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V

Verschiedene Dinge ereigneten sich nun. Die Menschen wimmelten durcheinander. Und dann begann der Tod zu hausen. Er schlug willkürlich zu, ohne zu achten, wo er hintraf.

Herr Fleming lag im Bett – anfangs mit Eis im Munde und auf der Brust wegen seines Blutspuckens, als das aber aufhörte, erholte er sich wieder, saß aufrecht im Bett und vertrieb sich die Zeit, indem er Patiencen legte. Fräulein d'Espard war drüben bei Daniel gewesen, hatte von Herrn Fleming gegrüßt und bestellt, daß er erkältet sei und vorläufig nicht kommen könne, um seine saure Milch zu essen. Sobald es ihm aber besser gehe, würde er wiederkommen.

Auf diesem Wege wurde Fräulein d'Espard von dem Ochsen angefallen. Er rannte schnaufend hinter ihr her, und Fräulein d'Espard kam ganz atemlos wieder im Sanatorium an.

Ja, der Ochse lief immer noch frei herum. Das Sanatorium hatte ihn gleich kaufen wollen, aber Daniel wollte nichts von einem Verkauf wissen, ehe er die Sommerweide hinter sich hatte und schwer und wertvoll geworden war. So ging ein Tag nach dem andern, ohne daß etwas entschieden wurde. Rechtsanwalt Robertson war jetzt auch wieder nach seinem Bureau in Kristiania zurückgereist. Auch als Fräulein d'Espard von dem Ochsen verfolgt wurde, erregte das nicht sonderliches Aufsehen. Das Fräulein war nicht so allgemein beliebt, daß jemand ihre Partei ergriffen hätte, im Gegenteil: die andern Damen fanden, daß Fräulein d'Espard gut von der Weide des Ochsen hätte fernbleiben können, was wollte sie da!

Es kamen Gäste. Konsul Ruben war gekommen, ihm folgten am selben Tage noch ein paar Gäste, und schließlich kam Ende der Woche eine Schar von einem halben Dutzend Menschen über Dover und ließ sich auf Torahus nieder. Es schien zu gehen, wie Rechtsanwalt Robertson prophezeit hatte: die Reklame mit dem festen Pianisten und den vornehmen Gästen, einer Prinzessin und einem Grafen, wirkte und zog Leute ins Haus. Wo ist der Graf? fragten die Damen. Und wo ist die Prinzessin? fragten sowohl Damen wie Herren. Das Sanatorium hier in den Bergen wurde mondän, das Schloß drohte, voll zu werden, und was dann?

Es zeigte sich, daß im Herbst mehrere weitere Räume eingerichtet werden mußten, damit das Sanatorium zum nächsten Frühjahr gerüstet war. Es gab zwar Zimmer genug, aber sie waren noch nicht alle fertig, es fehlten noch Möbel und sonstige Ausstattung, und manche Zimmer besaßen keinen Ofen. Jetzt ging es noch, denn einige Gäste hatten keine Zeit, andere kein Geld zu längerem Aufenthalt auf Torahus, und so reisten sie nach einigen Tagen oder einer Woche wieder ab und machten neuem Zustrom Platz. Die Betten wechselten noch warm ihre Besitzer.

Konsul Ruben kam, um seine Frau zu besuchen. Er gehörte zu denen, die keine Zeit hatten und nicht lange bleiben konnten. Schon am ersten Abend saß er im Zimmer seiner Frau und zeigte Spuren von Ungeduld. Er fragte seine Frau nach der Dame – wo ist denn die Dame? sagte er.

Frau Ruben erhob sich, unsagbar dick und asthmatisch, und ging zur Tür. Ach, sie war so stark, daß sie wie eine Gans watschelte; kam sie eine Treppe herunter, so schnaufte sie als stiege sie sie hinauf. Sie öffnete die Tür, guckte auf den Gang hinaus und schloß die Tür wieder. Alles war ruhig.

Man hört hier jedes Wort, warnte sie, sprich leise! Die Dame? Es ist keine gewöhnliche Dame, sie kommt, wann sie selbst will, oder sie kommt gar nicht, sie läßt sich nicht rufen.

Der Konsul, verdrießlich über diese Tuerei und die ganze Geschichte: Warum hast du dir ein zweites Bett hereinstellen lassen? Hätte ich nicht mein eigenes Zimmer haben können?

Die gnädige Frau, ausweichend: Die Mädchen haben es getan. Ich wußte nicht – das Haus ist vielleicht voll –

Unsinn. Man kann ja keine Luft kriegen in dieser Bude. Ich frage, was die Dame will?

Was sie will? Frau Ruben sprach und erklärte die Situation der Dame: Sie war in große Verlegenheit geraten, sie schlief nicht des Nachts, sie war heimatlos, ein unglücklicher Mensch, von ihrem Manne geschieden, wurzellos überall –

Das ist ja schrecklich! sagte der Konsul.

Die Dame war mehrmals hier drinnen gewesen, hatte hier angeklopft, hatte gelächelt und um Entschuldigung gebeten, sonst sprach sie mit niemand. Als die Dame das erstemal kam, war Frau Ruben so erstaunt gewesen, daß sie vergessen hatte, aufzustehen und sich zu verbeugen.

Woher ist sie? fragte der Konsul.

Aus England. Wußte er das nicht? Sie war Lady, ihr Mann Lord, Minister, er saß in der Regierung.

Ach so, sagte der Konsul, dann hab' ich von ihr gelesen! Aber der Konsul legte keinen Wert weiter darauf und zeigte kein großes Interesse.

Seine Frau mußte ihn reizen. Sie ging direkt drauflos und sagte: Was sie will? Sie ist in Verlegenheit geraten, sie will Geld haben.

Das wollen wir alle! antwortete der Konsul.

Es ist schrecklich, sie sitzt völlig auf dem trockenen, kann nirgends Hilfe bekommen.

Der Konsul beugte sich vor und sah auf die Hand seiner Frau: Ein neuer Ring. Zeig' mal!

Ach, die gnädige Frau hatte sich gerade mit der Hand übers Haar gestrichen, ihr Mann mußte unbedingt auf das feine Juwel aufmerksam werden. Ist er nicht prachtvoll! sagte sie. Ich wollte ihn nicht annehmen, weiß Gott, ich wollte nicht, aber sie hat ihn mir aufgedrängt. Hast du je ein solches Feuer gesehen?

Der Konsul nickte nur und sagte: Sie will also noch einige Ringe verkaufen?

Die gnädige Frau antwortete gekränkt: Das ist wohl nicht dein Ernst! Natürlich will sie keine Ringe verkaufen, damit kommt sie uns nicht. Sie wendet sich an dich als Konsul, das ist wohl etwas anderes. Da sie zu ihrem eigenen Konsul weder gehen kann noch will, so kommt sie zu dir. Nein, sie kann nicht zu ihrem eigenen Konsul gehen, er würde doch nur auf Seiten ihres Mannes und des Ministeriums stehen, das ist doch klar.

Sie muß doch Familie haben. Hat ihr Mann sich ganz von ihr zurückgezogen?

Ich weiß nicht, ob das der rechte Ausdruck ist, sie sprach sehr nett von ihrem Mann.

Na ja, so geht es gewöhnlich!

Wie?

Daß die Worte nach der Scheidung immer netter werden – wenn man anfängt, die Geschichte zu bereuen.

Wieder ist Frau Ruben gekränkt. Es wäre durchaus keine gewöhnliche Dame, von der die Rede sei, sondern eine Lady; der Konsul ginge zu sehr davon aus, daß alle Damen so wären wie die Schreibmaschinendamen in seinem Kontor. Sie spräche also nur nett von ihrem Mann, fuhr Frau Ruben fort, daß er auf gewisse Weise seine Pflicht getan hätte, daß er ihr eigentlich auch jetzt nicht entgegenarbeite, sondern nur verstockt sei und ihr nie antworte. Was sei das für eine Art! Und die Familie? Bei der Familie des Mannes schien sie alle Sympathie eingebüßt zu haben, und sie selbst hätte keine Verwandten, die ihr helfen könnten.

