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XIV

Alles hätte gut gehen können.

Wieder waren Ferien, wieder sah man auf den Wegen zum Sanatorium die Leute zu Fuß und zu Wagen, Feriengäste, die zu Kräften kommen sollten – und dicke Menschen, die abmagern wollten. Der Inspektor und die Wirtschafterin empfingen, der Doktor kam, wenn er gerufen wurde, es herrschte die ausgezeichnetste Ordnung in dieser Heilstätte mit Wetteranzeigern und Plakaten und Dienerschaft überall, und der Direktor, Rechtsanwalt Rupprecht, fand auch, daß es gut ging.

Die Arbeit am Elektrizitätswerk war seit einigen Wochen im Gang, hatte sich aber natürlich wie alle derartige Arbeit verspätet und ging immer noch langsam vorwärts; die Schwierigkeiten meldeten sich, es mußten Felsen gesprengt, donnernde Schüsse abgegeben werden, man mußte Rücksicht auf die Ruhe der Patienten zwischen gewissen Glockenschlägen nehmen. Aber elektrisches Licht sollte werden! sagte der Rechtsanwalt. Und ein gewaltiges Wasserwerk, sagte er.

Es kamen Lasten mit Eßwaren, Lasten mit der Ausstattung für die noch nicht eingerichteten Zimmer im Schlosse, Lasten mit Materialien für den neuen Anbau, der das ursprüngliche Schloß ungefähr verdoppeln sollte, Fuhrleute mit Eisen und Zement, Planken, Matratzen, großen Spiegeln, Öfen, Papprollen.

Da kam eines Tages ein Herr vom Bahnhof herauf, ja, da kam er –

Er fuhr, aber sein Gepäck war nicht groß, nur ein feiner Handkoffer. Er trug selbst feine Kleidung, obwohl sie nicht recht neu war. Er hatte einen Brillantring am Finger und einen kleinen Brillanten in der Krawattennadel. Helmer fuhr ihn.

Der Herr stieg an der großen Veranda aus, ging an vielen Gästen vorbei, begrüßte freundlich die Wirtschafterin und sagte: Ich möchte gern mein altes Zimmer wiederhaben, wenn es möglich ist, ich bin früher schon einmal hier gewesen, mein Name ist Fleming.

Die Wirtschafterin ein wenig verwirrt: Ich weiß nicht – sind Sie Herr Fleming –?

Der Mann lächelte und nickte.

Ja, Ihr Zimmer – ich will sehen –

Der Inspektor trat hinzu, grüßte und nahm den Koffer des Herrn. Sie wanderten ins Rauchzimmer, und die Wirtschafterin sagte unterwegs: Es ist Herr Fleming! Rechtsanwalt Rupprecht kam hinzu, es gab ein großes Wiedererkennen. Nein, was für eine Überraschung! rief er. Es geht Ihnen gut, Herr Graf? Haben Sie den Herrn Grafen nicht erkannt? fragte er die Wirtschafterin.

Herr Fleming antwortete: Das ist nicht weiter merkwürdig, ich habe unterdessen einen Vollbart bekommen.

Ich hätte Sie unter Tausenden erkannt! Was für ein Zimmer haben wir für Graf Fleming?

Es zeigte sich, daß sein altes Zimmer besetzt war, aber das sollte schon geordnet werden, der Rechtsanwalt wollte es ordnen. Er strahlte als Wirt, klingelte nach dem Mädchen, ließ Portwein kommen und bot dem Gast ein Glas an, immerfort sagte er Herr Graf, damit die andern Gäste es hörten. Großes Aufsehen.

Und alles wurde geordnet, Herr Fleming erhielt sein früheres Zimmer, und der Inspektor trug seine Koffer vom Boden herunter. Die Schlüssel hingen in einem versiegelten Briefumschlag daran, Herr Fleming erbrach das Siegel so gleichgültig, als wäre es sein eigenes und nicht das des Schulzen; es sollte wohl eigentlich eine gefährliche Tat sein, das Siegel der Polizei zu brechen, aber nein, es sah nicht so aus.

Der Inspektor sagte, um sich einzuschmeicheln: Es war nur dieser Gendarm, der die Sachen versiegelte.

Herr Fleming antwortete: Das wäre wirklich nicht notwendig gewesen; hier im Sanatorium würde sicher niemand in meiner Abwesenheit an meine Koffer gegangen sein.

Er wusch und putzte sich auf seine alte, sorgfältige Art, ging dann hinunter und mischte sich unter die Gäste. Einige wenige von ihnen kannte er, er setzte sich einen Augenblick auf die Veranda neben den Selbstmörder und bot ihm eine Zigarette an.

Der Selbstmörder lehnte ab. Er hatte wieder eine schwere Zeit, war zusammengesunken und sah fast gar nicht auf, er blies auf eine wunde Hand, die er hatte, und war schweigsam.

Hier scheinen ja viele Gäste zu sein, sagte Herr Fleming.

Der Selbstmörder plötzlich: Ja, viele dumme Geschöpfe. Die Dicken kommen her, um ihr Fett zu verlieren, und weiß Gott, es glückt ihnen, wir leben von Torahus-Wasser und Konserven.

Herr Fleming lächelte, er erkannte wohl den mißvergnügten Ton des Selbstmörders vom vorigen Male wieder. Und die Dünnen? fragte er.

Die Dünnen leben in der Hoffnung.

Pause.

Als Herr Fleming bemerkte: Sie sind ein treuer Gast auf Torahus gewesen, erwiderte der Selbstmörder: Ich bin hier, um nicht anderswo zu sein! Als Herr Fleming aber weitergehen und eine kleine Unterhaltung in Gang bringen wollte, antwortete der Selbstmörder nicht mehr; er hatte ausgeredet.

Es wimmelte von Leuten um sie her – nein, dem Aussehen nach waren es nicht besonders dumme Geschöpfe, wohl aber jeder auf seine Art unförmlich, einige vor Magerkeit, andere vor Fett, mißgestaltete Fässer auf Beinen, verlesene und verschriebene Lehrerinnen und Kontoristen mit langen dünnen Insektengliedern. Es waren sehr hübsche Köpfe mit hilflosen, guten Augen unter ihnen. Eine Dame sitzt da und verbreitet sich über ein großes Geschäft, in dem sie eine Stellung hat, was für Rechnungen sie zuweilen ausschriebe, über Tausende, große Summen allein in dänischen Eiern, dänischen Schinken. Und es war, als hätten ihre mageren Zuhörer nichts dagegen, von soviel gutem Essen zu hören.

Herr Fleming erhebt sich und begrüßt Direktor Oliver – er mußte jedesmal wegen seines neuen Vollbartes seinen Namen sagen. Der ältliche Schulmann ist genau wie früher, in denselben Kleidern, mit demselben abgearbeiteten, grauen Gesicht, alle, mit denen er spricht, geduldig unterrichtend. Es lag etwas Hoffnungsloses über der Unveränderlichkeit des Mannes, er schien nicht einmal seinen schwarzen Schlips gewechselt zu haben, seine Hände waren noch ebenso lang und knochig, die Stiefel ebenso dauerhaft. Eine zähe Gestalt auf Torahus.

Voilà un homme! sagte er grüßend zu Herrn Fleming. Sie kennen dieses Wort? Napoleon sagte es, als er Goethe traf! Der Direktor erklärte, daß er niemand getroffen habe, mit dem er auch nur hätte reden können, er wolle damit nicht sagen, daß alle diese Gäste keine Interessen hätten, durchaus nicht, er habe nur keine geistigen Verwandten getroffen. Einen nahm er aus: den Ingenieur von der elektrischen Anlage, eine große schauspielerische Begabung. Den müssen Sie wirklich kennenlernen!

