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Der Schuldirektor ist mit seinen beiden Jungen abgereist, Holzhändler Bertelsen ist abgereist, Fräulein Ellingsen ist abgereist; ja, es wird Herbst, die Ferien für die Sommerfrischler in den Bergen sind zu Ende.
Nicht, daß nicht noch viele Gäste da waren, kleine Rentner, Pastorenwitwen, die Frauen kleiner Kaufleute, die immer noch nervös waren und sich gar nicht erholen konnten, einige junge Sportsleute, die bei Ausübung ihres Berufes zu Schaden gekommen waren und sich nun auskurieren sollten – es gab also noch Menschen genug. Außerdem kamen noch ab und zu neue Gäste als Ersatz für die, welche das Sanatorium verließen. Das waren allerdings meistens Leute auf der Durchreise, die von Berg zu Berg wanderten, und sie blieben in der Regel nur die Nacht über und eigneten sich nicht für den Rechtsanwalt zur Reklame in den Zeitungen, aber sie waren willkommene Kunden, an denen das Sanatorium besser verdiente als an den Monatspatienten.
Von den ursprünglichen Gästen waren zwei, der Selbstmörder und sein Kamerad mit dem Ausschlag, nicht wegzubringen. Sie waren wohl am wenigsten beliebt, der eine wegen seines inneren, der andere wegen seines äußeren Zustandes, aber sie blieben da, aus Treue oder aus Trotz.
Sie taten auch weiter nichts Schlimmes, lärmten nicht, machten sich nicht bemerkbar, sie waren unbedeutende Herren, elende Herren. Tag für Tag formte sich das Leben einigermaßen traurig und dumm für die beiden: sie lasen die weißen Plakate an den Pfosten, studierten die Wegweiser, spielten des Abends Karten mit dem Inspektor und dem Schweizer, saßen während der Mahlzeiten unter den Nervenpatienten, die Pillen und Gesundheitssalz nach dem Glockenschlage nahmen. So verging ihr Tag.
Aber zuletzt war der Selbstmörder zur Abwechslung auf die frische Luft und das Klettern in den Bergen verfallen, um sich gesund zu erhalten. Der merkwürdige Mensch! Seit er ein Dreikäsehoch gewesen, schien er für nichts anderes als für seinen Selbstmord gelebt zu haben, und jetzt begann er seine Meinung zu ändern. Hatte er es nicht ausdrücklich hinausgeschoben, sich das Leben zu nehmen, bis er eine Form fand, die den Mord nicht entehrte? Er hatte gegessen, hatte sich doch auch gekleidet, jawohl, und er hatte gehandelt und gewandelt; aber damals war er selbst ein klar sehender Zeuge der Unvernunft dieses ganzen Benehmens gewesen, oh, er hatte auf sich hinabgesehen und sich angespien. Jetzt war es anders geworden. Hatte die Luft im Torahus-Sanatorium das bewirkt, oder hatte ihn neue Weisheit durchdrungen? Er war umgänglicher sowohl gegen sich wie gegen andere geworden, er trat beiseite, wenn ihm jemand mitten in einer Tür entgegenkam, und begann von seinem Selbstmord mit einer gewissen Ungläubigkeit zu sprechen. Wenn Anton Moß, sein Kamerad, ihn deshalb verspottete, behauptete der Selbstmörder, daß jeder Standpunkt, den der Mensch einnähme, zeitweilig und jede Meinung vorübergehend sei.
Ausgezeichnet! Ein Mensch sich und den anderen gerettet! Wie lebendig, ja wie unsterblich man sein konnte! Wenn man auch nicht gerade Sänger war, so konnte man doch in die Berge gehen und laut und froh singen. Es kam nur darauf an, wie lange dieser helle Zustand dauern würde!
Sind Sie verheiratet? fragte ihn sein Kamerad mißtrauisch.
Verheiratet? Nein.
Sind Sie verheiratet gewesen?
Was geht das Sie an! antwortete der Selbstmörder scharf. Ich frage Sie ja auch nicht, ob Sie eine Krankheit haben, die ich nicht nennen will.
Moß duckte sich. Nachher fuhr er fort: Jedenfalls sind Sie doch jetzt darüber hinweggekommen, meine ich. Der Teufel mag sich auch einer Frau wegen erschießen.
Der Selbstmörder schien überrumpelt zu sein und sagte: Ich habe Sie nicht gefragt, was ich tun mag.
Schweigen. Von den zitternden Lippen des Selbstmörders schien ein Bekenntnis springen zu wollen, er war wie gefangen. Woher haben Sie das? brach er aus. Lauschen Sie, haben Sie von den Mädchen gehört, daß ich im Schlaf spreche? Ja, man ist vielem ausgesetzt!
Demnach war der Selbstmörder ja ein Prachtkerl. Hatte er ein Geheimnis, so wollte er es auch hüten. Wahrlich, er wollte nicht als ein Mann mit einem tragischen Geschick gelten, als einer, den das Börsenspiel ruiniert oder die Frau betrogen hatte. Aber warum hielt er es denn nicht durch? Hatte wirklich eine Saite in ihm angeschlagen? Er fing wieder zu reden an, überklug und philosophisch, ein wenig gemacht keck: Aber im übrigen haben Sie recht, daß der Teufel sich wegen einer Frau erschießen mag. Wer sich erschießt, um sich an einer Frau zu rächen, straft ja nur sich selber. Es mag vielleicht im Augenblick einen kleinen Ruck in der Dame geben, aber bald wird es ihr gleichgültig, sie ißt und trinkt, denkt daran, ob ihr Haar wuschelig ist, denkt an ihren Putz. Noch eine Weile später wird sie sogar ein Gefühl von Stolz haben, weil man sie eines Revolverschusses für wert befunden hat, sie kommt sich selber interessant vor, weil sich jemand ihretwegen erschossen hat, sie prahlt damit. Ja, verstehen Sie mich nicht falsch, ich spreche nicht von einer bestimmten Frau, sondern von Frauen im allgemeinen.
