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Es war nicht zu leugnen, August hinterließ eine Leere, Edevart vermißte ihn, Pauline fühlte sich beinahe etwas einsamer, und sie bereute, daß sie nicht daran gedacht hatte, ihm für die Reise einen Regenschirm aus dem Laden zu schenken. Den hätte er brauchen können.
Sie sagte zu Joakim: Er hat noch bezahlt, ehe er fortging.
Was fällt dir ein! rief Joakim aus. Das hättest du nicht annehmen sollen.
Pauline: Ich habe ihm ja auch das Geld wieder zurückgeschickt, aber Edevart brachte es wieder mit. Schau her!
Joakim schüttelte den Kopf und schwieg. Er verriet jedenfalls nicht mit einer Miene, ob er den Zusammenhang erfaßt hatte oder nicht.
Aber was war dieses Kleingeld für die Kost und Verpflegung und was war ein Regenschirm gegen zwanzigtausend deutsche Mark! Was waren alle Dinge gegen das Wunder! Und was waren alle Wunder gegen dieses!
Die Post brachte einen Brief für August, er kam von einer Agentur in Drontheim, eingeschrieben und versiegelt. August war weg, Pauline hatte Vollmacht, mit dem Brief zu tun, was sie wolle. Sie zupfte daran herum und hielt ihn gegen eine brennende Lampe, – nein. Sie hätte ihn mit einer Stricknadel öffnen können, eine Kunst, in der sie nicht ganz ungeübt war, aber der Brief war versiegelt. Da riß sie ihn auf.
Hätten plötzlich Pferd und Wagen in ihrem kleinen Kontor gestanden, es hätte sie nicht mehr aus der Fassung bringen können: eine Anzeige über zwanzigtausend Mark, die August also in der Hamburger Geldlotterie gewonnen hatte. »Unsere Verbindung in Hamburg – eine wohlbekannte Agentur – bietet Ihnen durch uns ohne Verzögerung und in bar fünfzehntausend norwegische Kronen für Ihren Gewinn, gegen Deponierung des Loses von der und der Nummer. Abschrift des deutschen Angebotes liegt in extenso bei –«
Joakim! schreit Pauline, Edevart! schreit sie.
Große Beratung. Ein Glück, daß August auf dem Weg nach dem Süden war; wenn er mit dem Amtmann fertig war, würde er sicher nach Drontheim weiterfahren und konnte dann selber die Angelegenheit ordnen.
Edevart schwieg.
Pauline redete gleich weiter, da könne Joakim nun sehen, daß es keine Lüge von August gewesen sei, wenn er sagte, er habe ausländische Geschäfte.
Geschäfte? antwortete Joakim. Hast du Geschäfte gesagt?
Oder wie du es nennen willst! Wenn ich ihn doch nur mit ein paar Worten erreichen könnte!
Joakim mit angenommener Bürgermeistermiene: Zufolge seines letzten Willens bist du doch Alleinerbin der Hinterlassenschaft.
Pauline wandte sich an Edevart: Was meinst du, wird ein Telegramm ihn beim Amtmann erreichen?
Edevart mußte nun eingestehen: Er ist nicht zum Amtmann gefahren.
Was!
Unter uns gesagt: er ist nordwärts gegangen. Er ist wohl ausgerissen.
Neue Beratung. Nein, nun wußte Pauline nicht mehr aus noch ein und war verzweifelt. Joakim äußerte leises Mißtrauen gegen die Agenten in Drontheim, gegen das ganze Wunder, – nein, das Haus in Drontheim kannte Kaufmann Pauline Andreassen dem Namen nach sehr gut. – Ob nicht Gabrielsen den deutschen Brief lesen sollte? – Ja, Großnetzbesitzer Gabrielsen stand hier in dem Ruf, mit einer Gouvernante Deutsch gelernt zu haben, aber Pauline wollte ihm durchaus nicht den ganzen Brief anvertrauen und dadurch Namen und Summe noch vor Sonnenuntergang in der ganzen Bucht verbreiten lassen. Sie wollte statt dessen zu Gabrielsen gehen und fragen: wenn zuerst das, dann das und endlich das hier irgendwo auf deutsch stünde, zum Beispiel in einem Zirkular der Postverwaltung, was dann damit auf norwegisch gemeint sei? Zwar wollte sie Augusts Reichtum nicht verheimlichen, im Gegenteil, zum gegebenen Zeitpunkt würde sie den Buchtbewohnern schon erzählen, was für ein Mann er war, und daß er jetzt allein auf diesem einen Brett fünfzehntausend norwegische Kronen besitze –
Joakim: Gegen Deponierung des Loses.
