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XVI

Untersuchung, Nachforschungen und Verhöre, im Kirchspiel brodelt es von Geschichten, ängstliche Leute verrammeln die Türen am Abend, was konnte man sonst erwarten! Es wurden ja auch einige Leute ausgeschickt, die Polizei spielen und Daniel finden sollten, o ja, sie suchten im Walde um die Sennhütte, veranstalteten zuletzt eine Treibjagd und guckten unter jeden Wacholder; aber Daniel war in den Bergen, und das wußten sie vielleicht auch. Laßt ihn! dachten sie wohl und ließen ein tiefes Mitgefühl für den Unglücklichen durchscheinen, er kommt schon selbst einmal herunter, so schlimm ist er ja nicht, es ist Daniel Utby, sollten wir den nicht kennen! dachten sie wohl. Außerdem war es jetzt vielleicht gefährlich, ihm zu nahe zu kommen, Gott weiß. Es war keineswegs mit ihm zu spaßen, mit diesem Untier, hatte er nicht auch einmal Helena verbrennen wollen!

Fräulein d'Espard sagt, so gut sie kann, über den Vorgang aus, aber sie hat nicht das Gedächtnis für alle Welt, ihr Kopf hat sich ein bißchen verwirrt, und an die wichtigen Minuten während der Katastrophe selbst kann sie sich nicht im geringsten erinnern. Der Gendarm tut sein Bestes, um sie auszufragen und ins Protokoll zu schreiben, aber nein. Er begann nämlich mit der Frage, ob es Mord mit Überlegung gewesen sei, denn dann würde es wohl Todesstrafe werden – ja, und das gab dem Fräulein viel zu denken und löschte für lange Zeit ihr. Gedächtnis aus. Übrigens war dies Fräulein eine verteufelte Dame, der Gendarm hatte sie schon früher einmal verhört und nichts aus ihr herausbekommen.

Wie geschah also die Untat selbst?

Das wußte sie nicht. Sie hatte gleich anfangs die Besinnung verloren, und als sie wieder zu sich kam, achtete sie auf nichts Besonderes, sondern stand nur auf und lief fort. Konnte das jemand wundern!

Was hatte Daniel gesagt?

Nicht ein Wort.

Warnte er nicht?

Doch, er schrie.

So, dann sagte er ja etwas?

Aber er sagte kein Wort. Er schrie und warnte.

Hatte Daniel Herrn Fleming schon manchmal mit Erschießen bedroht?

Nein, nicht daß das Fräulein es gehört hätte.

Ihn nie bedroht? Niemals?

Nein. Ihn nur gebeten abzureisen.

An jenem Morgen – nahm er da die Büchse mit, um Herrn Fleming zu erschießen?

Tat er das?

Ich bin es, der fragt! sagt der Gendarm.

Das Fräulein sieht ihm ins Gesicht und erwidert: Ich kann nicht mehr beantworten, als ich weiß.

Aber was glauben Sie? Welchen Eindruck hatten Sie?

Das Fräulein besinnt sich angestrengt: Er sagte mir, er wollte auf die Jagd gehen.

Der Gendarm blättert schnell im Protokoll zurück und zeigt: Aber Sie sagten ja vorhin, daß Sie nicht mit ihm gesprochen hätten?

Das Fräulein: Er sagte es am Abend zuvor.

Daß er am Morgen auf die Jagd gehen wollte?

Ja.

Aber mit der Büchse? Und zu dieser Jahreszeit? Was wollte er mit der Büchse schießen?

Das Fräulein schweigt, sie faßt sich an die Stirn, sie weiß nicht alles in dieser Welt, daher antwortet sie nicht. Ist sie nicht auch verwirrt von alledem, was sie in der letzten Zeit erlebt hat, und ist das so seltsam! Sie sieht ratlos auf Marta.

Als die Reihe an Marta kommt, kann sie die Auskunft geben, daß es Renntiere waren, die Daniel schießen wollte. Dazu brauchte er die Büchse. Wilde Renntiere in den Bergen.

Das Fräulein findet ihre Sprache wieder: Jawohl, Renntiere, das sagte er auch!

Dazu ist nicht die rechte Jahreszeit, sagte der Gendarm.

Aus Martas Antwort schien hervorzugehen, daß Daniel es nie so genau mit der Jahreszeit nahm.

Der Gendarm: Er wollte also in der Schonzeit jagen?

Marta zögert einen Augenblick und antwortet dann, indem sie es gehörig unterstrich: Ja, Daniel schoß alles mögliche, und zwar das ganze Jahr hindurch.

Das ist gegen das Gesetz! verkündet der Gendarm ...

