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XV

Kurze Tage und düsteres Wetter, Mehlnot, bleiche Gesichter und Mutlosigkeit.

Freilich waren die Menschen irre geworden, sie hatten die Tugend des Verzichtens verlernt, sie konnten es nicht entbehren, alles reichlich zu haben, nein, sie verzagten gleich. Als August nicht mit Mehl kam, gingen sie zu Joakim, machten ihm Gesichter und führten sich auf, schlugen sich vor die Brust, riefen: er als Bürgermeister müsse doch einen Ausweg schaffen! Joakim nahm die Sache kühl: Wartet, bis ihr einmal einen richtigen Grund zum Klagen habt, sagte er, es wird schon noch schlimmer kommen. Vorläufig habt ihr doch immer noch einen geräucherten Schinken oder eine Speckseite.

Er hatte sich selber eine gewisse innere Festigkeit anerzogen. Ursprünglich war er wie einer der andern gewesen, sie hatten ihn dazu überredet, einen Anteil an Augusts Großnetz zu kaufen und in Faulheit und Müßiggang einem Fischfang nachzugehen, der nichts eintrug. Der Zeitgeist steckte ihn an, und er nahm fünf Aktien auf die Sparbank der Bucht, hier machte er halt und ging in sich: was nun, wo führte das hin? Seine Landwirtschaft betrieb er nach dem Kalender, nach dem Mondwechsel und den alten Merktagen, für seine Ansicht über die Menschen und deren Lebensbedingungen erhielt er manchen guten Wink aus seiner gesegneten Zeitung. Ein Übel hatte angefangen, in die Bucht und in die Gemeinde hereinzusickern, es kam sicher noch schlimmer!

O ja, es kam noch schlimmer, und die Menschen stürmten auf ihn ein und wollten etwas zu essen haben. In den Häusern herrschte Not, bei Kristofer hatten sie seit einer Woche nichts mehr zu essen gehabt.

Joakim, störrisch und herausfordernd: Warum habt ihr aus euren Äckern eine Stadt gemacht?

Ja, warum haben wir das getan! sagten sie. Aber warum hast du uns nicht gewarnt?

Joakim zahmer: Na, so ganz einverstanden war ich nicht.

Du hättest den Gemeinderat einberufen und uns alles verweigern sollen.

Stille. Joakims Jähzorn erwachte, er wurde blaß und antwortete heftig: Der Gemeinderat ist doch nicht euer Kindermädchen. Im übrigen könnt ihr euch ja einen anderen Bürgermeister suchen!

Eine besinnliche Stimme beendete den Zusammenstoß: Wie dem auch sei, so ist es jetzt zu spät, über die Stadt und die Felder zu reden.

Hierin war Joakim mit ihnen einig, und er sagte zum Schluß: In der Nordgemeinde gibt es noch Kartoffeln!

So strömten denn die Menschen in die Nordgemeinde, sie kauften Kartoffeln für ihre letzten Schillinge, und sie bettelten schamlos, ja es fehlte nicht viel, so hätten sie gestohlen. Oh, aber es reichte nur von der Hand in den Mund und war nicht Essen genug für eine ganze Woche. Aber die Bewohner der Bucht hatten sich einen schlechten Ruf in der Nordgemeinde zugezogen, denn bei dem einen war ein Schaf und bei dem andern eine Ziege aus dem Stall weggekommen.

Da tat Ezra etwas Seltsames, Ezra auf der Neusiedlung, der Erdknecht und reiche Bauer, er kam mit einer Fuhre Getreide in die Bucht gefahren und lud sie bei Karolus und Ane Maria ab. Es war am Abend und ziemlich finster, so daß sich die Sache in der Stille abspielte, er selber war auch da wortkarg und schnitt geradezu ein Gesicht. Ane Maria schlug die Hände zusammen und fragte, was ihm denn einfalle – was um Himmels willen das denn bedeuten solle – und was in allen Ländern und Reichen der Welt –

Das ist für deine Stadt, sagte Ezra, und seine Worte waren ohne Süßigkeit. Wo soll ich es hintun?

Ins Küchenhaus, Gott segne dich, mein Lieber!

Karolus kam hinzu und war ebenso überwältigt: Du bist und bleibst doch immer der gleiche, Ezra, das habe ich hinter deinem Rücken gesagt, und das sage ich dir jetzt mitten ins Gesicht! Wie steht es, Ane Maria, wir sind doch keine armen Leute, wir haben doch sicher Kaffee für Ezra?

