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III

Im Torahus-Sanatorium ging alles seinen Gang. Es ging vielleicht nicht alles, wie es sollte, mit Glanz und voller Musik und Verzinsung der Gelder, aber das war im Anfang auch nicht zu erwarten, das kam schon noch. Die Verwaltung hatte den besten Willen, einer guten Sache zu dienen, der Doktor war herzensgut und nahm Anteil am Wohlbefinden aller, die Wirtschafterin war eine Dame, die Erfahrung in Haushalt und Krankenpflege hatte, der Inspektor ein alter Seemann, ein ganzer Kerl, der bei jedem Kartenspiel mit dabei war und sogar ein Gläschen mit den Gästen trank, wenn sie einer Aufheiterung bedurften.

Und nun Rechtsanwalt Robertson, der neben dem Doktor der Mann fürs Ganze war: ja, er kam häufig nach Torahus herauf, besichtigte das Etablissement und ging die Bücher durch, denn er war der Oberleiter. Ein guter Kopf, ein hervorragender Mann, er grüßte die Dienerschaft zuerst, obwohl er doch der Herr war, machte sich den Gästen gegenüber nicht breit, sondern trat vor ihnen beiseite und hielt den Damen die Türen auf.

Das letztemal kam er in feiner Gesellschaft ins Sanatorium, nämlich mit der Gattin eines englischen Ministers und ihrem norwegischen Dienstmädchen. Rechtsanwalt Robertson verbeugte sich tief, ordnete Zimmer an, erteilte den Kellnern Befehle und tat alles mögliche für die Ministersgattin. Sie nahm ihrerseits jede Aufmerksamkeit als eine Selbstverständlichkeit entgegen und dankte dementsprechend. Sie war eine Dame in reiferem Alter, von ihrem Manne geschieden, aber noch mit unverbrauchten Reserven, Puder im Gesicht, strammem Korsett und Lächeln. Der Rechtsanwalt war stolz auf diesen Gast und bat die Wirtschafterin, gut für sie zu sorgen, sie sollte nur das norwegische Mädchen, ihre Dolmetscherin, fragen, ob sie etwas wünsche. Nicht, daß der Lady etwas fehlte, sie war nur eine feine Dame, die diesen Gebirgsaufenthalt in Norwegen ausfindig gemacht und, nach ihrem Gepäck und Schmuck zu urteilen, auch das Geld dazu gehabt hatte. Dem mochte nun sein wie ihm wollte, Rechtsanwalt Robertson sprach jedenfalls auch mit dem Doktor über sie: er müßte sich um sie kümmern, sie wäre ein Magnet, der viele Gäste ins Sanatorium ziehen würde, ja, der Rechtsanwalt ging so weit, daß er sogar den Inspektor anwies, den Hut abzunehmen und barhaupt dazustehen, wenn die Ministersgattin in den Wagen stieg. Und Inspektor Svendsen, dieser Bursche, war Matrose gewesen und konnte »Myladys« Sprache. Very well! sagte er.

Damit war Rechtsanwalt Robertson für diesmal fertig.

Da kam Selmer Eyde, der Pianist, und bat, vor seiner Abreise ein paar Worte mit ihm sprechen zu dürfen. Oh, der Herr Rechtsanwalt wußte gut, was Eyde wollte, aber er antwortete dennoch: Bitte sehr, Herr Eyde!

Sie traten beiseite, und der Pianist brachte sein Anliegen vor: es war das alte Lied, daß es keinen Zweck für ihn hätte, hierzubleiben, er wollte und müßte hinaus, die Tage und Wochen verstrichen, und er käme nicht nach Paris. Wüßte der Herr Rechtsanwalt auch jetzt keinen Rat für ihn?

Nach Paris, ja. Ich wiederhole, daß ich das verstehe. Gibt es denn hier niemand, an den Sie sich wenden könnten? Aber im Laufe des Sommers kommt schon jemand, an solchen Ort wie hier kommen wohlhabende Leute, verlassen Sie sich drauf.

Ich habe schon an Herrn Bertelsen gedacht, sagt der Pianist.

Haben Sie mit ihm gesprochen?

Nein. Es war nur so ein Einfall.

Ja, doch. Warten Sie bis zum Herbst, es findet sich schon ein Ausweg, das weiß ich.

Und obwohl der Rechtsanwalt so aussieht, als wüßte er vieles und wollte es nur nicht sagen, unterbricht Herr Eyde ihn ungeduldig: Nein, es sind noch Monate bis zum Herbst, und ich muß jetzt fort, die Zeit läuft.

Jetzt? Nein, tun Sie das nicht. Wissen Sie, wer gerade angekommen ist? Eine englische Ministerlady. Sehen Sie, das ist ein Publikum, vor dem zu spielen sich lohnt! Sie ist imstande, sich für Sie zu interessieren.

Engländer machen sich nichts aus Musik, sagt Herr Eyde patzig.

So? Na, es würde hübsch aussehen, wenn Sie gerade jetzt, da sie kommt, abreisen wollten. Vielleicht äußert sie direkt den Wunsch nach Musik, und dann sind Sie fort.

Es sind wohl noch ein paar Damen hier, die klimpern können.

Ja, aber soweit ich sie verstanden habe, will sie sicher gute Musik haben. Hören Sie, sagt der Rechtsanwalt plötzlich, es ist also abgemacht: Sie bleiben bis zum Herbst, dann gibt Ihnen hier einer im Sanatorium ein Stipendium.

Wer? fragt der Pianist plötzlich belebt.

