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XII

Der Doktor begrüßte alle Gäste nacheinander und erkundigte sich nach ihren Krankheiten. Bertelsen fehlte nichts, aber er blieb als Gast und erkundigte sich lebhaft nach Frau Ruben. Die gnädige Frau und er seien zusammen hergekommen, erklärte er, und er könne nicht gut ohne sie wieder heimreisen. Dies hörte Fräulein Ellingsen mit an, sie warf ihm einen Blick zu, aber der rührte Bertelsen nicht, nicht die Spur. Ich glaubte Sie seien mit mir hergekommen, scherzte sie todernst.

Und warum sind Sie hier, gnädiges Fräulein? fragte der Doktor.

Mir fehlt nichts. Ich reise übrigens morgen ab.

Natürlich bleibe ich nicht nur hier, um auf Frau Ruben zu warten, sagte Bertelsen jetzt. Sie wissen ja, Fräulein Ellingsen, daß ich nicht ganz uninteressiert am Torahus-Sanatorium bin, ich habe allerhand hier zu besorgen.

Am Tage darauf reiste Fräulein Ellingsen ab, allein. Sie hatte wohl eingesehen, daß es hoffnungslos war, noch länger zu warten.

Ich komme umgehend nach, sagte Bertelsen, ich habe nur noch etwas wegen des Neubaus im Frühjahr zu ordnen.

Aus irgendeinem Grunde hatte Bertelsen heute morgen Erlaubnis bekommen, einzutreten und Frau Ruben zu begrüßen; er hatte sie bedauert und getröstet und durchscheinen lassen, daß sie ihr Leiden nicht allein trüge. Die gnädige Frau hatte begonnen, etwas Nahrung zu sich zu nehmen, und schlief schon besser, sie konnte frisch mit Bertelsen sprechen und scherzen und liebenswürdig sein, sie verbrachten eine angenehme Stunde miteinander. Als er das Zimmer der gnädigen Frau verließ, war er in bester Laune. Er fand Fräulein Ellingsens Taschentuch vor seinen Füßen, es war schneeweiß und ungebraucht, er hob es auf und lieferte es ab: Sehen Sie, was ich gefunden habe, Ihr Taschentuch, Ihr Monogramm. Es ist so weiß und unschuldig, es sieht nicht aus, als wäre es mir absichtlich in den Weg geschlüpft.

Nein, absichtlich –?

Ich scherze, Fräulein Ellingsen! Nun, Sie sind schon reisefertig. Ich muß Sie sehen, wenn Sie im Schlitten sitzen. Grüßen Sie die Stadt!

Sie war so hilflos, vielleicht hatte sie das Taschentuch wirklich absichtlich vor Frau Rubens Tür verloren, etwas Besseres war ihr nicht eingefallen, als sie Bertelsen drinnen hörte. Natürlich kostete es sie Überwindung, Bertelsen heute so entscheidend, ein für allemal zu verlassen; andererseits: was konnte je aus der Geschichte mit ihm werden? Merkte sie nicht seinen Überdruß, seine Gleichgültigkeit? So endete denn diese Episode ihres Lebens ebenso unvermittelt und unfruchtbar wie ihre Detektivgeschichten. Fräulein Ellingsen war groß und hübsch, und sie wäre fast etwas gewesen, sie besaß Gefühl und Phantasie, mißbrauchte aber beides: ihr Gefühl verschwendete sie wie ein Tor, und ihre Phantasie entfesselte sie in Erzählungen, in Erdichtungen und Irrungen. Sie konnte Holzhändler Bertelsen nicht halten und mußte ihn schließlich aufgeben. Was sollte sie sonst tun? Sie würde ihn zu Tode gelangweilt haben, etwas jeden Tag und etwas jede Nacht ...

 

Der Doktor kam auf seinem Rundgang zum Selbstmörder. Er mochte einiges über diesen Sonderling gehört haben und richtete sich jetzt danach, vielleicht kannte er auch etwas von seiner Geschichte in Kristiania, Gott weiß.

Der Selbstmörder setzte seine unverschämteste Miene auf und sagte: Na, Sie kommen wohl, um sich eine Begräbnisstätte hier in den Bergen auszusuchen?

Der Doktor sagte: Harter Winter. Sie sind der einzige, der sich vernünftig kleidet, wie ich sehe.

Es wird kostspielig auf die Dauer, die Leichen von hier wegzutransportieren, beharrte der Selbstmörder. Ich kann Ihnen eine Stelle zeigen, wo wir Überlebenden in die Erde kommen können.

Wenn Sie Zeit haben, so möchte ich sie gerne gleich sehen, sagte der Doktor.

Sie gingen sogleich. Aber der Selbstmörder war offenbar nicht darauf vorbereitet gewesen, beim Worte genommen zu werden, er wurde unsicher wegen der Richtung, schwankte, blieb im Walde stehen und sagte: Es ist übrigens Unsinn von Ihnen, daß Sie mich begleiten. Lassen Sie uns umkehren! Der Selbstmörder war beleidigt und fuhr fort: Es war nur angenommene Entschlossenheit von Ihrer Seite!

Der Doktor sah ihn an und ließ ihn reden.

Nun, Sie sehen mich an und untersuchen mich. Lassen Sie uns nach Hause gehen, hab' ich gesagt!