Sie ist also ganz von unten gekommen?

Frau Ruben verteidigte sie: Was heißt von unten in England, wo jeder sich mit jedem verheiraten kann! Kann der König, wenn er will, eine Bürgerliche heiraten, so kann ein Lord wohl eine Schauspielerin nehmen.

Das war sie also?

So etwas Ähnliches, schien es. Vielleicht Tänzerin.

Immer besser! Also – und jetzt soll ich als Konsul intervenieren? Das kann ich natürlich nicht, das ist ausgeschlossen, steht nicht in meiner Macht. Du und sie, ihr seid beide gleich dumm, wenn ihr das glaubt.

Frau Ruben gab es auf, sich an die Eitelkeit ihres Mannes zu wenden. Er hätte einsehen müssen, daß es eine große Auszeichnung für ihn war, wenn eine Lady sich an ihn wandte, so und nicht anders war es aufzufassen. Sie machte ihn fast zu ihrem Vertrauten, fragte ihn freundlich nach diesem und jenem, stellte sich eine Weile auf gleichen Fuß mit ihm. Wenn Konsul Ruben bei dieser Aufmerksamkeit nichts in seiner Seele fühlte, so mußte seine Frau einen andern Weg einschlagen. Darum muß sie also Geld haben, fuhr sie ruhig fort und überhörte die Einwände ihres Mannes. Und sie bekommt Geld, das ist sicher. Sie hat Werte in riesiger Höhe.

In welcher Höhe?

Das kommt darauf an, wie du einen englischen Minister veranschlagst. Es kann die Rede von Wohl und Wehe, Leben und Tod sein.

Donnerwetter! Was für Werte hat sie denn?

Papiere, Briefe!

Hatte die gnädige Frau Großes von dieser Auskunft erwartet, so wurde sie enttäuscht. Der Konsul wurde nicht Feuer und Flamme, er schnitt nur eine Grimasse. Das brachte sie nicht aus der Fassung. Merkwürdigerweise hatte sie sich vorgenommen, der fremden Dame zur Seite zu stehen, und das wollte sie nun auch durchführen. Woher kam diese Standhaftigkeit? Diese Frau Ruben wurde ununterbrochen von chronischer Nervosität geplagt, sie erstickte in ihrem Fett, ihr Leibesgewicht legte ihr Untätigkeit nicht als Genuß, sondern als furchtbare Last auf, das mochte alles sein. Aber Frau Ruben konnte also dennoch Güte und Hilfsbereitschaft gegen andere zeigen. Was ging die englische Lady sie an? Rassensympathie? Vielleicht. Aber in diesem Fall war der Lord ja von derselben Rasse, und ihm arbeitete sie gerade entgegen!

Der Konsul sagte: Ich kann hier nicht eingreifen, nur weil du einen Ring bekommen hast.

Nein, sagte die gnädige Frau auch und schnitt ihrerseits eine Grimasse. Der Ring sei eine Bagatelle, er habe sie den ersten Tag erfreut, länger nicht. Aber hätte sie sich mehr weigern können, ihn anzunehmen, als sie getan, ohne ungezogen zu sein? Und pflegte man das Geschenk einer hochgestellten Persönlichkeit im Ernst auszuschlagen? Frau Ruben hätte andere Ringe, mehr als genug, die quälten sie nur, wären ihr im Wege. Wie er, so hätte auch sie alle auf die kleinen Finger stecken müssen.

Ja, nachdem die andern Finger zu lauter Daumen geworden seien.

Die gnädige Frau senkte den Kopf und antwortete: Als ich achtzehn Jahre alt war –

Jawohl, ich kenne den Text, unterbrach sie der Konsul. Aber du bist nicht achtzehn Jahre, du bist doppelt so alt! Du hast dich verdoppelt, in mehr als einer Beziehung, vervielfältigt.

Als ich achtzehn Jahre alt war, beharrte die gnädige Frau eigensinnig, hatte ich ebenso schlanke Finger wie deine Schreibmaschinendamen! Zum zweitenmal erwähnte sie die Schreibmaschinendamen nicht nur so nebenher, sondern auf eine bestimmte Weise, als wäre es etwas Bedeutungsvolles. Und zum zweitenmal hörte der Konsul es gleichgültig an und zuckte die Achseln.

Diese Papiere, sagte er, Privatbriefe – ich bin Konsul, die Briefe bedeuten Skandal, Erpressung – nein, ich rühre sie nicht an!

Die gnädige Frau behauptete, der Skandal würde kleiner, wenn ein großer Konsul diskreten Gebrauch von den Papieren machte, als wenn die Lady selbst handelte und unzweifelhaft den Mann stürzte.

Ob es nun die Schmeichelei mit dem »großen Konsul« oder das Verständige in dem letzten Argument der gnädigen Frau war – kurz, der Konsul fragte, wie um der Sache ein Ende zu machen: Wo sind die Papiere?

Er las bis spät in die Nacht darin. Beim Lesen schüttelte er zuweilen den Kopf, streckte plötzlich wie in großer Spannung die Beine aus, schlug sich mit der Hand auf den Schenkel, zog die Augenbrauen hoch: er hatte Unterhaltung. Ja, dieser blutreiche Mann mit dem kurzen Hals fand hier alles, was er sich an unsauberen Gedanken und Intimitäten wünschen konnte. Warum so wenig Delikatesse, warum soviel direkte Roheit in diesen Briefen? Es war ein Pfuhl, in den der Konsul tauchte, die frühere Tänzerin mußte sogar ungewöhnliche Voraussetzungen gehabt haben, daß sie die Leichtfertigkeiten ihres Mannes duldete, ohne sich die Nase zuzuhalten. Da waren Briefe aus Indien und andern Ländern, über Politik, ägyptische Orgien, persönliche Streitigkeiten mit der Verwaltung, Privathandel mit zweifelhaften Waren, Kauf des Lordtitels, Heereslieferungen – alles auf einmal, und überall ein durchdringender übler Geruch.

Frau Ruben beobachtete schweigend ihren Mann. Die Briefe wurden immer kürzer. Es schien, als hätte der Schreiber nicht mehr das volle Vertrauen zu seiner Frau gehabt, als habe er einen andern Vertrauten gefunden, und die letzten Briefe enthielten Andeutungen auf Myladys Rückfall zur Tanzerei, auf eine Reise nach Schottland mit dem obskuren Direktor einer Vergnügungsbude. Mylady schien geleugnet zu haben, aber der nächste Brief ihres Mannes hielt die Bezichtigung aufrecht und endete mit dem Bruch. Die beiden letzten Briefe waren schließlich entscheidend. Fertig!

Frau Ruben merkte, wie sich das Interesse des Konsuls abkühlte, je mehr er sich dem Ende näherte. Hier war nichts mehr für ihn, aber, wie es schien, eben etwas für sie. Der gute Lord war mit Hilfe der Mitgift seiner Frau, der Tänzerin, emporgekommen, sie hatte ihm den Weg gebahnt mit dem kleinen Vermögen, das sie durch ihren Tanz, mit ihren Beinen gesammelt hatte, er hatte es in Gedanken und Taten umgesetzt, und dadurch waren sie beide hochgekommen. Aber was nützte das nun!

Frau Ruben saß da wie in eigenen Gedanken und Erinnerungen verloren. Befand sie sich in einer ähnlichen Situation wie Mylady, abgemustert, aussortiert vom Manne? Was sonst? Es war zu unwahrscheinlich, daß sie sich aus reiner Uneigennützigkeit so für das Schicksal einer fremden Person hätte interessieren sollen, selbst wenn es eine Rassengenossin galt. Der Konsul witterte offenbar keinen Unrat. Hätte er aufgesehen, so würde er wohl Verdacht geschöpft haben wegen der sich immer mehr entzündenden Augen seiner Frau. Sie saß da und beobachtete ihn von der Seite, ihre mandelförmigen Augen wurden weich und schleichend, was auf innere Tätigkeit in ihrem fetten Kopfe deutete.