Der Rechtsanwalt antwortet: Ich sollte es Ihnen eigentlich nicht sagen. Aber sprechen Sie nur mit Herrn Bertelsen. Sie wissen, wer Herr Bertelsen ist, Firma Bertelsen & Sohn, ein sehr reicher und kunstsinniger Mann. Grüßen Sie ihn und sagen Sie ihm, daß Sie mit mir gesprochen haben.

Wie konnte es sein, daß Rechtsanwalt Robertson mit diesem Klavierspieler verhandelte, als sei er das unentbehrlichste Dienstmädchen? Der junge Mann mußte ja selbst den Eindruck bekommen, daß er etwas Ungewöhnliches, etwas einzig Dastehendes, etwas ohnegleichen auf dieser Erde war. Er war aufdringlich, sein Ton merkwürdig familiär, als wäre ihm mehrmals etwas versprochen, und er hätte es nicht erhalten. Und der Rechtsanwalt hatte es sich gefallen lassen. Wenn etwas dahintersteckte, so wurde es jedenfalls nicht aufgeklärt, denn jetzt reiste der Rechtsanwalt ab.

Es steckte wohl doch nichts dahinter, Rechtsanwalt Robertson machte wohl nur Redensarten und glitt darüber hinweg, um sich nicht zu streiten, nicht einmal mit dem Musiker des Sanatoriums. Er hatte dies unverschämte Bürschlein ausfindig gemacht und wollte sich die Unannehmlichkeit eines Wechsels ersparen. Der Rechtsanwalt war der geborene Wirt, ein glatter, wohlwollender Mitmensch.

Als er schon im Wagen saß, wurde er noch einmal herausgerufen und mußte helfen, ein paar Sachen zu ordnen: es galt die Post für die Gäste, sie mußten einen festen Briefträger mit Mützenband haben, und die Kegelbahn, die sich auf dem feuchten Boden schon geworfen hatte, mußte wieder in Ordnung gebracht werden. Es war darüber geklagt worden.

Aber dann reiste der Rechtsanwalt ab.

 

Es waren erst zwölf bis fünfzehn Gäste auf Torahus, so daß man noch keine Verwendung für den großen Speisesaal mit langen Tischen für achtzig Personen hatte. Das kam später. Die Mahlzeiten wurden im Damensalon eingenommen, einem Raum, in dem die Damen sich doch nie aufhielten, weil sie das Rauchzimmer der Herren vorzogen. Dort saßen sie lieber, tranken ihren Kaffee, guckten in eine Zeitung und hüstelten im Rauch. Mylady, wie sie genannt wurde, hielt sich dagegen ganz abseits, und da sie auch zu andern Zeiten als die übrigen aß, sah man nur wenig von ihr. Sie aß Mittag, also »mitten am Tage«, um acht Uhr abends, trank Tee zu allen Tageszeiten, und ihre Kost bestand hauptsächlich aus Schinken und Eiern mit geröstetem Brot.

So wimmelten denn diese zwölf bis fünfzehn Menschen während ihres Aufenthaltes durcheinander, schwatzten das Notwendigste und machten sich gegenseitig Mitteilungen über ihre Krankheiten. Oh, umsonst versuchten sie es nicht mit der Gebirgsluft, sie hatten keine andere Wahl, hatten vorher schon alles mögliche versucht. Einer litt am verdorbenen Magen und nahm Pillen und Gesundheitssalz bei jeder Mahlzeit, ein anderer hatte Gicht, ein dritter Wunden im Gesicht, ein vierter spuckte Blut. Wenn sie ins Freie gingen, staffierten sie sich jeder auf seine Weise aus, einige sorgten für die Brust, andere für den Rücken, wieder andere für die Füße, sie trugen Tücher hier und Pelze da, einige hatten schwarze Frostfutterale über den Ohren, andere blaue oder graue Brillen vor den Augen. Alle schützten sich, keiner wollte sterben.

Aber doch: einer wollte sterben. Man mußte ihn ein bißchen im Auge behalten, denn er hatte eine gewisse Neigung zum Selbstmord. Ein Bursche, der zuweilen lebhaft und schlagfertig, dann wieder in Schweigen und Grübeln versunken war; der Doktor mußte ab und zu ernsthaft mit ihm reden. Eigentlich hätte er lieber in einer richtigen Anstalt sein sollen, aber er hatte Geld und konnte bezahlen. Der Doktor glaubte übrigens nicht, daß er Hand an sich legen würde.

Es war nichts Hübsches an diesem Mann, er war unvollkommen: breit über den Schultern, aber mit schwächlichen Beinen, er sah aus, als wäre er das Produkt eines Schülers, eines Lehrlings im Fache, und eines Dienstmädchens. Sein Geld hatte er geerbt. Die Gäste nannten ihn nur den Selbstmörder. Sprach der Doktor mit ihm, so blieb er die Antwort nicht schuldig. Anfangs meinte der Doktor, er könnte ihn wie die andern leicht und scherzhaft behandeln, aber das mußte er bald aufgeben.

Es wird gehen, sagte der Selbstmörder und nickte.

Was wird wohl gehen? fragte der Doktor.

Ich denke nur an etwas. Es wird mir schon gelingen, wenn nicht heute, dann morgen.

Meinen Sie den Selbstmord?

Ja, natürlich. Davon sprachen wir ja. Es wird schon gehen.

Der Doktor lächelte und fragte: Sie meinen, Sie könnten sich daran gewöhnen?

Der Selbstmörder meinte ruhig, dies sei etwas, wovon der Doktor nichts verstehe. Ich suche nach einer gültigen Form dafür, sagte er. Ich gehe doch nicht einfach hin und nehme mir so ohne weiteres das Leben.

Da haben Sie ganz recht!