Jawohl, es ist vieles gegen das Gesetz; Leute zu erschießen, ist auch gegen das Gesetz. Als Daniel hoch oben in den Bergen gesehen wurde und Leute allmählich zu ihm hinaufkrabbelten, ihm winkten und schöntaten, da rief er ihnen hinunter, daß, wer näher käme, als Leiche daliegen würde – seht, das war auch gegen das Gesetz. So krabbelten die Leute wieder hinunter und ließen ihn in Ruhe.

Aber damit war der Gendarm nicht zufrieden, er versah seine Leute auch mit Büchsen und ließ sie wieder einen Versuch machen, aber auch das führte zu nichts; sie versuchten den tollen Burschen zu umgehen und zu umzingeln, aber nein, sie kamen nicht nahe genug, seine Büchse reichte weiter als die ihren. Oh, sie taten alles mögliche.

Da war es, daß Daniel den Torahus-Berg beherrschte, wahrhaftig, niemand kam ihm nahe.

Aber eines Morgens sah er zwei Punkte sich ihm von der Seite nähern, zwei Knaben, sie kamen vom »Fels«, ja, und sie trugen ein weißes Taschentuch an einem Stock – oh, sie waren Parlamentäre, sie wollten mit dem Geächteten, dem Räuberhauptmann, reden. Nichts hatte Daniel gelesen und nichts verstand er hiervon, aber es lohnte sich ja nicht zu schießen, zwei Knaben, Herrgott. Und sie kamen näher.

Daniel sah sich erst spähend um, dann legte er die Büchse nieder, um sie nicht zu ängstigen. Und sie kamen ganz bis zu ihm herauf. Ja, sie waren ein bißchen blaß und gespannt und atmeten schnell, aber der den Stock mit der Flagge hielt, kam zuerst, und der andere trug ein Paket, das er auf Armeslänge vorstreckte, und sagte: Bitte!

Daniel verwundert: Was ist das?

Etwas Essen, antwortete er, Frühstück!

Wir haben es vom Tisch mitgenommen, erklärte der andere.

Wo kommt ihr her?

Wir wohnen im Sanatorium.

Im Sanatorium? Und da kamt ihr hierher?

Ja, wir überlegten es uns gestern abend. Es ist nur ein bißchen Essen, etwas Butterbrot.

Daniel öffnete das Paket und begann zu essen, dabei wandte er sich ab und sah sie nicht an. Er schnaufte ein paarmal, er war wohl gerührt über diese Wohltat, obwohl er einen harten Schädel hatte.

Weiß jemand, daß ihr hierher gegangen seid? fragte er.

Nein, niemand wußte es.

Ihr dürft es auch nicht erzählen, sagte er.

Sie unterhielten sich etwas mehr, er erfuhr, wie alt sie waren und daß ihr Vater Schuldirektor Oliver hieß; er war auch im Sanatorium. Daniel stand während des ganzen Gesprächs abgewandt da und schnaufte noch etwas mehr. Als er gegessen hatte, drehte er sich um, gab beiden Knaben die Hand und sagte: Ich danke euch.

Das war nichts, sagten sie, es war zuwenig, morgen kommen wir wieder und bringen mehr.

Daniel plötzlich barsch: Nein, nicht mehr! Nein, ich bleibe nicht hier, fügte er milder hinzu. Ihr sollt nicht öfter kommen.

Nein, nein, antworteten sie.

Daniel zeigte: Seht her, wenn ihr jetzt weggeht, so müßt ihr diesem Gebüsch heimwärts folgen und nicht auf dem kahlen Berge gehen, daß man euch sieht. Seid nicht dumm, geht den ganzen Weg am Gebüsch entlang.

Jawohl.

Und bedankt sollt ihr sein! sagte Daniel und wandte sich wieder ab.

Die Knaben gingen. Sie hatten das ihre getan und strichen die Parlamentärflagge. Sie waren sicher von ihrer Mission erfüllt und stolz, daß der Räuberhauptmann ihnen die Hand gegeben hatte ...

Daniel beherrschte den Berg weiter, es war nun der dritte Tag. Er fürchtete sich nicht einmal davor, der Sennhütte und den Häusern näherzukommen, und er hielt die Stellung auch hier mit seiner langen Büchse. Die Leute waren hilflos, sie gingen schließlich ins Kirchspiel zu Helmer und sagten: Helmer, du mußt es im guten mit ihm versuchen! Nein, Helmer weigerte sich, er brachte es nicht fertig, er konnte nicht mit ansehen, wie Daniel wieder vernichtet wurde. Und Daniel herrschte weiter, der tolle Bursche hob sein Büchse und rief, er würde jeden, der in Schußweite komme, erschießen. Er war fest wie ein Mann, der Haus und Herd verteidigen wollte.