Der Schuldirektor war sehr zufrieden, Herrn Fleming wieder zu begegnen; das war doch ein Mann, mit dem man reden und dem man sich verständlich machen konnte, ein Mann mit Erziehung und Sinn für feinere Dinge. Er fragte nach der Familie des Direktors, seinen prächtigen Jungen. Ja, diesmal waren sie wieder mitgekommen, sie flogen übrigens hoch und tief, und Gott mochte wissen, wo sie in diesem Augenblick steckten! Der Direktor war nie ganz zufrieden mit seinen Jungen, sie zeigten bei weitem nicht denselben Lerneifer und dieselbe Begabung, wie er sie selbst in ihrem Alter gehabt hatte, und was sollte er mit ihnen aufstellen? Natürlich konnten sie etwas, es wäre ja auch eine unermeßliche Schande gewesen: die Söhne des Schuldirektors, Kinder der Leuchte der Stadt, wenn er das selber sagen durfte; aber sie waren zurück in Sprachen, in Grammatik – merkwürdig: in dem Fach, das er selbst immer am leichtesten von allen gefunden hatte! Aber wenn man sie in ein Boot läßt oder ihnen eine Besorgung in der Stadt aufträgt, dann findet man sie in einer Schmiede oder hoch oben auf einem Hause, das gerade im Bau ist!

Das ist so Jungenart! sagt Herr Fleming lächelnd.

Aber ich will es nicht haben, sie sollen arbeiten und lernen und weiterkommen! Der Direktor entwickelte das näher und brachte eine gute Unterhaltung zustande; es war so angenehm, mit Herrn Fleming zu reden, er war so höflich, so verständnisvoll, er beugte sich vor dem besseren Wissen.

Herr Fleming fragte: Stört es Sie nicht, Herr Direktor, daß so viele Fremde hier sind, daß es so voll von Leuten ist?

Etwas schon. Offengestanden: ja. Wir können ja nicht alle auf demselben Niveau stehen, da muß der eine sich eben in jeder Beziehung dem andern anpassen, und das kann ein wenig mühselig sein. Aber im großen und ganzen bin ich zufrieden. Der Ort ist ausgezeichnet.

Oh, Schuldirektor Oliver war kein anspruchsvoller Mensch, er hatte alle seine Tage in Genügsamkeit und gleichmäßiger Armut gelebt, er aß, was man ihm vorsetzte, und erwartete nicht, daß man ihm seine Schuhe putzte. Jetzt hatte er wohl Geschmack daran gefunden, in den Ferien gratis in diesem großen Sanatorium zu wohnen, und fuhr darin fort, solange er konnte. Er zählte auf, daß er zum drittenmal hier sei, es gefiele ihm hier, und weshalb sollte er dann anderswohin reisen? Er wechselte nicht.

Als Herr Fleming die alten Bekannten begrüßt hatte, begann er im Walde umherzuschlendern. Der kleine Schober stand noch da wie früher und war wieder mit neuem Heu gefüllt; Daniels Sennhütte lag hübsch und friedlich da, er ging ganz bis zu den Häusern, entdeckte aber, daß Gardinen vor die Fenster in der neuen Stube gekommen waren.

Eines Tages sah er Fräulein d'Espard mit dem Kind auf der Türschwelle sitzen.

Ob sie ihn nun erwartet oder er unwillkürlich ein wenig mit dem Kopfe genickt hatte, jedenfalls erhob sie sich sofort und ging mit dem Kinde hinein; kurz darauf trat sie wieder heraus und ging ihm entgegen.

Eine Begegnung, im Walde, heimlich, es war lange her seit dem letztenmal. Sie erröteten beide, Gott weiß, es war wohl die Spannung – und vielleicht etwas anderes. Sie reichten einander die Hand und wußten auf einmal nicht viel mehr zu sagen. Er sah die Zahnlücke in ihrem Mund, sah aber auch, daß sie sie zu verbergen suchte, er zeigte auf ihre Narbe am Kinn und sagte: Haben Sie sich so schlimm geschlagen!

Es ist lange her, es war im Winter. Sie sehen gut aus, Sie husten nicht?

Nein. Wußten Sie, daß ich es war, der hier stand?

Ich dachte es mir. Oh, das ist keine Hexerei, ich wußte von Helmer, daß Sie gekommen waren, von dem, der Sie gefahren hat.

Herr Fleming nickte: Er gab mir auch einige Auskünfte.

So, sagte sie seufzend, nun ja, dann wissen Sie, wie es steht!

Pause!

Sie sehen gut aus, aber ein bißchen fremdartig. Warum tragen Sie einen Bart?

Das kommt daher – ja, sehen Sie, ich bin ja etwas eingefallen, Sie sollen sich nicht täuschen lassen, ich bin tüchtig abgezehrt. Aber ich dachte, hier könnte ich wieder zunehmen, ich erinnerte mich an Torahus und die Sennhütte und die saure Milch. Außerdem dachte ich, wenn ich mit einem Vollbart zu dem Manne hier, Daniel oder wie er heißt, käme, so könnte ich aus gewissen Gründen ein anderer sein, als ich war.

Er würde Sie gleich erkannt haben. Er sowohl wie Marta hätten Sie erkannt.

Ja, es war wohl ein kindischer Gedanke. Lassen Sie uns von Ihnen reden.

Nein, nicht von mir. Sie sehen, wie ich bin! Und wie, um es herauszuhaben, sagte sie plötzlich: Sehen Sie her, ich habe auch einen Zahn verloren!

Ja und wennschon?

Es ist jedenfalls nicht gerade schön.

Er sagte lächelnd: Ein Hauer an der Stelle wäre auch nicht schöner gewesen. Nein, lassen Sie mich jetzt hören: Sie wollen sich ja verheiraten?

Pause.

Ich habe das Kind bekommen, sagte sie.

Das Kind – so –

Es heißt Julius. Ein großes Kind, glauben Sie mir, ein hübsches Kind. Er sagte, es sollte nach mir heißen.

Wer sagte das?

Daniel.

Pause. Jeder hing wohl seinen Gedanken nach.

Und nun wollen Sie sich verheiraten, sagte er träumerisch.

Erzählen Sie nun, sagte sie. Geht es Ihnen wieder gut, sind Sie wieder gesund?

Ich halte mich noch. Ich hatte übrigens gewisse Hoffnungen auf Torahus gesetzt, aber jetzt weiß ich nicht, alles ist verändert –

Sie werden sich schon erholen, passen Sie auf. Sie hatten so viele Scherereien, als Sie das letztemal hier waren, zum Schluß, meine ich, das hat Ihnen nicht gut getan. Aber es war ja lauter Unsinn, wie ich gehört habe.

Lauter Unsinn. Ich kam ins Krankenhaus in Kristiania, und es ging mir gut. Oh, ich bin zähe, und meine Krankheit ist ein launisches Leiden, die Seereise nach Finnland heilte mich ganz, so daß ich nicht mehr Blut spuckte. Es war auch eine herrliche Reise: Kattegat, Ostsee, Luftwechsel, ich hätte kein besseres Mittel finden können.

Ja, aber als Sie dann heim nach Finnland kamen –? fragte sie und mochte vielleicht an Gefängnis und Einsperren denken.

Keine Veränderung, erklärte er. Nun, natürlich gab es allerlei Veränderung: seine Mutter verkaufte ihren Hof, er konnte nicht mehr heimreisen und bei ihr wohnen –

Verkaufte sie den Hof?

Ja, was sollte sie tun? Er konnte ihn nicht übernehmen, er war krank. So verkaufte sie ihn, machte ihn zu Geld.

Und wo seine Mutter jetzt sei?

Pause.

Wie traurig! sagt das Fräulein.

Lassen Sie uns nicht davon sprechen, es geschah, ehe ich heimkam, es geschah, als ich im Krankenhaus in Kristiania lag, ich erhielt nur einen Brief darüber. Es war übrigens wohl keine Lungenentzündung, sie hatte einen Herzfehler, ich habe es nicht ertragen, darüber zu hören, vielleicht war es ein Schlaganfall.

Er nahm ihre Hand, ein matter Druck, und als Zudringlichkeit betrachtet nichts; Daniels Griff war von ganz anderer Art. Aber die zerbrechliche, magere Kontoristenhand machte Eindruck auf sie, sie war dünnhäutig, warm von einem schwachen Fieber, angenehm anzufassen, es durchrieselte sie. Sie hatte so lange das Heimweh nach ihrem früheren Leben, ihrer alten Umgebung aufgespart, und auf einmal ließ sie sich davon bezwingen und fiel Herrn Fleming um den Hals. Das richtete auch ihn wieder auf, er wurde freier, küßte sie und war zärtlich.