Der Selbstmörder blickte ihn wütend an: Hören Sie auf, Herr Doktor! Wollen Sie mit Ihrem Weiberverstand mitreden über geheime Dinge? Das ist kein Kunststück, sich einen Strick um den Hals zu legen; ist Ihnen aber je eingefallen, daß ein Selbstmord den Mord entehren kann?

Zu dieser verblüffenden Frage schwieg Doktor Öyen.

Sehen Sie, das verstehen Sie nicht, daß der Gedanke einen zurückhalten kann. Sich aufzuhängen, dazu gehört ja nichts, das kann man ganz alleine machen. Das könnten Sie sogar.

Nein, ich danke.

Sie könnten doch die Handgriffe machen. Sie brauchten nicht mal zu zielen.

Aber sagen Sie, meinte der Doktor und versuchte gewichtig zu sprechen, könnten Sie diesen Unsinn nicht ganz aufgeben, Herr Magnus? In dem bißchen Sterben steckt mehr, als Sie vielleicht glauben, wir Ärzte haben genug davon gesehen.

Der Selbstmörder behauptete augenblicklich: »Wir Ärzte« haben nicht das geringste von dem gesehen, was ich meine.

Ja, was wissen Sie denn eigentlich davon, was Sterben heißt?

Nein, antwortete der Selbstmörder, aus eigener Erfahrung nichts.

Und er beendete das Gespräch mit einer Handbewegung.

Es sah aus, als amüsierte er sich über seine Antwort. Es ist auch gut möglich, daß sein Gerede, der Selbstmord entehre den Mord, nur Bluff war, ein Vorwand, um das Aufhängen bleiben zu lassen. Überhaupt klang die Rede des Selbstmörders nicht ganz aufrichtig, sie war zu forsch. Aber er machte doch auch einen Eindruck von Zerquältheit, sein junges Gesicht war von Grübeln und Leiden verheert.

Die Patienten hatten nichts zu tun, sie waren darauf angewiesen, die Umgegend zu durchwandern und Plakate und Wegweiser zu studieren, zusammen bei einem Glase Selters mit Schuß zu sitzen oder auf einer der langen Veranden in der Sonne zu liegen und über ihre Leiden zu brüten. Sie waren stets auf der Jagd nach Sympathie bei anderen, und es pflegte nicht lange zu dauern, bis die richtigen Menschen sich fanden und wie alte Bekannte wurden. Au, konnte der eine sagen, wenn mich der liebe Gott doch von dieser Gicht befreien möchte! Ja, Gicht ist nicht schön, konnte ein anderer antworten, es ist eine der schlimmsten Plagen, die es gibt! Das half, das linderte, und nun kam der andere an die Reihe, um sich sein Mitleid zu holen.

Sie hatten nicht viele Eigentümlichkeiten an sich; Patienten sind immer gleich. Der Selbstmörder war vielleicht der seltsamste. Eine andere merkwürdige Gestalt war übrigens der mit den Wunden im Gesicht. Seine Wunden waren erst kürzlich aufgebrochen, es waren Löcher und harte Knoten auf der Haut, die näßten und zu Wunden wurden. Wenn diese Wunden an der einen Stelle heilten, brachen sie an einer andern wieder auf. Zuletzt hatten sie sich auf die Augen, sogar auf die Augäpfel selbst, geschlagen, es schien, als sei sein ganzer Körper mit Gift infiziert. Der Mann war von gleichem Alter wie der Selbstmörder, auch er noch jung, unter dreißig, und die beiden hatten sich zusammengetan.

Der Mann mit den Wunden war auch kein Dummkopf, er konnte sich auch lustig machen, sowohl über die andern Gäste, wie über sich selber und seine Wunden. Er war der Sohn eines Auktionators, wie er sagte, und es ging ihm nicht besonders gut, aber er bezahlte im Sanatorium, soweit war alles in Ordnung, und nicht selten erhielt er von seinem Vater einen Brief mit einem Extra-Zehnkronenschein; der sollte zum Kartenspielen sein. Da ging er nun wie die andern und hütete sein Leben mit Gebirgsluft und Doktoraufsicht, reichlich unelegant gekleidet, in einer braunen Joppe und einem Sportshemd, das über der Brust mit einem gelben Schuhband zusammengeschnürt war; das Schuhband hatte Zwingen an den Enden. Er hieß Anton Moß. Er beschuldigte den Selbstmörder, daß er zuviel trinke, obwohl der arme Teufel nie etwas trank als hin und wieder ein Glas Selters mit Schuß.

Wie können Sie glauben, Ihre fixe Idee loszuwerden, wenn Sie trinken? sagte Moß.

Der Selbstmörder war sehr reizbar, er antwortete ärgerlich, daß er erstens keine fixe Idee hätte, sie zweitens nicht loswerden wollte und drittens nicht tränke. Kümmern Sie sich nur um Ihre Räude und Unsauberkeit und schweigen Sie! sagte er.

Mein Ausschlag steckt nur in der Haut, aber Sie sind inwendig krank.

Mir fehlt nichts.

Nein? Weshalb sind Sie dann hier?

Schweigen Sie!

Es muß irgend was nicht in Ordnung sein mit Ihrem Kopf, Ihrem Gehirn.

Haben Sie keine Scham im Leibe! rief der Selbstmörder. Mit Ihrem eigenen Kopf ist etwas nicht in Ordnung. Sehen Sie nur in den Spiegel!

Moß wurde auf einmal ruhig, er senkte sein verbeultes Gesicht auf den Tisch und schwieg einen Augenblick. Einen Augenblick – dann war er wieder der alte. Ich habe sozusagen nur eine einzige Wunde, die nicht zuheilen will, und das ist die hier! sagte er und zeigte einen verbundenen Finger.

Der Selbstmörder betrachtete mit Widerwillen den Finger und trank aus seinem Glase.