Die beiden Frauen in der Sennhütte dachten und grübelten und hofften ja zu Gott, daß Daniel eine Gelegenheit finden würde, um herunterzukommen und etwas Essen in den Leib zu kriegen, selbst wagten sie sich nicht zu ihm hinauf der Polizei und der Leute wegen. Sie hörten zuweilen schießen in den Bergen, dann schoß er wohl auf einen.

Der Gendarm hatte verlangt, daß sie Essen für ihn auf die Türschwelle hinaussetzen sollten. Ach ja, das taten sie. Und dann geht eine von euch und zeigt ihm an, wo er das Essen findet! sagte er dann. Nein, das wagten sie nicht, sagte Marta und sagte das Fräulein – nicht, und wenn es das Leben gälte, sagten sie. Dennoch saß der Gendarm am Scheunenfenster und beobachtete die Türschwelle eine ganze Nacht, ob Daniel käme, und er saß noch eine ganze Nacht dazu, aber Daniel kam nicht. Und so wurde dieses unschuldige Experiment aufgegeben und das Essen wieder hereingeholt.

Aber an einem regnerischen Abend kam er.

Marta und das Fräulein standen in der Küche und unterhielten sich leise, da ging die Tür auf, und er glitt herein. Das Fräulein stieß einen kleinen Schrei aus und wich beiseite, als sie ihn sah. Er war naß und durchfroren, es war traurig, wie er aussah, streifig im Gesicht vom Regen, hohläugig und verwacht. Er blickte nicht auf, sondern legte eine blaue Hand vor den Mund und lachte verschämt, dann warf er sich über den Tisch, ergriff ein Brot und begann abzubeißen. Die Büchse stellte er neben sich.

Marta ist bereit: Gut, daß du gekommen bist, hier ist Kaffee!

Er beißt und beißt vom ganzen Brot ab, erst dann nimmt er vom Fleisch. Der Kaffee steht da und dampft.

Ich kann das wohl mitnehmen? sagt er und steckt im Aufstehen den Rest des Brotes unter den Arm.

Willst du deinen Kaffee nicht trinken?

Nein, das ist einerlei. Er ist so heiß.

Ja, wir haben nun ausgesagt, berichtet Marta. Wir sagten, daß du an dem Morgen Renntiere schießen wolltest. Daß du deshalb die Büchse nahmst, sagten wir.

So, antwortete er.

Daß es nicht geschah, um etwas anderes zu schießen, daß du es weißt.

Mir ist es gleichgültig!

Nein, sonst gibt es wohl Todesstrafe, sagt Marta.

So, jaja.

Das Fräulein auf dem Fußboden: Du versuchst wohl wegzukommen, Daniel?

Ich weiß nicht, antwortete er. Und er sieht schräg auf ihre Füße herab und fragt: Schläft Julius?

Ja, er schläft.

Ich möchte ihn nur eben sehen!

Gott weiß, was er damit meinte, ob es ihn wirklich zu dem Kinde zog, oder ob er nur zeigen wollte, daß er keine Eile hatte und sich nicht fürchtete. Er nahm eine Jacke von der Wand herunter, ergriff die Büchse und schritt zur Tür. Das Fräulein ihm nach und mit hinaus, hinein in die neue Stube. Das ging in aller Eile. Er sah das Kind nur an, nickte und ging zur Tür.

Das Fräulein: Sieh her – wart' ein bißchen!

Daß er verfolgt und gejagt wurde, ergriff sie tief, daß er sich nicht über sie beklagte und nicht ein böses Wort sagte, hätte sie dazu bringen können, sich ihm zu Füßen zu werfen. Sie öffnete ihren Koffer, nahm ohne hinzusehen einige Geldscheine und steckte sie ihm zu, bat ihn, fortzugehen, vielleicht über die Berge, wir treffen uns später –

Er sah sie zum erstenmal an und sagte: Jaja, danke!

Marta kam, sie hatte Kaffee in eine Flasche gegossen und reichte sie ihm, als er aber danach griff, fiel sie zu Boden. Aus alter Gewohnheit murrte er darüber, daß etwas entzwei gegangen war: Na, da ist die Flasche hin, aber ich war so ungeschickt!

Dann riß er die Tür auf und stürzte hinaus ...

Noch beherrschte er den Berg ein paar Tage lang, der Gendarm war verzweifelt, er wünschte sehnlichst, diese Sache in Ordnung zu bringen, ohne fremde Hilfe herbeizurufen. Jetzt kam er mit seiner Frau zur Torahus-Alp herauf, und sie hatten keine Büchse und sahen nicht nach Polizei aus, sondern kamen lediglich so angegangen. Oben, in Schußweite, wo Daniel zu warnen pflegte, blieb der Schulze stehen und ließ seine Frau weitergehen. Ein merkwürdiger Abgesandter in einer solchen Angelegenheit, sie, die Daniel betrogen hatte! Aber Helena hatte wohl gesagt, so, nun wolle sie es einmal im guten versuchen!