Natürlich! antwortete Moß. Aber er mußte diesmal wohl etwas Fremdes in der Stimme des Kameraden gehört haben. Moß hatte schlechte Augen, aber gute Ohren, er fürchtete vielleicht ein Geständnis und Sentimentalität und griff daher wie gewöhnlich zu einem Scherz, zu Spott: Na, man sollte den Selbstmord doch nicht ganz verwerfen, er hat seinen Wert als Tat wie als Sport –
Sie sind ein Affe! antwortete der Selbstmörder und sah ihn scheel an.
Und es wehte wieder frische Luft zwischen ihnen, sie gaben es sich gegenseitig nach Verdienst und waren aus Herzenslust boshaft. Aber bei solchem Geplänkel pflegte Anton Moß auf die Dauer nicht gut abzuschneiden, er war dem andern nicht gewachsen.
Sie haben heute abend wieder ein hübsches Sümmchen verloren, sagte er.
Ja, und Sie haben für mich bezahlt.
Nein, aber ich habe mich darüber geärgert, daß Sie so schlecht spielten. An den Briefträger zu verlieren – das muß schon daher kommen, daß er eine blanke Schnur um die Mütze trägt. Sie verlieren namentlich an den Briefträger.
Das sollte Ihnen nicht leid tun. Der Briefträger kann sich einen Verlust nicht leisten.
Ach, deshalb?
Nein, Sie sind wieder unglaublich beschränkt. Durchaus nicht deshalb.
Beschränkt? Ja, wenn es nach Ihnen ginge, sollte ich mich vielleicht schämen, daß ich übergangen wurde, als Sie Ihre fixe Idee bekamen?
Ihr ganzes Gesicht ist zerfressen! ruft der Selbstmörder mit Ekel aus. Nein, und Sie sprechen nicht einmal mehr deutlich, Ihre Lippen sind ganz zerrissen.
Hahaha! sagte Moß. Er lachte es nicht, er sprach es, und was für ein Unsinn! sagte er auch. Aber er wurde gut geduckt, bekam nur eine weitere elende Antwort: Ich gedeihe und nehme zu, aber Sie werden immer hohläugiger und windiger. Es ist merkwürdig, daß Sie keinen Strohhut tragen.
Und dazu sind Sie immer unrasiert, fuhr der Selbstmörder fort.
Hierauf konnte Moß nichts erwidern, er sah nicht rein und nett aus, außer seinen Wunden hatte er Bartstoppeln und fühlte sich deshalb bedrückt, ja, er vermied es, den Leuten in die Augen zu sehen. Er antwortete: Sie haben eine Laune und einen Charakter, daß mich schaudert. Sie könnten ebensogut einen Viehhandel anfangen. Ich kann mich nicht mehr rasieren, ich bekomme Löcher in die Haut. Aber ich schere mich oft, was auf dasselbe herauskommt, ganz kurz mit einer Stickschere. Jeder andere würde das verstehen.
Und jetzt war der Selbstmörder an der Reihe und mußte auf der Hut vor Gewinsel sein. Er sagte: Ja, schweigen Sie, nur keine Tränen!
Hahaha! sagte Moß wieder.
Sie versanken beide in Schweigen, beide saßen da, blinzelten und waren mit ihren Gedanken beschäftigt, warfen ab und zu den Kopf hoch und bemühten sich krampfhaft, männlich zu sein.
Es ist kühl heute, sagte der Selbstmörder, bald bekommen wir Schnee. Nein, was ich sagen wollte – es ist übrigens einerlei, aber Sie tun fast so, als verständen Sie die Rätsel des Lebens. Verstehen Sie sich selbst?
Moß antwortete: Mich selbst? Nein. Ich bin bald blind, das verstehe ich.
Der Teufel mag sich wegen einer Frau erschießen! sagen Sie. Jawohl! Wenn Sie aber ein unparteiischer Mensch wären, so verstünden Sie, wie oberflächlich Sie schwatzen. Gilt es beispielsweise nur den Mann und die Frau? Nicht das Kind? Verstehen Sie mich recht: das Kind im allgemeinen.
Moß warf den Kopf zurück und antwortete: Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Alles, was Sie sagen, geht mich nichts an. Ich will mich nicht zwingen lassen, mit Ihnen zu diskutieren.
Wie Sie wollen! Aber der Selbstmörder fuhr fort, als wäre es ihm eine Notwendigkeit: Ein Kind also, Junge oder Mädchen, sagen wir ein Mädchen. Wenn es zum Beispiel drei Monate alt ist, so können Sie mir nicht einreden, daß Sie es gesehen hätten, ohne es wunderbar zu finden. Was tut die Mutter? Was tut die Mutter drei Monate später? Nun! Aber das Kind liegt da und hält Ihren Finger, hält ihn fest und läßt nicht los. Glauben Sie, daß Sie selber loslassen? Ich spreche ganz allgemein ...
Sie wurden unterbrochen, jemand kam und erzählte, daß heute nacht etwas passiert war: es war jemand gestorben. Es war kein großes Unglück, kein Verlust für die Welt, nein, und es veranlaßte den Selbstmörder nicht, seine gesunde Bergkraxelei aufzugeben, aber es genügte doch, um ihn nicken zu lassen, das sei nun wieder ein neuer Todesfall! Es verbreitete auch neues Unbehagen über das Sanatorium. –
Merkwürdig, daß es so schwere Folgen haben konnte, wenn eines der Stubenmädchen vom Sanatorium sich ganz allein in eines der leeren Zimmer im zweiten Stock setzte und nun da saß.
Die Wirtschafterin fand sie dort, von Nacht und Finsternis verschlungen. Die Wirtschafterin fuhr pflichttreu im ganzen Haus herum und sah nach, ob alle Leute sich hingelegt hatten, strich ein Zündholz an, leuchtete und ging weiter. Nun, und da hatte sie das Stubenmädchen bei unverschlossener Tür sitzen gefunden, als ob sie etwas hier zu tun hätte. Sie weinte nicht, wiegte sich weder, noch summte sie vor sich hin, im Gegenteil, sie rührte sich nicht, saß nur da und lauschte, kaum daß man sie atmen hören konnte.