Das ist gewissermaßen meine Fest- und Lieblingswunde.

Haha! lachte der Selbstmörder.

Es würde mir etwas fehlen, wenn ich diese lebenslängliche Bandage nicht um den Finger hätte. Soll ich sie abnehmen und Ihnen zeigen?

Der Selbstmörder schielte nach dem entsetzlichen Verband und mußte schleunigst wieder trinken.

Moß fuhr fort: Sie wollen beachten, daß dies kein gewöhnlicher Lappen ist, ich habe ihn von meiner Mutter bekommen. Sie hat die größten Ausgaben nicht gescheut: er ist aus Seide, ursprünglich roter Seide. Jetzt ist er ein bißchen verblichen; jawohl, ich verbleiche, Sie verbleichen. Sie sehen übrigens heute glänzend aus, Sie müssen ausgezeichnet geschlafen haben.

Diese kleine Anerkennung schien eine gute Wirkung auszuüben, der Selbstmörder nickte: ja, er hatte ausgezeichnet geschlafen. Sie begannen vernünftig über diese ewigen Wunden zu reden, was konnte das für eine Art Hexerei sein? Es sah häßlich aus. Jetzt bluteten ja die Ohren.

Hier nickte Moß, daß die Ohren bluteten. Er hätte wohl heute nacht den Schorf abgerissen, meinte er.

Bekam er denn keine Salbe?

Doch, Moß bekam Salbe. Im übrigen war dies jedoch ein Fall, bei dem der Doktor die sogenannte exspektative Methode anwenden wollte. Er wollte abwarten. Aber ja, Moß bekam Salbe, rein heraus, Vaseline.

Das ist ja merkwürdig.

Ja, aber es zeigte, wie unschuldig die ganze Sache war. Es sollte ursprünglich daher kommen, daß er gegen den Wind geniest hatte.

Haha! lachte der Selbstmörder. Wollen Sie eine Selters mit Schuß?

Ja, ich danke.

So zankten sich die beiden Männer oft und vertrugen sich wieder. Sie erzürnten sich nie im Ernst und konnten sich nie lange entbehren. Hin und wieder hatte sich Anton Moß, wenn er des Morgens aus seinem Zimmer herunterkam, das Gesicht in der Nacht besonders schlimm zugerichtet, aber er war doch gutgelaunt, und traf er dann den Selbstmörder, so konnte er sagen: Na, heute nacht haben Sie es auch nicht getan?

Schweigen Sie!

Nein, es ist nicht so leicht, sich aufzuhängen. Erst müssen Sie einen starken Haken finden.

Sie traten auf die Veranda. Dort waren schon einige, darunter die Dame, die immer etwas zwischen den Händen drehte. Sie drehte ihr Taschentuch und ihre Handschuhe, und alles, was sie in die Hand nahm, zwirnte sie zu einem Strick zusammen. Es war Nervosität mit Methode. Sie dachte vielleicht gar nicht daran, wie lächerlich und unnütz ihre Mühe war, aber fleißig war sie, als gälte es eine wichtige Arbeit. Bekam sie nichts anderes zu fassen, so drehte sie ihre Finger, daß sie knackten.

Anton Moß sagte zum Selbstmörder: Gehen Sie zu der Dame und sagen Sie ihr, daß sie aufhören soll.

Ich? Nein.

Das würde ihr eine Weile helfen. Es tut mir leid um sie.

Gehen Sie selbst! sagte der Selbstmörder.

Frau Ruben trat auf die Veranda heraus, suchte sich den breitesten Korbstuhl aus, setzte sich hinein, ließ sich darin nieder. In Algier wäre sie die Schönheit selbst gewesen, sie hatte einen herrlichen dunklen Blick und war so unmenschlich dick. Ihre fetten dunklen Finger mit den Brillantringen schienen knochenlos zu sein.

Wollen Sie gehen? fragte sie die Dame, die ihre Handschuhe drehte.

Ja, wenn ich Begleitung finde. Kommen Sie mit, Frau Ruben?

Ich kann leider so schlecht gehen.

Sie sind doch viel schlanker geworden, Frau Ruben.

Finden Sie? Ja, mir kam es selbst so vor, als ob ich abgenommen hätte, als ich mich jedoch gestern wog, war es genau dasselbe. Aber das könnte ja davon kommen, daß ich dicker angezogen war, schwerere Stiefel trug. So, Sie finden wirklich, daß ich dünner geworden bin, Fräulein?

Ganz bestimmt. Das kann jeder sehen. Ich finde, Sie sollten mitgehen, Frau Ruben.

Nein, wie würde das aussehen! So ein frisches junges Mädchen soll mich nicht schleppen. Herr Inspektor, kommen Sie doch mal her! rief sie.

Der Inspektor kam, nahm den Hut ab und fragte: Konnten gnädige Frau heute nacht schlafen?

Nein, antwortete Frau Ruben. Heute nacht so wenig wie sonst.

Ging es nicht besser?

Besser? Wie sollte es besser gehen? Und ich muß Ihnen sagen, ich vertrage auf keinen Fall diese haarsträubende Angst des Nachts. Das tue ich nicht.

Nein –

Nein. Aber heute nacht wirtschafteten die Dienstmädchen auf dem Boden über mir. Ich dachte, es wären Wilde.

Nein, aber, gnädige Frau –

Wie, Sie sagen nein? Sie wollen also leugnen? Aber Sie sollen doch wissen, daß ich von dem Lärm auf dem Boden jederzeit sterben kann. Ja, und ich habe wieder nicht ein Auge zugemacht vor dem Lärm auf dem Boden.