Puh! schnaufte der Konsul, das ist ein Pfuhl! Wie alt ist sie?

Ja, es ist ein Pfuhl, antwortete seine Frau.

Ich will nichts damit zu tun haben.

Die Frau Gemahlin schwieg.

Wie alt ist sie?

Doch, du könntest etwas tun, wenn du wolltest.

Der Konsul plötzlich heftig: Ich frage, wie alt sie ist? Das ist doch eine verdammte Geheimnistuerei.

Die Frau Gemahlin lächelt schief: Wie alt sie ist? Ich habe sie nicht gefragt. Ich weiß auch nicht, ob sie gut aussieht, nach deinem Geschmack. Das ist ja wohl auch gleichgültig, das interessiert dich doch nicht.

Der Konsul sehr gereizt: Nein, das interessiert mich nicht. Weder die Dame noch ihre Skandale interessieren mich. Nun sag' nur mal, das war doch eine ganz ausgefallene Idee von dir, hier noch ein Bett in dies Loch stellen zu lassen. Gut, daß es nur für eine Nacht ist. Ich verstehe überhaupt nicht, warum du wolltest, daß ich hier in die Berge komme. Kein Zweifel: die Dame verfolgte ein bestimmtes Ziel und arbeitete auf eigene Rechnung, sonst hätte sie nicht so gesprochen, wie sie tat. Oh, sie schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, etwas durchzusetzen, mitten in einer großen Hoffnungslosigkeit war ihre Haltung fest, komme was da wolle!

Habe ich dich zu Hause gestört? fragt sie. Du störtest mich nicht mit deinem Kommen.

Kannst du nicht nachdenken! Hast du hier ein Geschäft, Post, Kontor, ein großes Personal?

Nein, ich habe nichts, nur mich selber, immer nur mich selber! Sie fuhr jammernd fort: An einem Donnerstag kam ich hier an und schrieb gleich, ein Donnerstag nach dem andern verging, aber ich hörte nichts von dir. Ich schrieb immer wieder. Nein. Da telegraphierte ich.

Du verstehst das nicht, antwortete er, aber ich hatte keine Zeit. Gerade jetzt ist viel zu tun, das Personal hat nacheinander Ferien, die Arbeit muß getan werden, ich muß selber Zeit zum Essen haben, ich muß auch ein bißchen schlafen.

Schweigen.

Aber das verstehst du nicht, wiederholt er und beginnt sich auszuziehen.

Wenn du es sagst, muß es wohl richtig sein, antwortet sie.

Es ist richtig. Und jetzt ist es spät, laß uns zu Bett gehen! Nein, in die Geschichte mit der Tänzerin mische ich mich nicht hinein. Das siehst du wohl ein?

Schweigen.

Endlich sagt die gnädige Frau: Sie muß Antwort von ihrem Manne bekommen, es ist noch nicht alles entschieden, sie ist zu stark geworden, um wieder zu tanzen, und kann nicht von vorne anfangen. Sie erhält keine Nachricht über ein kleines Anwesen von Hühner- und Kaninchenzucht; warum antwortet er ihr nicht? Der Lord ist jetzt ein mächtiger Mann, aber er schweigt einfach, und ihr eigener Rechtsanwalt ist schlaff geworden und scheint zur Gegenpartei übergegangen zu sein. An wen soll sie sich wenden?

Es fiel mir auf, sagt der Konsul – sind das die Originalbriefe?

Das sind sie wohl. Warum nicht? Weshalb fragst du? Du glaubst doch nicht, daß die Briefe gefälscht sind?

Nein. Leg' dich jetzt auch nieder.

Die gnädige Frau sitzt noch eine gute Weile da, dann geht sie zu ihrem Bett und beschäftigt sich auch dort eine gute Weile. Unterdessen liegt der Konsul da, schnauft und wälzt sich.

Willst du heute nacht nicht zu Bett gehen? fragt er.

Keine Antwort.

Vielleicht erkennt er jetzt, daß er unfreundlich gewesen ist, und er sagt: Leg' dich doch jetzt hin und lösch' die Lampe aus, damit wir endlich Ruhe haben.

Ja, dann hast du Ruhe! antwortet sie plötzlich scharf und unerwartet.

Jetzt kommt ein Auftritt: der Konsul muß unruhig geworden sein, er ahnt etwas Böses. Die Antwort der gnädigen Frau war auffallend, er wirft sich auf die andere Seite und sieht seiner Frau zum erstenmal voll ins Gesicht. Was, zum Teufel, hat sie vor? Sie hat an ihrem Bett gestanden, jetzt macht sie plötzlich ein paar hastige Schritte auf ihn zu. Vielleicht will sie ihm ein paar wütende Worte sagen, die sie sich von der Seele schreien muß, und vergißt, daß sie ein Kopfkissen zwischen den Händen hält. Was muß er davon denken – ein großes Kopfkissen zwischen ihren Händen! Sie zeigt im Lampenlicht ein verzerrtes Gesicht, sie schielt wie in Hysterie, wie in Tollheit, natürlich ist sie ganz außer sich, denn sie kann nichts sagen, nicht ein einziges Wort hervorbringen. Jetzt setzt der Konsul sich mit einem Ruck im Bette auf, wohl kaum, um besser zu sehen, eher, um sich zu wehren; aber im selben Augenblick geht eine seltsame Veränderung mit ihm vor, das Gesicht erblaßt auf einmal und sinkt zusammen, die Hände sind gelähmt, er fällt schwer und tot hintenüber und stößt mit dem Nacken gegen das Bettende. So bleibt er liegen.

Wie, eine Veränderung, ein Krach! Die gnädige Frau hält inne und bleibt stehen, sie braucht Zeit, um sich zu sammeln und zu Verstand zu kommen, sie sucht nicht nach einem Stuhl, um niederzusinken, sondern ist immer noch in Kampfstimmung, als wollte sie sagen: Ja, siehst du! Sie hatte nichts Böses getan, das Geschehene war gut, war gerecht. Sie versteht wohl schon, daß es keinen Sinn mehr hat, sagt aber geradeheraus zu ihrem Manne: So, laß es nun genug sein! Als er sich nicht regt und kein Lebenszeichen von sich gibt, beharrt sie nur in ihrem Benehmen. Aus seinem einen Ohr fließt Blut, vielleicht auch aus dem andern, das sie nicht sieht, da denkt sie an den Doktor und sieht sich im Zimmer um, ob es ordentlich genug ist, daß der Doktor kommen kann. Antworte jetzt, hörst du! sagt sie laut zum Manne. Sie sieht, daß sein Kopf schlecht liegt, gegen das Bettende, das Kinn auf die Brust gedrückt, aber sie läßt ihn liegen, trägt dagegen ihr Kopfkissen an seinen Platz zurück, schließt Myladys Briefe, die auf dem Tische liegen, weg und watschelt zur Tür hinaus, um den Doktor zu holen.

 

Der erste Todesfall im Torahus-Sanatorium.

Welch ein Zufall: ein Mann kommt mit einer kleinen Handtasche mit Zahnbürste und Nachtzeug in der Hand, um seine Frau, die im Sanatorium wohnt, zu besuchen, hält sich einige Stunden dort auf und wird vom Tod ereilt!

Kein Wunder, wenn es der Frau ausgefallen, fast als erdichtet vorkommen konnte. Der Mann hätte wohl behaupten können, daß er Grund zum Sterben hatte: er war bis tief in die Nacht mit einer englischen Skandalgeschichte geplagt worden, bis er so weit war, daß er seine Frau mit dem Kopfkissen in den Händen mißverstehen mußte. Das mochte gefährlich für ihn ausgesehen haben, er hatte sich wohl etwas von Erwürgen vorgestellt, der hysterische Blick seiner Frau hatte sein gesundes Urteil getrübt – oh, der Mann hätte beweisen können, daß er nicht aus einer natürlichen Ursache gestorben war.