Jawohl, das besaß er gewiß. Er war nicht so dumm. Aber er mußte selber seinen Reichtum holen, und er wußte doch gar nichts davon. Und nun war er weg. Großer Wirrwarr.
Edevart sagte und nickte dazu: Ich will ihm nachfahren.
Joakim dachte nach und äußerte dann: Du holst ihn nicht ein. Er hat jetzt – laß mich nachrechnen – neun Stunden Vorsprung.
Nein, zu Fuß hole ich ihn nicht ein, sagte Edevart und lächelte ein seltenes Mal. Als ich ihn zuletzt sah, rannte er aus Leibeskräften! Aber wenn ich den Seeweg nehme, hole ich ihn ein, ich nehme das Postboot zu leihen.
Selbstverständlich.
Ich hole ihn noch heute abend ein, sagte Edevart. Wir haben guten Wind.
Was für einen Wind denn?
Einen guten Südwest.
Der Südwest soll der schlimmste Wind sein, habe ich gehört, sagte Pauline. Du darfst jedenfalls nicht allein fahren, Edevart, du mußt einen Mann mitnehmen.
Aber er fuhr allein.
Ein neuer Haken war in der Sache: was nun, wenn Edevart mit dem Ausreißer zurückkam und dieser verhaftet wurde? Edevart konnte doch wohl nicht so einfältig sein, aber Pauline wurde doch unruhig. Anfangs hatte sie wenig oder keine Hilfe von ihrem Bruder, sie mußte selber die Entscheidung treffen: Doch, laßt August kommen! Jetzt sollte er erst recht kommen und um keinen Preis fortbleiben! Ein Mann mit fünf zehntausend Kronen hätte überhaupt nicht fortfahren sollen, und er sollte auf jeden Fall wiederkommen!
Kristofer? Ach, Kristofer konnte ja versuchen, ihn anzuzeigen, das würde für ihn selber am schlimmsten ausgehen! a würde Kristofer nämlich wegen Zerstörung der Plantage, wegen Einbruch und Gewalttat im Winter, wegen Stierraub, wegen Diebstählen von Schafen in der Gemeinde angezeigt werden, es gab genug Zeugen dafür –
Joakim: Wer wird sich die Mühe machen, solch eine klägliche Figur wie. den Kristofer anzuzeigen!
Der Bürgermeister im Ort! erwiderte Pauline.
Ich?
Nein, mach was du willst! Dann werde ich den Ezra mitnehmen und ihn selber anzeigen. Ich werde mir schon zu helfen wissen.
Du bist doch ein ganz verflixtes Frauenzimmer! murmelte Joakim.
Ja, sie bereitete alles vor, daß August kommen sollte, sie ordnete alles für ihn, ebnete den Weg, der Lensmann sollte ihm nicht ein Haar krümmen können, wie es in der Schrift steht. Der große Bruder hatte doch wohl soviel Vernunft und Verstand, daß es ihm gelang, seinen Kameraden zurückzuholen. Wozu wäre er ihm sonst nachgereist, nur um ihm die Neuigkeit selber zu erzählen? So töricht war der große Bruder nicht.
Und natürlich ging Bruder Joakim noch am selben Abend zu Kristofer. Es hätte ja gerade noch gefehlt, daß er dies bis zum nächsten Tag verschoben hätte, an dem womöglich der große Bruder und August schon wieder in die Bucht zurückgekehrt waren.
Joakim ging. Er fand Kristofer groß und mürrisch vor: Ja, er habe August heute angezeigt, habe den Mörder angezeigt, er wäre ja ein Dummkopf gewesen, wenn er das nicht getan hätte, es gäbe doch noch Gesetz und Recht im Land.
Der Bürgermeister sah die Sache zum Teil anders an: es bestehe doch auf beiden Seiten eine gewisse Schuld. Außerdem habe Kristofer keine geringen Sünden vom Winter her zu sühnen, es könnte doch zu einer ganz hübschen Gegenanzeige für ihn kommen.
Und so weiter. Hin und her. Kristofer fiel es schwer, nachzugeben.
Nach einiger Zeit fragte er seine Frau, ob sie heute in der Inneren Gemeinde beim Lensmann gewesen sei und die Verhaftung von August beantragt habe? Nein, die Frau hatte diesen Gang auf den nächsten Tag verschoben. So, sagte Kristofer und dachte nach.
Der Bürgermeister meinte nun, es sei doch das beste für beide Parteien, wenn überhaupt keine Meldung erstattet würde.