Ja, wenn er damit vorlieb nehmen will!

Aber freilich, Ezra, laß das Pferd stehen und komm herein!

Danke schön, ich habe keine Zeit, sagte Ezra und leerte die Säcke im Küchenhaus aus.

Er fuhr fort und kam mit einer neuen Ladung zurück. Was tust du da, du schneidest dir ja ins eigene Fleisch, sagten sie, du hast Frau und Kinder; stimmt das nicht? Teilt aus! sagte Ezra und fuhr davon, eine dritte Ladung zu holen, – teilt aus! Eine vierte Ladung bestand aus Säcken mit Kartoffeln, – teilt aus! Eine fünfte, eine sechste, eine siebente, achte, neunte, – Kartoffeln, teilt aus!

Der Mann war wohl verrückt geworden! Merkwürdig, daß nicht Hosea, seine Frau, und alle Kinder weinend dahergelaufen kamen und die Hände rangen über diese traurige Tatsache; aber nein, sie kamen nicht. Dahingegen strömten jetzt die Leute aus der Gemeinde herbei und waren entzückt über Ezras Verrücktheiten und halfen, die Säcke ins Küchenhaus zu tragen und sie auszuleeren. Ah, sie wurden so dienstbereit, sie errichteten eine Scheidewand zwischen dem Getreide und den Kartoffeln und begleiteten Ezra, um neue Ladungen zu holen, sie wollten sehen, ob auf der Neusiedlung noch jemand am Leben war oder ob der Verrückte vielleicht die ganze Familie umgebracht hatte. Sie kamen beschämt zurück: Hosea und auch die Kinder hatten eigenhändig mitgeholfen, die Säcke zu füllen. Da war wohl die ganze Familie verrückt geworden! Als der Morgen graute, lagen zwei große Haufen Nahrung im Küchenhaus. Ezra fuhr davon und kam nicht wieder.

Und jetzt ging es an ein Austeilen der Vorräte, solange sie reichten. Sie kamen mit Säcken und Schüsseln herbei, Karolus verstand das Austeilen und war seiner Stellung gewachsen. Da hatte das Leben ihn wiederum auf einen hohen Posten gestellt, wie seinerzeit, als er Bürgermeister war. Ezra war mit seinem Geschenk keineswegs zum Kramladen und zu seinen Leuten gefahren, nein, er wußte, wo er sich besser hinwenden konnte. Oh, Karolus war stolz auf diesen Auftrag, er stand vom Morgen bis zum Abend im Küchenhaus und wog und maß, und Ane Maria schrieb auf. Es war wirklich sehenswert, wie ordentlich es zuging, nicht eine Kartoffel zuviel oder zuwenig. Ane Maria war dabei eine große Hilfe, sie kannte die ganze Bucht und konnte die Verteilung nach der Größe der einzelnen Familien regeln, bei ihr nützte es auch nichts, irgendwelche Schliche anzuwenden und zwei Notleidende aus demselben Hause zu schicken. Da stand sie und überblickte alles, ihr Pult war ein Faßboden, ab und zu wurde wohl ihr Tintenfaß umgeworfen, vielleicht mit Absicht, vielleicht um ihre Liste zu zerstören und auf diese Weise noch einmal aufgeschrieben zu werden, aber Ane Maria ließ sich nicht irremachen. Nein, halt, Kristofer! sagte sie, du hast heute morgen bekommen, und jetzt schickst du eines deiner Kinder, um noch einmal etwas zu kriegen! Mach das nicht wieder!

Es war ein großer Tag. Ezra hatte sich als ein wahrer Bewohner der Bucht und Wohltäter erwiesen, wahrlich, ein Komet oder irgendeine andere Botschaft vom Himmel hätte nicht mehr Aufsehen erregt. Die Leute hatten sich in Ezra geirrt. Sie hatten leider seit Jahr und Tag schlecht über ihn geredet, ihn aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen und ihn einsam gemacht, es gereichte ihm zu unverwelkbarem Lob, daß er dies der Gegend nicht nachtrug, sondern ihr zu Hilfe kam, als die Stunde der Not schlug. Wäre Kaplan Tveito nicht im Begriff gewesen, abzureisen, hätte er unbedingt darüber predigen müssen. Soviel war das wert.