Andererseits konnte die Frau geltend machen, daß es nicht so gemeint war; die Katastrophe war ein unverhältnismäßig schwerer Schlag. Wenn sie daran dachte, wie sie mit dem unschuldigen Kopfkissen in den Händen dagestanden, konnte sie nicht feierlich sein, der Fall war komisch, sie mußte lachen, haha! Und ebenso mußte man sagen, daß es ein bißchen komisch war, welche Eile der Mann hatte, wieder nach Hause zu kommen, ho, schon am nächsten Tage, am nächsten Morgen, und wie er dann statt dessen starb. Ja, das Leben war nicht ohne Komik, und der Tod auch nicht.

Doktor Öyen und die andern Leute vom Sanatorium versuchten ja, den unwahrscheinlichen Todesfall zu vertuschen, aber das glückte ganz und gar nicht, es huschte von einem Zimmer ins andere und erreichte sogar den kranken Herrn Fleming. Wie hatte das zugehen können? Fräulein d'Espard saß mehrere Stunden täglich bei ihm und paßte auf, aber er mußte es durch die Wand zum Nebenzimmer gehört haben, wo eine Dame herumging und ihr Taschentuch, ihre Handschuhe, ihre Finger drehte und laut und verzweifelt vor sich hin sprach.

Herr Fleming sagte zu Fräulein d'Espard: Ich kann Ihnen eine Neuigkeit erzählen: vor ein paar Nächten ist hier ein Gast gestorben. – Er sagte es ruhig und mit Haltung, wie etwas ganz Unwichtiges.

Fräulein d'Espard erhob sich plötzlich, nahm den Hut vom Kopfe und hängte ihn auf. Gegen die Wand gekehrt, antwortete sie: So, ein Gast? Gestorben? Vielleicht eine Dame?

Eine Dame? Nein, war es nicht ein Fremder, ein Konsul aus Kristiania? Ich weiß nicht. Haben Sie es nicht gehört? Der, welcher ankam, als wir vor einigen Tagen in Herrn Bertelsens Zimmer saßen.

Nein, ich habe nichts davon gehört.

So. Ja, nehmen Sie Platz, gnädiges Fräulein, heute denke ich unüberwindlich zu sein!

Und sie setzten sich zu ihrem üblichen Bézique. Als Tisch gebrauchten sie einen Pappdeckel, den sie quer über Herrn Flemings Bett legten.

Er paßte gut auf, zählte die Summen genau und schob die Zeiger auf seiner Tafel, nichts deutete auf Geistesabwesenheit, nein, denn Herrn Fleming ging es seit ein paar Tagen außerordentlich viel besser, er war fast wieder gesund, hatte neuen Mut geschöpft, und der Todesfall ging ihn nichts an.

War Fräulein d'Espard enttäuscht, daß ihn der Tod des Konsuls so kalt ließ? Fürchtete sie nicht, daß er ihre Besorgtheit und ihr Feingefühl nicht beachtet hatte, als sie den Hut aufhängte und gegen die Wand sprach? Oh, die menschliche Verschlagenheit! Sie sagte fragend: Es scheint solche Unruhe in den letzten Tagen im Sanatorium zu herrschen!

Herr Fleming murmelte gleichgültig: Das kommt wohl von diesem Todesfall.

Das tut es wohl. Und da Sie es sagen – ich glaube, ich habe schon davon gehört. Nun, unterbrach sie sich, einerlei! Haben Sie heute nacht gut geschlafen?

Ja, ich danke, ich schlafe jetzt jede Nacht gut.

Schweigen.

Ja, vielleicht war er Konsul, äußert das Fräulein. Aber er starb am Schlage, nicht an einer Krankheit.

Das kommt auf eines heraus. Warten Sie – vier Buben!

Denken Sie, er kam eines Tages und starb in der Nacht! Ich würde es nicht erwähnt haben, da Sie es aber doch schon wissen –

Was wissen? Na ja. Ich kannte den Mann nicht, haben Sie ihn gekannt?

Nein. Ja, ich weiß, wer er war, ein großer Mann in Kristiania, mächtiges Geschäft, ich kenne einige Damen, die bei ihm sind. Ja, ein furchtbares Geschick!

Spielen Sie wirklich das As aus? fragt Herr Fleming.

Nein, Verzeihung! Konsul Ruben war ja der Mann von Frau Ruben, Sie wissen, von dem dicken Geschöpf, das hier gewohnt hat. Jetzt ist sie mit der Leiche abgereist.

Jawohl.

Und Mylady hat sie begleitet. Mylady mit ihrem Mädchen. Jetzt ist es also vorbei mit dem ewigen Tee und dem ewigen Lunch hier im Sanatorium. Und jetzt können wir wieder Klavier spielen ...

 

Und ja, sie spielten Klavier, sangen auf den Treppen und versuchten bei Tisch sorglos zu lachen, aber es wurde nichts Rechtes. Sogar eine Woche, nachdem die Damen mit dem Sarg abgereist waren, sprachen die Gäste noch immer von dem großen Unglück. Es war eine Bombe, die mitten in einer Schar von Schwächlingen platzte. Der erste Todesfall! nickte der Selbstmörder, gerade als hätte er noch verschiedene in der Hinterhand. Dieser unheimliche Mensch war nun auch nicht gerade dazu angetan, die Stimmung im Kurhause zu erhöhen.

Keiner der Gäste trauerte eigentlich darüber, daß die drei Damen fort waren, aber der Zusammenhang war doch gelockert, sie hinterließen eine Leere. Was nun? Sie waren ganz korrekt, bezahlten und reisten ab, keine brannte durch, von der Sorte waren sie nicht. Selbst Mylady beglich ihre Rechnung und gab verschwenderische Trinkgelder, das reine Lösegeld. Die Sache war die, daß Konsul Ruben sich mit einer gesegnet dicken Brieftasche versehen hatte, ehe er von Hause abgereist war. Man fand sie inwendig in seiner Weste, auf der linken Seite, wo sie, als er noch am Leben war, sein Herz umschlossen hatte. Jetzt kam die Brieftasche den Damen zugute, als sie abrechneten. Frau Ruben bezahlte für alle. Nichts ist so schlimm, daß es nicht doch noch für etwas gut wäre.

Und als eine Woche vergangen war, kam wieder eine Schar neuer Gäste. Sie füllten die leeren Zimmer, überschwemmten das Sanatorium und schufen Wohnungsnot. Es ging so weit, daß der Doktor, die Wirtschafterin und der Inspektor sich die Köpfe zerbrechen mußten, um einen Ausweg zu finden.

Der Inspektor wurde auf die Runde geschickt. Er kam zum Zimmer Nummer 7, und das Fräulein war daheim. Er sollte fragen, ob das gnädige Fräulein so liebenswürdig sein und für kurze Zeit das Zimmer wechseln wollte?

Wie?

Ein anderes Zimmer. Es habe keinen Ofen, aber sonst ebenso hell und freundlich wie dieses. Man würde ein Feldbett für sie hineinstellen. Ob er ihr das neue Zimmer zeigen dürfe?

Das Fräulein begann die Finger zu drehen und fragte, warum sie ausziehen sollte?

Ja, das Sanatorium sei heute nachmittag überfüllt worden, es sei Mangel an Zimmern, sie wüßten nicht, was sie machen sollten.

Das Fräulein nahm ihre Handschuhe vom Tisch und drehte sie auch. Sie wurde ein wenig blau und schmal im Gesicht und sah den Inspektor verwirrt an.

Man würde nicht darum gebeten haben, sagte er, es wäre ihnen nicht eingefallen. Aber gerade, als das Haus voll war, seien noch einige Leute dazugekommen, darunter ein Pastor mit seinen beiden Söhnen. Die frören, und sie bäten um ein Zimmer mit Ofen.

Ja, sagte das Fräulein, jaja, sagte sie und wiegte den Kopf. Sie war nicht unzugänglich, sie gab nach. Das ging ja nicht, daß jemand fror.