Die beiden Frauen in der Sennhütte hatten das Paar gesehen und beobachteten nun Helena, wie weit sie sich vorwagte. Es schien, daß Helena ganz hinaufzugehen wagte, obwohl Daniel ihr zuschrie und sie warnte.

Er erschießt Helena nicht, sagte Marta.

Aber ist das etwas, zu ihm zu gehen! fragte das Fräulein neidisch. Das hätte ich auch getan. Aber du und ich, wir durften ja nicht.

Helena stieg weiter.

Was will die Schulzenfrau da! fauchte das Fräulein. Er macht sich nicht die Spur aus ihr!

Plötzlich tut Daniel etwas Unerwartetes: er beginnt abzusteigen, er geht ihr entgegen, sie treffen sich, stehen da und reden miteinander. Helena und er.

Armes Fräulein d'Espard, sie ist zuweilen so verwirrt, ein Kind, ein Dummchen, sie fühlt in diesem Augenblick einen starken Zorn darüber, daß er noch hier auf dem Berge ist, warum ist er nicht geflohen, wie sie ihn bat? Sie hätten sich später treffen können, sie hätte ihn schon gefunden! Sieh nur, Marta, wie sie dasteht und schwatzt! Na, jetzt hat er sie weggejagt, ihr den Laufpaß gegeben, es war auch Zeit –

Helena stieg wieder den Berg herab, geht immer weiter, und Daniel bleibt zurück und sieht ihr nach. Sie schließt sich dem Manne weit unten an, und das Paar geht wieder heimwärts nach dem Kirchspiel. Was in aller Welt hatte das alles zu bedeuten?

Das Fräulein geht entschlossen den Berg hinauf, sie auch, trotzt dem Verbot und geht. Daniel sieht sie und kommt ihr entgegen.

Bist du noch da! sagt sie. Warum hast du nicht versucht, zu entkommen?

Nein, Daniel hatte wohl die Unmöglichkeit dieses Planes eingesehen, daher schüttelt er jetzt den Kopf und antwortet nicht einmal. Wie weit würde er gekommen sein, bis er ergriffen worden wäre? Nicht weit, vielleicht bis in eine Kleinstadt, was sollte er da? Vielleicht nach Kristiania, was sollte er dort? Er hatte erkannt, daß er früher oder später das Knie beugen mußte, vielleicht war ihm endlich auch die Torheit seines ganzen Benehmens klar geworden: sich gegen das Gesetz mit einer Büchse verteidigen zu wollen. Es war zu verstehen, daß ihm in der ersten Verwirrung nach der Untat nichts Besseres einfiel, aber auf die Dauer, viele Tage und Nächte – nein. Es mochte genug sein, jetzt war er geschwächt und geschlagen. Und übrigens konnte er das Geld des Fräuleins sparen, das mochte jetzt zu den andern Mitteln zur Einlösung seines väterlichen Hofes gelegt werden. Eine schöne Hilfe, wenn die Zeit kam, wenn nicht für ihn selbst, so doch für den kleinen Julius.

Er geht mit dem Fräulein heimwärts.

Wagst du mich zu begleiten? fragt sie.

Ja, antwortete er mutlos.

Was wollte die Frau – Helena?

Sie kam mit einem Bescheid.

Das ist ja merkwürdig. Ich wartete die ganze Zeit, ob du sie nicht umarmen würdest.

Helena? rief er. Ich hätte ihr zwei Kugeln geben sollen! Sie kam mit einem Brief vom Pastor. Sieh her, lies!

Es waren einige wenige Worte, ein herzlicher kleiner Brief: Jetzt müsse Daniel vom Berg herunterkommen und wieder brav sein, dann würde die Sache vielleicht nicht so arg für ihn, alles stehe in Gottes Hand. Er verschlimmere seine Sache nur, wenn er mit Gewalt und Drohungen vorginge. Der Pastor wolle sich selbst melden und gut für ihn vor der Obrigkeit aussagen, dasselbe würden viele andere tun, er solle sehen: Gott und Menschen würden ihm schon gnädig sein.

Was willst du tun? fragte das Fräulein.

Ich will nur heim, essen und schlafen, dann holen sie mich.

Holen sie dich dann? flüstert sie.

Um drei Uhr, nickt er ...