Wir müssen ein bißchen vorsichtig sein, sagte sie, er kann diesen Weg kommen.

Wie –?

Daniel. Er ist oben an den Seen und angelt fürs Sanatorium, aber er kann diesen Weg zurückkommen.

Das machte ihn wieder niedergeschlagen und schweigsam.

Es ist ganz seltsam, wieder mit Ihnen zusammenzusitzen, sagte sie. Wie lange ist es eigentlich her seit dem letztenmal?

Ich weiß nicht, ich darf nicht daran denken. Es ist lange her.

Sie beobachtete ihn von der Seite. Er hatte recht; er war abgemagert, seine Schläfen waren eingefallen, seine Nägel blau; er hatte vielleicht Gott weiß was für Scherereien durchgemacht und einen Blechtopf mit Essen durch die Luke bekommen. Er sah auch nicht so richtig reich aus, hatte zwar seinen Brillantring, trug die schönen Anzüge aus seinem Koffer, aber es war, als hätte er an Haltung verloren, als hätte er kein gutes Auskommen gehabt, auf das er sich jetzt stützen konnte.

Plötzlich wurde sie aufmerksam: Das ist nicht – ist das derselbe Ring?

Gewiß, antwortete er, hielt ihn hoch und ließ ihn in der Sonne glitzern.

Ich finde, er funkelt nicht mehr so stark.

Das macht nur der Staub, der Reisestaub. Ich will übrigens keinen Ring mehr tragen, sagte er und steckte ihn in die Westentasche.

Dank, sagte sie, für alles, für alles Geld –

Er schüttelte abweisend den Kopf und fragte lächelnd: Haben Sie es gerettet?

Gewiß.

Sie brauchten es nicht zu verbrennen?

Das hab' ich schön bleiben lassen! Ich habe dagegen ein wenig gebraucht, etwas für Daniel und für mich selber, für ein Pferd und Verschiedenes im Hause –

Ja, darüber wollen wir nicht sprechen.

Wollen Sie nicht etwas davon wiederhaben, von dem Geld?

Wie? Nein, sagte er.

Etwas jedenfalls, ein bißchen?

Er schüttelte den Kopf: Aber alles ist so anders geworden; ich weiß nicht, was mit mir jetzt werden soll. Ich kam wieder, weil Sie hier waren und weil es mir gut hier ging, Aufsicht, Pflege, Sorgsamkeit, ich bekam saure Milch hier auf der Alp, hatte guten Schlaf, ein Fell zum Zudecken. Sie sah ich jeden Tag; ich habe mich nach Ihnen gesehnt, ich dachte an nichts anderes als an Sie.

Sie können mich auch jetzt jeden Tag sehen, sagte sie.

Nein, wie sollte das zugehen?

Ich komme ins Sanatorium, wann Sie wollen. Dagegen hat er nichts.

Er schüttelte wieder den Kopf: Das ist nicht dasselbe. Ist es nicht so, daß Sie sich verheiraten wollen?

Sie zögert: Ja.

Sehen Sie! Wie können Sie dann zu mir kommen? Nein, das ist vorbei.

Er schweigt, beide schweigen, dann fährt er fort: Geld, sagen Sie? Nun im Notfall hätten Sie und ich es ja zusammen. Ich dachte, es könnte uns irgendwie wieder hochbringen. Dazu war ich hergekommen, um mit Ihnen darüber zu reden. Aber jetzt ist es vorbei, die Grundlage ist fort, Sie machen sich nichts mehr aus mir.

Doch, das tue ich, reden Sie nicht so etwas, ich mache mir wohl etwas aus Ihnen.

Nicht auf die Weise.

Doch auf die Weise. Aber was sollte ich tun? Ich war allein, ich war auch ein wenig verzweifelt, das Kind sollte kommen, ich mußte fortziehen, mußte mich nach einem Heim umsehen.

Jawohl.

Langes Schweigen, sie hingen beide ihren Gedanken nach.

Die Verhältnisse, sagte er träumerisch – die Verhältnisse machten, daß ich Ihnen nicht sein konnte, was ich sollte –

Im Gegenteil! unterbrach und tröstete sie ihn. Sie waren, wie Sie sein sollten, und mehr als das, Sie waren großartig! Wie wäre es mir ergangen, wenn Sie mir nicht die Möglichkeit verschafft hätten, ohne Stellung in der Stadt zu leben?

Nun, jaja, dann ist es ja gut!

Sie haben mir ja den Busen voll Geld gesteckt, Sie wissen gar nicht, was das für mich bedeutete.

Schön! Aber die Verhältnisse waren doch schuld daran, daß ich Sie nicht mitnehmen konnte. Damals hätten Sie mich vielleicht begleitet?

Ja.

Sehen Sie! Aber jetzt können Sie nicht.

Jetzt muß ich gehen, sagte sie und erhob sich, der Kleine könnte aufwachen, und dann bin ich nicht da.

Darf ich wieder herkommen? fragte er.

Ja, sagte sie nachdenklich, ja –

Oder können Sie zu mir kommen?

Vielleicht.

Denn ich möchte ja gern mit Ihnen sprechen und alles hören –

 

Sie kam hin und wieder ins Sanatorium; es geschah meist früh am Morgen, sie war gegen sechs auf und traf ihn im Bette an, das geschah ein paarmal, dann erregte es Ärgernis im Sanatorium. Dienstmädchen nehmen leicht Ärgernis an so etwas, wenn sie selbst nichts davon haben. Als sie eines Morgens hineinschlüpfen wollte, stieß sie im Korridor auf den Direktor, Rechtsanwalt Rupprecht.

Er grüßte, lächelte über das ganze Gesicht und erkannte sie mit Freude: Es ist ja eine Ewigkeit, seit ich Sie gesehen habe, gnädiges Fräulein, das ist gar nicht hübsch von Ihnen, daß Sie uns so ganz verlassen haben, was haben wir Ihnen getan? Hier, bitte, gnädiges Fräulein, Sie sollen Kaffee haben, ich gedenke nicht, Sie loszulassen, bevor Sie mir erzählt haben, wie es Ihnen geht. So, nun setzen wir uns hierher! Sie wünschen wahrscheinlich Herrn Fleming zu sprechen? Er ist noch nicht aufgestanden, er ist ja nicht solch ein Morgenvogel wie Sie und ich, aber wir werden nach ihm schicken; inzwischen trinken wir Kaffee, das können wir brauchen. Luise, seien Sie so gut, und geben Sie Fräulein d'Espard und mir Kaffee. Und dann gehen Sie hinauf, klopfen Sie hübsch an die Tür vom Herrn Grafen und sagen Sie, daß ihn eine junge Dame hier unten erwartet –

Also waren die Begegnungen von jetzt an vereitelt.

Das Fräulein bereitete nun Daniel und Marta darauf vor, daß der Graf wieder ins Sanatorium gekommen sei, sie erinnerten sich wohl des feinen reichen Grafen? Ja, nun sei er wieder da und wolle saure Milch haben.

Daniel lächelte vergnügt hierzu, und Marta begann verwirrt ihr Kleid zurechtzuzupfen. Aber das sage ich, verlangte sie, daß er jetzt in der neuen Stube ißt, die Küche ist kein Aufenthalt für ihn!

Und daß der Graf in die neue Stube kommen sollte, schien dem Fräulein ja sehr zuwider zu sein, aber sie mußte nachgeben.

Dann kam der Graf und kam täglich, erhielt saure Milch und nahm zu, wahrhaftig, er wurde wieder stärker. Es hätte nicht besser gehen können, wenn es ehrliches Spiel statt Betrug gewesen wäre, sie zogen sogar oft die dichten Gardinen vors Fenster, so daß niemand von draußen hereinsehen konnte, und das taten sie der Sonne wegen. Hinterher, wenn Herr Fleming gegessen und sein großes Zweikronenstück hingelegt hatte und das Kind schlief, konnte das Fräulein ihn auf dem Heimwege begleiten, und hin und wieder brachte sie ihn ganz bis ins Sanatorium und war ein wenig mit den Gästen zusammen.