Kristofer ging notgedrungen darauf ein, oh, wie bitterlich notgedrungen ging er darauf ein. Und der gute August sollte sich in Zukunft vor ihm in acht nehmen! Und wenn Kristofer nicht wiederum fromm und erweckt geworden wäre, hätte gar keine Rede davon sein können, daß der Mörder seinen Kopf gerettet hätte. Da hatte er nun in diesen Tagen dagelegen und über seine Rettung nachgedacht: wenn nur eine einzige Rippe zur Seite gewichen wäre, wäre er tot gewesen. Dies gab ihm einen Einblick in das, was die Vorsehung mit ihm vorhatte.
Und so weiter –
Pauline überwachte ein Großreinemachen der beiden Zimmer über dem Café bis zur Ankunft der Kameraden. August hatte einen großen Hut mit einer Spange auf der Seite zurückgelassen, und an diesem Hut war überdies noch eine dicke Sturmschnur, Pauline bürstete den Hut ab und hängte ihn wieder hin. Sie lüpfte den messingbeschlagenen Koffer, er war offen, enthielt Tabakblätter, wer weiß, vielleicht kostbare Blätter und echten Tabak. Ein netter Mensch war August jedenfalls, er pflanzte Tabak in der Bucht.
Am Tag darauf ging sie zum Großnetzbesitzer Gabrielsen und ließ sich einzelne Teile des deutschen Briefes erklären. Es ging gut, Gabrielsen konnte eine Menge deutsche Worte und hatte eine glückliche Hand beim Nachschlagen in einem Lexikon: es zeigte sich, daß die Absicht mit dem Angebot der Agentur, die Summe bar auszuzahlen, beinahe ausschließlich dem Wunsch zuzuschreiben war, August Zeitverlust und Formalitäten mit der Lotterie zu ersparen.
Er grübelte heftig über die Geldsorten der beiden Länder nach: waren fünf zehntausend norwegische Kronen genau soviel wert wie zwanzigtausend deutsche Mark? Bekam August das, was ihm zustand, oder würde man ihn betrügen? Bruder Joakim kam ihm zu Hilfe. Er fand aus dem Kurszettel seiner Zeitung heraus, daß das Angebot um dreitausend Kronen geringer war als der tatsächliche Wert.
Was sagst du da, – dreitausend Kronen?
Jawohl, das wollten die Agenten für ihre Barauszahlung nehmen.
Pauline dachte scharf: Das ist doch ein unverschämter Vorteil, den sie da selber einstecken wollen!
Ja ja, meinte Bruder Joakim neckend. Aber du wirst ja trotzdem noch ein reiches Mädchen.
Das hätte er nicht sagen sollen, Pauline wurde böse und empörte sich.
Du hast doch die Vollmacht zu allem, entgegnete er zahm, du kannst ja die Angelegenheit durch das Thing bekanntmachen.
Pauline sprang auf: Ja, ich werde es auf meine Weise durch das Thing bekanntmachen lassen, ich werde ihm die Geschichte an den Kopf werfen, sobald er jetzt heimkommt! Sie holte die Vollmacht hervor und den versiegelten Brief, den August ihr übergeben hatte, und sagte: Hier ist alles miteinander, er soll es wiederhaben.
Joakim: Was ist denn in dem Brief?
Ich weiß nicht. Aber er soll ihn wiederbekommen.
Du solltest nachsehen, was drin ist. Vielleicht enthält er einen Widerruf?
Meinetwegen enthält er, was er mag!
Lotterielose –
Lotterielose, ähnlich denen, die August immer in seiner Brieftasche trug, fremde, viele, darunter der deutsche Schein mit genau der richtigen Nummer, dänische, mexikanische, spanische Lose, Joakim half sie deuten.
Pauline setzte sich mutlos hin, und einen Augenblick fuhr es ihr durch den Kopf: außer dem Schein, auf den er bereits gewonnen hatte, waren vielleicht noch andere an der Reihe. Sein Gerede von ausländischen Geschäften war keineswegs Lüge gewesen. Ein netter Mensch, dieser August!
Es dauerte lange, die Kameraden kamen noch immer nicht. Edevart hatte wohl die Spur nicht so rasch gefunden, wie er gedacht hatte.