Nun hatten zwar keine Dienstmädchen auf dem Boden, von dem Frau Ruben sprach, geschlafen, dort wohnte überhaupt niemand; aber der Inspektor war schon durch Erfahrung klug geworden, und sobald er zu Worte kam, erklärte er nur kurz und gut, daß die Dienstmädchen jetzt umgezogen seien.

Sind sie wirklich umgezogen? fragte die gnädige Frau.

Gestern, sie wohnen in der Dependance, in dem Gebäude drüben.

Nun, und dann?

Der Inspektor schwieg.

Aber jetzt war Fräulein d'Espard hinzugekommen, das schändliche Fräulein d'Espard, das ein unsympathisches Geschöpf war und nur Anziehungskraft für Herren besaß, ja, sie war hinzugekommen und hörte den Wortwechsel mit an. Wie – wie –? sagte sie verwirrt.

Frau Ruben maß sie mit den Blicken: Was meinen Sie?

Ich meine nur – der Herr Inspektor versteht Sie wohl nicht. Daß Sie heute nacht nicht schliefen, wenn die Dienstmädchen gestern umgezogen sind?

Frau Ruben dachte nach. Ja, dann war es gestern nacht, sagte sie. Aber geschlagen war sie nun doch. Eine andere würde vielleicht ihre Zuflucht zu Tränen genommen haben, das tat Frau Ruben nicht, aber sie wurde dunkelrot im Gesicht. Und nun geschah es, daß die Dame, die ihre Handschuhe drehte, sich erhob und ihr half. Entschuldigen Sie, sagte sie, aus Ihrem Stuhl guckt ein kleiner Nagel heraus, an dem ich mir heute meine Bluse zerrissen habe. Da ist er.

Danke, sagte Frau Ruben. Aber jetzt hatte sie sich erholt und rief dem Inspektor nach: Sie haben also wirklich die Mädchen umziehen lassen?

Sie sind umgezogen, antwortete er.

Das war auch höchste Zeit!

Jeder hatte also genug mit sich zu tun, mit seinen Zwangsvorstellungen, eingebildeten Leiden und wirklichen Krankheiten. Ach, alle Krankheiten waren echt genug, alles war Leiden und alles gleich unheilbar. Es war ein Jammer, diese Sammlung von Gebrechlichkeit in allen Variationen zu sehen.

Die Dame sitzt wieder da und dreht ihre Handschuhe. Sie scheint Anton Moß leid zu tun, und er sagt: In dem Augenblick, als sie mit Frau Ruben sprach, hörte sie auf, und jetzt dreht sie wieder. Nein, wie ich aussehe, kann ich nicht mit ihr reden. Aber Sie könnten es tun!

Das ist gleichgültig, antwortet der Selbstmörder kurz. Jetzt sitzt er da und brütet und brütet, er hat wieder eine seiner dumpfen Stunden, es ist lächerlich, sich etwas vorzunehmen, unnütz, etwas mit den Händen zu tun, sich zu erheben, zu sprechen. Schweigen Sie! sagt er zu Moß.

Moß sagt: Sehen Sie sich den Mann an, der dort kommt!

Der Selbstmörder blickt nicht auf.

Es ist Herr Fleming, der brustkranke Finne, der feingekleidet, hohlbrüstig, auf die Veranda heraustritt und Fräulein d'Espard und die andern grüßt. Er mag kaum eine gute Nacht gehabt haben, der Schatten unter seinen Augen ist sehr dunkel, aber er erträgt es mit Anstand, lächelt, ist höflich gegen den Pianisten und bietet ihm aus einem kostbaren Etui eine Zigarette an.

Jetzt kommt Fräulein d'Espard und reicht ihm die Hand, Herr Fleming nimmt sie, unterbricht aber sein Gespräch nicht. Guten Morgen, grüßt sie. Guten Morgen, antwortet er.

Herr Fleming ist brustkrank und leicht erregbar, er kennt Fräulein d'Espard jetzt gut und braucht sich ihr nicht erst besonders vorzustellen. Er rechnet mit ihrer Nachsicht, um die er sie übrigens gebeten hat. Oh, er wollte sie nicht verlieren, sie war ihm durchaus nicht etwa unnötig, sie war die einzige, für die er etwas übrig hatte, aber sie machte sich nicht rar, er brauchte sie nie aufzusuchen, und die Folge war, daß er ihr zuweilen – wie jetzt, wenn er eine schlaflose Nacht gehabt hatte – seine schlechte Laune zeigte. Nicht, daß er sie sein Mißfallen nicht auch hätte fühlen lassen, wenn sie nicht auf der Veranda zu sehen gewesen wäre, als er heraustrat. Was sie auch tat, war verkehrt, denn er war brustkrank und reizbar. Ein prächtiger Mensch, dieses Fräulein d'Espard, das ihn zu jeder Zeit ertrug.

Sie schritten zusammen die Treppe hinab und verließen das Sanatorium.

Wo gingen sie hin? Wieder zu Daniel, wie fast jeden Tag? Was wollten sie dort?

Es war ein Einfall von Herrn Fleming. Er wollte zu Daniel und seiner Sennhütte, die so klein und übersichtlich war: man mußte sich bücken, wenn man zur Tür hineintrat, und drinnen waren ein Bett, ein Tisch, ein paar Stühle und eine Grube, über der gekocht wurde – Steinzeit. Bitte, wollten die Dame und der Herr nicht lieber in die neue Stube treten? Nein, danke, der brustkranke Gutsbesitzer zog diese alte Sennhütte vor. Hier setzte er sich auf den Holzstuhl und bekam Milch in einem dicken Glase oder saure Milch in einer Holzsatte; das schmeckte nach Kindheit und Ursprünglichkeit, das schmeckte sogar der Dame, die aus der Stadt war, Schreibmaschine schrieb und Französisch konnte. Sie sprachen zusammen, Daniel und seine Haushälterin einerseits und die beiden Gäste vom Sanatorium andererseits, ein wenig Geplauder, eine gesegnete Harmlosigkeit bezüglich der Rätsel des Lebens. Es waren nicht viele Gedanken, die sich kreuzten, es war leicht, hier zu sitzen und das Nötige von Wind, Wetter und Wegen zu reden. Welch ein Unterschied gegen heute nacht, als man vor Grübeln nicht schlafen konnte: Wo läuft der Weg? Nirgends. Aber wo läuft denn der Rückweg? Nirgends.

