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Durch die Nacht wandelten sie dahin – Naomi lachend und singend in ihrer neugefundenen Freude, Mohammed von Zeit zu Zeit zurückblickend nach Tetuan, dessen ungeheurer Umriß sich von dem schwarzen Nachthimmel abhob – so gelangten sie zu der Hütte bei Semsa, ehe noch der Morgen heraufdämmerte. Aber sie kamen zu spät. Israel ben Oliel sollte nun doch nicht nach England gehen. Er sollte eine längere Reise antreten. Seine einsame Stunde war gekommen, seine dunkle Stunde, in der niemand ihm Gesellschaft leisten konnte. Auf einer Matratze an der Mauer lag er ausgestreckt, bewußtlos und seinem Ende nahe. Zwei Nachbarn aus dem Dorfe waren bei ihm in seiner Verlassenheit – bei ihm, dem einst mächtigen Manne, der nach seinem Sturze von allen gemieden war, außer von dem großen Gott und Richter.
Unbeschreiblich war Naomis Schrecken, unsagbar ihr Schmerz, als sie ihren Vater so wiederfand. Sie mußte lange mit sich kämpfen, ehe sie sich zu fassen und unter Gottes unerforschlichen Ratschluß zu beugen vermochte.
Es hatte keinen Zweck, sich nach einem Arzte umzusehen. Dieses Land befand sich, was die edle Heilkunst anbetraf, noch in demselben Stande der Unschuld, wie Kanaan zu Abrahams Zeiten. Das einzige, was sie thun konnten, war, sich gänzlich und bedingungslos zu unterwerfen. Sie waren in Gottes Hand.
Das Licht strömte gelb und rosig durch das Fenster unter dem Dach, als Israel zu sich kam. Er öffnete die Augen, als erwache er soeben vom Schlummer, und sah Naomi neben sich. Doch zeigte er weder Überraschung, noch verriet er anfangs irgend welche Freude darüber. Trübe und mild schaute er sie an, und dann glitt etwas, das ein Lächeln hätte sein können, wäre es nicht gar so kraftlos gewesen, wie ein Sonnenstrahl aus einer Wolke über sein abgezehrtes Gesicht. Naomi schob ein Kissen unter seinen Rücken und ein zweites unter seinen Kopf, um diesen zu stützen und jenem Linderung zu verschaffen. Aber die eherne Hand der Bewußtlosigkeit legte sich wieder auf ihn, und viele Stunden lang saßen darauf Naomi und der Mahdi schweigend beisammen und empfanden die Nähe der unsichtbaren Welt.
Indem kam Fatima in brennender Eile angelaufen und brachte Nachrichten aus Tetuan: die Spanier hätten die Stadt gewonnen, aber Abderrahman und die meisten seiner Minister wären entwischt. Ben Abu habe versucht, ihnen zu folgen, sei aber in einem Nebenraum seines Patio getötet worden. Ali habe ihn erschlagen. Der brave Junge habe die Reihe seiner Leibwächter durchbrochen und sich auf ihn gestürzt. Einer dieser Wächter habe Ali erschlagen. Mit dem Namen Israels auf den Lippen und einem triumphierenden Siegesruf sei der tapfere Schwarze gefallen. Die Kasbah stünde in Flammen, sie brenne schon seit dem Bankett des vorigen Abends.
Gegen Sonnenuntergang kam Frieden über Israel ben Oliel, und sie erkannten nun, daß sein Ende sehr nahe war. Naomi kniete noch immer zu seiner rechten Hand, und Mohammed stand zu seiner Linken. Israel schaute das Mädchen mit unaussprechlicher Zärtlichkeit an, obgleich sein edles Angesicht schon in dem harten Griff des Todes zu erstarren anfing. Mehr als einmal blickte er auch nach Mohammed hinüber, als ob er etwas zu sagen wünschte; aber er vermochte es nicht, weil die Lebenskraft am Entschwinden war. Doch endlich gewann er noch einmal Macht über seine Stimme.
»Ich habe es aufgeschoben, bis es zu spät war,« sagte er. »Ich kann nicht mehr nach England gehen!«
Naomis Thränen flossen von neuem beim Klange dieser matt gestammelten Worte, und nicht ohne Anstrengung antwortete ihm der Mahdi:
»Denke nicht mehr daran,« sagte er und stockte dann, als bliebe ihm das Wort, das er aussprechen wollte, in der Kehle stecken.
»Es ist hart, sie verlassen zu müssen,« sagte Israel, »denn sie ist allein; und wer wird sie beschützen, wenn ich fort bin?«
»Gott lebt,« sagte der Mahdi, »und er ist der Vater der Vaterlosen.«
»Aber,« erwiderte Israel, »bei welchem Juden würden sich ihres Vaters Leiden nicht an ihr wiederholen, und welcher Moslem könnte sie vor ihren eigenen schützen?«
»Wer Gott vertraut,« entgegnete der Mahdi, »braucht der den Kaid zu fürchten?«
»Welch ein Mann aber kann sie erretten?« rief Israel von neuem.