Ja, sagte Karolus, wäre noch alles so wie zu der Zeit, da ich Bürgermeister war, hätte der Gemeinderat dem Ezra in einem Protokoll danken müssen, das hätte ich wahrhaftig durchgesetzt. Ja ja, sagten die Leute, Ihr könnt ja wieder Bürgermeister werden. Was meint Ihr dazu?

Nein, erwiderte Karolus, ich habe zuviel unter den Händen, so wie die Dinge jetzt liegen, sowohl die Bank als auch verschiedenes andere.

Aber es war immerhin ein Gedanke, Karolus hatte nichts dagegen, daß davon gesprochen wurde, es lag Musik darin, es schwellte ihm die Brust. Oh, Karolus hatte wirklich einen großen Tag; diese umfangreiche Abrechnung und die umgeworfenen Tintenfässer gaben ihm dann und wann Gelegenheit, zum Kramladen hinüberzustapfen und neues Schreibmaterial einzukaufen. Es waren keine Kleinigkeiten, die er hier brauchte, Pauline war seine feste Lieferantin von Tintenfässern.

Ihr braucht ja ungeheuer viel Tinte, sagte sie.

Es ist ja auch gerade keine kleine Rechnung, gab er zur Antwort. Die ganze Gegend kommt zu mir und bittet und fordert, und alles soll aufgeschrieben werden. Ich habe mich selten so abgerackert.

Na, Pauline hatte keinen Grund, gerade jetzt hoch zu Roß zu sitzen und auch nur den kleinsten Einkauf gering zu achten, der Kramladen hatte beinahe keine Kunden mehr, und sie mußte froh sein, wenigstens ein Tintenfaß an einen Mann wie Karolus verkaufen zu können. Allerdings hätte sie jederzeit den Laden gänzlich leer verkaufen können; was sollte sie daran hindern! Aber das Geld bei den Leuten war jetzt versickert, und Pauline weigerte sich, noch mehr auf Kredit abzugeben. Als das Mehl zu Ende war, kamen sie herbei und wollten andere Dinge zum Essen, Kaffee und Tee, Tabak, Margarine, Süßigkeiten, Rosinen, Sirup; wenn aber Pauline Geld sehen wollte, drehten sie ihre Taschen um, und so kam kein Geschäft zustande. Nein, die Waren gehörten dem großen Bruder, sie verwaltete den Kramladen nur, sie schrieb nicht mehr eine Rolle Tabak auf!

Joakim, ihr Bruder, hatte eines Abends ein Gespräch mit ihr. Er riet ihr, es so zu machen wie Ezra auf der Neusiedlung und alles herzugeben, was sie an eßbaren Waren hatte, mit Rumpf und Stumpf.

Das wollte Pauline nicht.

Dazu wirst du sicher noch genötigt werden, sagte Joakim.

Wieso, – was meinst du damit?

Joakim: Der Ezra ist kein Dummkopf. Er wußte: was die Leute nicht von selber kriegen, das holen sie sich eines Tages.

Pauline flogen viele gute Pläne durch den Kopf: der große Bruder sollte Läden vor die Fenster machen, sollte die Tür mit einem großen Riegel versehen, sollte den Kellereingang zumauern, sie selber wollte mit einer Hacke dastehen. Was Joakim tun würde?

Nur dastehen und zusehen, sagte Joakim. Da ist nichts zu machen.

Pfui Teufel.

Nein, sie wollte sich nicht damit abfinden. Sie schnaubte wild und schwor, sie würde den Lensmann herbeirufen.

Den Lensmann! sagte Joakim und lächelte nur. Er verwarf alle ihre guten Pläne, der Reihe nach, wie sie sie aufzählte.

Nun aber, und du als Bürgermeister, rief sie wütend, wirst du nicht an den Amtmann schreiben?

Das habe ich bereits getan, erwiderte er. Und zwar habe ich nicht geschrieben, sondern telegraphiert.

Ja, es war schon richtig, auch Joakim, der Bürgermeister, saß nicht mehr hoch zu Roß, die Kartoffeln aus der Nordgemeinde hielten ja nicht viele Tage vor, da mußte er schließlich in sich selber gehen und sich an den Amtmann wenden, es war nichts anderes zu machen. Aber was konnte der Amtmann tun? Er saugte wohl selber an den Fingern. Überall herrschte Lebensmittelnot.