Auf dem Heimwege fragte der Doktor: Seit wann sind Sie hier?

Seit dem Schöpfungstage. Seit Eröffnung des Sanatoriums.

Und worauf warten Sie hier in den Bergen so lange?

Ich warte nicht lange, ich warte durchaus nicht lange hier. Was wollen Sie selbst hier?

Schweigen.

Der Selbstmörder fuhr fort: Ich fragte nicht, um unangenehm zu sein, sondern um es zu erörtern. Der Tod arbeitet hier tadellos ohne Ihre Hilfe.

Warum blasen Sie auf Ihre Hand?

Haben Sie das bemerkt? Vorgeblicher Scharfsinn! Ja, ich blase darauf, um sie warm zu halten.

Wollen Sie in mein Zimmer kommen und einen Kognak mit Selters trinken? sagte der Doktor.

Der Selbstmörder verblüfft: Wie? Ja gern!

Als sie, jeder mit einem Kognak und Selters, im Sprechzimmer saßen, begann der Selbstmörder sich wohl zu fühlen und vernünftig zu reden. Der Doktor fragte ihn ein wenig nach dem Sanatorium und den Gästen und erhielt viele ausweichende Antworten. Plötzlich streckte der Selbstmörder die Hand aus und sagte: Warum ich darauf geblasen habe? Sehen Sie her, was sagen Sie zu dieser Wunde?

Der Doktor: Das ist nicht einmal eine Wunde.

Was ist es denn?

Nichts.

Der Selbstmörder: Ich nehme an, daß es Lepra ist?

Der Doktor lächelte: Unsinn! Sie haben sich nur ein Loch in die Haut gekratzt.

Kann ich etwas dafür haben?

Ja, Sie sollen noch einen Kognak mit Selters haben.

Es schien den Selbstmörder zu erleichtern, daß seine Wunde nichts zu bedeuten hatte, und beim nächsten Glase wurde seine Stimmung besser, als sie seit langem gewesen war. Der Doktor erzählte Geschichtchen, er war ein noch so junger Arzt, daß er sich sogar noch besonderer Ereignisse aus seiner Praxis erinnerte. So erzählte er, wie er zu einer Frau geholt worden war, die Prügel bekommen hatte und deren Hinterer braun und blau geschlagen war.

So? sagte der Selbstmörder.

Es war eine junge Frau, hübsch auch und ein bißchen leichtsinnig. Der Mann war dabei, als ich sie untersuchte, er erklärte, wie es zugegangen war, und zeigte mir den Rohrstock, den er gebraucht hatte.

War es der Mann –?

Der sie geprügelt hatte, ja. Sie fing an, ihm zu stark zu werden, sie wollte ihren Willen haben, behandelte ihn wie einen Gimpel und nahm sich einen Liebsten.

Der Selbstmörder mißtrauisch: Was gehen mich der Mann und die Frau an?

Wie?

Warum erzählen Sie mir das?

Es war ein komischer Fall. Ich mußte der Frau ihren Hinteren kurieren, aber der Mann kurierte ihre Stärke. Nein, Sie haben recht, was geht das Paar uns an! Aber wie gesagt –

Schweigen.

Es ist übrigens nicht uninteressant, murmelt der Selbstmörder. Kurierte er sie, sagen Sie?

Gründlich! Ich habe die Leute später beobachtet, sie sind glücklich, haben zwei Kinder bekommen seitdem. Sonntags gehen sie zusammen aus.

Großartig! ruft der Selbstmörder aus. Sie sollen leben!

Ich habe allerlei solche Erlebnisse, sagt der Doktor still, wie für sich. Sonst würden die Krankenbesuche langweilig werden.

Es zeigt sich, daß der Selbstmörder nicht mehr überlegen ist, er wird neugierig und naiv: Ich kann den Mann und die Frau nicht vergessen, was für Leute waren es?

Handwerker, der Mann ist Schmied.

Ach so! sagt der Selbstmörder enttäuscht. Ein Schmied und seine Frau.

Nun ja. Natürlich ist der Rohrstock kein Mittel, das in jedes Milieu paßt, alle Mittel müssen individuell angewandt werden, zuweilen gehören Blumen dazu.

Ein jeder kann von zuviel Stärke in seinem Hause geplagt werden, murmelt der Selbstmörder und betrachtet die Wände und das Dach.

Der Doktor antwortet zerstreut, wie in Erinnerungen versunken: Ja, so ist es. Ich bin selbst einmal nahe daran gewesen, den Rohrstock zu gebrauchen.

Der Selbstmörder gespannt: Sind Sie verheiratet?

Nein, lächelt der Doktor und schweigt.

Aber der Selbstmörder wird ungeduldig und rät mit fragenden Augen.

Der Doktor sagt: Nein, es war meine Haushälterin. Es war übrigens keine gewöhnliche Schmiedsfrau, allerdings ein Mädchen aus dem Volke, auch ein bißchen toll, aber mit vielen guten Eigenschaften.

Nur eine Haushälterin! sagt der Selbstmörder wieder enttäuscht.

Sie war jung und hübsch, hatte einen prachtvollen Körper, spielte ausgezeichnet Klavier und Gitarre, war musikalisch.

Ja und doch –!

Ich war verliebt in sie.