Nein, nicht wahr! sagte der Inspektor auch. Und sie sollte sich nur aufhalten, wo es warm war, zum Beispiel im Salon. Der Tausch gälte übrigens nur für kurze Zeit, versprach der Inspektor und dankte dem Fräulein herzlich. Darauf zeigte er ihr das neue Zimmer.

Durch sein Glück ermutigt, ging der Inspektor weiter und traf den Selbstmörder. Er saß zusammen mit Moß, dem Mann mit dem Ausschlag, auf der Veranda und plauderte mit ihm. Der Inspektor hatte mit den beiden Kameraden Karten gespielt und konnte frei von der Leber weg sprechen. Er käme mit einer Trauerbotschaft, sagte er scherzend. Als er aber merkte, daß der Selbstmörder durchaus nicht bei guter Laune war, schlug er um und fragte, ob die Herren ihm und dem Sanatorium einen großen Gefallen tun würden?

Beide Herren sahen auf.

Ob sie etwas dagegen hätten, für kurze Zeit das Zimmer zu wechseln?

Was? Wieso?

Als sie die Erklärung erhalten hatten, schlug der Selbstmörder jedes Entgegenkommen glatt ab, es könnte ihm nicht einfallen, eine solche Idee, eine derartige Unverschämtheit hätte er noch nicht erlebt! Moß erbat sich nähere Auskunft, und diesmal führte der Inspektor drei Damen ins Treffen, drei Lehrerinnen, die heut nachmittag zugereist seien, als das Haus schon voll war. Was sollte man mit ihnen machen? Denken Sie sich, drei hübsche junge Damen, die über die Berge gekommen, durchgeweht und ausgehungert sind und flehentlich um ein paar heizbare Zimmer bitten.

Heißt das etwa, daß ich in ein Zimmer ohne Ofen soll? fragte der Selbstmörder mit blassem Munde.

Nur für kurze Zeit, vielleicht nur für ein paar Tage, es reiste wohl bald jemand ab, ein Pastor sei mit seinen beiden Söhnen gekommen, die reisten vielleicht schon in einer Woche wieder.

Der Selbstmörder war wütend: war das ein Benehmen? War er in eine Räuberhöhle geraten? Solch eine Frechheit, solche Zügellosigkeit! Oh, der Selbstmörder zeigte, daß er ein junger Mann war, der sich seines Daseins freute. Nein, halten Sie nicht die Nase so hoch, Herr Inspektor! sagte er. Seien Sie kein Hans Guckindieluft, sondern schnüffeln Sie lieber am Boden!

Na, na! antwortete der Inspektor, gutmütig lachend.

Es ist unerhört, behauptete der Selbstmörder: ein Kurhaus, ein Erholungsheim, das ihn blau frieren lassen und ganz menschenunähnlich machen wollte!

Auch Moß lachte über die Erbitterung und merkwürdige Wortwahl des Selbstmörders. Mein Zimmer steht zur Verfügung! sagte er zu dem Inspektor.

Ja, nicht wahr! rief der Selbstmörder. Oh, ich schäme mich Ihrer, Sie sind eine haltlose Laus! Sehen Sie, Herr Inspektor, sein Zimmer steht zur Verfügung! Aber verträgt sein Ausschlag ein eiskaltes Zimmer?

Ich heize doch nicht, wandte Moß ein.

Nein, darum sehen Sie wohl auch so aus. Das haben Sie vielleicht vor Frost bekommen. Nein, heizen tue ich auch nicht. Aber wenn die Kälte nun morgen oder übermorgen einsetzt?

Hahaha!

Ja, hahaha! kopierte der Selbstmörder. Pfui Teufel, ein Frauenzimmer kann Dinge sagen, daß ein Mann die Augen niederschlägt. Höhnisches Lachen, ist das eine Antwort? Sie sind ein Frauenzimmer!

Geben Sie den Damen mein Zimmer, wiederholte Moß.

Der Inspektor dankte und ging.

Schweigen.

Nein, ich kann es nicht vergessen! rief der Selbstmörder aus. Ich sollte warten, bis ein Pastor und seine Gören abreisen, um mein Zimmer wiederzukriegen! Nicht Ihr Zimmer, nicht das vom Pastor, mein eigenes Zimmer.

Sie vergessen die drei Lehrerinnen.

Na und?

Denken Sie doch, drei hübsche junge Damen am Rande der Not! Sind Sie nicht Kavalier und Ritter?

Nein! schrie der Selbstmörder.

Hahaha! Als ob Sie ein Zimmer mit Ofen nicht ehrlich verdient hätten, aber was wissen diese Sanatoriumsleute davon! Die haben noch nicht einmal gemerkt, daß Sie eigentlich hergekommen sind, um sich das Leben zu nehmen.

Das geht Sie nichts an, mischen Sie sich nicht hinein! warnte der Selbstmörder väterlich. Wenn Sie meinen, daß Ihr Zustand Ihnen erlaubt, Kavalier zu sein, bitte!

Moß war für einen Augenblick geschlagen, dann sagte er: Die Sache ist wohl die, daß Sie es aufgegeben haben. Sie wollen leben, Sie haben angefangen, an die reiche Witwe zu denken.

Was für eine reiche Witwe?

Frau Ruben natürlich.

Ach so, Frau Ruben! Der Selbstmörder gähnte und wurde es müde, den andern zu reizen. Der Erregung folgte die Reaktion, und er versank in Grübeln.

Ja, sie wäre vielleicht etwas für Sie, fuhr Moß fort: in den besten Jahren, Umfang für zwei, reich, glänzendes Geschäft –

Sie wäre eher etwas für Sie. Was wissen Sie von ihrem Reichtum? Schweigen Sie!

Die Art ist immer reich.

Schweigen Sie!

Moß saß noch eine Weile da, dann erhob er sich und ging. Der Selbstmörder sah ihm nach und folgte ihm gleich darauf; sie konnten sich nicht lange entbehren. Sie legten sich auf einem sonnigen Hang auf den Rücken und sprachen nicht mehr. Oh, wie das gemeinsame Unglück diese beiden Menschen, zwei Schiffbrüchige am selben Strande, zusammengekittet hatte! Moß schlief. Er hatte sich den Hut übers Gesicht gelegt, um seine Wunden vor den Fliegen zu schützen.

Als er aufwachte, lag der Selbstmörder immer noch mit offenen Augen da, ohne zu schlafen. Er sagte: Sie haben geschlafen?

Ja, die Sonne hat mich schläfrig gemacht.

Das ist Mattigkeit. Wir bekommen hier einen elenden Fraß, nur Konserven. Wir schlafen auf Schritt und Tritt ein.

Darauf bin ich gar nicht gekommen, antwortete Moß. Kriegen wir Konserven?

Warum kriegen wir nicht endlich den Ochsen? fragte der Selbstmörder plötzlich. Das möchte ich doch gern wissen. Hat man uns nicht einen Ochsen versprochen?

Fragen Sie den Inspektor!

Der Selbstmörder schnaufte höhnisch: Den Inspektor! Nein, kommen Sie, wir gehen direkt zum Doktor!

Aber Moß wollte nicht, mochte nicht, konnte nicht –

Ja, das ist wieder Schwäche und schlechte Pflege, ich werde mit jedem Tag elender. Kein Mensch sollte hierherkommen.

Denken Sie daran, abzureisen?

Abzureisen? Ja, das könnte sein. Warum fragen Sie? Ich reise nicht ab, glauben Sie nur das nicht. Der Inspektor soll schwarz werden, ehe er mich wegkriegt, und wenn er mit zwei Pastoren kommt! Ich werde es ihnen zeigen! – Er hegte einen merkwürdig eingefleischten Groll gegen diesen Pastor, der ihm sein Zimmer streitig machen wollte.

Es wurde auch nicht besser, als sie am Abend zu Tische gingen und der Pastor mit seinen beiden Jungen durch eine Ironie des Schicksals oder vielleicht aus Bosheit des Inspektors neben den Selbstmörder gesetzt wurde. Der Pastor machte seinem Nebenmann eine Verbeugung, und der Selbstmörder nickte auch ein wenig, nickte ungeheuer sparsam und ökonomisch. Man ist selber früher dagewesen, und man muß es einem Neuankömmling ungemütlich machen und nicht zu verschwenderisch nicken.