Er bezahlt, bezahlt gut für die Milch und möchte auf saure Milch abonnieren. Herzlich gern! Er macht sich im Hause beliebt durch nettes Benehmen und Geldstücke. Dürfe er jeden Tag wiederkommen? Hier sei es ihm gerade recht. Ich möchte euch nicht vertreiben, sagt er dann, aber laßt mich ein wenig allein hier drinnen. Ich möchte hier am Tische sitzen, über etwas nachdenken und vielleicht nach Hause schreiben. Gnädiges Fräulein, Sie erklären es ihnen wohl!

Er bleibt allein, und als hätte er es sich so ausgedacht, beginnt er sich zu entkleiden. Dabei weint er vor Sentimentalität und Verkommenheit, er ist krank und übernächtig. Ist er es, der hier steht? Dann hat ihn wohl der rechte Instinkt fortgeführt von den Menschen und den großen Gebäuden, zurück zum Versteck und zur Höhle wieder.

Da lächelt er, lächelt und weint, ach Gott, wie schwach und herunter er ist! Aber hier ist Heilung in der Stubenluft selbst, Bakterien von einer freundlichen Art sitzen vielleicht in den alten Wänden, Gott weiß, ein Schlafmittel, Gärpilze, rote Blutkörperchen, Gesundheit und Leben.

Es stört ihn nicht, daß das Fenster der Hütte keine Gardinen hat, er legt sich in seinem blauseidenen Unterzeug unter die Felldecke.

Und wirklich, Fräulein d'Espard erklärt den Leuten, was für ein Mann das ist: ein großer Graf aus einem Schlosse, er kann Französisch, ja, sogar Russisch, er ist nur ein bißchen nervös geworden, aber das geht in einiger Zeit vorüber. Habt ihr den Ring an seinem Finger gesehen? Daniel, dann brauchtest du dein ganzes Leben nicht mehr zu arbeiten! Was sollte ich denn tun? fragte Daniel verständnislos. Nein, das verstand er nicht.

Die junge Dame schlendert mit Daniel zur Arbeit hinaus und sieht zu, wie er einen Zaun zieht. Ja, erklärt er, die Zäune werden nie hoch und stark genug, sie sind ein ewiger Verdruß, die Ziege klettert drüber, die Kuh springt drüber, und das Schaf zwängt sich hindurch! Er gibt diese Erläuterungen in einem scherzhaften und etwas überlegenen Tone, auch er will zeigen, daß er etwas kann, nicht so feine Sachen wie sie, nein, nein, aber das, was er können muß, das kann er gründlich. Er läßt durchblicken, daß es keinen Mann unten im Kirchspiel gibt, der ihn betreffs des Betriebes dieser Senne etwas lehren kann. Er redet gern über seinen Besitz, die Torahus-Senne, Berg und Wald, wie er sagt: das alles rings ist sein. Alles? fragt sie überwältigt, und sie redet ihm nach dem Munde und sagt: Großer Gott! – Nun hat er Blut geleckt und schwatzt weiter. Der einsame Bursche hat ja nicht viele, mit denen er sich hier auf seinem Berge aussprechen kann, und er benutzt diese seltene Gelegenheit, um seine Zunge zu gebrauchen, antwortet willig auf all ihre freundlichen Fragen.

Es ergötzt die junge Dame, ihm zu lauschen, er redet so komisch. Zudem ist er mutig, er hat sich die Hand verletzt und lacht darüber. Das Fräulein kann nichts Lustiges an seiner verletzten Hand finden, und da lacht er noch mehr. Da sie sich nun einmal für solche Lappalien interessiert, erzählt er ihr, wie die Hand zwischen zwei Steine in der Einfriedigung geriet und blau und blutig geklemmt wurde. Es hätte viel schlimmer kommen können, aber er verhütete das Unglück mit der andern Hand und dem Knie. Ach, so etwas geschah oft bei der Arbeit draußen.

Er wollte sich nicht überheben, Daniel, und vielleicht überhob er sich auch gar nicht, sondern war nur dankbar, daß er einen Zuhörer hatte. Er irrte sich wohl auch, wenn er glaubte, daß sie ihm um seinetwillen zuhörte, sie tat es natürlich nur, damit der Patient in der Hütte Frieden haben konnte. Sie war ein paarmal ans Fenster gelaufen, hatte ihn aber nicht gesehen; als sie schließlich das Gesicht an die Scheibe drückte, entdeckte sie, daß er im Bett lag und schlief. Sie kehrte zu Daniel zurück und plauderte weiter mit ihm. Daniel ging in Hemd und Hose, mit elenden ledernen Trägern über den Achseln und Holzpantoffeln ohne Strümpfe; das war alles, was er anhatte. Er war zäh bei der Arbeit, ein Stein war ein Stein, und er ließ ihn nicht liegen, weil er ein bißchen schwer war. Plötzlich rissen seine Hosenträger. Das machte auch nichts, er knöpfte sie nur ab und behalf sich mit dem einen Strang. Fräulein d'Espard sah zu, und ihr gefiel seine Geistesgegenwart. Denk, wenn solch ein Bursche gut gewaschen war! Der Mund war zu groß, aber er hatte schöne Zähne, das Haar auf seinem Kopf war dicht, wenn auch fettig und unsauber. Gott weiß, in Frack und weißer Binde sah er wohl wie ein Affe aus.