Na, sagte der Selbstmörder, das ist was anderes. Und die hätte Sie verlocken können, den Rohrstock an ihr zu versuchen?

Nachdem es mit Blumen fehlgeschlagen war, ja. Und nachdem auch mit Geschenken. Zu irgendeinem Mittel muß man ja greifen, nicht wahr?

Davon verstehe ich nichts.

Na ja. Aber so in seiner Ratlosigkeit greift man zu irgend etwas. Nein, es würde etwas ganz anderes sein, wenn es die eigene Frau wäre, Ihre Frau, meine Frau, ein Mensch aus unserm eigenen Milieu, mit ihr könnte man wohl im guten zurechtkommen. Aber eine Haushälterin! Sie sind wohl auch nicht verheiratet? fragt der Doktor.

Ich? Verheiratet? Nein.

Nein, das merkte ich.

Da müßte ich schön dumm sein! sagt der Selbstmörder.

Der Doktor gibt ihm bis zu einem gewissen Grade recht, und sie reden weiter darüber, werden sich aber einig, daß es schwer sei, der Ehe zu entgehen.

Nun, wie wurde es schließlich mit dem Mädchen? fragt der Selbstmörder, erreichten Sie, was Sie wollten, ohne Rohrstock?

Nein, antwortet der Doktor, ich habe es nicht erreicht – noch nicht. Statt dessen tat ich etwas anderes: ich reiste hierher. Ich übernahm die Stellung hier als Arzt.

Lange Verwunderung und Stille.

Das ist sehr interessant! nickt der Selbstmörder. Aber wenn das nun auch nicht hilft?

Der Doktor bestimmt: Dann mache ich es wie der Schmied!

 

Das Gespräch mit dem Doktor schien auf den Selbstmörder gewirkt zu haben, er dachte darüber nach und lachte zuweilen bei sich. Aber viele Tage dauerte es ja nicht, bis der Rückschlag kam und er wieder derselbe bissige Grübler wie zuvor wurde. Er suchte Fräulein d'Espard auf, hatte aber das Pech, sie im Rauchzimmer mit Schuldirektor Oliver zusammen zu treffen, und es war unvermeidlich, daß er mit ihm in ein Gespräch kam. Zuerst sagt er, um liebenswürdig zu sein: Ich grüße das Kollegium!

Die beiden sind seinen Scherz nicht gewohnt und schweigen.

Vor ein paar Tagen war ich mit dieser Wunde bei unserm neuen Doktor, sagt er zu dem Fräulein.

Haben Sie etwas dafür bekommen? fragt sie.

Ja, zwei Kognak mit Selters.

Zwei was?

Kognak mit Selters. Er verwendet seltsame Medikamente, zuweilen gebraucht er spanisches Rohr.

Spanische Fliege, meinen Sie wohl, berichtigt der Schuldirektor. Aber das ist kein ungewöhnliches Medikament.

Der Selbstmörder verachtet ihn und antwortet nicht.

Zuweilen gebraucht er aber auch Blumen. Er ist ein origineller Mensch.

Der Schuldirektor will freundlich bleiben und erwidert: Ja, Blumen können sicher manchmal gut sein, Blumen für die Kranken.

Der Selbstmörder verachtet ihn wieder, das Fräulein nickt und sagt: Ja, das ist sicher.

Das ist sicher? fragt der Selbstmörder. Daß Blumen gut sind? Könnte man nicht ebensogut Knöpfe, Perlmutterknöpfe, Hornknöpfe, Zinnknöpfe schicken?

Lachen.

Der Schuldirektor wird wieder ein wenig würdevoll und will nicht mehr Unsinn schwatzen: Ja, morgen schreite ich dazu, meinen Aufenthalt hier abzubrechen.

Das Fräulein: Ach – morgen schon!

Morgen fahre ich. Wann reisen Sie ab, gnädiges Fräulein?

In diesen Tagen, einen der nächsten Tage.

Und Sie, junger Mann?

Auf diese direkte Frage antwortete der Selbstmörder widerwillig: Ich reise nicht ab.

So? Sie haben gar keine Pflichten, die Sie rufen?

Das haben Sie aber, wenn ich Sie recht verstehe?

Das habe ich. Das wollen Sie wohl nicht bestreiten? fragte der Schuldirektor lächelnd. Wir Lehrer halten Schule, wir machen nach geringem Vermögen die Menschen dessen teilhaftig, was wir selbst gelernt haben.

Glauben Sie ihm nicht, Fräulein d'Espard, sagte der Selbstmörder. Es ist nicht so unschuldig.

Dem Fräulein war es wohl ein wenig peinlich, in die Sache hineingezogen zu werden, und sie fragt vermittelnd: Doch, nicht wahr, Schule ist doch unschuldig?

Schule heißt, der Natur zuwiderhandeln, den Schüler auf ein Nebengleis schieben, das in einer ganz andern Richtung als das ursprüngliche läuft. Schule heißt, diesem Nebengleis geradeswegs in die Wüste hinein zu folgen.

Der Schuldirektor ist belustigt: etwas anderes kann er wohl auch nicht tun. Und ich meinte, aus der Wüste herausgekommen zu sein! sagte er.

Ja, lachte das Fräulein und hielt zu ihm. Nein, nun müssen Sie vernünftig sein, Herr Magnus, der Herr Schuldirektor ist doch ein großer Wissenschaftler, Doktor!