Er kam heim, nahm gleich die Kugel aus der Büchse, aß und schlief. Als er aufstand, wusch er sich und zog sich seine besten Kleider an. Er besprach auch dies und jenes mit Marta wegen der Ackerbestellung, des Betriebs der Alp für die Zukunft. Dann kam der Gendarm mit noch einem Manne.

Das Fräulein war jetzt ganz unzurechnungsfähig, sie irrte von der Küche in die neue Stube und von der neuen Stube in die Küche, rang die Hände und flüsterte nur, flüsterte mit grauem Gesicht. Ach, Herrgott im Himmel, und an allem war sie schuld! Daniel kam auf einen Sprung herein und sah nach dem Kinde, dann gab er den beiden Frauen die Hand und verabschiedete sich, von beiden zugleich, ganz freimütig.

Dann gingen die drei Männer.

Daniel ermunterte übrigens das Fräulein durch seine letzten Worte. Er drehte sich zu Marta um und sagte: Im Sanatorium wollen sie den großen Ochsen haben, aber verkauf' ihn nicht vor dem Herbst. Denk daran!

Alles hätte gut gehen können und ging doch nicht –

Seht, jetzt konnte Fräulein d'Espard ja das Sanatorium offen besuchen, soviel es sie gelüstete, aber jetzt hatte sie kein Verlangen danach. Was sollte sie dort? Dieselben Sommer- und Feriengäste und Patienten wie früher treffen, den Rechtsanwalt, den Schuldirektor, vielleicht Fräulein Ellingsen, vielleicht den jungverheirateten Bertelsen mit seiner Frau, der früheren Frau Ruben – worüber hatte sie mit denen zu reden? Mit den Jungen flirten, den Krausköpfen, Jung-Norwegen mit den strammen Schenkeln und den Jekürzerjelieber-Hosen? Sie war keine Kokotte. Übrigens war sie noch keineswegs fertig mit der Sache, mit dem Gericht, den Geschworenen, das Fräulein hatte genug zu denken.

Man wandte sich an sie wegen der Leiche, Herrn Flemings Leiche. Sie war untersucht und obduziert worden, alles war in Ordnung, aber wie sollte man sich wegen der Beerdigung verhalten? Sollte die Leiche nach Finnland geschickt werden?

Sie hatte daran gedacht; oh, das Köpfchen des Fräuleins war nicht immer gleich wirr; sie war gar nicht so untüchtig. Natürlich würde sie das Begräbnis des unglücklichen Herrn Fleming bezahlt haben, so war sie nicht, aber durfte sie sich hineinmischen? Die Vorsicht gebot ihr, sich zurückzuhalten: wenn sie bezahlte, konnte dann nicht die Frage kommen, woher das Geld war, mit dem sie bezahlte? Er war und blieb doch tot, was sie auch tat.

Was habe ich damit zu schaffen? wies sie den Sendling ab.

So. Aber die Sache war nun, daß Herr Fleming nicht einen Heller hinterließ. Das war so merkwürdig.

Ja, was geht das mich an? rief sie nervös aus. Ich bin nicht seine Mutter. Ich kannte ihn nicht einmal näher.

Nein, nein. Aber dann müßte er auf öffentliche Kosten begraben werden.

Warum das? fragte sie. Er hat doch wohl Werte genug für das armselige Begräbnis hinterlassen. Ich glaube mich zu erinnern, daß er mehrere Koffer hatte, er zeigte mir kostbare Kleidungsstücke, er trug einen Brillantring in der Westentasche, der vielleicht ein Vermögen wert war.

Nein, klärte der Abgesandte sie auf, der Ring ist untersucht worden, er war nicht echt, war nichts wert.

Das Fräulein: Nicht möglich! Dann fügte sie geistesgegenwärtig hinzu: Nun ja, aber die Kleider – fragen Sie im Sanatorium –

So wurde ihr Verdacht also bestätigt: es war nicht der erste teure Ring, den hatte er wohl veräußern müssen und war nun mit einem andern, der wertlos war, wiedergekommen. Sie hatte es wirklich gleich im Sommer bei ihrer ersten Begegnung gesehen: der Ring funkelte nicht. Oh, der arme Herr Fleming, auch er war heruntergekommen, ein Mann auf den Knien, aufrecht, aber auf den Knien. Das gab ihr noch mehr zu denken, bald barst wohl ihr Köpfchen ...