Joakim ging Donnerstag abend auf die Neusiedlung, Ezra und Hosea hatten noch nichts von dem Wunder gehört. Sie fingen gleich an, von August zu reden, dem Ausreißer vor fünfzehntausend Kronen. Die beiden Schwäger hatten ihre eigenen Ansichten und fanden gar manchen guten Ausdruck dafür, den sie aus ihren Zeitungen holten. Bürgermeister Joakim hatte außerdem noch aus den Protokollen der Vorstandschaft und aus öffentlichen Dokumenten gelernt, abgesehen von allem anderen, was ihm an Gedrucktem und Ungedrucktem in die Hände kam, er war gescheit, hatte etwas von einem Politikus, einem Staatsmann; und verflucht noch einmal, wenn er sich nicht aufs Reden verstand! Er sagte von August, ihm erscheine er als eine Art Agent, ein Sendbote der Zeit, der Welt. Er sagte, August sei ein Symbol, – »das ein Sinnbild oder eine Parole bedeutet«. August war überhaupt eine Art Rätsel für ihn, Joakim fürchtete ihn fast etwas, war seinen verschiedenartigen Einfällen gegenüber mißtrauisch, mußte sich jedoch bisweilen über seine Kenntnisse wundern: er wußte wirklich etwas von diesen Hunderten von Dingen in dieser Welt! Da war Ezra schon schärfer, obgleich gerade er größeren Anlaß dazu hatte, August dankbar zu sein, als irgendein anderer.
Ja, nun kam August wohl in die Bucht zurück und wurde ein größerer Geldmann als je zuvor. Gott mochte wissen, was er nun wieder ausfindig machen würde!
Neuen Jux, sagte Ezra.
Hosea fand dies nicht gerecht, August hatte ein Postamt in der Bucht errichtet, hatte der Gemeinde ein Netzgerät verschafft, hatte vielen Leuten zu einem Haus verholfen –
Ja, sagte Ezra, und ebenso viele Leute ruiniert. Karolus und Ane Maria werden jetzt wohl von der Gemeinde unterstützt werden müssen. Ach, es war eine Schmach und eine Schande! Der Bauer Ezra hatte nur für eines Sinn und Gedanken: Erde, Erde, er war ein Knecht der Äcker und Wiesen, nach der Nährerde gab es noch Meer und Gebirge, außerhalb von diesen gab es die Welt, und die ging ihn nichts an. Der August war ja auch bei mir und wollte Tannen auf meinem Grund und Boden anpflanzen! sagte er und lachte.
Die Sache sei die, fing Joakim an, daß August die Bucht im Guten wie im Bösen entwickelt habe, er entwässerte Moore, aber er trieb auch Spekulation. Er war ein Ausdruck des Zeitgeistes, gab mit der einen Hand und nahm mit der anderen, – wo war dann der Gewinn? Er schuf Veränderung, aber bei jedem einzelnen Fall wurde das Gute, das er bezweckt hatte, von dem darauf folgenden Bösen aufgewogen. August gab manchmal, wenn er sich mit Pauline stritt, zur Antwort, jawohl, das sei der Charakter der Entwicklung: Kampf und Konkurrenz. Aber war das eine Antwort? Er kam von der Welt draußen und wollte uns moderne und ausländische Dinge lehren, aber weshalb? Ja, wir müßten bei dem Kampf und bei der Konkurrenz mittun. Warum denn? hatte Pauline geschrien. Ja, weil wir sonst zum Beispiel nicht unbeschränkt Geld in London leihen könnten.
Hahaha! lachte Ezra trocken und erklärte, er pfeife auf eine solche Lehre. Ja, es ist genau so, wie du sagst! Wie hat er es denn getrieben: er hat den ganzen Grund und Boden zur Stadt verbaut und hat uns hungern lassen. Wovon sollte die Stadt leben? Hier gibt es ja nicht einmal mehr für Elstern und Krähen genug zum Leben, nur Häuser und Menschen. Er schuf allerhand: viele Häuser und Bank und Fabrik und Weihnachtsbäume und lauter solches Zeug, aber zuletzt habe ich gehört, er hätte Tabak gepflanzt, – konnte man davon vielleicht leben? Nein, gab er mir zur Antwort, aber das sei Entwicklung, das bringe Geld, für das man Nahrung kaufen könne! Geld? Ja, das sei Geld und Verdienst und Fortschritt und alles miteinander. Nein, sage ich, das ist der Untergang, wir essen und essen nichts als seine feine gekaufte Nahrung und wollen nur immer mehr davon haben, das ist ja nichts als Luft, was wir da essen, das sättigt uns nicht. Ich sehe dir an, Hosea, daß du etwas sagen willst. Du willst vom Kaffee reden.
Ja, sagte Hosea, Joakim sollte eine Tasse bekommen, aber ich bin blank, ich habe kein Geld zum Kaufen.
