Transport der wenigen Überlebenden zu holen.
Der Sturm hatte sich gelegt, er hatte sein Werk vollbracht. Die Brandstätte ist still, die Verwundeten sind fortgeschafft, nur zwei von der Mannschaft des Ingenieurs sind als Wache zurückgeblieben. Vom Walde her hört man hin und wieder ein klagendes Brüllen von den Kühen des Sanatoriums.
Die Stätte liegt in Finsternis und Rauch verlassen da.
Der Selbstmörder geht auf den Trümmern umher. Er hat den Transport nicht begleiten wollen, er geht vor der Fassadenmauer auf und ab, bleibt zuweilen stehen und murmelt vor sich hin, sieht empor nach einer eingebildeten Wand und geht wieder, immer einen Schlüssel in der Hand – einer Hand, die um ein Stück Eisen erstarrt ist. Die Wache möchte am liebsten, daß er fort wäre, und versucht ihn mehrmals wegzubekommen, aber er geht nicht.
Was suchen Sie? fragen die Männer. Worauf warten Sie?
Ich warte nicht, antwortet er. Das heißt, ich gehe hier, aber ich warte nicht. Meine Frau schlief auf 106.
So, Ihre Frau war drinnen?
Ja. Eingesperrt. Hier ist der Schlüssel.
Die Männer sind besänftigt und schütteln den Kopf. Sie lassen den wandernden Mann in Frieden, er stiehlt nicht, hier gibt es nichts zu stehlen, sie setzen sich und reden leise miteinander: sie wundern sich, wer es fertig gebracht, hier so einzuheizen, sie sprechen von der Versicherung, sie prophezeien, daß das Sanatorium wohl wieder aufgebaut würde. War das nicht auch traurig: in einem Monat hätte der Ingenieur das Werk fertig und Wasser in Überfluß gehabt, um zu löschen! Aber es war nicht so bestimmt!
Der Selbstmörder wandert.
Wäre es nicht besser für Sie, sagen sie zu ihm, und er jammert sie, weil er so verstört ist – wäre es nicht besser für Sie, wenn Sie zur Sennhütte hinübergingen und ein Dach über den Kopf bekämen?
Ja, antwortet er.
Dann bekommen Sie doch Kaffee und ein wenig Wärme.
Aber er ging nicht, er setzte seine Wanderung fort. Als es ungefähr fünf Uhr war, ging er von selbst, es war jetzt hell geworden, die Männer behielten ihn im Auge, er ging zum Holzschuppen, dem einzigen noch stehenden Haus auf dem Plateau.
Er sah sich nicht um, sondern ging zu einem kleinen Schlitten, der drinnen an die Wand gelehnt stand, dem kleinen Schlitten, der im Winter zum Rodeln gebraucht wurde, jawohl, und jetzt begann er den Strick vom Schlitten zu lösen.
Die Männer kommen und sagen: Was machen Sie hier?
Er arbeitet weiter, ohne zu antworten.
Sie dürfen nichts anrühren. Was wollen Sie mit dem Strick? fragen sie.
Was ich damit will?
Wollen Sie etwas einpacken?
Ja, murmelte er – ich will einpacken!
Wo haben Sie es?
Er antwortete nicht, hielt aber in seiner Arbeit inne, es war, als hätte er sich diesen Strick ausersehen und gedächte nicht, sich ihn nehmen zu lassen.
Die Männer dachten wohl auch nicht weiter darüber nach, sie opferten vielleicht gern dies Stückchen Strick, um ihn loszuwerden. Na ja, nehmen Sie den Strick! sagten sie. Und der Selbstmörder ging mit seiner Beute.
Er ging über die Ebene, vorbei an den Pfählen mit den weißen Plakaten, mit den Wegweisern und den letzten Wettermeldungen, diesen wenigen nackten Resten des Torahus-Sanatoriums, schlug den bekannten Weg nach der Sennhütte ein und ging schnell und fest, als hätte er etwas Bestimmtes vor. Als er an den Heuschober kam, bog er in den Wald ab.
Merkwürdig: erst jetzt beginnt er starke Schmerzen in seinen Brandwunden zu fühlen, und im Gehen bläst er auf seine Hände, um sie abzukühlen. Als er tief genug in den Wald gekommen ist, fängt er an, sich einen Baum auszusuchen. Er murmelt und murmelt; 106, sagt er, 106. Im Laufe der Nacht ist es ihm so zur Gewohnheit geworden, diese Zahl zu murmeln, daß er gedankenlos damit fortfährt. Den Schlüssel hält er in der Hand.