Die Tage vergingen. Das Fräulein half mehr bei der Arbeit als zuvor und entlastete Marta soviel sie konnte, sie gebrauchte das als Kur. Es war jetzt Heumahd; Helmer kam und schlug die Wiesen eines frühen Morgens mit der Maschine, und die beiden Frauen breiteten, trockneten und brachten das Heu ein, während der kleine Julius auf dem Felde lag. Das fand das Fräulein nicht so schlimm, und wie hätte es mit ihrem Köpfchen werden sollen, wenn diese Arbeit im Freien nicht gewesen wäre! Wahrlich, sie hatte sich oft mehr als jetzt in ihrem Leben gelangweilt, ihr Stübchen in Kristiania war oft schlimmer, die leere Umhertreiberei auf den Straßen auch. Nach den Verhören und dem Urteil begann sie geradezu Mut und gute Laune wiederzufinden. Daniel erhielt ein herzlich mildes und gerechtes Urteil: sieben Jahre, es war eine Gnade von Gott und den Menschen, und Fräulein d'Espard, die früher aus Ärger über das Mißgeschick geweint hatte, weinte jetzt aus Freude über das Glück. Natürlich: sieben Jahre Strafarbeit war kein Geschenk, aber es war auch nicht der reine Untergang und Tod, Gott sei Lob und Dank!

Tage gingen ein und gingen aus, und es war ein Segen, wie sie gingen; Julius wuchs, seine Augen lernten sehen und folgten ihr, er lächelte, schrie, trank und schlief. Das ganze Jahr war voll von aufreibenden Ereignissen gewesen, nichts hatte einen festen Boden um sie her, alles hatte immerfort gewechselt, sie wurde von einer Seite zur andern geschoben, und ihr Schicksal war im Laufe des Jahres oftmals in andere Bahnen gelenkt worden. Wenn sie zurückdachte, waren mehrere dieser Stadien bei ihr nahezu verwischt, die Dinge schienen vor langer, langer Zeit geschehen zu sein. In den letzten Tagen hatte sie festeren Boden gewonnen, jetzt konnte sie sich dafür interessieren, daß das Heu hereinkam, ehe es regnete.

Man hatte sie nicht vergessen im Sanatorium, nein, in dieser großen Ferien- und Heilstätte hatte man Mitgefühl mit ihr und schickte ihr ein Billett. Man wollte sie wohl in ihrer Verlassenheit aufmuntern, und es war sicher Rechtsanwalt Rupprechts Idee; aber das Billett war von Andresen, ihrem früheren Chef, unterschrieben.

Worüber sollte sie mit ihm reden? Hatte er sie schon mit der Zahnlücke und der entstellenden Narbe am Kinn gesehen? Hatte sie nicht zudem Arbeitshände bekommen und sah derb aus? Vor allem aber war sie flachbrüstig geworden.

Sie ging nicht.

Aber eines Tages bekam sie eine Rechnung geschickt, die Rechnung für Herrn Flemings letzte Wochen im Sanatorium. Ja, die kam zu ihr, und was sollte sie nun tun? Durfte sie sich auch jetzt ohne weiteres ablehnend verhalten? Es stand ja so, daß sie sogar etwas Anteil an dieser letzten Rechnung von Herrn Fleming hatte; sie war zum Essen bei ihm gewesen; sie hatte teuren Wein getrunken. Sie begann die Rechnung anzusehen und zu studieren. Schändliche Preise, fand sie, Prellerei, ihre Sparsamkeit erwachte, sie wurde wütend und ging mit blassem Gesicht zu Marta: Willst du nur hören, was die im Sanatorium für eine Flasche Wein und eine Mahlzeit nehmen: zwanzig Kronen! Es war französischer Wein, und sollte ich nicht wissen, was französischer Rotwein kostet, ich bin doch daher! sagt Fräulein d'Espard in ihrer Aufregung. Marta stimmt ihr bei, sie hat auch noch nie so etwas gehört, sollten die drüben tun können, was sie wollten? Nein, sagte das Fräulein, willst du ein wenig nach Julius sehen, so gehe ich hinüber und rede mit ihnen!

Sie machte sich ein bißchen fein und ging.

Sie hatte das Glück, den Direktor auf der großen Veranda zu treffen, er war entzückt, grüßte laut .und sagte: Herr Andresen möchte Sie gern begrüßen, er war ja einmal Ihr Chef, nicht wahr? Hier bitte, gnädiges Fräulein!

Sie hielt ihn an: Nein, ich danke, ich möchte nur über etwas mit Ihnen reden. Ich habe diese Rechnung bekommen.

Rechtsanwalt Rupprecht setzt den Kneifer auf und liest. So, jaja, sagte er unschlüssig.

Das Fräulein: Ist es in Ihrem Sinne, daß man mir Herrn Flemings Rechnung schickt?

Irrtum! sagt der Rechtsanwalt.

Ich werde mein Essen bezahlen, wenn Sie wollen.

Da ruft der Rechtsanwalt: Ach, das ist doch nicht zum Ertragen, hier werden so viele Dummheiten gemacht! Irrtum, gnädiges Fräulein!