Ezra: Was glaubst du schon, das Joakim sich daraus machen wird? Gib ihm doch eine Tasse Milch. Das hat man früher auch seinem Gast vorgesetzt. Nein, und dann all die großen und törichten Ansprüche ans Leben, die August uns beibringen wollte, all diese Forderungen nach teuren und süßen Sachen! Jetzt ist es so weit gekommen: wenn die Leute nicht jeden Tag ihr Fleisch und ihre Sonntagsmahlzeit kriegen, sind sie unzufrieden und glauben, sie leiden Not. Unzufriedenheit und immer größeres und größeres Bedürfnis nach mehr bei allen Menschen. Der letzte zufriedene Mensch in der Bucht war Martinus Halskar. Er war nicht verwöhnt, sondern war Gott dankbar, und er wurde über achtzig Jahre alt.
Die Sache ist die, fing Joakim wieder an und wollte sich wohl auf eine etwas höhere Art ausdrücken: August war ja nicht so ganz ohne weiteres zu verstehen. Er war ein Werkzeug des Zeitgeistes, er hatte also einen Grund, auf dem er stand, er war Missionar. Persönlich war er ein unruhiger Geist und ein Arbeitstier. Es kam vor, daß er die eine Sache verwarf und gleich wieder eine andere anfing, und tüchtig war er auf seine Art, er war unvergleichlich, sowohl was Unverantwortlichkeit als auch was guten Glauben anbelangt. Als er im Winter krank war, soll er sich darüber gegrämt haben, daß er nicht Seiltanzen gelernt hatte. Aber das konnte er ja auch, nur daß er mit dem Kopf tanzte, er war wirr. Es hatte seine Richtigkeit mit dem, was Ezra sagte, daß er mit vielem kam, und er entledigte sich aller Dinge mit gutem Mut und ohne Skrupel. Er machte es munter und verlockend, er war ein Spaßmacher und ein Lügner, es war moderne Zeit und Mechanik und Amerikanismus in ihm, es war Gutes und Böses in ihm, – alles miteinander. Aber in einer Sache war er nur Mensch und August: er war freundlich und uneigennützig, er verschenkte alles bis aufs Hemd und zog seiner Wege, ohne auch nur einen Öre für sich herausgewirtschaftet zu haben. Er war ohne Besitz.
Hosea: Ja, und das ist wirklich wahr!
Auch das war nichts als Verantwortungslosigkeit, erklärte Ezra. Er brauchte ja schließlich auch für niemand zu sorgen, er war allein.
Es gibt viele, die allein sind und die doch nie genug bekommen.
Ein seltsamer Zug in der Luft, ein Grollen, eine Art derber Lautlosigkeit. Am Freitag stürmte es. Pauline war um Edevarts willen unruhig: befand er sich jetzt auf dem Rückweg mit dem Kameraden, so mußte er jedenfalls gegen den Wind ankämpfen. Das würde ihn aufhalten. Karolus kam in den Laden und tröstete sie: um Edevart brauche sie sich keine Sorgen zu machen, der sei gerade der richtige Mann im Boot!
Das hoffe ich zu Gott! sagte Pauline.
Karolus stapfte umher und beruhigte alle. Er lebte in der Erinnerung an die Zeit, da er Matador war und Anleihen in der Bucht verschenkte, seine alten Augen waren so nachsichtig, so erloschen, so ohne Ausdruck wie nach Schlaftropfen. Er ging sehr gebeugt und bekam einen ungeheuren Rücken, er trug gewissermaßen noch einen Rücken auf seinem Rücken. Aber Karolus beklagte sich nicht über sein Schicksal, solange es noch Galoschen im Laden zu kaufen gab.
Ane Maria war von einer anderen Art, nein, sie war nicht tot, sie hatte heute noch alle ihre Sinne in Ordnung. Es war eine Schmach und eine Schande vom Schicksal, daß sie die Pflegekinder nicht mehr haben konnte, aber sie ging nicht gebeugt und machte keinen Buckel, sie richtete sich ganz gerade auf. Eines Tages löschte sie die großartige Nummer eins über ihrer Haustür aus, eines anderen Tages schrieb sie wiederum einen Brief an den Gefängnisdirektor in Drontheim und sagte, daß es ihr gut gehe. Die Frau des Schmiedes aus der Inneren Gemeinde, die Mutter der Prinzen, kam zu ihr, plauderte, brachte Grüße von den kleinen Buben und erzählte Geschichten von ihnen: wenn sie nicht das zu essen bekamen, was sie wollten, drohten sie damit, zur Pflegemutter zurückzugehen. Es tat Ane Maria gut, dies zu hören. Sie weinte innerlich vor Freude und fühlte sich gestärkt. Am Morgen nahm sie Spaten, Hacke und Axt und ging auf das kleine Stück Land hinaus, das sie noch von der Weide besaßen, und machte sich dort an die Arbeit. Um alles in der Welt, was ging denn in ihr vor? Aber Ane Maria hatte den Verstand nicht verloren, sie hackte und grub, grub weiter, arbeitete tage- und tagelang an ihrem kleinen Acker, rodete, legte den Rasen um, zerbröckelte die Klumpen. Jeden Morgen ging sie an Ezras Moor vorbei, wo sie einmal einen Schiffer von Hardanger hatte ersticken lassen, – das rührte sie nicht mehr. Wenn sie jetzt dem Schiffer begegnete, würde sie an ihm vorbeigehen und in ihrem guten Recht sein: er hatte sie haben wollen, aber zu schnell haben wollen, er hatte sie nicht genügend gebeten.
