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Israels Instinkt hatte ihn nicht getäuscht: die Ankunft Katrinas erwies sich als der Anfang seines Endes. Er behielt sein Amt, aber er büßte seine Macht ein. Er setzte nicht mehr seinen eignen Willen in Tetuan durch; er mußte den Willen des bösen spanischen Weibes ausführen, und ihn traf der Haß des Volkes. Denn noch immer schien er in allen Angelegenheiten des Besteuerungs- und Schatzungsamtes zwischen dem Volk und dem Statthalter zu stehen. Es war ihm unsäglich bitter, Katrinas Schuld büßen zu müssen, aber noch mehr verdroß es ihn, ihr Werk auszuführen. Ihr Werk aber war: das Volk mit weit höheren Steuern zu belasten, als es zu zahlen vermochte; seine Buße die, daß er als die Pest des Paschaliks gehaßt, als der Tyrann von Tetuan verschrieen und von dem Abschaum der Straßen verspottet wurde.
Eines Tages putzte eine Bande schmieriger Araber auf dem Marktplatz einen blinden Strolch mit ebensolchen Kleidern aus, wie sie Israel trug, und ließ ihn bettelnd durch die Stadt ziehen. Aber nichts schien Israels Sinn ändern zu können. Männer wurden aus keinem andern Grunde ins Gefängnis geworfen, als weil sie reich waren, und die Verwandten der bereits Eingesperrten durften sie mit Geld frei kaufen, so daß kein Verbrecher bestraft wurde, mit Ausnahme derjenigen, die nichts bezahlen konnten. Die Leute gerieten in Schrecken und flohen in andere Städte. Israels Name ward ein Fluch und ein Ärgernis durch die ganze Berberei.
Und doch hatte er all diese Zeit das tiefste Mitgefühl mit dem Volke. Seit Ruths Tode war er barmherzig geworden. Die Sorge um sein Kind hatte ihn weich gemacht. Er hatte dadurch gelernt, liebevoll auf andere Kinder zu sehen, und die Zärtlichkeit gegen andere Kinder hatte ihn dahin geführt, auch mit den Vätern Mitleid zu empfinden. Jung oder alt, kraftvoll oder schwach, mächtig oder gering, waren sie doch alle wie kleine Kinder – hilflose Kinder, die bald in demselben Bette miteinander schlafen würden.
Im Verfolg dieser Gedanken würde Israel gern das schlimme Werk früherer Jahre ungeschehen gemacht haben; aber das war unmöglich. Viele von denen, die einst gelitten hatten, waren tot; manche, die in den Kerker geworfen waren, hatten dadurch ihre Freiheit für immer erlangt. Aber wenigstens hätte Israel die Strenge mildern mögen, mit der sein Herr regierte, aber auch das war unmöglich. Katrina war inzwischen gekommen, und sie war ein eitles Weib und liebte jede Art von kostspieligem Luxus; deshalb befahl sie Israel, neue Steuern auszuschreiben. Er gehorchte ihr drei schlimme Jahre hindurch; aber so manches Mal warf sein Gewissen ihm vor, daß er das arme Volk schändlich behandle, und als er sah, wie die Leute auf ihre Häuser und Ländereien Geld borgten, um dem Statthalter den Tribut zu bezahlen, und wenn er dabei stand und mitansehen mußte, wie sie und ihre Söhne ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie die Wechsel der Wucherer Abraham oder Juda oder Ruben nicht einlösen konnten, so empörte sich seine Seele dagegen, daß er das Brot einer solchen Herrin essen mußte.
Aber Speise ging von dem Fresser und Süßigkeit von dem Starken. Der Bosheit Katrinas hatte es Israel zu danken, daß er von dem Bann seiner falschen Stellung erlöst wurde.