Das habe ich mir auch gedacht. Denn Sie können sich wohl mit seinen Sachen bezahlt machen.

Nein, seine Sachen – aber davon wollen wir nicht reden – seine Sachen, die hat die Obrigkeit geholt. Nun, es war doch wirklich gut, daß ich diese Rechnung in die Finger bekam und festhalten konnte; jetzt gehört sie mir! sagt er und steckt sie in die Tasche. Daß Sie auch nur einen einzigen Augenblick glauben konnten, daß das Torahus-Sanatorium fähig sei, sie Ihnen zu schicken –! Aber um auf etwas anderes zu kommen: wann kehren Sie zurück und wohnen bei uns, Fräulein d'Espard? Wir vermissen Sie, und wir werden Ihnen keine falschen Rechnungen mehr schicken, ich werde mir den Betreffenden vornehmen. Ihr Zimmer soll bereit sein.

Dieser Herzlichkeit gegenüber wurde Fräulein d'Espard milder gestimmt. Man konnte ihr nicht leicht etwas vormachen; der Rechtsanwalt hatte sicher von der Rechnung gewußt, aber darüber konnte sie sich eigentlich nicht wundern, die Hauptsache war ja, daß sie ihr Geld sparte. Ich danke Ihnen, sagte sie, ich muß bleiben, wo ich bin.

Der Rechtsanwalt: Einige Ihrer Freunde sind noch hier, Fräulein Ellingsen ist nicht gekommen, und Direktor Oliver ist abgereist, aber Herr Bertelsen ist mit seiner Frau hier – Sie haben das neuvermählte Paar wohl nicht getroffen? Fräulein Ellingsen schreibt, daß sie später kommt, sie kann ja nicht gut kommen, solange gewisse andere Leute hier sind – Sie verstehen! Ja, aber dann erwarten wir Komponist Eyde, den kennen Sie doch – Selmer Eyde – den Komponisten? Seine Studienzeit in Paris ist abgelaufen, und wir freuen uns für unsere Wintergäste, daß er wiederkommt. Ja, und dann haben wir einen neuen Ingenieur, einen richtigen Sportsmann, einen neuen Doktor, den kennen Sie ja, neue Leute, prächtige Jugend. Und dann haben Sie wohl gesehen, daß wir bauen und erweitern? Oh, wir wollen Torahus zum führenden Sanatorium im Lande machen! Können Sie raten, wie hoch unsere Brandtaxe schon ist? Sie raten es nicht: Hunderttausende! Jetzt setzen wir alle Kraft ein, um Wasserleitung und Lichtanlage zu schaffen –

Der Rechtsanwalt fuhr fort zu schwatzen und aufzuzählen, er war von alledem erfüllt, vergaß aber nicht, ein Mädchen zu Andresen hinaufzuschicken: Sie müssen Herrn Andresen wirklich erlauben, Sie zu begrüßen, gnädiges Fräulein! Er hat zu Ihnen in die Sennhütte gehen wollen, aber ich wußte nicht, ob Sie ihn empfangen würden.

Andresen kam. Was wollte er so dringend? Sie zur Schreibmaschine zurückhaben?

Ein dicker Herr mit spärlichem Haar, sehr blaß und sehr fett; er war gekommen, um Torahuswasser zu trinken und eine Kur durchzumachen, und hatte schon leere Säcke im Gesicht von seiner Abzapfung. Er war sehr freundlich, aber das Fräulein merkte gut seine Enttäuschung, als er sie wiedersah. Ach ja, sie war nicht mehr dieselbe! Und auf einmal durchfuhr es sie wie ein Schauer; sie wollte wieder heim zum Kinde, zu Klein-Julius, sofort heim!

Er: Ich wollte Sie doch begrüßen, wo ich einmal hier in der Gegend war.

Sie: Das war sehr liebenswürdig!

Geht es gut, Fräulein d'Espard? Zu Hause im Geschäft haben wir verschiedene Neue bekommen, Sie müssen einmal vorsprechen, wenn Sie in die Stadt kommen.

Geschwätz, Geschwätz, es war nicht wie in alten Tagen, wenn derselbe Herr sich über sie beugte unter dem Vorwand, daß er sehen wollte, was sie geschrieben hatte, und sie dann wie ein Verrückter küßte. Nein, heute wollte er weiter nichts von ihr; als er sie sah, wich er zurück. Er tat sogar würdevoll, ließ den früheren Chef durchscheinen und war herablassend freundlich: Es kommt mir vor, als sei es unendlich lange her, seit Sie bei uns waren. Warten Sie: waren Schreibmaschine und Stahlfeder damals schon erfunden?