Der Fremde sagte ein paar Worte, der Selbstmörder antwortete nicht, aber Moß, der auf seiner andern Seite saß, quittierte laut und liebenswürdig.

Jetzt nannte der Fremde seinen Namen: Oliver; der Selbstmörder kümmerte sich nicht darum, sondern nannte ihn Jensen.

Jensen? fragte der Fremde.

Ja, es muß vielleicht Nikolaisen ausgesprochen werden?

Das Gesicht des Fremden wurde leer vor Verständnislosigkeit, dann machte er sich ans Essen.

Es ist gut, daß wir Hilfe bekommen haben, um die Konserven hier zu essen, sagte der Selbstmörder zu ihm.

Darüber ging der Fremde hinweg und hieb tapfer auf eingemachte Fleischklöße ein, er war hungrig.

Der Selbstmörder fragte: Kommen Sie über die Berge, Herr Pastor?

Der Fremde sah auf: Meinen Sie mich? Ich bin nicht Pastor, ich bin Schuldirektor.

Der Selbstmörder verwirrt: Schuldirektor?

Der Fremde suchte seine Karte hervor und lieferte sie ab, der Selbstmörder las: Frank Oliver, Dr. phil., Schuldirektor.

Entschuldigen Sie! sagte der Selbstmörder betroffen. Der blödsinnige Inspektor hat Sie zum Pastor gemacht.

Nicht daß das etwas geändert hätte, der Selbstmörder hatte nun einmal einen Groll gegen diesen Fremden gefaßt und übertrug ihn nun von dem Pastor auf den Schuldirektor. Es war immerhin derselbe. Mensch, der ihn obdachlos hatte machen wollen, und in der ganzen Zeit, die der Schuldirektor sich auf Torahus aufhielt, fand der Selbstmörder mehr als eine gute Gelegenheit, ihm sein Mißfallen zu zeigen.

Der arme Direktor Oliver tat sonst nichts Böses. War nicht viel über ihn zu sagen, so auch nicht viel gegen ihn. Gelehrsamkeit und dürftige Verhältnisse hatten ihn ausgemergelt, der Mantel hing auf seinen Schultern wie an einem Kleiderständer, er hatte wenig Haar und wenig Bart, und das wenige, das er hatte, war grau – das war schon richtig. Aber damit war er nicht abgetan. Es war wohl sein innerer Wert, der es machte, daß er den Kopf so hoch trug. Er versteckte sich nicht, es war etwas Treuherziges in seinem soliden Dünkel, er hatte Eile, seinen Namen und seine Titel zu sagen, um sich gleich Respekt zu verschaffen. Natürlich hatte Direktor Oliver das höchste Ziel im Leben nicht erreicht; aber wer hat das! Er hatte erreicht, wonach unendlich viele völlig vergebens streben, und auch das ist ein Ziel. Er nahm eine bedeutende Stellung in der Lehrerschaft ein und hatte selbst eine unerschrockene Achtung vor dieser Stellung; das hatten alle andern Menschen auch, ohne Ausnahme. Was bedeutete sein Beruf, seine Tätigkeit? Verschafften sie nicht dem Volke Bildung? Schön. Wenn die Jugend nicht mehr unwissend war, so verdankte man es ihm, er verbreitete sein Licht, er rottete Analphabeten aus, und Norwegen war aufgeklärt.

Wenn Direktor Oliver sich jetzt im Leben bewegt, so geschieht es weder, um dem Schicksal zu entrinnen noch um ihm nachzulaufen. Er ist, der er ist, sein Schicksal ist abgeschlossen, sein Boot im Hafen. Von nun an lebt er unversehrt jahrein, jahraus; er ist unveränderlich und haltbar derselbe, die Landesgesetze erlauben ihm, sein Brot zu verdienen, wie er es tut, er ist das Oberhaupt der Schule; wenn der Herr Direktor etwas sagt, hat der Herr Direktor es gesagt!

Es war ihm wohl ein wenig ungewohnt, in ein Haus mit fünfzig fremden Menschen zu kommen, aber es dauerte nur wenige Stunden, so war er bekannt, man bot ihm guten Morgen, man lauschte aufmerksam auf das, was er sagte, man erhob sich und bot ihm seinen Stuhl; um sich bei dem Herrn Direktor beliebt zu machen, gab man sich auch mit seinen Jungen ab und unterhielt sich stundenlang mit ihnen.

Aber der Selbstmörder sah ihn scheel an. Wissen Sie, sagte er zu Moß, der Pastor – der Schuldirektor – gab sich natürlich für einen Pastor aus, um ein Zimmer zu bekommen. Das war gemein. Aber mich kann man nicht anführen.

 

Endlich war wieder die Rede davon, daß das Sanatorium Daniels Ochsen kaufen wollte. Warum jetzt? mischte der Selbstmörder sich hinein, warum nicht früher? Gerade haben wir Leute bekommen, die von eingemachten Fleischklößen leben können – und da kriegen wir den Ochsen!

Er war ganz anderer Meinung geworden: mit dem Ochsen hatte es Zeit. Er agitierte unter den Gästen wie unter dem Personal für Hinausschieben des Kaufes, das hätte Zeit, bis der Schuldirektor wieder abgereist war, wie lange würde der Ochse sonst reichen! Welch eine Habgier und Ungastfreundlichkeit von diesem Selbstmörder! Es kümmerte sich denn auch keiner um sein Gerede. Sie wollen ja doch sterben, nicht wahr? fragte der Inspektor ihn lachend, warum machen Sie sich da soviel aus dem Essen.

Der Ochse wurde gekauft.

Man würde es nicht getan haben, hätte man die Folgen vorausgesehen, das mag zu ihrer Entschuldigung dienen. Man hätte eine große Schuld und eine schwere Verantwortung weniger gehabt, wenn man es hätte bleiben lassen. Hinterher konnten sie räsonieren, sich streiten, konnte einer die Schuld auf den andern schieben – das Geschehene war nicht ungeschehen zu machen. Aber man konnte die Hände ringen und jammern.

Ja, jetzt wollte Daniel den großen Ochsen verkaufen, einige hundert Kronen waren Geld für den Mann in der Torahus-Sennhütte, er konnte sie gut gebrauchen. Von seinem Standpunkt aus sprach viel dafür, daß der Handel gleich abgeschlossen wurde. Der Sommer ging auf die Neige, die Heuernte war nicht gut ausgefallen, der Preis war hoch, und dazu kam, daß Daniels kleiner Ochse im Laufe des Sommers gut gewachsen war und jetzt an die Stelle des großen treten konnte.

So gingen denn zwei Mann zu Daniel hinüber, um den Ochsen nach dem Sanatorium zu holen: der Schweizer und der Briefträger. Sie hatten einen Strick mit, den der Schweizer dem Ochsen kunstgerecht um Hals und Maul band.

Der Strick ist ein bißchen dünn, sagte Daniel.

Er ist dick genug, antwortete der Schweizer.

Noch ehe sie die Wanderung antraten, hegte Daniel Zweifel und sagte: Wenn ihr den Ochsen nur hinbringen könnt.

Der Schweizer blies sich auf und meinte, das sei nicht der erste Ochse, mit dem er in seinem Leben zu tun habe.

Es ging auch gut, bis sie schon halbwegs zu Hause waren, aber plötzlich wurde der Ochse querköpfig, er blieb stehen, setzte das Maul auf den Boden und schüttelte den Kopf. Er sah wohl, daß er auf ein fremdes Feld gekommen war, die Männer waren ihm auch fremd, und der Teufel mochte sich länger an einer Wäscheleine, einem Bindfaden ziehen lassen. Freundliche Worte und Streicheln hatten keine Wirkung, über einen Stock, den der Briefträger gebrauchte, schnaufte der Ochse. Aber sie konnten nicht hier stehenbleiben, und der Schweizer fluchte schon, was das Zeug hielt. Stoß ihn mal auf den Hintern, verordnete er; aber warte, bis ich ihn gut halte. So, jetzt.