Nun lebte in Tetuan ein alter, frommer Mohammedaner Namens Abdallah, von welchem die Rede ging, daß er bei seinem Geschäft als Büchsenschmied große Ersparnisse gemacht habe. Als er eines Abends nach der Moschee ging mit fünfzehn Thalern im Leibgurt, schnallte er denselben ab und legte ihn auf den Rand des Springbrunnens, während er seine Füße wusch, um den heiligen Ort würdig zu betreten, denn sein Rücken war nicht mehr geschmeidig. Da sah ein junger Maure, der auch gerade zum Gebet gehen wollte, die Goldstücke, raffte sie auf und lief davon. Abdallah konnte dem Dieb nicht folgen, deshalb ging er nach der Kasbah, um sich bei dem Statthalter zu beschweren.
Es traf sich, daß gerade damals der Kaid von Fes zum Besuch bei Ben Abu war. »Frage ihn, wieviel er außerdem noch hat,« flüsterte der Amtsgenosse dem Ben Abu zu.
Abdallah antwortete, er wisse es nicht.
»Ich will dir zweihundert Dukaten geben für das, was du ihm abzwacken kannst,« flüsterte der Kaid aufs neue.
»Fünf Bienen sind besser als ein Korb voll Fliegen – top!« sagte Ben Abu.
So wurde Abdallah verkauft, wie ein Stück Vieh, nach Fes geschleppt, und dort ins Gefängnis geworfen bei Strafe von 250 Thalern, die ihm unter dem Vorwand einer falschen Anklage auferlegt war.
Israel saß an diesem Tage neben dem Statthalter am Thore der Gerichtshalle, und viele arme Leute aus der Stadt standen draußen im Hof zusammengedrängt, während die Unthat begangen wurde. Niemand hörte den Kaid von Fes dem Ben Abu die schändlichen Worte zuflüstern, aber alle sahen, wie Israel den Verhaftbefehl aufsetzte, der den Büchsenschmied zum Gefängnis verurteilte, und wie er des Statthalters Siegel darunter drückte.
Abdallah hatte nichts gespart, und da er zu alt war, um zu arbeiten, hatte er mit von dem Erwerb seines Sohnes gelebt. Dieser Sohn, Absalam (Abd-es Salaam), hatte ein Weib und ein sechsjähriges Söhnchen, die er beide zärtlich liebte. Absalam folgte seinem Vater nach Fes und besuchte ihn im Gefängnis. Man hatte dem alten Mann hundert Peitschenhiebe aufgezählt, und das Fleisch hing ihm in Fetzen von den Gliedern. Der hochherzige Absalam, den seines Vaters unglückselige Lage jammerte, ging zum Statthalter und bat, daß der Greis in Freiheit gesetzt, und er selbst statt seiner eingekerkert werden möchte. Seine Bitte wurde erhört. Abdallah wurde in Freiheit gesetzt, Absalam ins Gefängnis geworfen, und das Strafgeld von zweihundertfünfzig auf dreihundert Thaler erhöht.
Als Israel erfuhr, was geschehen war, eilte er in großer Aufregung zu Ben Abu, um ihm zu sagen: »Zahle dieses Mannes Lösegeld zurück, um Gottes willen! Seine Kinder und Kindeskinder werden dich dafür segnen ihr Lebelang.« Aber als er in die Kasbah kam, saß Katrina bei ihrem Manne, und bei dem Anblick des bösen Weibes erstarb Israel das Wort auf der Lippe.
Nun war Absalam unter allen Waffenschmieden seiner Nachbarschaft auf dem Markte besonders beliebt gewesen, und nachdem er drei Monate im Kerker von Fes gesessen hatte, thaten sie sich zusammen, verkauften ihre Waren mit Verlust, sammelten die ihm auferlegten dreihundert Goldstücke, befreiten ihn aus dem Gefängnis und zogen in geschlossener Schar durch das Thor ihm entgegen, als er nach Tetuan zurückkehrte. Aber sein Weib war inzwischen der Angst und dem Mangel erlegen, und nur sein greiser Vater und sein kleiner Sohn waren da, um ihn zu begrüßen.
»Freunde,« sagte er zu seinen Nachbarn, welche mit ihm vor den Thoren der Stadt standen, »was nützt es euch, zu säen, wenn ihr nicht wisset, wer es ernten wird?«
»Nichts nützt es, nichts!« antworteten mehrere Stimmen.