Es sprach sich herum, was Ane Maria da draußen allein auf der Weide trieb. Ihr Mann hatte alles aufgegeben und taugte zu nichts mehr, sie dagegen bestellte einen Acker, und sie machte kein Geheimnis daraus, daß sie dort im Frühjahr Kartoffeln setzen wollte. Dies brachte jeden zum Nachdenken, und der frühere Bankchef Rolandsen, der kein Stück Land bei seinem Staatshaus besaß, dachte allen Ernstes daran, seinen prachtvollen Gang mit den farbigen Glasscheiben aus Indien niederzureißen und auf dem gewonnenen Fleck Kartoffeln zu setzen. Oh, das war keine adelige Laune von Rolandsen, sondern das kam daher, daß er es sich nicht mehr leisten konnte, ein Narr zu sein.
Nein, aber Edevart und der Kamerad kamen nicht, heute war Samstag, und draußen herrschte immer noch Sturm. Pauline fing an ängstlich zu werden, es half nichts mehr, daß Karolus ruhige Worte sprach.
Teodors Ragna kam in den Laden und wollte sich nach Nachrichten von Edevart erkundigen.
Nein, keine Nachricht.
Sie frage nicht für sich selber, erklärte Ragna und schlug die Augen nieder. Sondern ihr Sohn Roderik, der Postbote, habe sie geschickt. Edevart habe doch das Postboot zu leihen genommen, und nun sollte übermorgen die Post befördert werden.
Ja, es ist alles miteinander schlimm, sagte Pauline.
Nein, meinte Ragna, es muß nichts Schlimmes sein, Edevart ist nur aufgehalten worden. Und wenn er bis Montag nicht da ist, will Roderik sich rechtzeitig umtun und sich von der Äußeren Bucht ein Boot leihen. Er hat mir aufgetragen, das zu sagen.
Kleine Ragna, sie wollte Schlimmes nicht erst recht noch schlimmer machen. Sie benahm sich sehr schön. Sie und ihr Mann waren jetzt in großem Aufschwung in der Buchtgemeinde, zunächst hatten sie ein festes Gehalt für die Postbeförderung, außerdem waren sie Doktor Lunds Schwiegereltern geworden. Herrgott, wie hätte Teodor jetzt in der Bucht auftreten können, wenn Ragna ihn nicht gezügelt hätte. Sie war mit einer Anziehungskraft für alles in der Welt geboren, sie hatte Anziehungskraft für Männer, für Frauen, für Kinder, und sie war bescheiden in ihrem Auftreten. Schon fingen einzelne an, sie mit Ihr anzusprechen, und das ließ die kleine Ragna feuerrot werden. Sie war auch da noch schön. Als sie den Kramladen verließ, ging sie durch dieses Wrack von einer Stadt heim und trug vielleicht das Wrack ihrer Tugend in sich, mag sein. Aber die kleine Ragna blieb unbeschadet. Wohl hätte sie manchmal etwas anderes tun sollen als das, was sie tat. Sie hätte anders sein sollen im Leben, – wer sollte das nicht!
Sie ließ Pauline mit einer neuen kleinen Hoffnung zurück, sie hatte so sicher davon gesprochen, daß Edevart nur aufgehalten worden sei, vielleicht hatte sie recht, vielleicht hatte Ragna Gott sei Dank recht! Draußen legte sich der Sturm, der Sonntag kam, der Montag kam, die Post fuhr in einem geliehenen Boot zur Haltestelle. Am Dienstag kam sie zurück. Jetzt war es eine Woche her, daß Edevart von der Bucht wegsegelte, er hätte während dieser Zeit bis nach Tromsö kommen und heimtelegraphieren können. Pauline gab die Hoffnung trotzdem nicht auf, der große Bruder war keiner von denen, die telegraphierten und schrieben. Sie hoffte noch eine ganze Woche lang, dann kam die Post zum zweitenmal von der Haltestelle zurück und brachte eine Neuigkeit mit: Edevarts Boot war an Land getrieben worden.