Aber es half nichts. Der Ochse blieb stehen, wo er stand.

Der Schweizer schrie erregt: Tüchtig draufstoßen!

O ja, der Briefträger stieß ordentlich.

Nun mußte Gott im Himmel den Schweizer behüten, denn es erfolgte eine Explosion. Der Briefträger blieb wie in einem leeren Raum stehen und sah, wie der Ochse mit dem Schweizer davonsprengte, immer geradeaus, ohne sich um den Weg zu kümmern, in Büsche und Gestein. Anfänglich fand der Briefträger, dies sei das Komischste, was er je erlebt hätte. Der Schweizer folgte dem Ochsen wie Spreu, jetzt in der Luft, jetzt wieder auf der Erde, und im Morast spritzte der Dreck um sie beide herum. Der Briefträger meckerte inwendig vor Lachen. Plötzlich hört er einen Ruck, einen Klagelaut, und nun läuft er auch hinterher; der Ochse steht, ein Baum hat ihn aufgehalten, und neben dem Baum steht der Schweizer, die eine Hand festgeklemmt, der Strick hält sie. Warte, ich schneide ihn durch! sagt der Briefträger erschrocken und greift nach dem Messer. Nein! faucht der Schweizer. Der Mann ist mutig und teuflisch vor Wut, er knirscht mit den Zähnen. Du mußt aufbinden; hier durchziehen, aber laß den Ochsen nicht los!

Als er endlich frei kommt, zittert er an allen Gliedern, seine Hand ist blau und geschwollen, ein paar Finger sind blutig. Er schwingt die Hand ein paarmal und sagt wütend: Hab' ich dich gebeten, ihn seitwärts in den Hintern zu stoßen?

Der Briefträger murmelt nur: Wie, seitwärts? Nein.

Du Esel!

Du hättest den Strick loslassen sollen, antwortet der Briefträger.

Ich lasse nicht los! schreit der Schweizer.

Halt den Mund! Siehst du nicht, daß du das Tier scheu machst, wenn du so schreist?

Obwohl der Schweizer jetzt gezwungen war, seine Stimme zu mäßigen, verbesserte das doch seine Laune nicht, und er schalt seinen Kameraden tüchtig aus.

Es zeigten sich Leute auf dem Wege, Gäste aus dem Sanatorium, die gehört hatten, was vorgehen sollte, und jetzt dem Transport entgegenkamen. Es waren eine ganze Menge Leute, auch Damen, auch Bertelsen, sogar Herr Fleming war zum erstenmal nach seinem Krankenlager wieder draußen. Oh, es war vielleicht nicht nur persönlicher Mut, wenn der Schweizer den Strick nicht losließ, er besaß wohl auch seine Eitelkeit: ein ganzer Kerl zu sein vor den Augen all dieser Gäste und Zuschauer.

Laß uns noch mal versuchen! sagte er laut und schallend.

Der Briefträger murmelte warnend.

Du bist ein Waschlappen! rief der Schweizer. Ist das nicht ein Ochse, ein Stück Schlachtvieh? Mit dem sollten wir nicht fertig werden! Haha!

Der Ochse wollte nicht.

Sieh die Augen, sagte der Briefträger, die sind ganz rot.

Das schiert mich den Teufel! antwortete der Schweizer. So, treib an!

Aber der Ochse wollte nicht.

Komm her, kommandierte der Schweizer, faß auch den Strick hier fest am Maul – nein, auf der andern Seite natürlich! Laß uns machen, daß wir weiterkommen mit dem Vieh und nicht hier stehenbleiben.

Sie machen sich bereit. Unterdessen steht der Ochse, das Maul auf dem Boden, da, als warte er, schielt mit den blutunterlaufenen Augen und schnauft ab und zu.

Die Vorbereitungen sind beendet, beide halten den Strick, der Schweizer mit der einen Hand, während er mit der andern dem Ochsen einen Stich in den Hintern gibt – ein einigermaßen unschuldiges Mittel, ihn anzutreiben, einen Stecknadelstich.

Wieder Explosion, ho! Jetzt lachte der Briefträger nicht, meckerte nicht, der Boden wurde ihm unter den Füßen weggezogen, und sowohl er wie sein Kamerad flogen durch die Luft. Ach, was waren zwei Menschenkräfte gegen die Übermacht des Ochsen! Auf einmal lagen sie beide auf der Erde, abgeschüttelt, beiseite geschleudert. Der Schweizer hielt noch den Strick in der Hand, hatte wieder nicht losgelassen – ein tapferer Kerl, aber der Strick war gerissen.

Jawohl, und der Ochse war los.

Da steht nun ein Tier in Freiheit, einfarbig braun und blank, sein Zentnergewicht auf den kurzen Beinen ruhend. Der mächtige Hals hat fast die Dicke des ganzen Tieres und die Stärke einer Lokomotive. Das ist ein Anblick!

Ein Anblick, aber die Menschen ertragen ihn nicht. Die Menschen sind Gäste vom Sanatorium, sie stoßen ein Stöhnen aus, sinken fast ins Knie, sie fürchten sich. Es entsteht Ratlosigkeit unter ihnen; obwohl das Tier braun und blank ist, strömt es Kälte und Gefahr aus, den Menschen ist schlecht zumute. In diesem ersten Augenblick sind zwei Knaben die einzigen, die sich rühren, sie können ihre Spannung nicht äußern, kriechen aber auf einen Felsblock, um besser sehen zu können. Und als wäre das ein Signal, kriechen ihnen nun auch andere nach auf den Felsblock. Hier verschnaufen sie sich, die Menschen werden wieder kühner, sie sind im Zirkus, sind Zuschauer im Zirkus.

Der Briefträger steht langsam auf und betastet seine Gliedmaßen, um zu prüfen, ob sie heil sind. Der Schweizer untersucht, obgleich halb betäubt und ein wenig wankend, schon den Strick, knüpft ihn wieder zusammen und geht dem Ochsen nach. Der Mann ist noch ebenso wütend und tut, als sei er noch ebenso unerschrocken. Eine Dame dreht ihre Handschuhe aus voller Kraft und bittet ihn, den Ochsen in Ruhe zu lassen, doch er hört nicht darauf; als aber Bertelsen – Holzhändler Bertelsen, der soviel im Sanatorium gilt – als auch er mit ihm spricht und ihn bittet, zu warten, bleibt der Schweizer stehen und fragt: Warum soll ich warten?

Ja, warten Sie ein bißchen, antwortet Bertelsen, Fräulein d'Espard ist zur Sennhütte gegangen und holt Daniel.

Nein, als der Schweizer das hört, will er durchaus nicht warten, er pfeift auf Daniel, pfeift auf den ganzen Ochsen, er soll nach dem Sanatorium! Er sieht sich nach dem Briefträger um und ruft ihn, der Briefträger ist ein weites Stück zurückgegangen, um seine Mütze zu suchen, die er beim Laufen verloren hat, diese Mütze mit der goldenen Schnur, die das Zeichen seiner Stellung ist. Der Schweizer wartet und ruft ihn wieder: Bist du bange vor einem Ochsen, vor einem Kalb? Er hat ja nicht mal ordentliche Hörner, nur ein paar Warzen auf dem Kopf! Pfui!

Ein Mastochse ist kein Kalb, antwortete der Briefträger erbittert, ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Merk' dir das!

Die Zeit vergeht mit dem Streiten, der Ochse fängt an, wütend zu werden, er wühlt mit dem Kopf in Baumstümpfen und Grasbüscheln und beschmutzt sich furchteinfiößend, er scharrt mit den Vorderfüßen und brummt wie Donnergrollen. Plötzlich erblickt er den Schweizer und läuft auf ihn los, oh, er ist gewaltig, wenn er so angelaufen kommt, und seine Weichen schaukeln und wiegen sich. Der Schweizer rettet sich schleunigst auf den Felsen und sagt: Wenn das Männchen da nicht mitmacht, so muß ich es aufgeben! Setzt ihm 'ne Schnur auf die Mütze, dann wagt er's vielleicht! – Er schiebt alle Schuld auf den Briefträger.