Pauline schnaubte ärgerlich: Man sollte nicht meinen, daß wir in einem christlichen Land leben!

Ich bin noch weiter gegangen, sagte Joakim, der Bürgermeister, ich habe jetzt an den Rat des Königs telegraphiert.

Das war ungeheuer, an den Rat des Königs, noch weiter gegangen, – das war also Ernst. Jetzt wurde auch Pauline zahm und hatte nichts mehr zu sagen.

Im übrigen gab es jetzt eine Weile Frieden und Ruhe. Die Nahrungsmittel von der Neusiedlung linderten die ärgste Not, die Bevölkerung war damit beschäftigt, mit ihren Kornsäcken zu den Gemeindemühlen zu wandern und mit Mehl wiederum heimzukehren. Die Weihnachtszeit war diesmal schwer zu überstehen, und noch schlimmer wäre es gewesen, wenn Pauline vom Kramladen sich nicht als große Bürgerin und Wohltäterin Nummer zwei erwiesen hätte. Auch sie war von den andern verkannt worden, jetzt ließ sie alles Eßbare und Trinkbare, das sich in Laden und Keller befand, an alle Leute ausliefern, und es wurde niemand angekreidet, und niemand bezahlte. So etwas, Pauline! Viel war es ja nicht, was sie hatte, aber immerhin fand sich bei ihr noch etwas Fleisch, Margarine und Sirup, wahrhaftig, es gab eine Kleinigkeit für die Erwachsenen und auch eine Kleinigkeit für die Kinder. Pauline, die sich sonst den Teufel um Kinder geschert hatte, hatte plötzlich ein Herz für sie und sandte ihnen Keks und Kringel und Zuckerzeug, und die Erwachsenen bekamen Kaffee und Tabak. Selbstverständlich teilten auch diesmal Karolus und Ane Maria die Waren aus, Karolus holte wiederum Schreibmaterial, und Ane Maria schrieb auf. Es ist beinahe zuviel, als daß ein Mensch es bewältigen könnte, sagte Karolus, stellt euch nur vor, wenn ich jetzt auch noch dazu Bürgermeister wäre!

 

Die Regierung schickte durch den Amtmann ein Telegramm: Ja, es solle alles geschehen, was möglich sei, die Leute müßten nur ein wenig Geduld und Selbstzucht haben, die Behörden seien bereits mit der Angelegenheit beschäftigt.

Bürgermeister Joakim schlug das Telegramm beim Kramladen an.

Es war auch wirklich höchste Zeit, daß diese Botschaft vom Rat des Königs kam: die Not war wieder groß geworden, die Lebensmittel von der Neusiedlung waren aufgegessen und die Schleckereien aus dem Kramladen verdunstet, dazu kam noch, daß jetzt auch jeder kleinste Bissen Fleisch von der Schlachtzeit im Herbst her aufgezehrt war. Angesichts dieser Schmerzen und Qualen gab es einige, die sich auf Gebete und Gottesfurcht warfen, man sah sie umhergehen mit nassen Tränenbahnen in den ausgezehrten Gesichtern, Mütter hielten die Kleinen auf dem Schoß und erzählten ihnen von der Milch, die sie bekommen würden, wenn sie nun Hungers starben und in den Himmel kamen. Wenn zwei Frauen beim Bach zusammentrafen, unterhielten sie sich miteinander über viele jenseitige Dinge. Teodors Ragna war sehr flink und glänzte oft mit ihrer Weisheit. Merkwürdig, Ragna war ja an Entbehrungen gewöhnt, oh, ihr war es das ganze Leben hindurch elend ergangen, diesmal aber hatte der Hunger sie angegriffen, obgleich Teodor an der Haltestelle das eine oder andere Eßbare gemaust und mit heimgebracht hatte. Um Teodor selber stand es weniger schlecht, er ging dann und wann einmal in die Innere Gemeinde hinüber zu seiner Tochter beim Doktor und bekam dort deren Mittagsmahlzeit. Aber Ragna wollte lieber selber hungern als »dem Kind etwas wegessen«. Sie war aufgeregt und religiös wie verschiedene andere, dies griff allmählich um sich. Ragna war im Vorteil, sie war den andern überlegen, weil sie in der Schule so tüchtig gewesen war und sich jetzt noch an vieles von dem Gelernten erinnern konnte. Für die anderen Frauen war es erhebend, sie am Bach zu treffen, sie hatte nun ein abgemagertes Gesicht und leuchtende Augen, aber sie besaß Kräfte genug, von der Frau mit dem Ölkrug in Sarepta zu erzählen und zu schildern, wie Gott einmal in den Hain Mamre kam und Kalbfleisch aß. Danach schmatzte sie mit ihren blassen Lippen und schluckte trocken hinunter. Es war, als habe sie von den fünf Broten und den zwei Fischen für mehrere tausend Menschen geredet –