Die Wirtschafterin ist so überrascht, daß sie von der Tür aus nur haucht: Aber – du sitzt hier?
Das Mädchen winkt die Wirtschafterin herein. Sie lauschen beide, lauschen auf einige Unruhe bei dem Gast im Nebenzimmer: Weinen, flüsterndes Klagen, hörbarer Kummer. Das ist Fräulein d'Espard, denkt die Wirtschafterin, ob ihr etwas fehlt? Macht sie das schon lange? flüstert sie dem Mädchen zu. –
O ja, eine Weile heute abend. Das tut sie schon eine ganze Woche jeden Abend. Sie ißt auch nicht mehr und bricht alles gewöhnliche Essen aus.
Die Wirtschafterin geht auf den Gang hinaus, klopft bei Fräulein d'Espard an und fragt: Fehlt Ihnen etwas, Fräulein d'Espard?
Mir? antwortet das Fräulein mit kecker Stimme. Nein, ich las nur laut in einem französischen Buch. Die Wirtschafterin, sicher mit etwas langem Gesicht im Dunkeln: Dann entschuldigen Sie! Dem Mädchen befahl sie, sich gleich ins Bett zu legen, sofort!
Die nächste Nacht kam das Mädchen wieder. Oh, sie hatte doch etwas zu deutlich gehört, wie aus dem französischen Buch norwegische Wehklagen vorgelesen wurden, ihre neugierige Nase witterte, daß etwas dahinter steckte, und so setzte sie sich wieder in das leere Zimmer und ließ sich vom Dunkel verschlingen. Da geschieht es: Fräulein d'Espard steht in der Tür, weißgekleidet, leuchtet mit einem Zündholz –
Das Mädchen stößt einen leisen Jammerlaut aus, schlägt die Hände vors Gesicht und wankt an dem Fräulein in der Tür vorbei, wankt weiter durch den Gang, immer weiter. Auf der Hintertreppe hört man einen Fall und einen Schrei, dann ist nichts mehr aus dem Dunkel zu hören ...
Aber dieser Todesfall – so zufällig und wenig wichtig er war – schien Fräulein d'Espard Schrecken eingeflößt zu haben. Das junge Mädchen vom Kontor und der Schreibmaschine ertrug gerade jetzt keine Erschütterungen mehr, sie hatte schon genug, mehr als genug gehabt. Das waren keine Ferien, keine angenehmen Tage mehr für sie im Torahus-Sanatorium, sie hatte die Mädchen im Verdacht, daß sie sich über ihre Kränklichkeit aufhielten, darüber, daß sie kein gewöhnliches Essen vertrug, sondern statt dessen ganz unerhörte Gerichte, reine Erfindungen, etwa Brathering auf Keks oder einen Teller rohe Erbsen, verlangte. Jetzt zeigte es sich auch, daß die Mädchen sogar in Gängen und Nebenzimmern lauerten und sie ausspionierten. War das zum Aushalten!
Sie war geradezu verlassen, zurückgelassen, ihr Freund war abgereist, und sie mußte ihre Bürde allein tragen. Ihre Bürde – was für eine Bürde? Daß ein Stubenmädchen sich den Hals gebrochen hatte? Keine Spur. Da niemand eine Frage über diesen nichtssagenden Vorfall an sie richtete, verschwieg auch sie ihren Anteil daran. Ja, sie hatte wohl einen Schrei gehört, während sie dalag und in einem französischen Buche las, aber das war auch alles.
Sie ging ins Freie hinaus, um ein gewisses Geldpaket an einer sicheren Stelle zu vergraben. Bis jetzt hatte sie treulich eine gewisse Stuhllehne bewacht, die voller Geld war, und sie hatte sich nicht das geringste daraus angeeignet. Das war Ehrlichkeit Herrn Fleming, Edelmut ihrem kranken Freund gegenüber, vielleicht auch etwas anderes, vielleicht Liebe, Hoffnung auf ein Wiedersehen, es konnte so vielerlei zusammen sein.
Es war ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß der Selbstmörder in der letzten Zeit angefangen hatte, über Berg und Steg zu wandern, und sie wollte ihn weit fort wissen, wenn sie auf ihren heimlichen Ausflügen war. Sie fand die rechte Stelle, oh, es gab genug sichere Stellen draußen, besonders auf Daniels Seite, in der Nähe der kleinen Scheune, die sie so gut kannte –
Jawohl.
Als sie aber den dicken Umschlag in der Hand wog, kam ihr der Einfall, ihn zu öffnen und hineinzugucken, ehe sie ihn unter den Stein legte. Es war das erstemal, daß ihr das einfiel, die Spannung nach der Flucht des Freundes und dann gewisse eigene geheime Qualen hatten ihr früher nicht Zeit zu dieser Neugier gelassen. Sie fand in dem Umschlag einen Brief, der an sie gerichtet war, eine Schenkungsurkunde: die inliegenden Scheine gehörten ihr, er hätte ihr seine Unterstützung versprochen als Ersatz dafür, daß sie seinetwegen ihre Stellung verloren hatte; er habe selbst Geld genug. Sie müsse nur die größte Vorsicht gebrauchen und im Notfall das Geld verbrennen – Fräulein d'Espard faßt sich an die Stirn, an die Augen, ein Unwetter rast durch ihr Köpfchen, in den folgenden Minuten sind alle Qualen merkwürdigerweise fort. Wie fein, wie delikat war das, so ganz einem Grafen ähnlich, oder was er nun war! Für Fräulein d'Espard ist das keine Diebesbeute mehr, was sie auf der Brust getragen hat, es ist ein Abschiedsgeschenk, ein Andenken an einen Edelmann. Sie zählt die Scheine, nein, sie zählt nicht, schätzt nur, nimmt einen Überblick. Es sind gute Scheine, große Scheine, einige Tausend, nicht solche Summen, wie sie sie zuweilen im Kontor auf der Maschine geschrieben hat, aber immerhin einige Tausend, mehrere Tausend, Reichtum. Und da sind auch einige kleinere Scheine und ganz kleine – gerade, als habe er sie eine Zeitlang vor dem Wechseln verschonen wollen. An alles hatte er gedacht.