»Wenn Gott euch etwas gibt, dieser Mensch Israel nimmt es euch weg!« sagte Absalam.
»Das ist wahr! Fluch über ihn, Fluch über seine Verwandten!« riefen die andern.
»Also – warum nach Tetuan zurückgehen?« fragte Absalam.
»Tanger ist nicht besser,« sagte einer.
»Fes ist schlimmer,« ein anderer. »Wo könnte man hingehen?« fragte ein dritter.
»In die Wildnis,« erwiderte Absalam, »in die Wildnis der Berge, denn die gehören Gott allein!«
Das Wort fiel wie ein Funken in den Zunder.
»Die am wenigsten haben, sind am besten daran,« sagte Absalam, und seine Nachbarn schrien laut: »So sei es!«
»Gott wird uns kleiden, wie er die Felder kleidet, sagte Absalam, »und unsre Kinder ernähren, wie er die Vögel nährt.«
Im Verlauf von drei Tagen waren zehn Läden am Marktplatz neben der Moschee verkauft und geschlossen, und die Männer, die sie inne gehabt, waren mit ihren Frauen und Kindern fortgezogen, um mit Absalam auf der öden Heide weit hinter der Stadt in Zelten zu wohnen.
Als Israel davon hörte, freute er sich im stillen, aber Ben Abu war in angstvoller Erregung, und Katrina schäumte vor Wut, denn die Lehre, welche Absalam seinen Nachbarn vor den Mauern der Stadt gepredigt hatte, war nicht seine eigne Lehre, sondern die eines bedeutenderen Mannes, der vor kurzem unter dem Volke aufgestanden war. Es war Mohammed von Mekines, dem das Volk den Beinamen »Mohammed der dritte« gegeben hatte.
»Diese Tollheit greift um sich,« sagte Ben Abu.
»Ja,« stimmte Katrina zu; »und wenn alles Volk diesen Führern folgt, wer wird dann den Tisch des Kaids und des Sultans versorgen?«
»Was soll ich mit ihnen anfangen?« sagte Ben Abu.
»Rotte sie aus,« versetzte Katrina.
Ben Abu ging sofort daran, seines Weibes Rat wörtlich auszuführen. Mit einer Reiterabteilung brach er auf, um Absalam und seinen Genossen zu folgen. Israel nahm er mit. Dieser sollte ihre Steuern berechnen und sie dadurch zwingen, nach Tetuan zurückzukehren, wieder Stadt- und Hausbewohner zu werden, zu verkaufen und Abgaben zu bezahlen wie vorhin, oder sich in die Gefangenschaft auszuliefern.
Doch Absalam und die Seinigen hatten heimlich Nachricht bekommen, daß der Statthalter ihnen nachsetze und Israel ihn begleite. Da rollten sie ihre Zelte zusammen und flohen in das Gebirge, das sich zwischen Tetuan und dem Lande der Rifer ausdehnt. Dort suchten sie in den Schluchten dieses rauhen Landstrichs Zuflucht und wohnten in Felshöhlen, hinter sich die Hochebene und vor sich einen zerklüfteten Abgrund. Diesen Ort erwählten sie vorläufig, weil er ihnen Sicherheit zu bieten schien, später gedachten sie dann, wenn die Gelegenheit günstig wäre, zu den Heiligtümern von Schawan zu ziehen. Denn sie wollten lieber der Menschlichkeit des wilden Volkes der Schawani sich anvertrauen, als der Gnade ihrer bisherigen grausamen Herrn. Das Thal, in dem sie sich verborgen hatten, war aber so dicht bewaldet, daß, ehe sie selbst es merkten, Ben Abu sie aufgespürt hatte. Er sendete einen Teil seiner Reiter auf das Plateau, um die Höhlen im Rücken einzuschließen und gab ihnen den gemessenen Befehl, niemand zu töten, den sie lebendig fangen könnten. Er selbst stellte sich mit Israel und den Übrigen am Fuße des Felsens auf und rief den Leuten zu, herauszukommen und sich ihm auf Gnade und Ungnade zu ergeben.