Die Haushälterin kommt mit allen Zeichen der Verwirrung. Er hat sich in dein Bett gelegt! sagt sie. Daniel blickt auf.

Ausgezogen und hineingelegt! sagt die alte Magd.

Fräulein d'Espard tut auch verwundert: Oh, dann ist er sicher sehr müde gewesen!

Daniel fängt an zu lachen, aber die Haushälterin murrt ein wenig: Kein Lachen und nichts!

Das macht nichts, sagt Fräulein d'Espard, laßt ihn nur liegen, er muß todmüde gewesen sein.

Die Haushälterin geht.

Aber er hätte sich doch in der neuen Stube hinlegen und ein Laken bekommen können, sagt Daniel auch. Ich habe doch Laken auf dem Hofe, fügt er hinzu. Er ist nicht verwirrt, ärgert sich nicht über das Geschehene, aber er will zeigen, daß er mehr als ein Laken besitzt. Oh, Daniel ist nicht arm, er ist zufrieden. Von früher her kennt er den ruinierten Hof seines Vaters, jetzt weiß er, was er selbst hat, und das ist genug in alle Ewigkeit. In der Gemeinde gibt es größere Höfe, ach, große Höfe, aber sie sind mit Schulden belastet; Daniels Sennhütte, Berg und Wald sind schuldenfrei! Er schwatzt frei heraus und arbeitet wieder, während das Fräulein ihn mit seinen Fragen unterhält.

Ob er nicht ein Mädel im Kirchspiel hätte?

Haha! O ja, das könnte schon sein.

Ja, denn bei der neuen Stube hätte er sich wohl etwas gedacht?

Bei dieser Frage bekommt er Respekt vor dem Verstand der Dame und meint dann, daß er ebensogut erzählen kann, wie alles zusammenhängt. Ach nein, er hat kein Mädchen, aber es sickert doch durch, daß er seine Absicht mit der neuen Stube gehabt hat, denn er hatte einmal ein Mädchen, Helena, die Tochter eines Bauern, es wurde jedoch nichts daraus. Aber das hätte nichts zu sagen. Daniel hat einen roten Kopf, er arbeitet schwer und hastig, natürlich ist er zornig. Aber sogar in diesem Augenblick kann er es nicht lassen, seinem Nebenbuhler eins auszuwischen; es war der Gendarm, der wollte selbst Schulze werden und Helena zur feinen Dame machen. Sie war doch etwas Besseres. Sonst würde er – Daniel – sich ja nie etwas aus ihr gemacht haben.

Nein, natürlich nicht.

Er trägt sein Schicksal wie ein Mann, denkt Fräulein d'Espard, und als sie ihn deswegen lobt, trägt er sein Schicksal noch mehr wie ein Mann und wird überlegen: Jawohl, Helena wurde nun bald Schulzenfrau, während er – Daniel – sich hier auf Torahus jahrein, jahraus abrackerte. Was sonst? Sollte er sich zum Narren machen und einem Mädchen nachtrauern? Nie! In der Gemeinde hatte es einen Burschen gegeben, der verschmäht worden war und es nicht überwinden konnte. Er magerte immer mehr ab, und einige Jahre darauf lag er als Leiche da. Das hätte er schön bleiben lassen sollen! Er hätte heute noch leben können.

Starb er?

Geradeswegs. Eines Tages war er fertig! Und Daniel wurde weise und überreif, er führte Kernsprüche an: Nein, man darf nicht zu zartbesaitet sein, wenn man mit dem Leben fertig werden will!

Das gefiel Fräulein d'Espard, sie hielt es vielleicht für seine ureigene Lebensanschauung. Das war es zwar nicht, aber das schadete nichts. Sie hatte nicht mit Leuten im Kirchspiel unten gesprochen und wußte nicht, daß viele solcher weisen Sprüche unter ihnen im Schwange waren.

Da revanchiert Daniel sich und fragt seinerseits, ob der Graf drinnen ihr Bräutigam sei, und das leugnet das Fräulein nicht ganz. Aber nein, ihr Bräutigam ist er eigentlich nicht, sie haben sich nur im Sanatorium getroffen und vom ersten Tage an zusammengehalten. Sie haben soviel Gemeinsames.

Dann kommt es wohl noch! sagt Daniel und nickt ermunternd.

Und Fräulein d'Espard erwidert: Was einmal werden kann, das weiß ich nicht, aber noch ist es nichts. Was sollte übrigens kommen? Nein, es kommt nichts.

Aber jetzt hat Daniel schon mehrmals gegähnt, und das ist ein Zeichen, daß er hungrig ist; er sieht auch nach der Sonne und gibt zu verstehen, daß Essenszeit ist. Als sie wieder nach den Häusern gehen, fragt Daniel, wie es im Sanatorium sei, wohl großartig?

Ach ja. Zwar nicht so wie im Ausland, aber ...

Es ist ja eine englische Prinzessin gekommen, hab' ich gehört?

Fräulein d'Espard hat nichts dagegen, mit einer Prinzessin unter einem Dach zu wohnen, und antwortet: Es heißt so.

Ja, daß aus der alten Sennhütte drüben mal ein Schloß und ein Königshof werden sollte! sagt Daniel und schüttelt den Kopf. Und er beginnt ihr wieder vorzutragen, daß er es war, dem sie das erste Angebot gemacht hatten, daß sie zuerst seine Sennhütte haben wollten. Er scheint nicht zu bereuen, daß er hartnäckig war und nicht verkauft hat, aber die Leute dürften gerne wissen, daß man zuerst die Torahus-Sennhütte, Berg und Wald zum Sanatorium ausersehen hatte. Natürlich. Denn hier war die rechte Stelle. Drüben auf der Nachbaralp gab es ja nur Bergfliegen und Nordwind.