Da sprach Mohammed, durch Naomis Thränen, ebenso wie durch ihres Vaters Drängen gerührt, aus seinem vollen, heißen Herzen heraus:
»Sei ruhig! Wenn niemand anders da ist, sie zu sich zu nehmen, so soll sie von heute an mit mir ziehen.«
Da schaute Naomi zu ihm auf mit einem solchen Aufleuchten in ihren schönen Augen, wie er es wohl oft seitdem, aber nie zuvor darin gesehen, und Israel ben Oliel, der nach seiner Hand gefaßt hatte, umspannte sie plötzlich mit festem Druck.
»Gott segne dich!« sagte er, so laut wie er konnte, denn der Engel der Liebe und der Engel des Todes kämpften miteinander um sein Leben.
Noch einen Augenblick sah Israel den Mahdi fest an, dann sagte er sehr leise:
»Nun mag der Tod kommen, ich bin bereit. Lebewohl, mein Vater! Lebewohl! Ich habe versucht, dein Gebot zu erfüllen. Weißt du noch dein Losungswort? Aber Gott hat mir den Lohn der Buße gegeben – sieh her,« und er richtete seinen Blick auf Naomis Augen mit einem verlöschenden und doch sonnigen Lächeln.
»Gott ist gut,« erwiderte Mohammed, »liege still, liege still!« und er legte seine kühle Hand auf Israels Stirn.
»Ich hinterlasse sie dir,« sagte Israel: »und du allein unter allen Männern, die in diesem von Gott verfluchten Lande wohnen, kannst sie beschützen, denn Gottes rechte Hand und sein Arm sind um dich her. Ja, Gott ist gütig. So lange du lebst, wirst du sie lieb und wert halten. Nie war sie mir so teuer wie jetzt, so süß, so lieblich, so holdselig. Aber du wirst sie lieb haben. Gott ist mir sehr gnädig. Behüte sie, wie deinen Augapfel. Es wird dir belohnt werden. Und laß sie auch meiner gedenken – zuweilen – nur zuweilen! Ach, ich hätte dies alles fast zum Scheitern gebracht! Gedenke dessen! Gedenke daran!«
»Still, still! Vermehre nicht deine Schmerzen,« sagte der Mahdi. »Fühlst du dich jetzt wohler?«
»Mir ist wohl,« versetzte Israel, »und ich bin glücklich – so glücklich!«
Die Sonne war untergegangen, und das kurze Zwielicht wurde schnell zur Nacht, als ein zweiter Bote aus Tetuan anlangte. Es war Alis alter Taleb, der, obwohl er um seinen Knaben weinte, doch seinen tapfern Tod laut rühmte. Die schwarzen Leibwächter selbst hatten ihm davon erzählt. Nachdem Ali gefallen sei, habe er noch einen Augenblick gelebt, wenn auch ohne Bewußtsein. Der brave Junge habe wohl gemeint, wieder bei Israel zu sein. »Ich habe es vollbracht, Vater,« habe er ausgerufen, »er wird dir nie wieder etwas zu leide thun: Nun wirst du mich auch nicht wieder von dir stoßen, nicht wahr, Vater?«
Den Umstehenden entging es nicht, daß Israel die Erzählung gehört hatte. Die Augen Sterbender sind trocken, aber sie wußten wohl, daß das Herz des Mannes weinte.
Der Taleb war des Glaubens gewesen, Israel sei gleichfalls heimgegangen, denn ein derartiges Gerücht hatte sich in der Stadt verbreitet. »El hamdu l'Illah!« rief er, als er sah, daß Israel noch lebte. Aber dann fiel ihm etwas ein, und er flüsterte vorsichtig dem Mahdi zu, daß eine große Schar von Mauren und Juden, seine eigene große Gefolgschaft mit eingeschlossen, eben herauszöge, um Israel, den sie für tot hielten, zu begraben.
Israel aber verstand, was der Taleb erzählte, und lächelte. Es schien, als lache er sogar ein wenig. »Bald wird es wahr sein,« murmelte er leise mit fliegendem Atem. Und kaum hatte er gesprochen, da erklang in der Ferne ein leiser, tiefer Ton. Es war die Totenklage um Israel ben Oliel.
Näher und näher kam es heran, und deutlicher, immer deutlicher erklang es. Zuerst eine mächtige Baßstimme: »Allah Akbar!« Wieder eine, und noch eine Einzelstimme: »Allah Akbar!« und dann der brausende Ruf einer großen Menge: »Al-l-la-u-kabar!« Zuletzt kam ein langgezogener, schwermütiger Klageton, himmelansteigend und wieder zur Tiefe hinabsinkend in der dunkelnden Abendluft: »Es ist kein Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet!«
Feierlich klang es, ja fast grausenhaft, da der Mann, dem es galt, noch lebte und es hörte.