Dann setzt sie sich hin und überlegt. Hatte sie jetzt Grund, die Hände zu ringen und nachts zu jammern? Gewiß, noch denselben Grund, das war das schlimme. Aber Geld ist nun einmal Geld, und plötzlich ist es, als hätte sie eine gute Eingebung. Sie erhebt sich, fast explosiv, steckt das Geldpaket wieder in den Busen, und nach einiger Mühe mit ein paar Druckknöpfen im Rücken entfernt sie sich.
Sie wäre am liebsten sofort ungestört ins Sanatorium gegangen, aber da taucht Daniel auf, und er sieht sie. Er trägt einen Strick in der Hand und einen Unterrock, einen von Martas Unterröcken, in dem er Heu von dem kleinen Schober nach Hause tragen will, ja, und er grüßt von weitem, und das Fräulein muß mit ihm sprechen. Es wird so etwas wie ein richtiges Wiedersehen, Daniel zeigt sich froh darüber, daß er sie trifft.
Es sei so lange her, daß er sie zuletzt gesehen habe, sagt er. Er glaubte, sie wäre abgereist.
Nein.
Nun, aber der Graf, wo der Graf sei?
Der Graf wäre abgereist. Vielleicht komme er wieder, aber gerade jetzt sei es ihm in den Bergen zu kalt für seine kranke Brust geworden.
Versteh' ich! nickt Daniel verständnisvoll. Und da laufe sie nun allein hier herum, ganz allein? Jaja, aber wohl nur eine Weile.
Sie hat ohne weiteres die Arme zurückgebogen und die paar Druckknöpfe wieder aufgerissen. Als sie das Geldpaket hervorholt, werden Daniels Augen groß und ungläubig, sie nimmt gerade vor seinen Augen einen Zehnkronenschein heraus und übergibt ihn mit den Worten: Das ist für Sie; er hat mich darum gebeten. Es ist wirklich gut, daß ich Sie getroffen habe.
Nein, nein, nein! sagt Daniel und macht ein paar Schritte rückwärts. Das ist doch nicht möglich? Vom Grafen?
Vom Grafen. Oh, er hat an alle gedacht!
Es kommt zu einem längeren Gespräch über den Grafen: ein ausgezeichneter Mensch, Marta denke jeden Tag an ihn. Ein Jammer, daß einem solchen Manne etwas fehlen mußte –
Das Fräulein sagt: Könnten Sie mir vielleicht mein Kleid im Rücken zuhaken, ich lange nicht hin.
Er wirft Strick und Unterrock hin und antwortet: Ich weiß nicht, ob ich so was kann – etwas so Feines –
Es geht, sie fühlt seine Hände im Rücken und hört, daß die Knöpfe einschnappen. Ja, es geht, sie spürt, wie er sich in seiner Treuherzigkeit fürchtet, zu hart zuzufassen.
Sie gehen zusammen den Weg nach dem Schober, Fräulein d'Espard guckt hinein und hat wohl ihre eigenen Gedanken. Dort drinnen hatte sie sich ja manches liebe Mal mit ihrem Freunde aufgehalten, er hatte sie geküßt und umarmt. Oh, sie hatten beide Angst vor den Folgen gehabt, jawohl, und dieser Angst hatten sie immer wieder neuen Stoff gegeben. Nein, es waren nicht Sport und Wette, es war das Tucken im Blute, notwendige Dummheit und Torheit nach den ältesten Mustern der Welt, vielleicht auch etwas Goldenes, vielleicht Liebe, es konnte so vieles zusammen sein.
Auf Wiedersehen! sagte das Fräulein und überließ Daniel seinem Heu.
Als sie wieder ins Sanatorium kam, packte sie ihr Zeug, las ihre französischen Romane zusammen und verschloß sie in ihrem Koffer, dann verlangte sie ihre Rechnung und bezahlte sie mit einigen Scheinen, die sie zu diesem Zweck herausgenommen hatte. Sie fühlte sich ordentlich, und als die Rechnung auf einen Tag zu wenig lautete, schickte sie sie zurück und ließ sie richtigstellen, gab auch anständige Trinkgelder. Das Gefühl, ein Geldpaket auf der Brust zu haben, verlieh ihr eine mystische, allmächtige Stütze.
Der Doktor kam. Wußte er etwas mehr von ihrer plötzlichen Abreise, als er sollte, so war er diesmal doch klug genug, sich unwissend zu stellen; übrigens wußte Doktor Öyen sicher nichts. Auch Sie, Brutussa! sagte er scherzend, und aus irgendeinem Grunde war er mit diesen Worten zufrieden und lachte über sie. Es wunderte ihn auch nicht, daß sie abreiste, denn es begann kühl in den Bergen zu werden, und er wäre selbst gern ihrem Beispiel gefolgt. Hätte sie nun auch nichts vergessen, irgendein Buch?
Das würde nichts machen, sie komme bald wieder, wolle nur einen Ausflug nach Kristiania machen und ließe ihren Koffer stehen.
Der Doktor froh überrascht: Das ist recht, gnädiges Fräulein, Sie sind uns immer herzlich willkommen Sie sind uns doppelt lieb als eine unserer Getreuen, eine vom ältesten Gästestamm.
Die Wirtschafterin kam. Dieselben Versicherungen, dieselbe Höflichkeit.