Die Haushälterin kommt mit dem Bescheid, daß Daniel in der neuen Stube essen solle, es gäbe kalte Grütze, kalte Milch, kalte Kartoffeln und Brathering, sie hätte nichts kochen können, weil der Fremde noch in der Hütte schlief, wo der Herd war. Schläft er noch immer?

Ob er noch schläft? Er hat sich noch nicht einmal umgedreht.

Daniel lacht gutmütig und geht hinein zu seinem kalten Mittagessen.

Und wahrlich, Fräulein d'Espard ist ein tadelloses Menschenkind; sie wartet geduldig die ganze Mittagszeit, und nach dem Essen begleitet sie Daniel wieder zur Arbeit. Wer anders als ein liebendes Weib könnte eine solche Probe bestehen! Als Herr Fleming endlich am Nachmittag aufsteht, strahlt ihm das frohe Antlitz des Fräuleins entgegen. Er schüttelt lächelnd den Kopf über sich selbst wie als Entschuldigung, ja, als hätte er keine Worte dafür.

Haben Sie gut geschlafen? fragt sie.

Ja, antwortet er. Dann dankt er Daniel für die Unterkunft und gibt ihm einen Geldschein, oh, er ist voll von Lob, seit seiner Kindheit hat er nicht so gut geschlafen. Können Sie das verstehen, gnädiges Fräulein? Und darf ich wiederkommen, Daniel? Nein, kein Laken, keine Umstände, nur alles so wie heute. Vielen Dank.

Auf dem Heimwege spricht er weiter über diesen Schlaf. Und wahrhaftig, er ist hungrig! Seit Jahr und Tag ist er zu den Mahlzeiten nicht hungrig gewesen, und jetzt könnte er trockenes Brot essen. Das komme vom Schlafen. Wie viele Stunden hat er denn, in aller Welt, geschlafen? Und ohne zu schwitzen, fast ohne feucht zu werden.

Fräulein d'Espard sieht natürlich die Streifen von der Feuchtigkeit, die von seinen Schläfen geronnen und jetzt eingetrocknet ist, aber sie sagt ja und amen zu all seiner Aufgeräumtheit und geht nur schneller, damit ihm nicht kalt wird.

Oh, ich erhole mich schon noch, gnädiges Fräulein, ich fühle, daß ich schon kräftiger bin. Ja, es ist wahr, lassen Sie uns eilen, Sie sind hungrig, wir sind beide hungrig.

Sie kommen zu spät zum Essen ins Sanatorium, aber Fräulein d'Espard ist nicht die Dame, die nicht zur Unzeit eine Mahlzeit herbeischaffen könnte, und sie hilft selbst, sie aus der Küche zu holen. Dann essen sie und trinken Wein dazu, es ist Freude im Herzen des brustkranken Mannes, er taut auf, seine Wangen bekommen Farbe, die Augen Leben.

Der Tag verstreicht. Es ist immer noch Freude in Herrn Flemings Herzen, und am Nachmittag trinkt das Paar wieder ein wenig guten Wein. Am Abend meint er wohl, es könne nicht davon die Rede sein, daß sie sich trennen, obwohl das Fräulein Anzeichen von Müdigkeit zeigt, nein, er ist selbst zu frisch und ausgeschlafen, die Nacht wird lang werden, was ist zu tun? Sie sitzen beisammen und erörtern es, selbst das Entkleiden scheint unmöglich, das Lösen der Schuhbänder. Darüber lacht sie. Sie sitzen so lange im Rauchzimmer, bis die letzten Gäste sie verlassen und zu Bett gehen, dann erheben sie sich endlich auch und steigen die Treppe hinauf; das Fräulein kann kaum noch die Augen aufhalten.

Dann nimmt er ihre Hand, und sie sagt: Gute Nacht, gute Nacht!

Nein, das nicht. Er wünscht, daß sie weiter mitkommt, in sein eigenes Zimmer.

Das will sie nicht.

Aber die Nacht wird so lang, so trostlos für ihn, schlaflos und öde. Und er hat Wein hineinstellen lassen, sie können noch weiter beim Wein sitzen.

Ja, danke sehr, aber nicht jetzt. Nein, danke.

Dürfte er sie denn in ihr Zimmer begleiten? Sie könnten dort sitzen. Die Nacht wird sonst so lang.

Nein. Gute Nacht! sagt sie, Sie werden schon schlafen. Aber ich kann Sie übrigens begleiten und Ihnen die Stiefel ausziehen.

Ja, vielen Dank! Sie sind zu lieb.

Als sie eintreten, flüstern sie aus Vorsicht beide, aber sie hindert ihn, die Tür abzuschließen.

Nur damit es dem Mädchen nicht einfällt, hereinzugucken, erklärt er.

Ja, aber ich muß gleich wieder gehen. Setzen Sie sich nun.

Sie knüpft ihm das Schuhband auf und hält einen Augenblick inne vor Überraschung – was vielleicht auch von ihm beabsichtigt war: der feine Mann trägt seidene Socken, und, soviel sie davon versteht, sehr kostbare seidene Socken. Um sich zu erholen, äußert sie gleichgültig: Sie tragen zu dünne Socken hier im Gebirge.

Finden Sie?

Ja. Hier muß man Wolle tragen. So, das übrige können Sie selbst besorgen!

Sie erhebt sich, geht zur Tür und verschwindet.


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