Der Herr Direktor kommt sich gewiß sehr wohlgelungen vor, antwortet der Selbstmörder gleichgültig. Das müssen alle Schuldirektoren, sonst hielten sie es nicht auf dem Katheder aus.

Nun, das Katheder ist für uns keine Tortur, es ist unsere Lust.

Schweigen.

So, Sie reisen auch ab, Fräulein d'Espard? sagt der Selbstmörder. Ach ja, wir sind Wanderer auf Erden, wir wandern hierhin und dorthin, manche von uns bleiben in einem Sanatorium. Ich war jetzt mit dem Doktor fort, um die Begräbnisstätte für uns Überlebende anzusehen.

Auf diese unverständliche Rede keine Antwort.

Ich habe Sie vielleicht nicht verstanden, mein Herr, sagt der Schuldirektor in seiner gewählten Sprache, ist es unsere Arbeit auf dem Katheder, die Ihnen mißfällt?

Schweigen.

Der Herr Direktor fragt! mahnt das Fräulein.

Ein Schuldirektor ist in gutem Glauben, sagt der Selbstmörder, seine Schule lehrt die Kinder alle Kenntnisse der Welt in allen Richtungen der Welt. Die Kinder kommen auch wieder einmal heraus, nach langer, langer Zeit kommen sie wieder heraus, jawohl, aber sie gingen als Füllen und Kälber hinein. Es ist unmöglich, daß sie alles behalten, was sie gelernt haben, und wenn sie es behalten, so ist es nicht von Bedeutung. Sie vergessen, woran der Binnensee Öyern im Westen grenzt, sie vergessen, daß die Mohrrübenpflanze keine Kelche zu haben braucht. »Schule« war ursprünglich Freizeit, ein Zeitvertreib für Erwachsene, sie ist eine Hölle für Kinder geworden. Wenn sie dieser Hölle entkommen, sind sie alt, manche sind kahlköpfig, manche halb blind, aber manche bleiben auf dem Platze. Kinder sollten keine Schule haben.

Amüsant, sehr amüsant! sagte der Schuldirektor.

Das Fräulein fragt: Aber, Lieber, wie sollten die Menschen später im Leben ohne Schule fertig werden?

Schule macht ja keinen zum Menschen. In reiferen Jahren, wenn der Mensch in einem erst ordentlich ertötet ist, könnte davon die Rede sein, daß man eben eine solche Schule brauchte.

Aber auch dann sowenig wie möglich? fragte der Schuldirektor und erhob sich, um das Gespräch abzuschließen, er hatte genug davon. Eigentlich hätte Direktor Oliver hier ein Wörtchen sagen und siegen können, er hatte alle Vorteile auf seiner Seite, konnte Sprachen und war in seinem Fach gelehrt, berühmt. Aber reinen Blödsinn diskutieren, das konnte Direktor Oliver nicht, das mochte er nicht. Als er jedoch gehen wollte, mußte wohl ein Teufel in den Selbstmörder gefahren sein, er wandte sich direkt an ihn und sagte: Ich merke, daß meine Äußerungen Sie interessieren.

Nein, das kann ich nicht sagen, antwortete der Schuldirektor mit Kälte.

Doch, es läßt sich nicht leugnen.

So? Allerdings bin ich auf Ihren – wie soll ich es nennen – Gallimathias – schon früher, sogar in meiner eigenen Familie, gestoßen, wenn er auch nicht so outriert, so hirnverbrannt war. Leider ist es so, daß es Menschen gibt, die ihren Stolz darein setzen, unwissend zu sein, nichts zu kennen, kein Land, keine Sprache. Nein, wahrlich, das interessiert mich nicht. Höchstens als Kuriosum, als etwas sehr Verrücktes, sehr Verkehrtes – wie soll ich es nennen –

Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, ich kann mir den Rest denken, unterbricht ihn der Selbstmörder mit ironischer Hilfsbereitschaft.

Das ist wie der schwedische Professor, von dem ich Ihnen erzählte, sagte der Schuldirektor zum Fräulein gewandt. Ich antwortete doch wirklich auf seine Irrtümer und widerlegte sie Punkt für Punkt. Aber das scheint nichts zu nützen. Mit gewissen Dingen kämpfen selbst die Götter vergebens hier auf Erden.

Der Selbstmörder schien die Kränkung des Schuldirektors sehr reizvoll, ja sehr hübsch zu finden. Sie erwähnten die Erde, den Erdball, sagte er. Ihre Kleinkinderschule legt sicherlich viel Gewicht auf die Neigungswinkel der Erde, leider aber trampeln die Menschen auf der Erde herum, ohne an diese Winkel zu denken. Ihre Kinder lernen von Sprachen und Kunst, lernen von Schiffen und Sternen, von Geld und Kriegen, von Elektrizität, Kalorien, Mathematik, Bäumen und Sprachen. Und Sprachen. Aber alles das hat ja an und für sich keinen reellen Inhalt, man kann nur einen Zustand, eine Lebeform darin etablieren, es ist mechanische Dressur ohne ethischen Wert. Aber nun das, was im Menschen wohnt, wie steht es damit, mit der Seele, der Natur selbst? Unsere Seele ist nicht reich im Verhältnis zu dem, was wir aus Büchern gelernt haben, aber gerade im Verhältnis zu ihr können wir Bücherweisheit entbehren. Das, was in uns wohnt, ist ja der Mensch selbst und ist ein Selbst.