Die kleine Ragna in der Bucht, sie pflegte so hübsch zu lächeln –

Natürlich hätte ihr eine ordentliche Mahlzeit dann und wann nicht geschadet, aber sie hatte sich alles gründlich abgewöhnt, wahrlich, sie hatte sich sogar unnatürlich hart gegen sich selber gemacht. Keine Rede mehr von Stelldicheins an dunklen Orten, keine hitzigen Träumereien in der Einsamkeit, nicht einmal warme und wollüstige Kleider auf dem Körper. Der Mantel, den sie von Roderik bekommen hatte, war jetzt viel zu gut für sie, aber Ester, die Tochter beim Doktor, hatte sich geweigert, ihn ihr wegzunehmen, so hing er unbenutzt da.

Jawohl, das war alles schön und gut, sie war ein anderer Mensch geworden. Ob es aber wirklich ein köstlicher Augenblick war, als die kleine Ragna kam und Ane Maria bekehren wollte? Oh, da ging sie wohl zu weit und bekam gründlich heimgeleuchtet.

Sie standen beide in einem zweideutigen Ruf in der Gegend: von Ane Maria erzählte man sich, daß sie unzufrieden sei mit ihrem Ehemann, und Ragna galt für ausschweifend. Was weiter? Keine von beiden konnte sich wohl freisprechen, aber was hatte das mit der jetzigen Zeit und mit der Hungersnot zu tun?

Ja, Ragnas Vorstoß war eigentlich auf die feierliche Stunde vor Weihnachten zurückzuführen, als die Waren des Kramladens ausgeteilt wurden und Ragna beim Sirup übergangen wurde. Wie, sagte Ane Maria, du hast ja keine Kinder mehr im Haus, ich wüßte wirklich nicht, wozu du Sirup kriegen solltest?

Zu diesen Worten schwieg Ragna, aber sie vergaß sie nicht. Oh, sie hatte doch nicht vorgehabt, den Sirup selber aufzuessen, aber wer konnte wissen, wie es beim Doktor, wo doch Ester war, mit Sirup stand? Jetzt konnte sie der Tochter nichts Gutes schenken, und das war Ane Marias Schuld. Man mußte befürchten, daß Ane Maria ein harter und unbekehrter Mensch war, Ragna wollte sie auf den rechten Weg weisen.

Die Sache nahm einen unglücklichen Verlauf, obgleich nur ein ganz gewöhnliches Gespräch geführt wurde.

Da stand Ane Maria und hörte zu, ihr Gesicht war mager und alt geworden vor Not, ihre Brüste waren weg. Anfangs schien sie sich gar nicht auszukennen: Kam wirklich Teodors Ragna und wollte jemand bekehren?

Ja. In aller Erbärmlichkeit. Und vor allem wollte sie Ane Maria davor warnen, mit Edevart Andreassen zusammenzutreffen.

Bist du denn ganz von Gott verlassen? fragte Ane Maria. Ich habe von Edevart nicht mehr gesehen, als ich Schwarzes unter dem Fingernagel habe.

Na, aber dann von August? Du solltest nur wissen, wie er hinter mir her war und wie er mich an sich gedrückt hat.

Ane Maria setzte eine säuerliche Miene auf. Es war nicht ganz sicher, daß es ihr nicht bis jetzt geschmeichelt hatte, in dem Verdacht zu stehen, daß sie sich gern mit Männern abgab, aber Ragnas letzte Aufklärung machte sie eifersüchtig und bitter, Ragna war doch viel jünger und viel mädchenhafter in der Erscheinung, diese Hexe.

So, hat er das, hat er dich an sich gedrückt? Nun, da hast du wohl nichts dagegen gehabt, kann ich mir denken.