Als Fräulein d'Espard mit ihrem kleinen Handkoffer in der Hand ging, machte sie einen Umweg durch den Salon. Sie tat es absichtlich. Sie wußte sehr gut, daß sie bei den andern weiblichen Gästen nie beliebt gewesen war, und wollte ihnen jetzt noch einmal ihre Gleichgültigkeit zeigen. Sie sollten nichts Böses von ihr denken, man durfte sie gerne sehen, bitte sehr! War Tollkühnheit nicht die größte Vorsicht! Sie durchschritt den Salon, als sei sie eine Prozession mit Zuschauern auf beiden Seiten, ja, und dabei bohrte sie sich sogar mit dem kleinen Finger ein bißchen im Ohr. Überlegener konnte niemand sein.
Im Zuge war sie allen unbekannt.
Schon am ersten Tage in Kristiania traf sie die Kavaliere aus ihrem alten Kontor. Das gab Wiedersehen und Liebenswürdigkeit und Einladungen in die bekannten Junggesellenwohnungen, in denen sie früher schon gewesen war. Ja, vielen Dank, sie würde kommen, aber zuerst müßte sie in die Stadt gehen.
Sie richtete es so ein, daß sie auf Bertelsen, den Holzhändler stieß. Dieser Herr hatte sie im Sanatorium durchaus nicht schief angesehen, im Gegenteil, er hatte sie wohl zu würdigen gewußt. In einer weinfrohen Stunde hatte er sie sogar unter dem Tische ein wenig auf den Fuß getreten.
Sie fragte nach Fräulein Ellingsen.
Ja, er sehe sie häufig, es ginge ihr gut. Er fragte seinerseits nach Herrn Fleming. Sollten sie nicht übrigens lieber in ein Café gehen, als hier auf offener Straße stehen?
Ja gern, wenn er Fräulein Ellingsen telephonieren wolle, daß sie auch komme.
Das versprach er, und sie gingen ins Café und bestellten zu essen und zu trinken. Bertelsen erzählte von Frau Ruben, daß sie viel dünner geworden sei, jetzt könne sie gehen; erinnern Sie sich an Frau Ruben? Ja, jetzt sei sie nicht wiederzuerkennen, aus Trauer über den Mann oder was es nun sein mochte. Aber erinnern Sie sich auch Myladys, der englischen Ministersgattin? Ach, alles Lüge, eine gefährliche Schwindlerin, wie ich jetzt aus Schweden gehört habe! Aber sagen Sie, gnädiges Fräulein, wollen wir nicht lieber eine Autofahrt machen, zu mir? Da können wir gemütlicher sitzen und plaudern.
Ja, wenn Sie Fräulein Ellingsen telephonieren wollen.
Fräulein Ellingsen – ja, nein sie hat Dienst, sie kann nicht loskommen –
Und nun geschieht das Merkwürdige: Fräulein d'Espard wird zornig. Sie macht sich keineswegs soviel aus Fräulein Ellingsen, aber sie wird plötzlich weiß vor Wut, weil Bertelsen sie betrogen, sie angeführt hat. Oh, sie war so reizbar geworden, es gehörte wenig oder nichts dazu, sie zu erregen, sie befand sich wohl in einer ungewöhnlichen Gemütsverfassung. Wie – verstünde Fräulein d'Espard nicht, was er ihr anbot? Sie sei kein Schulmädchen. Aber zu dem, was er ihr anbot, war sie ja jetzt am allerwenigsten imstande, sie pfiff auf seine Autofahrt. Natürlich besänftigte sie sich wieder und dankte ihm für seine Einladung, aber sie trennten sich vor dem Café und gingen jeder seines Weges.
Am Nachmittag suchte sie Fräulein Ellingsen auf und fand sie unverändert, voll von Romantik, Räubergeschichten und Poesie, im Kopfe ein Gespinst von einem Dutzend spannender Geschichten, die sie schreiben wollte, an denen sie schrieb. Es würde sicher etwas, das sagten alle. Das Dumme sei nur ihre Schweigepflicht, ihr Eid.
Fräulein d'Espard hätte diese Dame, die soviel vom Telegraphentisch wußte, gern nach einem gewissen Flüchtling, einem kranken Edelmann gefragt, wagte es aber nicht. Gott sei Dank, er war wohl noch nicht gefaßt, er kam vielleicht fort mit einer der überseeischen Linien nach Australien, nach Südamerika –
Ob Fräulein Ellingsen heute abend mitkommen wolle in die Junggesellenbude des Bureauchefs?
Ja gern. Ob Bertelsen da sei?
Bertelsen – ja, sie könnten ihm telephonieren.
Fräulein d'Espard holte sie abends ab und sie fuhren zum Bureauchef. Aber nein, es war auch kein Vergnügen: die alten Kameraden, die sich hier versammelt hatten, waren allzusehr dieselben wie früher, und Fräulein d'Espard hatte sich verändert. Du lieber Gott, was interessierte es sie, zu hören, wie das Geschäft ging oder daß der Disponent selbst der neuen Schreibmaschinendame den Hof machte!
Kann sie Französisch? fragte Fräulein d'Espard.
Französisch und Französisch ist zweierlei. Es sei nicht so, wie wenn sie loslegte, aber –
Ja, Fräulein d'Espard lächelte, aber im Grunde war es ihr gleichgültig.
Sie wurde nach einer Photographie angestellt, sagte einer der Herren.
Auch das war ihr gleichgültig.
Sie hat schon Zulage bekommen.
Gleichgültig, gleichgültig. Fräulein d'Espard hatte anderes im Kopf. Sie mußte sich schonen, das war der reine Selbsterhaltungstrieb. Fräulein Ellingsen, die hat es gut, aber mit ihr steht es auch nicht so, daß sie Eile hat, daß sie ums Leben kämpft. Da sitzt sie groß und hübsch, ein Prachtmensch, aber sie macht nichts aus sich, weil sie es nicht nötig hat. Die Herren sind anfangs begeistert von ihrer Erscheinung, diesem Blick, der aus einem Paar Augen kommt, die ein wenig schräg liegen und sie eigentümlich machen, sie hat den herrlichsten großen Mund, prachtvolles braunes Haar – und dennoch, sie spielt nicht mit, nimmt an nichts Anteil, ist nicht lebendig. Sie ist zu lauter Mechanismus geworden: zieht sie auf, und sie wird erzählen und fabeln, wird ihre gefesselte Phantasie loslassen, bis sie stehenbleibt. Aber sie konnte doch faseln und dichten, daß ihre Augen glänzten und ihre Wangen rot wurden? Ganz recht. Der Mechanismus lief sich warm. Dann begann es in ihr zu schnarren, und dann stockte sie. Hinterher gab es Tränen.