Sie traf den Selbstmörder und brachte ihn zum Reden, ja, Fräulein d'Espard machte ihn mitteilsam, unterhaltend. Ich höre, daß zwei von unsern Mädchen krank geworden sind, sagte er ganz belebt. Sie können froh sein, daß Sie nicht mehr hier sind, Fräulein d'Espard.

Erzählen Sie!

Es sind neue Mädchen, eben aus dem Kirchspiel gekommen, sie waren die Kost hier nicht gewohnt und mußten sich legen, die eine soll schon beim letzten Kapitel angelangt sein. Nein, es ist nicht anders zu erwarten, diese Konserven sind das reine Gift. Kann Daniel uns nicht wieder einen Ochsen verkaufen?

Ich weiß nicht, antwortet das Fräulein lächelnd.

Er würde uns geradezu das Leben retten!

Sie sehen aber nicht schlecht aus, Herr Magnus?

Ich nehme mich zusammen, aber ich bin längst nicht mehr der, der ich war. Wenn ich esse, geschieht es nicht mit Appetit, wenn ich mich auf einen Stuhl setze, sinke ich nicht absichtlich nieder. Die Abende vergehen damit, daß ich Sechsundsechzig mit den Leuten spiele. Was sagen Sie dazu?

Lieber Herr Magnus, wir müssen alle sehen, die Dinge von der besten Seite zu nehmen.

Wo steht das geschrieben?

Ich weiß nicht. In unserm Schicksal.

Sehen Sie den da draußen? fragte der Selbstmörder und zeigte mit den Augen: den Schuldirektor, den Bücherwurm – der nimmt's von der besten Seite. Er kann »Sprachen« und ist ein Nichts. Er versenkt sich mit der größten Sorgfalt in seine Schulbuchgelehrsamkeit und lernt mechanisch, um die Mechanik dann wieder auf Kinder abzuwälzen, er sieht nicht die Lächerlichkeit darin, fragt nicht: ist das ein Leben? Im Gegenteil, wenn er sich von seinen »Taten« erhebt, kommt er sich selbst ganz außerordentlich vor, er hat wieder etwas zugelernt und kann wieder etwas mehr lehren. Er nimmt's von der besten Seite. Er liest ausländische Zeitungen im Klub daheim, die Menschen grüßen ihn auf der Straße, und er ist zufrieden. Das ist sein Leben. Er hat nicht einmal Respekt vor den großen Sprachgeistern, er sieht sie nicht, ahnt nicht, daß sie existieren, die Seher, die Forscher zwischen Epochen und Völkern –

Haben Sie etwas von unserm Freunde Moß gehört? fragt das Fräulein.

Moß, der Schwindler! Sehen Sie, was er mit mir gemacht hat, sagt der Selbstmörder und streckt seine wunde Hand aus. Das will nicht zuheilen, ich hab' versucht, es auszubrennen, aber es nützt nichts, er hat mich angesteckt. Und dabei wollte er gewissermaßen ein religiöser Mensch sein! Aber ich werde ihm bald einen Brief schicken, ich will es ihm zeigen –!

Schreibt er zuweilen? fragt das Fräulein, oder ist er tot?

Tot, der? Gewiß schreibt er. Nicht, daß ich seine Briefe in die Hand nähme, der Doktor liest sie, aber er schreibt und schreibt, er hat kein Schamgefühl. Er sieht immer besser, sagt er, und den letzten Brief hat er selbst geschrieben.

Nein –! ruft das Fräulein in höchster Verwunderung aus.

Ach so, auch Sie glauben ihm? fragt der Selbstmörder gekränkt. Aber schön, mag er es auch selbst geschrieben haben – Sie dürfen nicht glauben, daß die Zeilen gerade und zierlich waren, ich hätte mit einem Taschentuch vor den Augen genau so schreiben können. Das ist aber noch nicht das schlimmste: Jetzt will er uns weißmachen, daß es einfach Bartflechte war, was er im Gesicht hatte. Was sagen Sie dazu?

Ich verstehe nichts davon.

Schön, im Gesicht selbst mag es Bartflechte gewesen sein, aber am übrigen Körper, konnte er da auch Bartflechte haben?

Ja, hatte er denn am übrigen Körper auch Wunden?

Das weiß ich nicht, das hatte er sicher, er war überhaupt ein unreines Tier, mit Beulen und Geschwüren übersät. Ich halte es nicht für unmöglich, daß er anfangen könnte, besser zu sehen, wenn man ihm die Augen ordentlich säuberte, aber wie wollen Sie dann erklären, daß er mich mit dem Ulster angesteckt hat?

Zeigen Sie mir Ihre Wunde doch einmal, bittet das Fräulein.

Lassen Sie, antwortet der Selbstmörder abweisend, über die Wunde ist nicht zu streiten.

Was sagt der Doktor dazu?

Der Doktor! faucht der Selbstmörder, er sollte Gesundheitssalz nehmen! War Doktor Öyen nicht auch Doktor, und der sagte, daß Moß Lepra hätte.

Es hatte keinen Zweck, mit ihm zu reden. Das Fräulein beugte sich vor und fragte: Haben Sie etwas von daheim gehört?

Warum fragen Sie das? Schweigen Sie!

Entschuldigen Sie, aber ich meinte von der Kleinen, dem Kind, haben Sie etwas gehört?

Warum sollte ich etwas hören! Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt, ich bin hier und sie ist dort. Was habe ich weiter mit ihr zu schaffen?

Das ist sehr traurig.

Ich denke bei der ersten Gelegenheit nach Kristiania zu reisen und alle Fragen zu entscheiden. Es soll kein Zweifel bleiben, und wenn Mord und Selbstmord und Untergang für uns alle daraus wird! Mir ist es einerlei! Und nach diesen düsteren Worten fuhr der Selbstmörder fort: Seien Sie so gut, Fräulein d'Espard, und fragen Sie Daniel, ob er uns nicht einen Ochsen verkaufen will, es gilt das Leben!

 

Daniel beginnt von der Trauung zu reden.

Ja – gewiß, das Fräulein sei jederzeit fertig. Aber wolle er sich in der Wolljacke trauen lassen?

Daran hatte er nicht gedacht, aber sie mochte recht haben. Er hatte zwar seinen Sonntagsanzug, aber er mußte wohl neue Kleider zu der Feier haben. Den Teufel auch, es war nicht daran zu denken, vor Pfingsten noch etwas genäht zu bekommen.

Die Trauung wurde aufgeschoben.

Nach Pfingsten kam er wieder darauf zu sprechen. Ja, sie sagte auch nicht nein, aber sie zögerte, ihm Geld für seine Ausstattung anzubieten. Merkwürdig, Daniel hatte es wohl gehofft, sie hatte ja früher stets gesagt: Geh und kauf dies und das, hier hast du Geld! Er war verwöhnt worden und verstand ihre jetzige Sparsamkeit nicht ganz. Er zog sich etwas gekränkt zurück und erwähnte längere Zeit die Trauung nicht.

Und inzwischen kam Herr Fleming in die neue Stube, und das Fräulein begleitete ihn nach dem Sanatorium. Das dauerte bis weit in den Sommer hinein. Als sie aber eines Tages wieder mit ihm fortgehen wollte, kam Daniel zur Küchentür heraus und rief sie zurück: er ist wieder aufgewacht, ich höre ihn!

Aufgewacht?

Julius. Er weint, ich höre ihn.

Ja, da kehrte sie um und ließ Herrn Fleming allein gehen, aber sie kam etwas säumig, nur wie aus Pflichtgefühl zurück und sagte: Das ist ja merkwürdig, er schlief doch so fest.

Daniel folgte ihr in die neue Stube, wie um zu sehen, ob der Junge wirklich wach sei – und das war er nicht, er schlief ganz ruhig.

Was soll das heißen? sagte sie.

Daniel stammelnd, Daniel selbst ganz verwundert: Er habe den Jungen so deutlich weinen hören, wie sei das zu verstehen? War er feige? Oh, er sollte doch wohl, um's Himmels willen, nicht feige sein?