O doch, o doch, Ane Maria solle das nicht mehr von ihr glauben, sie sei erweckt –

Wie dem auch ist, August liegt jetzt jedenfalls im Sterben und redet im Fieber.

Wenn ich ihm doch nur noch ein ernsthaftes Wort sagen könnte! wünschte Ragna.

Da lachte Ane Maria und kränkte die kleine Ragna tief. Oh, diese harte und unbekehrte Seele sollte nicht lachen, diese große Sünderin, die überdies wegen des Mordes an einem Schiffer bestraft worden war. Ich weiß nicht, was du für einen Grund hast, dazustehen und zu kichern, Ane Maria, sagte Ragna.

Jetzt duzte sie sie auch noch, – Ane Maria, zu der alle Menschen Ihr sagten, seitdem sie reich geworden war. Aus dir mache ich mir gar nichts, sagte Ane Maria und wollte gehen.

Ragna: Es ist jetzt auch für dich an der Zeit, über dich nachzudenken, wie groß du dich sonst auch fühlen magst. Mir wurde der Auftrag, zu dir zu gehen und dich zu warnen.

Geh du lieber heim zu dir und flick deine Kleider, anstatt dich den Leuten in diesem Zustand zu zeigen.

Was glaubst du wohl, daß ich mir noch aus meinem kläglichen Leib mache, ich frage nichts danach, ob ich friere oder nicht! Denn der Jüngste Tag ist jetzt nahe!

So, meinte Ane Maria. Wer hat das denn erzählt?

Die Schrift. Der Jüngste Tag ist nahe, wenn nirgends mehr Licht ist, genau so wie jetzt. Und außerdem haben wir Teuerung und Hungersnot, und unsere Gemüter sind verfinstert, und wir beten nicht zu Gott.

Es heißt, daß man inzwischen Heringsschwärme draußen gesichtet hat, erwiderte Ane Maria trocken.

Ragna mußte hinunterschlucken, und in ihre Augen trat ein Schimmer. Wollte Gott, es wäre so! wünschte sie. Aber das hat es nun schon so oft geheißen, Gott steh uns bei!

Es heißt, daß Vögel gekommen sind.

Ragna schluckte wiederum hinunter: So hat also vielleicht die Gnade Gottes einen Weg zu uns gefunden, du wirst es schon sehen! Ach, ich wollte nichts anderes tun, als auf meinen Knien liegen und ihm danken, wenn es wirklich so wäre!

Hast du denn überhaupt nichts mehr zu essen? fragte Ane Maria.

Ragna bewegte ihre toten Lippen kaum und antwortete, nein, seit Mittwoch.

Ist Teodor daheim?

Nein. Er hatte in der Inneren Gemeinde etwas zu tun.

Warum gehst du nicht selber ab und zu in die Innere Gemeinde?

In Ragnas Gesicht schoß Wildheit auf, und sie fauchte: Eher will ich sterben!

Du könntest noch etwas Schlimmeres tun, als dich nach Ester umschauen.

Wie meinst du das? fragte Ragna. Bin ich nicht ohnehin schon sündig genug, daß ich auch noch meinem Kind das Essen wegnehmen sollte?

Ane Maria sagte: Du kannst ein paar Kartoffeln haben.

Nein! schrie Ragna ihr hysterisch nach.

Ane Maria ging ins Küchenhaus hinüber und kam mit ihrer Gabe zurück. Einige Kartoffeln, einige wenige Kartoffeln. Ich wollte, ich könnte dir mehr geben, sagte sie, aber ich muß ja an diese prächtigen kleinen Buben denken. Und hier hast du ein Stück Fleisch.

Ragna: Ich nehme es nicht an!

Ane Maria machte aus den Kartoffeln und dem Fleisch ein Paket und gab es ihr.

Und die Tränen bildeten eine neue Rinne auf Ragnas grauen Wangen: Es ist eine Sünde, daß du mich in Versuchung führst, schluchzte sie, du brauchst es selber, du brauchst es selber, sage ich! Was soll ich damit für mein elendes Leben? Hat man deinesgleichen gesehen! Wo du doch selber ganz ausgehungert bist –

Die kleinen Buben stürmten von draußen herein, ah, zwei Prinzen, dralle Burschen in ihren kleinen Schuhen und kleinen Anzügen, munter und gut gehalten. Gott sei Dank, sie haben bis jetzt noch keine Not gelitten! sagte Ane Maria.