Es ist nicht so leicht, einen passenden Baum zu finden, und er sucht lange. Aber gefunden muß er werden. Was er im Sinne hat, ist das einzige, was zu tun ist, und es muß jetzt getan werden. Welchen Zweck hätte ein Aufschieben? Lauerte nicht auf jeden Fall der Tod auf ihn, lag hinter jedem Busch, stand hinter jedem Baum, bereit, sich auf ihn zu stürzen?
Etwas drückt ihn im Stiefel, sticht bei jedem Schritt, und zuletzt setzt er sich hin und zieht den Stiefel aus. Es ist eine Kiefernnadel, die im Strumpf steckt. Als er sie entfernt hat, zieht er den Stiefel wieder an und schnürt ihn wie gewöhnlich zu.
Weiter oben ist es sicher leichter, einen Baum mit einem brauchbaren Ast zu finden, er war schon an einigen vorbeigekommen, die gar nicht so schlecht, gar nicht unmöglich waren. Er macht kehrt und steigt wieder aufwärts, nein, er will es nicht mehr so genau nehmen: hier ist eine abgestorbene Kiefer, die hat einen Ast. Er wirft den Strick über den Ast und legt sich zur Probe mit seinem ganzen Gewicht hinein. Natürlich bricht der Ast. Er sucht weiter oben und findet eine andere Kiefer, macht wie voriges Mal einen Versuch und scheint am Ziele zu sein: der Ast hält. Er gibt sich sogar Mühe, ihn zu brechen, aber der Ast hält. Was hindert ihn denn? Er hätte sich nicht so viel Mühe machen sollen, er war unvorsichtig mit seinen wunden Händen, sie ertrugen es nicht, sie bluten, schmerzen gleichsam von neuem Brennen, es pocht in ihnen. Aber wenn auch! Er legt den Strick zurecht, befestigt ihn am Ast, knüpft die Schlinge, 106, 106.
In ein paar Tagen wird es viel Geschrei über diese Kiefer geben, die Leute gehen dem Geschrei nach und finden ihn hängen. Die Füße reichen jetzt fast auf den Boden, er hat sich gestreckt, der Hals ist unnatürlich lang und dünn geworden –
Tut er es jetzt nicht, so holt der Tod ihn dennoch heute oder einen andern Tag, dem Tod konnte man nicht entgehen, warum ihn dann fliehen, warum nicht gleich den Hals hinlegen? Er scheucht einen Vogel auf, eine Drossel, so klein und unschuldig und gewandt, aber alledem heißt es Lebewohl sagen, und der kleinen Leonora in der Stadt auch –
Das nächste ist, daß er es nicht tut. Nein, es nicht tut. Er sitzt im Heidekraut, bläst auf seine Hände und weint. Gott steh uns bei, wir sind jämmerlich, wir sind Menschen! Da der Tod nichts bietet, woran man hängen kann, hängt er am Leben. Der Selbstmörder hat nichts, für das er leben kann, er sieht nicht die Sonne, nichts auf Erden macht ihn froh, 106, 106, Brennen in den Händen, todmüde, er ist ein Nichts, er friert sich in den Schlaf.
Das Brennen weckt ihn fast augenblicklich wieder, und er erhebt sich. Er sieht sich ängstlich um, als wäre etwas hinter ihm her, läßt den Strick am Ast hängen und macht sich auf den Weg nach der Sennhütte. Hund, sagt er zu sich selber, Hund, Hund ...
Sie sind oben in der Sennhütte, Fräulein d'Espard hat ihr Kind schon besorgt und steht im Hof und wäscht. Als der Selbstmörder kommt, richtet sie sich auf und bleibt verwundert stehen, er grüßt nicht, seine Kleider sind zerfetzt, seine Hände bluten. Was in aller Welt –!
In der kleinen verborgenen Sennhütte wissen sie nichts von den nächtlichen Geschehnissen im Sanatorium, sie legten sich gestern abend ins Bett und hörten nichts vom Orkan, sondern schliefen bis Tagesanbruch, dann standen sie auf und gingen an ihre Arbeit. Fräulein d'Espard geht in die Lehre beim Leben, sie ist tüchtig auf ihre Weise, auch sie ist ein Mensch.
Der Selbstmörder sagt einige Worte, sie sind so merkwürdig und fremd: Feuer, es ist nichts übriggeblieben, 106 ist verbrannt, sie war eingesperrt und konnte nicht heraus, hier ist der Schlüssel –
Das Sanatorium abgebrannt? Marta, das Sanatorium ist heute nacht abgebrannt!
Marta kommt aus der Küche und erlebt die Neuigkeit mit verstörtem Gesicht. Und die Menschen? fragt sie.
Die Menschen – wiederholt der Selbstmörder, die sind verbrannt. Sie schlief auf 106.