Es mochte die Ungeduld des Schuldirektors sein, die den Selbstmörder immer schlimmer machte, er schien die Zuckungen im Gesicht des Gelehrten zu genießen und sagte: Ich sah, daß die Universität Ihnen voriges Jahr Beachtung geschenkt hat.

Wie?

Daß Sie zum Schulrat ernannt wurden.

Haha! lachte Direktor Oliver diesmal. Ja, die Universität hat mir wirklich voriges Jahr Beachtung geschenkt, zum Schulrat, haha! Mein Lieber, Sie sind ein köstlicher junger Mann!

Der Selbstmörder sagte: Ich würde an Ihrer Stelle diese Henkersarbeit an Kindern nicht angenommen haben. Ein Schulrat ist ja nur ein gewisses Höhenmaß von Schulfleiß, er sitzt da und fragt, wie die Italiener dies und jenes vor zweitausend Jahren nannten. Da steht der kleine Automat: der Schulrat wirft in seinen Schlitz eine passend schwere Frage, und dann beginnt er zu surren und zu laufen. Und dann hat er Examen. Ein Mann von Ihrem Namen, Ihrer Bedeutung, ein Offizier der Wissenschaft sollte sich nicht zu so etwas hergeben.

Na, ruft das Fräulein wieder vermittelnd aus, das ist aber kein Scherz mehr!

Aber der Schuldirektor scheint mißtrauisch zu sein und sagt nur: Sei es nun Scherz oder Ernst, mich macht es weder kleiner noch größer.

Im selben Augenblick kommt ein Mädchen und bestellt Fräulein d'Espard, daß ein Mann draußen stehe und mit ihr sprechen wolle, Daniel von der Sennhütte.

Es fuhr ein Zucken über das Gesicht des Fräuleins, als sie sich erhob und hinausging. Auch der Schuldirektor stand auf und verließ das Zimmer.

Daniel stand mit seinem kleinen Schlitten an der Treppe, er nahm die Mütze nicht ab, sondern sagte nur freundlich und vertraulich: Guten Tag! Wie ist es – ich dachte, ich könnte dich jetzt holen?

Mich holen?

Die Sachen holen. Kommst du nicht?

Ach Gott, er sprach so laut, der Junge, der Bursche! Sie warf einen verstohlenen Blick zum Haus hinauf; dort standen natürlich Gäste an den Fenstern, sogar Frau Ruben war auf die Beine gekommen, stand hinter einer Scheibe und starrte herunter.

Ja, gewiß komme ich. Jawohl! sagte das Fräulein. Aber ich habe noch nicht gepackt.

Ich kann warten, sagte Daniel.

Er war nun übrigens nett, und zu allem andern war er der, den sie haben sollte. Es geht erst morgen, mein lieber Daniel, sagte sie.

Na ja, sagte Daniel. Ich hatte ein Kalb hergebracht, und da dachte ich, daß ich dich gleich holen könnte. Das Kalb mußt du übrigens sehen, es ist ein feines Kalb, es steht im Kuhstall, komm, ich zeig' es dir!

Nein, jetzt nicht. Ich habe gerade etwas zu tun.

Na ja. Aber es ist ein extrafeines Kalb, das sagt der Schweizer auch.

Ich mache mich fertig und komme morgen, sagte das Fräulein.

Sie ging wieder hinein. Dieser Besuch war nicht amüsant, sie war froh, daß sie den Selbstmörder immer noch im Rauchzimmer sitzend fand, sie brauchte jemand.

Es war Daniel, er wollte meinen Koffer holen, sagte sie nur der Wahrheit gemäß. Aber ich kann doch nicht durchbrennen hier, nicht wahr?

Daniel möchte Sie wohl gern sobald als möglich haben, er denkt an das Monatsgeld.

Ja, da haben Sie recht.

Daniel hat seine Sorgen, wir die unseren. Daniel geht es sicher gut, er ist von hier, wohnt in den Bergen, arbeitet hier, lebt und stirbt zu seiner Zeit. Man sollte vielleicht so geboren sein wie er, Gott weiß, er braucht nicht zu fliehen. Er wird vielleicht nicht einmal von Liebe geplagt.

Das wird er sicher nicht.

Verdammt glücklicher Mensch!

Meinen Sie?

Nicht aus eigener Erfahrung, beeilte sich der Selbstmörder zu antworten. Das einzige, aus dem Menschen sich etwas machen sollten, ist Freude am Leben, Dankbarkeit für das Leben; aber die bekommt man nicht durch Liebe. Im Gegenteil, Liebe ist die Peitsche.

Oft ist es gewiß so.

Ein Mann wie Moß zum Beispiel – ich denke nur zufällig an ihn, aber er gehört nicht hierher, er hat andere Sorgen, jeder von uns hat die seinen.

Haben Sie Moß je eine Antwort auf seinen Brief geschickt? fragt das Fräulein.

Auf den unverschämten Brief? Nein, das habe ich nicht getan, noch nicht. Aber er kriegt schon noch eine Antwort, darauf kann er sich verlassen. Warum sollte er das letzte Wort behalten!