So war also der große Bruder verschwunden und kam nie wieder. Gott hatte es so gewollt.
Sie führte weiterhin ihren Laden, versorgte ihren Stall und ihre Kühe, sie ging zur Kirche wie früher und dachte sich nicht besonders dunkle Kleider aus, darin ihre Trauer zu zeigen, aber sie war tief niedergedrückt. Da nun auch August auf seiner Flucht nach dem Norden nicht aufzufinden war, gebrauchte sie ihre Vollmacht dazu, für ihn zu handeln, sie akzeptierte die fünfzehntausend norwegischen Kronen für den deutschen Lotterieschein und fing gleich nach Eintreffen des Geldes an, für August abzurechnen und da und dort seine Schulden zu bezahlen. Sie hatte Verstand im Kopf und Gerechtigkeit im Herzen. Sie bezahlte den Verlust des Postbootes, bezahlte den Doktor, den Kaufmann in der Inneren Gemeinde und zwei Lotsen an der Haltestelle, bezahlte Kristofer einen Unterhalt, bis seine Wunde verheilt war, bezahlte Karolus und Ane Maria eine Entschädigung für ihre bebauten Äcker und Wiesen. Am dankbarsten von allen war wohl das Paar Karolus, der Doktor dagegen weigerte sich, von »einem so lustigen Patienten« Geld anzunehmen, und als er schließlich nachgab, geschah dies nur, weil Pauline dies mit Rücksicht auf die Ordnung verlangte.
Alles rechnete sie ab, und nichts wurde vergessen, selbst die fünftausend Kronen, die Großnetzbesitzer Ottesen für die Heringsmehlfabrik in die Bank eingezahlt hatte, sollte seine Familie einmal zurückbekommen, – wenn einmal Augusts Zeit eines neuen Aufschwungs kam und das Fabrikgebäude verkauft wurde. Diese Summe sollte als eine Schuld auf dem Besitz verschrieben werden. Was war noch zu tun? Ihre eigenen heimlichen Auslagen für Augusts Kost und Verpflegung seit Jahr und Tag, – vergaß sie diese Posten? Keine Rede. Das hätte gerade noch gefehlt.
Aber jetzt konnte August kommen. Nichts stand mehr im Wege, er war unantastbar. Es war auch noch ein schönes Stück Geld für ihn übriggeblieben, das ihn auf einer Bank erwartete.
Vielleicht fühlte Pauline sich jetzt erleichtert, alles war so herrlich klar und geordnet, und an dem Tag, an dem sie nun auch wirklich den großen Geldschrank billig erwerben konnte, war ihre ordnungsgewohnte Seele zufriedengestellt: es war nicht zuviel, was sie bekommen hatte, sie hatte sich diese Anerkennung von den Kunden der Bank verdient, ihre Wachsamkeit wurde bezahlt!
Sie sprach mit Bruder Joakim über die Kameraden; merkwürdig, wie sie doch zusammenhielten, obgleich der eine wild und der andere gezähmt war. Da hatte zum Beispiel der große Bruder seinem Freund viel Geld geliehen, Pauline wußte nicht ganz genau wieviel und hatte deshalb diesen Posten nicht abrechnen können, aber sie hatte ihn in der Abrechnung notiert. Der große Bruder brauchte ja jetzt auch kein Geld mehr, er hatte übrigens nie welches gebraucht, nichts, nicht einmal Taschengeld. Er war nur ein Arbeitsmensch, o Gott, so groß und stark –
Ja, sagte Joakim, wir waren alle kleine Buben gegen ihn. Damals, als dein Geldschrank vom Meer heraufgeschafft werden sollte, waren wir sieben Mann und zwei Pferde und brachten es nicht fertig. Aber als Edevart dazukam, hätten wir die Pferde ausspannen können! Joakim saß mit leuchtenden Augen da und prahlte zugunsten seines großen Bruders.
Und wie gut war er immer gegen uns, als wir klein waren! Erinnerst du dich, wenn er fortgewesen war und wieder heimkam?
Joakim räusperte sich hart und ging zum Fenster hin, als sei ihm etwas ins Auge geflogen.
Pauline: Es ist so schmerzlich, in das leere Zimmer zu gehen. Seine Arbeitskleider hängen noch dort. Ich bringe es nicht übers Herz, sie jemand zu schenken.
Hm! Laß sie hängen! meinte Joakim. Hm! Was ich sagen wollte –
Es wurde nichts gesagt.
Pauline sah, daß sein Rücken bebte, und sie fragte ablenkend: Gehst du heute abend auf die Neusiedlung hinüber?