Mir war doch, als spürte ich Rauch heut morgen, sagt Marta. Hab' ich es nicht auch gesagt? fragt sie das Fräulein.
Du kamst herein und sagtest es.
Ja, nicht wahr?
Die beiden Frauen reden immer wieder darüber, als sei es wichtig, und obwohl der Selbstmörder eigentlich nicht darauf hört, sondern zu sehr mit sich beschäftigt ist, sickern die Worte doch in sein Ohr und bringen seine Gedanken allmählich in eine andere Richtung. Es ist Menschengeschwätz, die beiden Frauen halten sich an die Erde und den Tag, hin und wieder taucht das Fräulein ein Wäschestück ins Wasser, um die Arbeit nicht zu unterbrechen. Es ist erdenhaftes Geschäftigsein.
Dem Selbstmörder werden Talglappen auf seine Hände gelegt, und er wird verbunden, er bekommt zu essen, er wird schläfrig und schlummert einige Minuten im Sitzen. Als er gehen will, fragt er: Ist der Ochse draußen?
Er ist auf dem Berge, antwortet das Fräulein, er ist weit fort. Jetzt gehen Sie wohl nach dem Bahnhof?
Ich weiß nicht, antwortet er. Nach dem Bahnhof? Ja, und reisen heim?
So? Ja, vielleicht, sagt er und schüttelt den Kopf. Ich weiß es nicht.
Das ist schon das beste, Sie werden sehen.
Warum? Was soll ich daheim? fragt er plötzlich. Der Brand hat alles vernichtet, sie ist tot, vollkommen ausgelöscht. Haben Sie das vergessen? Sie kam gestern zu mir auf den »Fels«, stieg zu mir herauf, es ist gar keine Zeit vergangen seither, nur wenige Stunden. Wir sprachen zusammen und gingen wieder heim. Gestern abend sprachen wir noch mehr, ich hatte sie vorher nicht verstanden, sie sagte etwas, ich weiß die Worte nicht mehr, aber alles klärte sich auf, und ich freute mich so. Gott segne Sie, hören Sie nicht? jammert er.
Ja, Sie Ärmster! sagt das Fräulein.
Ich saß bei ihr, bis sie einschlief, so froh war ich. Und dann ging ich hinaus. Jetzt ist sie nirgends, es ist nicht zu fassen, nein, ich kann es nicht verstehen, hören Sie!
Das Fräulein sagt vorsichtig: Haben Sie nicht ein kleines Mädchen?
Ja, Leonora. Ja.
Sie vergessen sie doch nicht? Natürlich vergessen Sie sie nicht, man hat sie vielleicht auf die Fensterbank gehoben, und sie steht da und sieht hinaus, wenn Sie kommen. Das wird hübsch werden. Herrgott, ich verstehe ja gut, wie schlimm es für Sie ist, aber wir dürfen nicht verzweifeln! ermutigt ihn das Fräulein. Wir haben jeder unser Päckchen zu tragen, wie Sie zu sagen pflegten. Ich für meinen Teil muß nun viele Jahre auf etwas warten.
So?
Ja, viele Jahre, sieben Jahre.
Es war jetzt ganz hell geworden und schien ein schöner Tag nach der stürmischen Nacht zu werden. Um die Sennhütte ist es still, kein Strauch regt sich, nur die Hühner laufen herum und suchen Futter, und der Bach summt mit seinen leisen Lauten einige Schritt entfernt.
Ich bin ein Hund! bricht der Selbstmörder aus und schweigt.
Sie wirft einen erschreckten Blick auf ihn. Er sieht so überzeugt aus, es ist, als habe er etwas unvergleichlich Wahres gesagt, und er erblaßt bei seinen eigenen Worten, als hätten sie ihn genau getroffen.
Um ihn zu beruhigen, spricht das Fräulein leise und vernünftig: Ich denke, Sie gehen jetzt nach dem Bahnhof und reisen heim, Herr Magnus. Nein, Sie brauchen sich nicht so ängstlich umzusehn, der Ochse ist heut wie gestern auf dem Berge, er ist auf der Berghutung, so nennen wir es hier.
Leben Sie wohl! sagt der Selbstmörder und geht.
Wenn Sie durch den Wald gehen, können Sie noch den Morgenzug erreichen, ruft sie ihm nach.
Er geht durch den Wald, er kommt an den Strick, der leer an seinem Ast baumelt, geht vorbei, geht und geht und verschwindet.
Fräulein d'Espard ist ihm, solange sie konnte, mit den Augen gefolgt, dann macht sie sich wieder an ihre Wäsche – so tüchtig packt sie zu in Gutem und Bösem, so irdisch tätig. So nennen wir es hier –