Das Fräulein lachte pflichtschuldigst darüber. Als er aber fortfahren wollte, sie über dies längst vergangene Leben an der Schreibmaschine zu unterhalten, das sie beinahe vergessen hatte, wurde sie es müde und hatte nichts dagegen, daß Chef Andresen sich erhob und freundlich zum Abschied grüßte: Vergessen Sie nur Ihr Französisch nicht, Fräulein d'Espard! Ihre Nachfolgerin bei uns ist ja längst kein solcher Ausbund in Sprachen wie Sie, aber sie hat andere gute Eigenschaften. Ja, auf Wiedersehen! Es war nett, Sie zu begrüßen und zu hören, daß es Ihnen gut geht.

Sie konnte nicht vermeiden, daß sie noch einmal mit dem Rechtsanwalt zusammentraf: Nun, hat Herr Andresen seinen Willen bekommen? Ich sah, daß er entzückt war! Hören Sie, gnädiges Fräulein, Herr Magnus reiste doch nach Kristiania? Ja, aber er ist nicht wiedergekommen. Ist es nicht einen ganzen Monat her? Sie sind die letzte, die mit ihm gesprochen hat, aber es soll jemand hier gewesen sein und nach ihm gefragt haben, eine Dame, wer könnte das sein? Ich habe sie nicht gesehen, aber sie ist zweimal hier gewesen, das deutet ja darauf, daß es etwas Wichtiges war; sie hat auch telephoniert. Ich weiß wirklich nicht, was wir tun sollen. Was meinen Sie?

Ich weiß nicht. Er kommt wohl wieder.

So, meinen Sie! Aber denken Sie, wenn Sie jetzt hier wären, Sie haben ihn uns schon einmal wiedergefunden, Sie sind so tüchtig! Sind Sie nicht zu bewegen, zu uns zurückzukehren? Wir vermissen Sie.

Was meinte der Mann mit seinem Nachsatz? Er meinte nichts. Er erwies dem Fräulein und allen andern Liebenswürdigkeiten und meinte auch gar nichts damit, er interessierte sich nur dafür, so viele Gäste wie möglich zu bekommen, das Haus voll zu haben, und augenblicklich war das schlecht damit bestellt. Nein, Rechtsanwalt Rupprecht hatte keine private Absicht auf sie, er dachte gar nicht daran, ein Heim zu gründen, verliebte sich nicht, ihn beschäftigte ebensosehr, daß er den Jüngling Selmer Eyde wiederbekommen, wie daß er eine junge Dame beherbergen sollte – vielleicht sogar noch etwas mehr.

Dann sollen Ihre übrigen Freunde Sie heute also nicht begrüßen dürfen? sagte er. Herr Bertelsen und Frau werden es mir sehr übelnehmen, ja, das werden sie wirklich. Sie wohnen auf Nummer 107, falls Sie hineingucken wollen. So, nicht?

Nummer 107! O dieser Direktor Rupprecht, nun hatte er allen Nummern im Sanatorium eine Hundert zugelegt, so daß es sich auf den Türen großartig ausnahm.

Wenn man davon absieht, daß Chef Andresen sich etwas weniger enttäuscht über sie hätte zeigen können, so war es ein glücklicher Weg für das Fräulein gewesen, aber es gab ihr ja einen kleinen Stich, daß sie schon so abgedankt sein sollte. Wie würde es da in sieben Jahren mit ihr stehen! Oh, aber sie wollte schon wieder gesund und hübsch werden, entzückend, es gab nichts, das sie nicht getan hätte, um wieder hübsch zu werden, und wenn die Zeit kam, wollte sie sich einen Stiftzahn einsetzen lassen.

Ja, und sonst war der Ausflug gut geglückt. Alle hatten sie geschont, niemand hatte eine Andeutung gemacht, daß sie im Hause eines Mörders wohnte, Herrn Flemings Name wurde gar nicht erwähnt. Und auf jeden Fall hatte sich der Ausflug gelohnt, sie hatte Geld gespart.

So kehrt sie nach der Sennhütte zurück, eilt zurück, sie ängstigt sich mehr als je, daß Klein-Julius aufgewacht ist und auf sie wartet. Das kleine Würmchen, und er hat so hübsche Händchen – Marta kommt ihr draußen entgegen und flüstert: Es ist Besuch da.

Besuch?

Ein Mann. Er sitzt im Holzschuppen und wartet auf dich.

Ich weiß von niemand. Ist Julius wach?

Er war wach und bekam Milch, dann schlief er wieder ein. Da ist der Mann! flüstert Marta.

Es war der Selbstmörder.

Sind Sie es, Herr Magnus! Wir sprachen gerade von Ihnen im Sanatorium, daß Sie fort seien, daß Sie nicht zurückgekommen seien –

Der Selbstmörder antwortete nicht.


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