Nein. Aber er war doch ein sehr unglücklicher Mensch. Ich weiß nicht, sagt der Selbstmörder nachdenklich. Vielleicht war er unglücklich. Plötzlich beginnt er zu kichern und den Kopf zu schütteln: Aber das Eichhörnchen, das ich ihm schickte, das wird ihm wohl schweres Kopfzerbrechen gemacht haben, das glaub' ich gern! Aber ebenso schnell, wie er sich belebt hatte, wurde der Selbstmörder jetzt wieder niedergedrückt und düster. Sehen Sie diese Wunde! sagte er, und es war dieselbe kleine Wunde, die er dem Doktor gezeigt hatte. Diese lächerliche Abschürfung, dieser Riß beschäftigte seine Gedanken; er kratzte daran herum, blies unablässig darauf und erlaubte ihr nicht zu heilen. Was soll ich dabei machen? fragte er.

Ich finde, es ist nichts. Was sagt der Doktor?

Der Doktor, der Narr! Sehen Sie, es besteht dringend Gefahr, daß es Ansteckung ist.

Ach nein!

Dringende Gefahr. Ich erhielt meinen Ulster zurückgeschickt, und der war sicherlich nicht ordentlich gereinigt. Außerdem bekam ich ja den räudigen Brief von ihm. Ein solches Schwein, eine solche Schmeißfliege! Ging er nicht hier herum und atmete unsere Luft ein, redete mit uns und aß an unserm Tisch? Er hätte erschossen werden sollen. Obendrein hat er die Frechheit gehabt, mir noch einen Brief zu schicken.

Einen neuen Brief?

Einen neuen Brief; er kam vor ein paar Tagen.

Das haben Sie gar nicht erzählt.

Ich hab' den Brief natürlich nicht geöffnet, nicht angerührt.

Haben Sie ihn nicht gelesen? fragt das Fräulein erstaunt.

Der Doktor las ihn. Was glauben Sie, was er enthielt? Nicht ein wahres Wort, nur Lügen: er sagt, daß er gar keine Lepra hat; es hat sich gezeigt, daß es ein Irrtum war, sagt er.

Das Fräulein: So was hab' ich aber noch nie gehört!

Reiner Schwindel also. Er erzählt auch, daß er wieder etwas sehen und allein gehen kann.

Das Fräulein bricht aus: Es ist gut, daß etwas in dieser Welt wieder in Ordnung kommt!

 

Das war nicht die einzige Überraschung, die Fräulein d'Espard diesen Nachmittag erleben sollte. Eine der Damen kam zu ihr, eigentlich waren es zwei Damen, aber die eine blieb im Gang stehen. Diese Damen, die sie früher ausgeschlossen hatten, kamen jetzt mit einem Auftrag zu ihr: Ob sie nicht diese Decke kaufen wollte?

Fräulein d'Espard war sprachlos.

Ja, es verhielte sich so, daß sie sie Frau Ruben angeboten hätten, die habe sich aber nichts daraus gemacht, hätte das Muster nicht gemocht, ach, die Frau Ruben verstände sich ja auf nichts als auf Geld! Da habe Frau Ruben sie an Fräulein d'Espard verwiesen: sie sollte ja in die Sennhütte ziehen und könnte vielleicht die Decke brauchen.

Es war Doktor Öyens Tischdecke, das Weihnachtsgeschenk der Damen für ihn, für das er gedankt, vor Freude fast geweint hatte.

Ja, das Fräulein sei möglicherweise etwas verwundert –?

Ja, antwortete das Fräulein, das heißt, es ist vielleicht doch nicht so merkwürdig –

Nein, im Grunde nicht. Die Damen hätten ja viele Mühe und Auslagen gehabt. Sie habe auch ihren Zweck erfüllt und den Doktor bei gegebenem Anlaß erfreut. Aber jetzt sei Doktor Öyen tot und bald kämen wohl seine Verwandten, holten seine Sachen und teilten sich darein. Ja, das würde hübsch aussehen. Es gäbe wirklich keine unter den Damen, der daran gelegen sei, den Verwandten Doktor Öyens ein Geschenk zu machen, daher hätten sie sich die Tischdecke wiedergeholt.

Diese Begründung war so einleuchtend, daß Fräulein d'Espard darauf einging, sie nahm die Decke in die Hände, breitete sie aus und betrachtete sie. Ein wenig schmeichelte es ihr wohl auch, daß die Damen in dieser Angelegenheit gerade zu ihr kamen.

Nein, fuhr die Verkäuferin fort, es wäre etwas anderes gewesen, wenn die Decke den Besitzer in den Sarg hätte begleiten können und mit ihm beerdigt worden wäre.

Was wollen Sie für die Decke haben? fragt das Fräulein.

Die Dame ruft die andere Dame vom Korridor herein, sie war die Sekretärin des Unternehmens, die die Preise von Filz, Seide und Fransen notiert hatte. Die beiden Damen beraten sich, die Sekretärin macht geltend, daß der Betrag in viele Teile geteilt werden müßte, so daß nicht viel für jede bliebe.

Fräulein d'Espard kaufte die Decke.