Nein, etwas brauchen, er?! sagte Joakim. Ich mußte ihm ja mit dem Brotmesser drohen, damit er auch nur das Geringste von mir annahm. Aber weißt du noch, – da mußte er nachgeben, wenn es ihm auch noch so schwer fiel, diesem Spitzbuben! Joakim lachte ungeheuer, lachte mit Gewalt, um nicht zu weinen. Aber wie gesagt, laß sie hängen, – hm, freilich sollen sie, – die Kleider –
Pauline war wieder die Geschickte und lenkte ab: Der Geldschrank, hast du gesagt. Denk doch nur: ein Geldschrank in der Bucht! Das hätten Vater und Mutter sehen sollen!
Joakim biß an: Weißt du noch, wie der August ihn nicht aufmachen konnte?
Ja. Und Teodor kam zu mir und holte sich eine Zange.
Ach, dieser Teodor! Er wollte den Schmied aus der Inneren Gemeinde kommen lassen, um den Geldschrank aufzubrechen, sagte Joakim, und es war ihm schon leichter zumute. Er ging vom Fenster zurück und setzte sich hin. Allmählich, so gegen das Ende, war es doch auch schade um den August. Er strebte vergebens, sagte er.
Ja, kannst du das begreifen? Was er auch anfing, es mißglückte ihm alles. Und das verfolgt ihn auch jetzt noch auf der Wanderung, er könnte zurückkommen und kommt doch nicht.
Aber glaube nur ja nicht, daß er sich das zu Herzen nimmt, mach dir keine Sorgen um ihn! sagte Joakim und fand jetzt wieder eine höhere Sprache. August mußte sich wohl auf die Wanderung begeben, weil seine Zeit hier abgelaufen war. Er folgte dem Strom der Mode und lebte ein rastloses Leben. Das nächstemal taucht er an einer anderen Stelle seiner »Erdkruste« auf und stiftet wieder Heil und Unheil. Überall ist Strom und rastloses Leben. Mach dir keine Sorgen um August, er gehört unserer Zeit an und fühlt sich überall daheim.
Eine hohe Sprache, Pauline verstand wohl nicht alles. Wie dem auch sei, sagte sie, jedenfalls stehen seine kleinen Tannen hier draußen, und nun mußt du einen Drahtzaun rundherum ziehen, damit wir sie nicht zertreten, wenn jetzt der Schnee kommt.
Es war jetzt nicht leicht, Buchtbewohner zu sein, es dauerte einige Zeit, bis die Krisis überstanden war. Winter und Schnee, das Essen knapp, nichts geschah, August, Landstreicher und Weltumsegler, war fort. Es wurde noch schlimmer, keine Heringe, Nahrungsnot und Ratlosigkeit, einige erhielten Unterstützung von der Gemeinde. Je tiefer es in den Winter hineinging, desto mehr gerieten immer neue Familien in Not, einige von den Zugezogenen erlebten harte Tage, sie hatten kein Stück Land gehabt, etwas anzusäen, sie hatten nur ein Haus in einer Stadt, keinen Lebensunterhalt, das Wasser gefror in den Bottichen am Ofen, im Winkel kauerten magere Kinder. Gott sei Lob und Dank für jeden Tag, der vorüber ist! Die Zugezogenen besuchen einander und sind in Fetzen und Nacktheit, manchmal sind sie so hungrig, daß sie vor Mattigkeit lachen, sie sind Wunder an Armut. Wovon reden sie? Von Heringen. Sind Heringe »gesichtet« worden? Hatte das Postboot draußen Vögel gesehen? Der Winter schreitet voran, es ist Februar und März, die Frühjahrsknappheit ist vernichtend, die Zugezogenen jammern sich von einem Tag zum andern durch, hungern, frieren und vergehen, – als letzte Rettung bleibt ihnen ein Schlaf in Jesu Namen.
Am schlimmsten ist es für die Kinder. Die bleiben zurück.
Die Kinder sind wie die Tannen von August, die Erde ist nicht das richtige für sie, es geht ihnen zu schlecht, sie kümmern dahin und sind krank. Endlich vergeht der Schnee, einige von den kleinen Tannen bekommen allmählich einen kleinen hellgrünen Wipfel, einen ganz kleinen hellgrünen Wipfel, es ist ein Wunder, unglaublich, sie haben die ganze Zeit einen Lebensfunken in sich gehabt und haben mit ihren schwachen Kräfte daran gearbeitet, sich Wurzeln zu schaffen. Aber einige Pflanzen sterben ab. Einige Kinder sterben.
Dann steht ein neues Gerücht auf über einen Heringsschwarm im Eidsfjord.