Stockfisch! denkt Fräulein d'Espard und sagt: Prosit, Fräulein Ellingsen!
Prosit!
Fräulein d'Espard ist mit sich beschäftigt; sie zerteilt sich und streckt die Fühler unter den Kameraden aus. Die sind mehr oder weniger kahlköpfig, verbraucht vom Stehen und Schreiben am Pult, verdorrt in diesem Handwerk ohne Arbeit, der Bureauchef am schlimmsten, der ältliche Kavalier macht sich selbst über seine Glatze lustig, streicht mit der flachen Hand darüber und zeigt auf sie: eine Familienschwäche, sagt er. Flotter Bursche, Siegelring am Zeigefinger, gilt unter seinesgleichen als Lebemann von Rang, als Wüstling, und noch längst nicht abgedankt. Seinen Verhältnissen entsprechend ist es zudem standesgemäß bei ihm: zwei Zimmer mit einer Portiere dazwischen. Aber für Fräulein d'Espard ist er nicht der richtige Mann, er ist zu leichtfertig, ohne Halt, ohne Fundament, sie gibt ihn auf.
Wollten wir nicht telephonieren? flüstert Fräulein Ellingsen.
Telephonieren? Ach so, Bertelsen – ja. Aber Fräulein d'Espard ist mit sich beschäftigt, alles andere muß warten. Sie heftet sich an einen der Kontoristen, einen der jüngeren in der Gesellschaft, einen Mann von gewöhnlichem Aussehen, der noch all sein Haar hat. Er ist vom Lande, Bauer, ist seit sieben Jahren im Geschäft, sein Gehalt ist jetzt reichlich, aber nur langsam gelingt es, sich etwas auf die hohe Kante zu legen. Fräulein d'Espard weiß, daß er nebenbei ein bißchen spekuliert: ein kluger Streber, Bauer bis zu den Nagelspitzen. Er ist erkenntlich, weil der Bureauchef ihn auch heute abend eingeladen hat, und trinkt vorsichtig, zeigt die ganze Zeit Respekt.
Die Stunden gehen. Es gibt Butterbrot, Schnaps, Bier, Geplauder und Kognak mit Selters, Pfeife und Zigaretten – nein, unter andern Umständen würde Fräulein d'Espard sich nicht gelangweilt haben, aber jetzt hatte sie anderes zu denken. Als Kaffee mit Likör kommt, kann sie die Gesellschaft knapp mit ihrem »Kaffee mit avec« belustigen.
Fräulein Ellingsen flüstert wieder: Können wir nicht telephonieren?
Telephonieren? ja. Aber ich weiß nicht, ob Bertelsen diese Herren kennt.
Fräulein Ellingsen entmutigt: Bertelsen liebt es nicht, daß ich ohne ihn ausgehe.
Oh, da ist Fräulein d'Espard aber hilfsbereit und fragt laut: Dürfen wir Bertelsen telephonieren, daß er kommt?
Bertelsen?
Bertelsen & Sohn, Sie wissen. Der Sohn.
Alle kennen ihn, der Bureauchef kennt ihn. Bitte, das Telephon ist nebenan.
Die Damen gehen hinter die Portiere und rufen an. Bertelsen ist nicht im Kontor und nicht zu Hause, er ist in irgendeinem Café, und Fräulein Ellingsen wird immer verzagter. Gehen Sie nur hinein und setzen Sie sich, sagt Fräulein d'Espard da, ich werde ihn schon finden! Sie schiebt Fräulein Ellingsen hinaus und ruft den Kontoristen, den Bauer: Kommen Sie und helfen Sie mir. Ich weiß doch, wie tüchtig Sie am Telephon zu sein pflegen.
Die beiden telephonieren nun in dem halbdunklen Schlafzimmer hierhin und dorthin, und als sie fertig sind und ihren Mann gefunden haben, beginnt Fräulein d'Espard sich auf eigene Rechnung zu entfalten, schlingt die Arme um den Bauer und streicht ihm über all sein Haar. Da soll doch der Teufel, er hätte ja nie gedacht – nie erwartet –
Doch, sie habe die ganze Zeit an ihn gedacht.
Er ist verwirrt und halb erschrocken, das Fremde in diesem Erlebnis macht ihn zurückhaltend. Gewiß, er küßt sie, aber nicht ohne Mißtrauen. Wie in aller Welt, Fräulein d'Espard, um die sich der Bureauchef selbst bemüht hat! Nein, wir müssen zu den andern hineingehen, sagt er.
Ja! Aber nun wüßte er also, daß sie an ihn denke, daß sie ihn, offen gestanden, nicht vergessen könne. Was sagte er dazu?
Hm, ja! Das habe er sich nie träumen lassen, nicht im geringsten. Und er sei ihrer so ganz unwürdig, ein geringer Mann – eine armselige Stellung – keine Zukunft –
Oh, sie habe selbst etwas. Mehr wolle sie nicht sagen, aber ein kleines Vermögen, ein Erbteil von ihren Angehörigen in Frankreich, ein Geschenk des Himmels also! Aber wie um sich eine Hintertür offenzuhalten, sagt sie zum Schluß: Sie hätten mich nicht küssen sollen, wenn Sie mich nicht mögen. Uff, ich habe solche Kopfschmerzen!
Als sie wieder in das Zimmer zu den andern treten, ist der Bauer ziemlich aus der Fassung. Fräulein d'Espard beherrscht sich besser, vielleicht, weil sie dazu gezwungen ist, sie hält die Hand vor die Augen und ruft: Oh, dies viele Licht! Ja, wir haben Bertelsen gefunden, Fräulein Ellingsen, er kommt gleich!