O der Dankbarkeit, die erst laut wird als Grabgesang! O des Ruhmes, der nichts weiter ist, als ein Leichengefolge!
Israel lauschte und lächelte wieder: »Ja, Gott ist groß!« flüsterte er, »Gott ist groß!«
Um seiner keuchenden Brust eine kurze Erleichterung zu verschaffen, stand der Mahdi auf und schritt zur Thür. In der Ferne konnte er schon den herankommenden Zug unterscheiden – ein beweglicher schwarzer Schatten am Horizont. Weit in den Wolken über den wogenden Häuptern der Menge sah er eine düstere Glut. Es war das letzte Aufglimmen des Brandes des modernen Sodoms.
Während er hinausblickte, erschreckte ihn eine halberstickte Stimme hinter ihm. Es war Israels Stimme. Er sprach zu Naomi: »Ja,« sagte er, »es ist schwer zu scheiden. Wir waren ebenso nahe dem Glücke ... Aber du mußt nicht weinen. Höre mich an! Wenn ich dort bin – nicht wahr, du weißt? Dort – werde ich sagen: ›Vater, du thatest recht daran, mein Gebet zu erhören. Mein Töchterchen – ist glücklich, sie ist fröhlich, und ihre Seele ist eitel Sonnenschein!‹ Daher darfst du nicht weinen. Niemals, niemals, niemals! Vergiß es nicht! ... So – das ist recht, das ist recht. Mein süßer Liebling! Mein sonniges, fröhliches, glückliches Mädchen!«
Naomi versuchte zu lachen, um ihres Vaters Wunsch zu erfüllen. Sie kämmte seinen vernachlässigten, zerzausten weißen Bart mit ihren Fingern, während er nach Luft rang, um weiter zu sprechen.
»Naomi, weißt du noch?« sagte er, und dann versuchte er zu singen, ja sogar nach Kinderart die Worte zu lispeln, die er sang: »Weißt du noch –
Nun klingt's aus meines Herzens Reich:
O Erd und Himmel freuet euch!
Es singt: – O große – Liebe ...«
Aber seine Kraft war erschöpft, er mußte aufhören.
»Singe du,« flüsterte er mit einem Anflug mitleidigen Lächelns über seinen mißlungenen Versuch. Da nahm das tapfere Mädchen, jetzt ganz Mut und Stärke, – zitternd und doch fest wie eine stählerne Springfeder – das Lied auf, wo er es abgebrochen hatte, obgleich ihre Stimme bebte und ihre Augen übergingen.
Während Naomi sang, machte Israel einen schwachen Versuch, den Takt dazu zu schlagen, obgleich wieder und wieder seine schlaffe Hand auf seine Brust zurückfiel. Als sie geendigt hatte, blickte Israel erst auf den Mahdi, dann auf sie, und lächelte dazu, als ob er, sie und das Lied eins für ihn seien.
Doch kaum war das Lied verklungen, als von neuem die Totenklage erscholl, jetzt näher als zuvor und lauter. Israel hörte sie. »Horch! sie kommen. Bleibt dicht bei mir,« murmelte er.
Er zerrte und zog mit einer Hand an der Brust seines Kaftans. Der Mahdi dachte, er brauche Luft, aber Naomi verstand ihn besser durch den hilfreichen Instinkt, den die Frauen bei solchen Gelegenheiten haben. Bei seinen getrübten Sinnen sollte dies ein Versuch sein, sich aufzurichten, um dem Gesange draußen besser lauschen zu können. Das Mädchen schlang ihren Arm um seinen Hals, und nun blieb seine welke Hand ruhig. »Ach! näher! Gott ist groß!« murmelte er wieder. »Gott – ist – groß!« Mit diesem Wort auf den Lippen lächelte er, seufzte dann und sank zurück. Jetzt war es ganz finster geworden.
Als Mohammed an seinen Platz zu Israels Füßen zurückkehrte, war es, als habe der Sterbende nach seiner Hand getastet. Nun ergriff er sie und zog sie an seine Brust, wo die Hand Naomis unter seinen eigenen zitternden Fingern lag. Mit dieser letzten Anstrengung und einem Blick in des Mädchens Antlitz, den er wohl mit sich in die Heimat nehmen mochte, schlossen sich seine großen Augen für immer.
Während des Schweigens, das dem Scheiden des Geistes folgte, schwoll in brausenden Tönen die Leichenklage heran, getragen von den Flügeln der Nachtluft: »Allah Akbar! Al-la-u-kabar!«
Nach wenigen Minuten hatte der große Zug des tetuanischen Volkes, das herausgekommen war, um Israel ben Oliel zu begraben, das Haus erreicht.
»Er ist heimgegangen,« sagte der Mahdi, abwärts deutend; dann erhob er seine Augen gen Himmel und fügte hinzu: » Zum Könige!«
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