Als Ragna gehen wollte, schien sie sich zu erinnern, weshalb sie eigentlich gekommen war, und sagte anstandshalber: Ja ja, ich war ja nur ein geringer Bote von ihm, der mich beauftragte! Sie war beschämt und sprach zum Dank für das Geschenk mit demütigen Worten. Ich möchte gerne, daß auch du versuchtest, dein eigenes Fleisch zu kasteien, Ane Maria. Liegt August denn wirklich im Sterben? Na, aber Edevart geht noch mitten unter uns –

Ane Maria winkte ihr ab. Nein, sie war nicht gewohnt, geduzt zu werden, keineswegs, aber das mochte noch hingehen. Dagegen sollte Teodors Ragna doch ja nicht versuchen zu predigen. Das war Getue. Mach dich doch nicht lächerlich! sagte sie. Ich kenne das besser als du, ich habe das früher schon einmal durchgemacht, damals in Drontheim. Ich wurde so erweckt, daß ich dem Pfarrer und dem Direktor Schrecken einjagte, und sie ließen mich Tag und Nacht bewachen.

 

Die Erweckung in der Bucht griff besonders unter den Müttern um sich. Sie waren ohne Führung, wenn sie sich nicht selber führten, sie kamen beim Bach zusammen oder besuchten einander daheim, sie hatten die Postille und das Gesangbuch, und Teodors Ragna las laut vor. Das waren gesegnete Stunden, fanden sie, und sogar Männer schlossen sich ihnen an, Kristofer, der sonst ein Draufgänger gewesen war, wurde von Hunger und Religiosität so sehr verwirrt, daß er dann und wann die Einsamkeit aufsuchte und weinte.

Und da lag nun August.

Bei ihm war es anders als bei den andern. Doch, freilich war er krank und redete irr und nannte sich selber Massa und Kapitän und sah durch das Fernglas ein paar Frauen an einem Badestrand zu. Stimmen kamen von der Decke zu ihm, und er antwortete, es handelte sich um ein Negermädchen, das um Gnade gebeten hatte, aber er hatte nicht auf sie gehört, – haha, so töricht war Massa nicht! Er wälzte einen großen Plan, wie er demnächst in der Bucht einen Markt veranstalten könnte. Warum nicht? Die ganze Innere Gemeinde würde kommen und dazu die Leute von der Haltestelle und aus den Nachbargemeinden. Ein riesiges Karussell und eine Geldlotterie, aber keine Bären, nein, pfui Teufel! rief August in seinem Fieber. Schluß jetzt, schweigt still –

Edevart saß Tag und Nacht bei ihm oder lag bei offener Tür im Nebenraum, der Doktor hatte die Krankheit »eine Art Lungenentzündung« genannt und ihm Spritzen und Tropfen gegeben, der Patient durfte nicht allein gelassen werden, denn es könnte sein, daß er in seinem wirren Zustand aus dem Bett spränge.

Er war nicht die ganze Zeit ohne Besinnung; im Lauf des Vormittags am dritten Tag hatte er einen lichten Augenblick. Er hielt es da nicht für unmöglich, daß er sterben würde, im Gegenteil, er fürchtete, daß es dahin kommen könnte, und es beschäftigte ihn stark, wie es ihm wohl im Jenseits gehen würde. Plötzlich fragte er Edevart, ob draußen Sturm sei und aus welcher Richtung der Wind komme.

So, vom Atlantik her! sagte er und nickte.

Er war ganz klar, befaßte sich jedoch heftig mit den verschiedensten Fragen, die keinerlei Zusammenhang zu haben schienen: Ich wollte zum Frühjahr etwas pflanzen, aber jetzt sterbe ich wohl.

Du stirbst nicht, sagte Edevart.

So, glaubst du nicht? Was ich sagen wollte: Als du eine Farm hattest, – hast du Tabak auf deiner Farm angepflanzt?

Tabak? Nein.

Hast du je ein Tabakfeld gesehen?

Nein, das habe ich wohl nicht. Weshalb fragst du?

Du weißt also nicht, wie die Blätter auf der Wurzel aussehen?

Nein.

Ja, siehst du, sagte August ohne neuen Übergang, wenn nun der Sturm vom Atlantik hereinsteht, so können überall Heringsschwärme auftauchen.


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