So schnell wurde die Erinnerung an Doktor Öyen ausgelöscht. Doktor Öyen hinterließ keine Leere, er hatte zu wenig bedeutet, die Menschen krochen schon über seine Leiche hinweg. Wenn es sich nun auch zeigte, daß er sich in seiner Diagnose bei Anton Moß geirrt hatte, so – nun, es war wohl eine Ungerechtigkeit, den wohlwollenden Mann so schnell zu vergessen, aber eine verdiente Ungerechtigkeit. Es lag etwas wie Unwissenheit über Öyen, etwas Nichtsahnendes, er war ein Fisch auf dem Lande. Aber auch er hatte die Reise hier zur Erde gemacht, die Reise hin und die Reise wieder zurück.

 

Am nächsten Morgen brach Schuldirektor Oliver auf und reiste heim, mit demselben Zuge fuhren Frau Ruben, Bertelsen und der Rechtsanwalt. Frau Ruben ging es jetzt viel besser, sie aß und schlief, bekam frischere Farben und wieder ein wenig Fülle unter der schlaffen Haut. Sie war wieder gesund und hübsch geworden. Es war ein Wunder, wie diese merkwürdige Dame sich in kurzer Zeit umbilden konnte. Gute Rasse, zähe Rasse.

Spät am Nachmittage bezahlte Fräulein d'Espard ihre Rechnung im Sanatorium und ging in aller Stille nach der Torahus-Sennhütte hinüber. Sie wollte am Abend kommen, in der Dämmerung. Sie zwitscherte nicht, jubelte nicht, genierte sich im Gegenteil ein bißchen über sich selbst und ihre Wanderung, hatte aber trockene Augen. Natürlich war sie schlimm weggekommen, aber in der letzten Zeit hatte sie ihr Geschick ohne Kniefälle und Notschreie ertragen. Tränen und Gebete hatten sich als zwecklos erwiesen, sie wollte nicht wieder versuchen, die göttliche Maschinerie in Gang zu setzen. Abwärts gewandert? Jawohl, aber sie ging mit innerer Gehobenheit. Sie trug die berühmte Tischdecke unter dem Arm, sie wollte sie auf den Tisch legen und damit zugleich eine Fackel in Daniels neuer Stube entzünden. War das nicht ein recht guter Einfall! Sie mußte lächeln – vielleicht um nicht zu weinen. Ach, mit nassen Augen gesehen, würde ihr Geschick wohl düsterer erschienen sein.

Die letzten Wochen im Sanatorium waren nicht angenehm für sie gewesen. Sie verfiel auf verschiedene Kunststücke, stopfte sich hier aus, schnürte sich dort, hüpfte wie eine Bachstelze auf den Treppen, zeigte sich allen lachend und sorglos – mochten die andern Damen, die Drachen, nur zusehen, ob sie etwas Verdächtiges an ihr fanden! Aber es war eine Plage, ewig auf sich zu achten, sie setzte in anderer Beziehung dabei zu. Jetzt nutzte sie nicht mehr ihre Anziehungskraft auf die Herren aus, machte keinen Versuch mehr, die gähnende Zahnlücke in ihrem Munde zu verstecken, ihr junger Leib war unförmig geworden, sie durfte nicht mehr isoliert in einem Zimmer stehen und Mittelpunkt sein.

Und gestern war Daniel gekommen. Er hätte leicht alles verderben können, und sie dachte mit Befriedigung daran, daß sie ihm ohne die geringste Wut begegnet war. Da kam er anmarschiert wie irgendein Liebhaber, machte sie verlegen, schickte zu ihr hinein und rief Gesichter an die Fenster – sie war wirklich hinreichend freundlich und fremd gegen ihn gewesen und hatte ihn ›mein lieber Daniel‹ genannt, als sei er nur ein Nachbar.

Diese und ähnliche Dinge denkt sie und ist nicht mehr ernst und bedrückt. Bei dem kleinen Schober im Walde kommt Daniel zum Vorschein und steht ihr gerade gegenüber. Ich dachte mir fast, daß du um diese Zeit kommen würdest, und da ging ich dir entgegen, sagt er. Er hat den Schlitten mitgebracht und gedenkt gleich ihren Koffer zu holen. Was hast du unter dem Arm? fragt er, um etwas zu sagen.

Das solltest du nur wissen! antwortet sie.

Ihre Scherzhaftigkeit ermutigt ihn, das Paket zu betasten und nachzusehen. Plötzlich nimmt er sie in die Arme und trägt sie in den Schober –

So ein Bursche, geh, du bist toll!

Aber es war nicht unangenehm, einen Augenblick der Erde und allen Widerwärtigkeiten enthoben zu werden.

 

Sie trat ohne größere Vorbereitungen in ihr neues Leben auf der Alp und ließ sich auch nicht von der Verwunderung über das Ungewohnte in der Umgebung übermannen. Keine Umschweife, kein Getue, sie schlief wirklich gut in der Nacht bis tief in den Morgen des nächsten Tages hinein. Es war nicht zu leugnen, sie war in eine Art Hafen gelangt.