Sie sprachen ein wenig darüber, und sie war nicht sehr zufrieden, fand sich aber darein; als Daniel lieb und zärtlich wurde, verstand sie übrigens alles und wies ihn ab, leistete Widerstand, kam jedoch zu kurz dabei. So etwas, hatte er denn kein Schamgefühl! Hätte sie das vorher gewußt, so wäre sie gewiß nicht zurückgekommen! Sie wagte nun doch nicht, ihren Unwillen zu weit zu treiben, sondern schalt nur halb im Scherz und schlug mit der Hand nach ihm: er sei so außer sich gewesen, so unbeherrscht, sie sei beinahe bange vor ihm geworden, er habe gemurrt. Daniel hatte seine Eigenheiten, er war grob und heftig, aber unwiderstehlich, jawohl, er hatte Fehler, die nicht ohne Vorzüge waren. Seine Besuche in der neuen Stube waren in der letzten Zeit auch eingeschränkt worden, sie fürchtete sich nicht mehr im Dunkeln, die helle Jahreszeit war gekommen, und sie brauchte ihn nicht mehr als Wache des Nachts. So war er gleichsam vor die Tür gesetzt worden.

Ja, nun kannst du gehen, Unart! sagte sie.

Sie begann, unparteiisch über ihn zu denken: Wäre nichts dazwischen gekommen, so würde sie jetzt vielleicht mit ihm verheiratet und Frau in der Torahus-Sennhütte gewesen sein. Daniel war nicht zu verachten, er fraß mit Gründlichkeit und verrichtete seine Arbeit wie ein ganzer Mann. Als er im Winter mit einer Hiebwunde aus dem Walde heimkam, setzte er sich erst ans Essen; als aber das Blut auf den Fußboden floß, sah auch sie endlich, daß er sich verwundet hatte; aus seiner klaffenden Stiefelspitze troff das Blut. Es ist nur ein Zeh! sagte er. Und er wickelte einen Lappen um den Zeh und behandelte ihn wie ein Möbelstück.

Obwohl er einen harten Schädel besaß, hatte er sich doch nicht als gefährlich erwiesen, er warf nicht mit dem Messer, er war freundlich zu Tieren und Menschen. Er konnte wohl, wie heute nachmittag, gewaltsam vorgehen, aber wennschon? Es mochte etwas wie eine Frage der Eitelkeit für ihn sein, daß er gewann, vielleicht war er auch ein wenig zu lange von Eifersucht gequält worden, Gott weiß. Aber im allgemeinen war er fromm und schämte sich hinterher seiner Heftigkeit.

Wie benahm er sich, als er im Frühling vom Scheunendach fiel? Das Oberteil der Scheune war ja gewiß kein Wolkenkratzer, aber es stand doch auf einer gottlos hohen Mauer, unter der man hindurchfahren konnte, ja, und hier war Daniel gerade beschäftigt. Das Fräulein war vielleicht nicht ganz ohne Schuld: er lag ja auf dem First und dichtete ein Loch im Dach; sie rief ihm etwas hinauf, und er mußte sich umdrehen, um zu hören, was es gebe. Da geschah es, und sie stand unten und sah es mit an. Er hatte keine Zeit zu irgendwelcher endlosen Vorsicht, nein, sie sah gut, daß er nicht auf die gewöhnliche hübsche Weise auf einer Wolke vom Himmel herabschwebte, sondern wie ein Klotz, sein Körper schlug im Fluge auf, und er sauste gekrümmt, die eine Schulter voran, herunter. Er schrie nicht; wer schrie, war das Fräulein. Er stand auf und schien zu denken: was heißt das, zum Teufel? Er starrte ungläubig in die Luft, sein Gesicht war völlig versteinert in einer Unwissenheit ohnegleichen. Erst hinterher war etwas mit ihm los. Hast du dich sehr geschlagen, Daniel? fragte sie. Das glaub' ich nicht, antwortete er, aber ich muß doch anstandshalber ein bißchen stöhnen! Das Fräulein denkt weiter:

Und nun der andere, ein kranker Herr von Jugend auf, aber so fein und rücksichtsvoll, erkundigte sich, betete, erhob sie durch seine Rede und seine Gefühlsweise. Er brauchte Pflege und Hilfe, aber er verdiente es auch; war er kein Graf, so hätte er es doch sein können, mit seiner Haltung, seinem schönen Lächeln, den Lackschuhen, dem seidenen Unterzeug und dem Brillantring in der Westentasche.

Und er war ihre erste Liebe.

Wie hatte es angefangen? Ach Gott, sie wußte es nicht, es hatte mit nichts angefangen: es war eines Abends im Sanatorium, er rückte nur seinen Stuhl näher an den ihren und saß da, es war vielleicht sein Atem oder vielleicht der Duft seiner Haare, aber in ihr entsprang eine Quelle, durchrieselte sie. Was ist Verliebtheit? Sie errötete innerlich und lächelte, er legte seine Hand auf ihre Stuhllehne, und das war wie eine Umarmung, es fehlte nicht viel, daß sie sich lächerlich machte und in Ohnmacht fiel. Da war er der feine Mann und sagte: Es ist kalt hier, ich will meinen Mantel holen! Er blieb unnötig lange fort, und sie ging ihm nach und sagte: Ja, es ist kalt, ich glaube, wir gehen lieber hinein!

Es wurde jeden Tag ein wenig mehr: mehr Vertraulichkeit, mehr Annäherung, es wurde Bézique, Liebe, Krankenpflege und Krisis.

Jetzt war es so lange her, viele Monate, sie hatte ohne ihn fertig werden müssen, die Zeit hatte das ihre getan. Oh, aber der Quell in ihr war nicht versiegt, nicht verschüttet, er floß wieder ein wenig, ein wenig –

Es schnitt ihr ins Herz daß er soviel hatte durchmachen müssen und auch jetzt nicht ein wirklich großer Mann und wieder obenauf war. Seidenes Unterzeug, jawohl, aber es war nicht mehr neu und reich. Auffallend war auch, daß er immer häufiger vergaß, ein großes Zweikronenstück für die saure Milch hinzulegen, was mochte das bedeuten? Das Fräulein mußte im geheimen einspringen und Marta zwei Kronen von ihrem eigenen Gelde geben ...

Daniel kommt wieder herein, er muß inzwischen zu Ende gedacht haben und hat etwas auf dem Herzen: Ich gehe morgen abend ins Kirchspiel und bestelle den Anzug, sagte er.

Jaja, antwortete sie.

Und da sie nicht mehr antwortete, sagte er: Ich wollte nur wissen, ob ich gleichzeitig etwas für dich besorgen sollte?

Nein.

Ich kann ihn auf Kredit bekommen, sagte er.

Ja, das kannst du wohl, antwortete sie.

Daniel ging wieder.

War das nun Feinheit und Delikatesse, nur von seinen eigenen Kleidern zu reden? Brauchte sie nicht auch Kleider? Wenn es gerecht zuging, mußte sie doch ein seidenes Kleid, weiße Schuhe, viele Meter Schleier und eine Schleppe haben, die von den Brautjungfern getragen wurde. Er blieb mit seinen Gedanken sicher auch hier am Boden. In ihren Romanen gab es eine Hochzeitsreise, die bekommt sie nicht, da gab es Blumen, Wein und Reden, das bekommt sie alles nicht. Sie bekommt eine Zweigroschenhochzeit. Der einzige Anwesende wird Helmer sein. Konnte sie etwa Herrn Fleming einladen?

Die ganze Sache begann ihr unmöglich zu erscheinen. Sie gab den Gedanken an die Trauung nicht auf; es war ihr aber mehr eine Formsache, die am liebsten schon in Ordnung gebracht sein sollte. Was dann später folgte, das lag in der Hand des Schicksals. Nach ihren französischen Romanen konnte sie gut gegen die Ehe sündigen, wenn sie nur nicht gegen die Verliebtheit sündigte. Schluß damit. Ihre eigene Aussteuer konnte sie auch kommen lassen, daran fehlte es nicht. Aber konnte sie zum Altar gehen gerade vor den Augen dessen, der ein größeres Anrecht sowohl auf sie wie auf das Kind hatte? Zwar ihre Tugend hat die Blätter verloren und ist abgeblüht, aber in Ermangelung einer tadellosen Vergangenheit konnte sie wohl ein gebildeter Mensch sein, wozu hatte sie sich sonst geplagt und Französisch gelernt? Sie konnte nicht einen Mann im Sanatorium am Fenster sitzen und es mit ansehen lassen, wie sie mit einem andern zur Kirche ging. Übrigens – wozu soviel Wesens von einer Trauung machen? An manchen Orten ging man zum Bürgermeister, an andern zu einem Konsulat.