Und Bertelsen kam, verließ, wie er sagte, seine Gesellschaft und kam. Er war aufgeräumt und gesprächig, ziemlich wirr, seit Mittag mußte er wohl in einem Café nach dem andern gewesen sein. Er hatte es augenblicklich auf Fräulein d'Espard abgesehen und nützte aus, was er vom Sanatorium her von ihr wußte. Der Graf sei wirklich nichts für sie, ein Mann am Rande des Grabes und vielleicht nicht einmal von Adel?
Fräulein d'Espard wieder gereizt: Vielleicht nicht vom Balkenadel, nein!
Diese Grobheit nahm der Holzhändler nun sehr nett auf und entwaffnete sie: Man sollte die Balken, das Geld, einen guten Rat nicht verachten. Er hätte seinerseits seinen Freunden zuweilen geholfen, er habe auch – er sagte es nicht gern – einen Stipendiaten in Paris, einen Musiker –
Ja, das wissen wir ja! ruft Fräulein d'Espard reuevoll aus. Sie waren wirklich großartig.
Na, wir wollen nicht übertreiben, erwiderte Bertelsen, Sie machen zuviel daraus.
Durchaus nicht! Und in dem Bedürfnis, wieder gut und freundlich zu sein, macht sie sogar noch mehr daraus: Ich weiß, es war nicht das erstemal, daß Sie sich als Wohltäter erwiesen haben.
Bertelsen sieht sich mit verstellter Verwunderung in der Gesellschaft um und sagt: Sie ist nicht recht bei Trost! Nun, im übrigen will ich nichts Unvorteilhaftes über ihren Grafen gesagt haben, Fräulein d'Espard, er war ein angenehmer Herr, wir spielten Karten und tranken Wein zusammen, er war zweifellos ein Gentleman. Nur schade, daß er so todkrank war. Sind Sie mit ihm verlobt?
Ich? Nein. Sie schwatzen Unsinn!
Unsinn, jawohl. Aber Sie können es nun drehen und wenden, wie Sie wollen – ich bin es, der Sie liebt.
Darüber lachten nun alle und nahmen es im höchsten Grade ernst, nur Fräulein Ellingsen saß düster, verlassen und freudlos da.
Bertelsen schwatzte drauflos – wieder über Frau Ruben; habe sie kürzlich getroffen, müsse eine Kur durchgemacht haben, sei mächtig verändert. Eine reiche Dame, kolossal, in ihrer Art auch hübsch, prachtvolle Augen, Mandelaugen. Haben Sie von Rechtsanwalt Robertson gehört? Ja, er heißt jetzt Rupprecht, hat beim König darum nachgesucht, sich Rupprecht nennen zu dürfen. Ein Narr! Sollte ich darum nachsuchen, mich Bertillon nennen zu dürfen? Jamais!
Bertelsen trank immer mehr, und da er ein starker Kerl war, vertrug er eine Menge und fiel nicht unter den Tisch, sondern spielte sich als der reiche Mann auf und war nicht gerade angenehm. Fräulein d'Espard schämte sich nicht, sein Gerede zu überhören, sie wollte seine Aufmerksamkeit etwas auf Fräulein Ellingsen lenken, aber darauf reagierte Bertelsen nicht. So nahm er zum Beispiel seinen Hausschlüssel vom Ring und wollte ihn in seinem Rausch Fräulein d'Espard geben – er war unzurechnungsfähig.
Soll ich den haben? fragte sie.
Sie sollen ihn kriegen.
Nein, warum denn? Ich will ihn nicht haben.
Der Bureauchef kam ihr zu Hilfe: Warten Sie, geben Sie mir den Schlüssel. Herr Bertelsen hat sicher reichliches Silberzeug zu Hause.
Hahaha! lachten alle. Aber Fräulein Ellingsen saß groß und hübsch da und schwieg dazu. Besaß sie kein Schamgefühl, ließ sie sich alles gefallen! Unveränderlich. Ging durchs Leben, den Kopf in der Luft, sah nicht, war unbeweglich und unberührt, langweilig und hübsch. Sicher konnte sie auch häkeln und Klavier spielen. Ihre Leidenschaft war in der Literatur und in dem, was die Telegraphenlinie schwatzte, in Träumen und Einbildungen aufgegangen. Stockfisch! denkt Fräulein d'Espard.
Prosit, Fräulein Ellingsen! Sie sind so schweigsam.
Prosit!
Bertelsen läßt nicht nach, er hat es immer noch auf Fräulein d'Espard abgesehen, wird familiär und nennt sie Julie, Schüli.
Fräulein d'Espard rückt plötzlich vom Tisch ab und sagt unbarmherzig: Sie treten immer wieder auf den falschen Fuß, Herr Bertelsen!
Nichts hilft, nichts macht Eindruck auf ihn.
Fräulein d'Espard erhebt sich und sagt zu dem Bauern mit dem Haar: Es ist spät. Kommen Sie und helfen Sie mir, ein Auto zu bekommen.
Der Bauer sieht den Bureauchef, seinen Vorgesetzten, an und geht wieder hinter die Portiere.
Fräulein d'Espard befindet sich in einer Art Hysterie, sie strahlt vor Hoffnungslosigkeit und Heiratswut, sie rückt ihm auf den Leib und fragt ihn gerade heraus. Er wird ärgerlich auf sie, sie stört ihn im Telephonieren, und er muß wieder anrufen. Im übrigen erwehrt er sich ihrer etwas und sagt, er habe ja nichts gegen sie, weder in bezug auf ihr Äußeres noch sonst. Alles in allem wolle sie ihn wohl auch gar nicht haben, das würde sie schon sehen –
Sie sieht ein, daß es ihr nichts nützt und fragt kurz: Haben Sie ein Auto bekommen?
Es kommt gleich! Und nun scheint er ihr ein wenig auf den Zahn fühlen zu wollen: Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber es war doch jedenfalls ein Glück für Sie, daß Sie das Geld, das Erbteil bekamen. Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück!