Sie ließ ihren Blick über die paar Dinge schweifen, die die Stube enthielt: außer ihrem Koffer das Bett, einen Tisch und ein paar Schemel, am Ofen eine weiße Schüssel mit Perlkante, das Waschbecken. Lächerliche Einrichtung, aber vollkommen sauber und nicht ohne Behaglichkeit, es waren Sennenverhältnisse. Und hier war eine gehaltvolle Stille ums Haus, Daniel war wohl ausgegangen, und wenn Marta sich am Herde in der Küche befand, so regte sie sich jedenfalls nicht hörbar. Als das Fräulein sich in der Perlschüssel wusch, bemerkte sie, daß ein Wassertropfen auf dem Ofen zischte – jawohl, es war Feuer im Ofen, die Stube war warm. Ach, diese Marta! Das Fräulein wollte ihr ganz besonders für diese Güte am ersten Morgen danken.

Daniel kam vor dem Fenster zum Vorschein, und sie winkte ihn herein. Daniel, sagte sie, was mußt du von mir denken, daß ich jetzt erst aufstehe!

Was solltest du tun, wenn du auf wärest? Ich war zufrieden, daß du noch lagst, sagte Daniel. Hast du gut geschlafen?

Wie ein Stein.

Wir haben ja versucht, es dir so angenehm wie möglich zu machen, sagte Daniel, wir haben die verschiedenen Sachen hereingestellt, die du vielleicht brauchst! Er sah sich stolz um, als enthielte die Stube eine unglaubliche Masse von Möbeln und Sachen; und – murmelte er – wenn ihr noch etwas fehle, so solle sie es nur sagen!

Ein prächtiger Junge, ein Eingesessener, naiv und unwissend, aber nicht unsympathisch; sie wurde ein bißchen gerührt über ihn und richtete es so ein, daß er sie küßte. Ich hab' dich lieb und ich muß dich haben, sagte er auf eine hübsche und echte Art zu ihr. Ja, das mußt du wohl, sagte sie auch. Und sie dachte wieder, daß dieser Daniel, wenn er ordentlich gewaschen würde, gar nicht so übel wäre.

Ja, hier ist nun deine Stätte, sagte er.

Wie?

Dein Heim. Torahus-Senne, Berg und Wald. Gefällt es dir hier?

Sie lächelte und antwortete, daß sie erst so kurze Erfahrung habe. Frag mich in einem Jahr!

Sie bekam Essen in ihr Zimmer und aß mehr, als sie für möglich gehalten hätte: es waren keine Konserven, sondern Gebirgskost, Geräuchertes. Was habe ich monatlich zu bezahlen? fragte sie. Es fuhr ihr aus dem Munde und zeigte, wie wenig sie sich mit ihrer neuen Rolle als Hausfrau hier vertraut gemacht hatte.

Daniel nahm es von der scherzhaften Seite: Haha, ja, frag nur! Und Marta, die völlig in das Verhältnis eingeweiht zu sein schien, lächelte auf eine stille Weise.

Sie gingen nach dem winzigen und warmen Kuhstall, Kühe und Schafe drehten die Köpfe nach ihnen um und sahen sie an. Dieser Ochse soll ein tüchtiger Kerl im Herbst werden, sagte Daniel und streichelte den Ochsen. Er ist anders geartet als der Mörder im vorigen Sommer, du kannst ihm unter dem Bauch hindurchkriechen.

Sie gingen zum Pferde. Daniel prahlte tüchtig mit diesem Pferdchen, einer Stute mit reinem Menschenverstand und mächtigen Kräften, es war nicht zu sagen, was für Lasten sie ziehen konnte. Sieh, wie blank ihre Augen sind, du kannst dich darin spiegeln. Armes Tier, du bekommst nachher Flachbrot! Als er das gesagt hatte, besann er sich plötzlich: Bleib hier stehen, Fräulein, wart' ein bißchen, ich hole nur schnell etwas Flachbrot, ich will sie nicht zum besten haben, die Ärmste! Er verschwand einen Augenblick und kam mit dem Flachbrot wieder, das er dem Pferde in Brocken gab.

Gib du ihr auch, Fräulein, sagte er.

Julie, verbesserte das Fräulein.

Gib es ihr und fühl', wie weich ihr Maul ist.

Erst als sie hinausgingen, kam er auf den Namen. Julie, sagte er, heißt du Julie? Ein extrafeiner Name, keine im ganzen Kirchspiel heißt so.

Sie gingen herum, er zeigte ihr alles, schlug sogar den Truhendeckel auf und sagte: Hier sind Laken. Hier sind Eßwaren. Aber hier ist übrigens Wolle. Gott sei Dank, wir haben doch auch Verschiedenes in den Bergen, hier ist Wolle für dich!

Ja, das sehe ich.

Er zeigte ihr seine beiden Gewehre an der Wand und erklärte ihr, daß die eine eine Schrotflinte, die andere eine Kugelbüchse sei, er zeigte ihr Stoffballen, Fries und weißes Gewebe für Unterzeug. Julie, sagte er, ich kann es gar nicht vergessen, es ist fast wie Samt, wenn man es sagt.

Auf französisch heißt es Schüli, sagte sie.

Was du alles kannst! antwortete er und wiegte den Kopf. Du bist es auch, die mir das Pferd verschafft hat.

Du hättest gewiß das Pferd auch ohne mich bekommen können.

Nun ja, freilich. Ich bin gut für ein Pferd und mehr dazu. Aber es half doch sehr, daß ich gleich mit dem Gelde kam.

So trat Julie d'Espard ihre Zukunft an.


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