Nachts schloß sie die Tür ab, um keine Gefahr zu laufen.

Am Morgen kam Herr Fleming und fragte: Komme ich zu früh?

Nein. Und sie fügte hinzu: Daniel ist ins Kirchspiel gegangen.

Zweierlei ist mir passiert, sagte er und begann zu erzählen: Der Schulze kam gestern und erbot sich, die Siegel an meinen Koffern zu erbrechen. Ich sagte, das hätte ich ihm wirklich ersparen wollen, und darum hätte ich es selbst getan. Das gefiel ihm nicht so recht, und er meinte, daß er das hätte tun müssen. Ich zeigte ihm einige Papiere von den Behörden daheim mit dem Visum der Behörden in Kristiania, nach denen ich natürlich freie Verfügung über meine eigenen Koffer hatte. Ja, es stimme mit den Papieren, er habe selbst Bescheid darüber bekommen, sagte der Schulze, aber das Erbrechen der Siegel sei doch seine Sache gewesen. Darin hatte er wohl gewissermaßen recht, und ich bat ihn daher um Entschuldigung, ich hätte nicht warten können. Nun wurde er sehr umgänglich, gab zu, daß er schon vor einigen Tagen den Bescheid erhalten und früher zu mir hätte kommen sollen, aber keine Zeit gehabt habe. Wir wurden gute Freunde. Und die Geschichte mit dem Geld, sagte er, sei ja nur Unsinn, das Geld hätte mir gehört, die Bank habe sich geirrt. Natürlich sagte ich, für das Geld, das ich in der Bank geliehen, sei ich gut, und ich hätte es bezahlt. Der Schulze riet mir, eine Entschädigung für das erlittene Unrecht zu fordern.

Herr Fleming hielt inne. Warum erzählte er dem Fräulein diese Dinge? Es hatte wohl seine Gründe, er wollte sich sicher vor ihr reinwaschen und den Eindruck seines unnötig offenen Bekenntnisses vor seiner Flucht im Herbst verwischen. Er hatte kein Geld unterschlagen, er hatte es geliehen. Und mehr noch: er hatte es zurückgezahlt.

Fräulein d'Espard schien seine Mitteilung ja sehr zu erfreuen und von einer schweren Last zu befreien, aber sie hatte sich gewiß nicht sehr über seinen Fehltritt gegrämt, sie hatte sich selbst oft genug auf verschiedene Weise und mit vielerlei Mitteln aus der Klemme retten müssen und kannte sich aus. Sie sagte: Da sehen Sie, ich wußte ja, daß Sie übertrieben hatten!

Ich übertrieb vielleicht ein wenig, ich wollte es nicht geringer machen, als es war. Natürlich ging ich nicht ordnungsgemäß vor: ich war krank, spuckte Blut, und ich wollte nicht sterben, konnte ich da warten, bis die Bankdirektion mir ein Darlehen bewilligte? Ich nahm es. Das ist die ganze Geschichte. Aber jetzt bin ich also vollkommen frei und rein, und jetzt bin ich zu Ihnen gekommen.

Sie wollte nicht darauf eingehen, sondern fragte: Und das andere, was Ihnen passiert ist?

Das andere ist, daß ich vom Doktor komme. Er hat mich untersucht und findet, daß ich mich stark in der Besserung befinde, die eine Lunge ist geheilt, in der andern ist die Wunde im Begriff, sich zu verkalken. Aber ich muß vorsichtig sein.

Großartig!

Ja – Und jetzt brauche ich Sie mehr als je.

Ja – jawohl, aber was sollte sie sagen?

Pause.

Sie hatte wohl nicht gerade viel dagegen, daß sich nicht nur einer, daß sich zwei um sie bemühten, aber es kam doch ein Tag, an dem sie sich entscheiden mußte. So fragte sie resolut: Könnten Sie es zulassen, daß ich Daniel heirate?

Herr Fleming mit klangloser Stimme: Das – ja, was meinen Sie selbst?

Nun, aber Sie –?

Er überlegt: Wir haben so vieles miteinander gehabt, ich dächte, daß Sie mich nicht gut verlassen könnten.

Nein, sagte sie auch. Aber kann ich den andern eher verlassen?

Ich weiß es nicht.

Wir sind schon in der Kirche aufgeboten, sagte sie.

Sie sprachen nicht mehr davon, er war sehr düster und wollte wieder gehen, sie begleitete ihn auf dem Heimwege, aber sie kamen nicht weiter als bis zu dem kleinen Heuschober. Dort blieben sie stehen und waren beide verzweifelt. Sie hatten soviel Zeit gebraucht, sie mußte wieder heim zum Kinde, um ihn aber schließlich noch ein bißchen zu trösten, schlang sie die Arme um ihn, küßte ihn und wehklagte: Sie wissen wohl, wen ich liebe und wen ich haben will, aber es ist so schwer, er wird mich sicher nicht lassen.

Dann gibt es nur einen Weg: mit mir zu gehen.

Nein, keine Dummheiten, uns fällt schon etwas ein, lassen Sie uns darüber nachdenken!

Sie trennten sich und gingen jedes seiner Wege.

Kurz darauf erhob Daniel sich aus dem Heu im Schober und kam heraus, er ließ sich keine Zeit, die Strohhalme abzubürsten, sondern ging, wie er war, lief, holte das Fräulein ein und hielt sie an.

Er war blaß und außer Atem, sagte jedoch nicht viel, war nicht heftig, schalt nicht, aber sie fürchtete sich sehr und sah ihn wie gelähmt an, seine Augen, sein zusammengekniffener Mund redeten eine bedeutungsvolle Sprache.

Kommst du auf diesem Wege aus dem Kirchspiel? fragte sie.

Ich bin nicht im Kirchspiel gewesen, ich komme aus dem Schober, erwiderte er.

Das wußte sie gut, aber sie tat verwundert. Da er weder schlug noch biß, faßte sie sich und konnte wieder überlegen. Eigentlich hatte sie ja nichts anderes getan, als daß sie vor einem Heuschober gestanden und freundlich zu einem kranken Manne gewesen war.

So, du kommst aus dem Schober. Da hörtest du wohl, was wir sprachen?

Ja.

Er ist ein kranker Mann, ich mußte mir irgend etwas ausdenken.

Du mußt Schluß damit machen! sagte Daniel und nickte.

Schluß – wie? Ja, meinetwegen gern. Er kann wieder abreisen. Ich weiß nicht.

Sie stellte sich klug dazu, und Daniel schien durch ihre Worte erleichtert und sagte: Ja, er kann wieder abreisen!

Nein, Daniel war nicht gefährlich. Im Grunde war es nicht angenehm, daß er jetzt verstimmt war, wenn er aber auch den Mund zusammenkniff und mit seinen Daumen ein bißchen abwärts zeigte, so hieß das noch nicht, daß ein dem Tode Geweihter sterben sollte. Als sie weiterging, begleitete er sie und hielt sie nicht länger fest. Sie ging zum Angriff über. Ich kann nicht vergessen, daß du im Schober lagst, sagte sie, Denk einmal, daß du gelauscht hast!

Das verstand er offenbar nicht, es mußte Stadtgerede und Bücherweisheit sein. Dieser Einfall von ihm zeigte doch gerade, daß er kein Dummkopf war, daß sie ihm nichts vormachen, daß niemand ihm etwas vormachen konnte! Er antwortete mit Selbstgefühl: Ich will dir nur sagen, daß einer sehr früh aufstehen muß, wenn er Daniel anführen will!

Ja, es beleidigte sie nun doch etwas, daß er kein Vertrauen zu ihr hatte, sondern es für notwendig hielt, ihre Schritte zu bewachen; sie machte sich Luft in folgender scharfer Zurechtweisung: Und ich will dir nur sagen, daß du nicht wieder lauschst. Das lasse ich mir nicht gefallen. Und du kommst damit auch nicht weiter!