Danke, sagt sie. Sie glauben mir gewiß nicht, das ist ja auch einerlei, aber fühlen Sie hier!
Sie läßt ihn ihre Bluse fühlen, und er ruft aus: Herrgott! Und das tragen Sie alles bei sich? Sie müssen es gleich bei einer Bank einzahlen, sofort. Wieviel ist es?
Oh, jetzt war der Augenblick gekommen. Sie schweigt nicht zu allem, läßt sich nicht alles gefallen. Das sollten Sie nur wissen! antwortet sie. Und plötzlich hat sie gleichsam einen Anfall, es überkommt sie und sie zischt ihm ins Gesicht: Das möchten Sie gern wissen, wie? Lecken Sie sich den Mund danach! Glauben Sie vielleicht, daß ich Sie geküßt hätte, wenn ich nicht betrunken gewesen wäre? Scheren Sie sich zum Teufel!
Hält sie nun inne? Oh, sie wird noch toller, da sie aber schnell denkt und klug ist, beharrt sie nun dabei, um ihre Niederlage zu verdecken. Es ist, als lese sie, sie duckt ihn mit einem Schwall von Französisch, das er nicht versteht, parliert, gestikuliert. Er kann es für Scherz oder Ernst nehmen, aber sie spricht Französisch, und sie tut es noch, als sie die Portiere beiseite geschlagen hat und zu den andern gegangen ist.
Die Gesellschaft blickt sie verwundert an, und der Bureauchef sagt scherzend zum Bauern: Antworten Sie ihr doch, warum antworten Sie ihr nicht?
Fräulein d'Espard erklärt: Ich habe ihm einen Heiratsantrag gemacht, aber er wollte mich nicht haben. Kommen Sie mit, Fräulein Ellingsen? – Sie bedankt sich beim Wirt, dem Bureauchef, verabschiedet sich auch von den andern, auch vom Bauern, reicht ihm die Hand und sagt: Auf Wiedersehen! Nun, kommen Sie mit, Fräulein Ellingsen?
Sie sehen ja, daß Bertelsen eingeschlafen ist.
Ja, aber –
Da tutet das Auto! Also Ihnen allen herzlichen Dank für den schönen Abend!
Aber im Auto konnte sie sich nicht länger aufrecht halten, sie begann zu weinen. Sie fuhr in ihr Hotel, gab Auftrag, sie zu einer bestimmten Zeit zu wecken, und ging dann zu Bett. Natürlich konnte lange keine Rede von Einschlafen sein, sie war aufgerieben und wurde von der Furcht vor der Zukunft gepeinigt. Ihre Reise nach Kristiania schien vergebens zu sein, nichts war ausgerichtet, nichts erreicht, sie lag hier mit Dornen im Gemüt und weinte wieder. In was für einer Gesellschaft war sie gewesen! Es konnte gut sein, daß sie dem Bauern mit der Haartolle unrecht tat, aber sie hatte den Eindruck bekommen, daß er gierig war, daß er es auf ihr Geld abgesehen hatte, daß er wissen wollte, wieviel sie ihm bieten konnte. Jawohl! Aber hinterher, wenn das Kind da und das Geld in irgendein Geschäft gesteckt war – was dann? Würde er dann nicht andere Saiten aufziehen?
Sie war sehr unglücklich, sie weinte, krümmte die Finger wie Klauen und kratzte die Decke, durchging immer wieder die Reihe ihrer männlichen Bekannten, ohne bei einem von ihnen stehenzubleiben. Sie hätte mit Herrn Fleming getraut werden können – richtig, aber dann wäre sie in seine Geschichten eingemischt worden, er hatte sie offenbar vor einem Schicksal hüten wollen, dem sie entgehen konnte. Oh, aber er sollte nur wissen, wovor er sie nicht behütet hatte! Zu allem andern kam nun auch noch, daß ihr Aussehen gelitten hatte – sie sprang aus dem Bett und betrachtete sich im Spiegel – daß sie in den letzten Tagen häßlicher geworden, daß ihr Gesicht grau und aufgedunsen war. Am besten war es, in aller Eile von hier fortzukommen. Hier gab es nicht einmal einen Wald, ein sicheres Versteck für ihr Geld, hier wimmelte es von Leuten, die sie beobachten konnten, wenn sie es vergrub.
Am Morgen nach einer schlaflosen Nacht setzte sie sich mit einer gewissen Erleichterung wieder in den Zug. Sie handelte ohne Überlegung, ihre Reise war ganz planlos, aber sie wollte wieder fort von Kristiania und meinte, es sei vielleicht am besten, noch einmal nach dem Torahus-Sanatorium zu kommen. Warum? Das weiß Gott. Dort war jedenfalls ein Wald. Sie ließ sich von ihrer eigenen Willenlosigkeit, von einer Vernunft in den Dingen, einer latenten Weisheit treiben.
Als sie ankam, war sie nicht in der Stimmung, wieder über jemand zu triumphieren, kehrte sie doch unverrichteter Sache von ihrem Ausfluge zurück. Die weiblichen Gäste mochten wieder freies Spiel haben. Es waren ihrer übrigens in diesen paar Tagen weniger geworden. Was sie früher nicht beachtet hatte, fiel ihr jetzt auf: es waren nicht mehr viele Gäste übrig, das Ganze begann einen leeren Eindruck zu machen. Neuschnee und Kälte waren gekommen, hier war kein Leben, kein Skilauf, nicht ein Kind. Hin und wieder sah man auf den Wegen Fußspuren von Leuten, die bei einem Pfosten gewesen waren und den Wetterbericht oder einen neuen Anschlag gelesen hatten.
Sie bekam ihr altes Zimmer wieder und packte ihre billigen französischen Bücher in gelbem Umschlag, ihr Gepäck, ihren früheren Stolz, aus. Jetzt waren sie ihr gleichgültiger geworden, belebten sie nicht, halfen ihr nicht.
Und nun begannen wieder die Tage und Nächte mit derselben Qual –