Daniel kommt. Dies Fräulein d'Espard ist zwar unangenehm und wenig beliebt, aber doch ein Teufelsmädel, dem der Kopf auf dem rechten Fleck sitzt. Da hat sie nun wieder mal das einzig Richtige getan und Daniel geholt. Er kommt mit einem gehörigen Strick in der Hand und nähert sich dem Ochsen freundschaftlich und einschmeichelnd. Mit ausgestreckter Hand und zärtlichen Kosenamen läßt er ihn verstehen, daß er es auch jetzt wie gewöhnlich mit Güte versuchen will, aber der Ochse ziert sich und scharrt nur den Boden mit den Vorderfüßen. Nein, ihr habt das Tier scheu gemacht! sagt Daniel ärgerlich.

Wir sind Leute genug, um ihn am Tüder zu nehmen, schlägt der Schweizer vor. Ja, sie waren Leute genug, daran lag es nicht, aber ... Und der Schweizer hatte vielleicht auch den Mut dazu. Aber es war nicht zu machen. Nimm einen wütenden Ochsen am Tüder! Als sie ihn umzingelt hatten, war noch das Schwerste übrig.

Und da stehen sie nun und kommen nicht weiter.

Ich glaube, es muß jemand gehen und Marta holen, sagt Daniel, die kennt er am besten. – Marta war Daniels alte Magd.

Schön, einer holt Marta. Da kein anderer Lust hat und alle vorschützen, daß sie den Weg nicht kennen, so geht Fräulein d'Espard wieder; sie hängt nur ihren Hut an einen Baum und steigt vom Felsen hinunter. Das tut Fräulein d'Espard. Während die andern dastehen, zusehen und sich fürchten.

Unterdessen triumphiert der Schweizer ein bißchen darüber, daß auch Daniel nicht mit dem Ochsen fertig werden kann; nun sieh mal an, er kann es auch nicht! Aber keiner würde den Mut des Schweizers angezweifelt haben, selbst wenn er geschwiegen hätte; betrachtete man die Sache unbefangen, so hatte ja übrigens er und kein anderer ihnen die Geschichte eingebrockt. Schweig still, Schweizer!

Bertelsen sagt: Ich denke, ob ich nicht meine Büchse holen und das Vieh totschießen soll.

Ja, tun Sie das! ruft die Dame aus, die ihre Handschuhe und ihre Hände dreht.

Bertelsen sieht sich nach einem Wege um, auf dem er sicher hinuntergelangen kann, scheint ihn aber nicht zu finden, man kann ja überall auf das rasende Tier stoßen. Fräulein Ellingsen faßt Bertelsen am Arm und bittet ihn, es zu lassen, bald käme Marta wohl, Gott sei Dank!

Daniel versucht, den Ochsen zu greifen; als es aber immer wieder fehlschlägt, steigt auch er auf den Felsen. Jetzt sind sie alle dort versammelt. Der Ochse scharrt, blickt auf, donnert und scharrt wieder. Es ist, als ginge es ihn nichts an, daß eine ganze Schar Menschen seinetwegen in der Nähe ist. Was nun? Rufe aus dem Gehölz. Es sind neue Gäste und Zuschauer aus dem Sanatorium, die fragen, ob sie näherkommen können? Nein, nein, der Ochse ist los! antworten alle auf dem Felsen. Gehen Sie schnell nach Haus, augenblicklich! schreit Bertelsen ihnen entgegen und jagt sie zurück. Dies Geschrei scheint den Ochsen zu verwirren, er steht einen Augenblick da und zittert – und jetzt geschieht es!

Der Ochse schnauft kurz und unnatürlich, ein häßliches, wie irrsinniges Geräusch, und plötzlich wirft er sich herum, als hätte er wieder einen Stich erhalten, und galoppiert den Felsen hinauf. Ein einziges vielstimmiges Geheul von den Menschen, wilde Flucht nach allen Seiten, und der Felsen ist verlassen, ist rasiert. Nur eine Dame steht noch da, sie dreht jetzt nicht ihre Handschuhe, sie ist gelähmt, und nun wankt sie, sinkt in die Knie und fällt. Der Ochse nimmt sie auf den Nacken und schleudert sie wie ein Bündel über den Felsen. Fertig!

Aber da ist der Schweizer. Der Schweizer wollte nun doch nicht fliehen wie die andern, er war wie ein Affe auf einen Baum geklettert. Der Teufelskerl, der Schweizer, hatte sich diese Rettung sicher im voraus ausgedacht, sonst hätte er nicht so entschlossen und schlau sein können. Da sitzt er nun auf seinem Ast und fürchtet sich nicht. Nicht einmal, als der Ochse ihn erblickt, wird er ängstlich, keine Spur, aber es dauert nur eine Minute, dann geht der Ochse auf den Baum los. In diesem Augenblick sieht er aus, als würde er es mit jedem aufnehmen.

Jetzt nützt es dem Schweizer nichts, daß er für tapfer gelten kann, der Baum knirscht, der Stamm zittert. Er schreit das Tier an, flucht, schilt es aus, als er aber einsieht, daß er in Lebensgefahr ist, hält er inne, kommt nach einem langen Umweg zum Nachdenken und bittet Gott, ihm zu helfen.

Die Flüchtlinge sehen aus der Ferne seine Lage und rufen ihm zu, daß er kommen soll, sie verstehen nicht, daß es unmöglich ist, daß er keinen Ausweg hat. Ab und zu rollt ein Donner aus dem Rachen des Ochsen, das Tier ringt hart mit dem Baumstamm und beugt ihn; Fräulein d'Espards Hut fällt von dem Zweig herunter, der Ochse zerstampft ihn, stampft immer mehr, wird von dem Stampfen ganz in Anspruch genommen. Der Hut rettet den Menschen. Im selben Augenblick, als der Ochse seine ganze Aufmerksamkeit auf den Hut gelenkt hat, gleitet der Schweizer wie ein Affe zu Boden und läuft und läuft –

Ein Wunder hat ihn gerettet.

Er holt die andern ein und ruft gleich, was der Ochse getan hat: einen Menschen getötet, die Dame, sie liegt auf dem Felsen gleich drüben, sie ist vielleicht tot, aber man muß sehen, man muß versuchen–! Oh, der Schweizer ist wieder obenauf, der Kerl hat den Kopf wieder auf dem rechten Fleck, er verlangt Hilfe, um die Dame zu retten. Er erklärt wahrhaftig, daß er nur gekommen sei, um das zu sagen, nur deswegen, sonst hätte er in aller Ruhe auf dem Baum sitzen bleiben können!

Daniel eilt mit ihm zurück. Bertelsen will ihnen mit edler Unvorsichtigkeit folgen, aber Fräulein Ellingsen bringt ihn davon ab. Bleiben Sie stehen, warten Sie hier! sagt sie. Ich komme gleich! Damit läuft sie den beiden nach. Gut gemacht! Vielleicht schwebt ihr vor, daß sie mit ihrer roten Bluse den Ochsen von der Leiche fortlocken kann.

Es war auch höchste Zeit. Dem Ochsen ist sein Opfer, die Tote, eingefallen, und er hat sie wiedergefunden. Er ist mitten in seinem Zerstörungswerk, als die Retter kommen. Sie stoßen einen Schrei aus, sie lärmen, aber jetzt arbeitet das Tier verzweifelt und beachtet nichts. Bis eine Stimme vom Wege herübertönt, ein Lockruf, den der Ochse kennt: Marta kommt. Sie trägt einen Eimer, geht geradeswegs auf das erregte Tier zu und reicht ihn ihm. Es glückt. Und Daniel ist mit dem Strick da.


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