Kann ich mir denken! Aber wie gedenkst du weiterzukommen? sagte er und kniff wieder den Mund zusammen.

Sie war gebunden, sie waren schon in der Kirche aufgeboten worden, und Daniel genügte das. Darum konnte er so reden, wie er tat, er war sicher. Aber gerade, daß sie in der Schlinge saß, brachte sie zum Zappeln: war es nicht mehr rückgängig zu machen? Sie wollte es mit Herrn Fleming bereden.

Es ging seinen gewohnten Gang, Herr Fleming kam zu seinen Milchsatten und Daniel duldete es oder tat, als bemerkte er es nicht, aber Fräulein d'Espard verzichtete klugerweise auf ihre Besuche im Sanatorium und forderte niemand mehr heraus.

Eines Tages sagte Daniel: Jetzt finde ich, daß er abreisen sollte.

So, sagte sie.

Willst du es ihm sagen oder soll ich es?

Das will ich gern tun, antwortete sie. Aber ich glaube nicht, daß es hilft.

Ich werde schon machen, daß es hilft, sagte er.

Sie hielt das für sein gewöhnliches Prahlen und fragte: Was tun wir Schlimmes, weshalb murrst du? Er kommt her und ißt seine saure Milch, um wieder gesund zu werden.

Er soll nicht mehr herkommen.

Nun ja, dann habe ich also nichts hier zu sagen?

Es ist gut, daß ich das weiß!

Daniel schrie: Doch, du hast zu sagen! Aber er soll fort!

Du kannst einen Gast nicht aus dem Sanatorium verjagen.

Das weißt du nicht. Ich habe mit jemand gesprochen, ich kann ihn beim Schulzen anzeigen.

Hahaha, lachte sie, weswegen? Gott, wie dumm du bist!

Jetzt war es Daniel wohl einerlei, ob er ihr ein bißchen tüchtig Bescheid sagte, und so meinte er: Er hat das Geld in einer Bank gestohlen, du magst sagen, was du willst. Und du hebst es auf.

Dieser alte Unsinn! wies sie ihn ab. Du solltest nur seine Papiere mit Stempel und Krone und allem möglichen sehen! Die Polizei hat ihn um Entschuldigung bitten, der Minister in Finnland ihm alles wiedergeben müssen, was ihm gehört, sein Schloß und alles Geld. Schweig, du weißt nicht, was du sagst!

Du wirst schon sehen! murmelte er drohend. Und der Schulze suchte nach dem Geld, und du hattest es –

Sie stand auf, öffnete ihren Koffer, nahm das Kuvert mit dem Geld heraus und zeigte es ihm, oh, das dicke Kuvert mit dem vielen Geld! Hier ist es, sagte sie, bitte den Schulzen zu kommen, dann soll er es auch sehen, ich werde es ihm aufzählen. Es war das Geld des Grafen, aber er hat es mir geschenkt, es gehört mir. Geh und schäm' dich! Sie warf das Geldpaket wieder in den Koffer, schlug den Deckel hart zu und schloß ab.

Daniel viel zahmer: Nach dem, was die Obrigkeit glaubt, ist er nicht auf rechte Weise zu dem Geld gekommen, was du auch sagen magst. Und du hattest es, als der Schulze danach suchte. Und es ist immer noch hier in der Torahus-Alp –

Berg und Wald, fügte sie spöttisch hinzu, Torahus -Alp, Berg und Wald. Das Geld! rief sie – jaja, möchtest du es nicht in die Finger bekommen?

Das beugte ihn gehörig, duckte ihn, er war nahe daran, zu weinen. Im Grunde hatte sie recht, sie hatte ihn durchschaut, und er ärgerte sich darüber, daß er sich selbst durch sein Reden in diese Klemme gebracht hatte. Er wüßte nicht, daß er an ihrem Koffer gewesen sei und ihr etwas genommen habe, sagte er, über sich selbst gerührt –

Das habe sie auch nicht gesagt!

Gott habe ihn bisher ohne ihr Geld fertig werden lassen und ihm das tägliche Brot seinen Bedürfnissen entsprechend zugemessen, und Gott würde wohl auch in Zukunft nicht die Hand von ihm ziehen –

Und so weiter.

Genau die Art Reden, die dazu gehörte, um auch sie weich zu machen und auf sie zu wirken. Hör', rief sie, laß uns nicht streiten! Und wenn dies Mädchen, dies verflixte Frauenzimmer ihn mit den Armen umschlang und sich an ihn preßte, so mußte er ja wieder freundlich werden. Er gab eine Erklärung: Die Zunge sei ihm ausgerutscht, er habe das Geld nicht erwähnen, sondern nur sagen wollen, daß dieser Graf das schlimmste Verderben mit sich gebracht und sie in Verdacht, Verhör und Elend gestürzt habe –

Jawohl. Aber nun sollte das vergessen sein. Nicht ein Wort mehr!

Es war das erstemal, daß sie so scharf aneinandergeraten waren, und sie hatte ihn ja gut geduckt, aber es war vielleicht noch nicht Schluß damit, die Szene konnte sich wiederholen. Sie dachte ernsthaft über ihre Lage nach, die war nicht sicher.

Sie hätte sagen können: Geh und besorge dir deine Bräutigamskleider, Daniel, sieh, hier hast du das Geld! Natürlich hätte ein solches Auftreten alles für sie wiederhergestellt, aber wie lange würde es gedauert haben, bis er wiederkam! Sie war kein Dummkopf, diese Julie d'Espard, sie hatte ihr Köpfchen. War es nicht auch so gekommen, daß sie die Bezahlung für die saure Milch ganz übernehmen mußte? Ja, hatte sie zu Herrn Fleming gesagt, was ist das für ein Unsinn, daß Sie für einen Tropfen saure Milch bezahlen sollen; ein bißchen habe ich doch wohl noch hier in der Sennhütte zu sagen, Sie sind mein Gast!

Das mußte sie sagen, das war sie genötigt zu sagen. Er war offenbar nicht mehr reich; der zu Geld gemachte Hof war vielleicht mit daraufgegangen, um die Unterschlagung zu decken, was wußte sie! Und vor ein paar Tagen war er mit der Rechnung vom Sanatorium gekommen und hatte sie gebeten »solange auszulegen«, was konnte das bedeuten? Nur eines. Schön, sie hatte ausgelegt, reichlich ausgelegt. Aber wie lange dauerte es, und er kam mit der nächsten Rechnung?

Sie war wirklich kein Dummkopf, sie konnte nicht fortfahren, für zwei Männer Geld »auszulegen«, sie mußte ihre Wahl treffen.

Herr Fleming mochte recht haben, daß das übriggebliebene Geld dazu gebraucht werden konnte, etwas in Gang zu setzen. Das brachte auch sie mit einem Male zurück zu dem Leben und der Welt, die sie ausgestoßen hatten. Es war nicht zu leugnen, daß sie Heimweh bekommen hatte, sie gehörte nicht in eine Sennhütte, sie lebte hier auf der Grenze zwischen zwei Gesellschaftsschichten, ein lächerliches und unhaltbares tägliches Leben, ein geliehenes Leben, wenn sie auch versucht hatte, Wurzeln darin zu schlagen. Ging das an, ging das wirklich an? Als sie sich eines Tages in der Küche die Hände wusch, warf Marta ihr in aller Harmlosigkeit einen Sack zu, um sich daran abzutrocknen.

Sie mußte ihre Wahl treffen. Herr Fleming war sicher kein Held, nein, nein, ein Held war er nicht, aber es durchrieselte sie nun doch einmal, wenn er lächelte und die Hand auf ihre Stuhllehne legte. Wie seltsam das alles war! Ein Held, er? Herrgott, ein heruntergekommener Jüngling, nicht tüchtig, keine Besonderheit, nichts weiter für sich, nur ganz gewöhnlich und klein – wie alle Menschen in der Welt klein und gewöhnlich sind. Aber Herr Fleming war eine feine Person, er zog sie ein paar Grade empor, das war sein Wesen. Als er mit der Rechnung vom Sanatorium kam, hatte er sogar Handschuhe an, etwas abgetragene, aber brauchbare Handschuhe, mit denen er die Rechnung hielt, die sie auslegen sollte.

Das Ergebnis ihres Grübelns war, daß sie wieder etwas anfing, was sie lange Zeit hatte hegen lassen: sie begann wieder ihr Gesicht zu massieren, um hübsch zu werden.

Hör', sagte sie zu Daniel, ich möchte dich etwas fragen: Könnte es zwischen uns nicht wieder rückgängig gemacht werden?

Daniel starrte sie an: Heh?

Zwischen dir und mir – daß es aus wäre –?

Anfangs glaubte er, daß sie Spaß triebe, und er war einer, der nichts gegen einen Spaß, einen unwiderstehlichen Spaß hatte. Als er aber erkannte, daß es Ernst war, wurde er ein wenig lang und grau im Gesicht und begann, an der Brust herumzutasten, die Wolljacke aufzuknöpfen und wieder zuzuknöpfen. Sie sah ein, daß es ein schwerer Kampf mit ihm werden würde, und sagte: Laß uns nicht streiten, Daniel, komm, wir gehen nach dem Waldrain und setzen uns!

Sie gingen, ja, Daniel folgte ihr, denn er war etwas verwirrt, etwas blöd, er widersetzte sich nicht.

Du könntest dir nicht denken, daß es ginge?

Nein, das hielt er für so unmöglich, wie nur etwas sein konnte. Und er schüttelte den Kopf und lachte, so unmöglich war es.

Hast du so was gesehen, sagte sie, da hab' ich meine Geldbörse mit in den Wald genommen, ich bin ganz wirr im Kopfe! Sie öffnete sie, ach, es war nicht das Kuvert, es war nur die Börse, aber es zeigte sich doch, daß sie ziemlich viel Geld, auch Scheine, enthielt. Ob er so freundlich sein wollte, es für sie aufzubewahren, sie könnte es im Heidekraut verlieren – Das war ein listiges Angebot und zeigte die Klugheit des jungen Mädchens: aber wider Erwarten lehnte er ab. Es hatte ihn wohl mißtrauisch gemacht, er betrachtete sie forschend und rückte sogar ein wenig fort von ihr.

Sie brach in Lachen aus und sagte keck: Nein, es ist nicht so viel, daß du bange zu werden brauchtest! Ich meinte, ob du es verwahren wolltest, bis wir wieder nach Hause kommen, aber ich kann es auch selber einstecken.

So, du meintest, wir könnten es rückgängig machen? fragte er.

Ja, so wie jetzt geht es nicht weiter. Ich habe darüber nachgedacht.

Wir können es nicht rückgängig machen! sagte er mit Nachdruck.

Sie dachte nach: Ja, warum eigentlich nicht?

Da kam er mit einem Grunde, der ihr, der Städterin, völlig unverständlich war: er wies darauf hin, daß er Bauernsohn sei.

Nun und? fragte sie unschuldig.

Ja, es ist einerlei, wenn du es nicht verstehst, sagte er. Aber ich will dir doch sagen, daß ich kein X-beliebiger aus der Stadt bin. Mit mir kommst du so nicht weiter!

Es zeigte sich, daß dieser Gang in den Wald für sie mißglückt war; sie sprachen zwar noch eine Weile hin und her über die Sache, aber Daniel brach doch das Gespräch ab und erhob sich aus dem Heidekraut, um zu gehen. Du erwähnst das nicht mehr! sagte er.

Das machte das Verhältnis nur noch gespannter, die Aussicht auf einen gütlichen Vergleich wegen einer Trennung war versperrt. Aber nun begann sie im Ernst zappelig zu werden, der Widerstand machte sie heftig, sie wurde fieberhaft, übertrieb vor sich selber ihre Liebe zu Herrn Fleming und weinte, weil sie ihn nicht bekam.

Der Briefträger des Sanatoriums kam mit einem Billett für sie: es sei eine sehr feine amerikanische Gesellschaft eingetroffen, die über Inspektor Svendsens Englisch den Kopf schüttelte und am liebsten Französisch sprechen wollte, – ob Fräulein d'Espard dem Sanatorium nicht die Freude und das Vergnügen machen könnte zu kommen. Es war vielleicht nicht Rechtsanwalt Rupprechts, des Direktors, eigener Einfall, aber er hatte doch das Billett mit freundlichem Gruß und ergebenst unterschrieben.

Daniel konnte zu dieser Einladung nicht nein sagen, da er sich früher so liberal gezeigt hatte, aber er bat das Fräulein, des Kindes wegen nicht zu lange fortzubleiben. In ihrer Freude wollte sie auch ihn erfreuen und sagte: Laß nun deine Verdächtigungen, Daniel, ich komme wieder, sobald ich kann. Und übrigens ist der Graf ja abgereist, wie ich gehört habe.

Daniel schnell: Ist der Graf abgereist?

Ich hörte, daß er abreisen wollte.

Das will ich dir nur sagen, rief Daniel begeistert aus, ich verdächtige dich mit keinem drüben. Wer sollte das auch sein? Der Inspektor, der Schweizer, der Briefträger – nein. Und von den Gästen vielleicht der, den sie den Selbstmörder nennen, hahaha! Geh nur und bleib, solange du willst.

 

Der erste, den sie auf dem Boden des Sanatoriums traf, war der Selbstmörder. Er war besser gekleidet, reisefertig und hielt einen Stock in der Hand. Er sagte: Das eine von den Mädchen, von denen ich Ihnen erzählte, ist tot.

Ist sie gestorben? fragte das Fräulein interesselos.

Gestern gestorben, wie ich höre. Ja, so geht es, Fräulein d'Espard, wir sind Wanderer, wir wandern zur Heilstätte in den Bergen hinauf und bleiben hier liegen.

Das ist aber traurig.

Sehr traurig. Kam frisch aus dem Kirchspiel und mußte zugrunde gehen. Sie hat sicher irgendeine Schweinerei zu essen bekommen, die sie nicht verdauen konnte. Ich schreibe es ausschließlich der Kost zu.

Der Kost, wiederholt das Fräulein ebenso interesselos.

Natürlich, schlug sich auf den Magen, Cholera. Das andere Mädchen lebt noch, aber wie lange, weiß keiner.

Das Fräulein: Ist eine amerikanische Gesellschaft gekommen?

Nein.

Oder vielleicht eine französische – die Französisch spricht?

Das glaube ich nicht, ich habe nichts davon gehört. Nein, wir strotzen hier nicht so von Neuigkeiten, nur dieser oder jener Todesfall, einen Tag wie den andern. Ein paar Touristen kommen, die über die Berge wollen, eine Familie kommt, die eine Woche lang High life genießen will, das ist alles. Aber fast hätte ich vergessen: der Ingenieur, der die Elektrizitätsanlage machte, ist tot.

Wie –?

Verunglückt. Ich hab' es die ganze Zeit gesagt, daß diese Sprengungen gefährlich sind, aber hier nimmt man keine Rücksicht auf Gefahren. Ein Felsstück fiel auf ihn und zerschmetterte ihn.

Wann ist das geschehen?

Heute morgen, wie ich höre. Beim ersten Sprengschuß.

Hier waren nun schon so viele gestorben, daß man sich daran gewöhnt hatte; das Interesse für Todesfälle war ziemlich abgeschwächt, aber der Selbstmörder führte immer noch Buch darüber. Er sprach über das Mädchen aus dem Kirchspiel demonstrativ ausführlich, weil nichts anderes als das Essen ihren Tod verschuldet hatte. Von den andern war sie vergessen, weil der Ingenieur gleich hinterher gestorben war und ihr den Wind aus den Segeln genommen hatte. Der Ingenieur, sagte der Selbstmörder, jawohl, er zählt, er ist einer mehr. Aber sein Tod ist durch einen Unglücksfall verschuldet, der überall hätte passieren können. Das andere ist schlimmer! Wie steht es, kann Daniel uns einen Ochsen überlassen?

Nein, er will nicht vor dem Herbst verkaufen.

Dann müssen wir sehen, uns anderswoher genießbares Essen zu verschaffen. Wir können hier doch nicht krepieren.

Wollen Sie abreisen? fragte das Fräulein.

Nein. Nur einen Ausflug nach Kristiania.


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