Als die Unglücklichen aus ihrem Schlupfwinkel herauskamen und sahen, daß sie umstellt waren, und daß ihnen nach keiner Seite hin ein Ausweg blieb, zweifelten sie nicht daran, daß sie sterben müßten. Aber ohne Geschrei und Thränen knieten sie einmütig am Rande des Abgrundes nieder, den Rücken ihm zugewandt, Männer, Frauen und Kinder Knie an Knie in einer Reihe, mit gefalteten Händen den Soldaten entgegensetzend, welche in geschlossener Reihe langsam auf sie zukamen.
Israel rang nach Atem und erwartete jeden Augenblick zu sehen, wie die Leute in Stücke gehauen würden. Da fingen die am Rande des Abgrundes Knieenden plötzlich an zu singen: »Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben!«
Im nächsten Augenblicke machten die Reiter Halt, als wehre ihnen ein flammendes Schwert vom Himmel, und Israel rief aus beklommener Brust: »Fürchtet nichts! Ergebt eure Leiber nur dem Statthalter, und euch soll kein Leids geschehen.«
Absalam erhob sich von den Knieen und rief seinen Vater und seinen Sohn zu sich. Nun stand er zwischen beiden, allen sichtbar, und blickte mitleidigen Auges auf sie; dann zog er aus den Falten seines Selham Selham = ein ärmelloser Mantel mit Kaputze, aus einem Stück gearbeitet, wird von Männern getragen, zuweilen auch von Frauen beim Reiten. ein langes Messer, wie es die Rifer führen, ergriff seinen Vater bei seinem weißen Haar, durchbohrte ihn und warf den Körper die Felsen hinab. Danach wandte er sich zu seinem Sohn, einem schönen goldlockigen Knaben. Israels Herz blutete bei seinem Anblick.
»Absalam!« rief er bewegten Tones, »Absalam, halt ein, halt ein!«
Doch Absalam tötete auch seinen Sohn und warf ihn herab, dem Großvater nach. Dann schaute er noch einmal mit Blicken innigen Mitleids auf seine Genossen, als bejammere er sie, weil sie wieder in die Hände Israels und seines Herrn fallen müßten, streckte sein Messer weit aus, stieß es tief in die eigne Brust – und stürzte rücklings in den Abgrund.
Israel verhüllte sein Angesicht und stöhnte aus tiefster Seele: »Herr, mein Gott, jetzt ist es aus – Elender, der ich bin, besudelt mit dem Blut dieser Menschen, das über mich kommt!«
Absalams Gefährten lieferten sich den Soldaten aus, welche sie nach dem Kerker von Schawan schleppten, und Ben Abu zog zufrieden heim.
Das Gerücht von dieser Begebenheit erreichte Tetuan in kürzester Frist, und niemand als Israel wurde die Schuld daran beigemessen. Als er am folgenden Tage durch die Straßen nach seinem Hause ging, wurde er vom Volk offen mit Zischen begrüßt. »Das stand bei Allah nicht geschrieben!« schrie ein Maure ihm zu, als er vorüber schritt. »Nimm dich in Acht!« rief ein Araber, »Mohammed von Mekines kommt nach Tetuan!«
Nun begab es sich an diesem Abend, daß, als Naomi nach ihrer Gewohnheit ihren Vater in das Obergemach geführt, das Buch des Gesetzes aus dem Wandschrank geholt und auf seine Kniee gelegt hatte, daß er die Stelle las, bei welcher die Blätter sich von selber geöffnet hatten. Anfangs wußte er kaum, was er las, denn sein Geist war gebeugt durch die Schandthaten dieser Tage. Und die Stelle, an welcher das Buch sich öffnete, war die folgende:
»Aaron soll das Los werfen über die zween Böcke: ein Los dem Herrn und das andre Los dem Asasel (dem Sündenbock) ... Danach soll er den Bock, des Volkes Sündopfer, schlachten, und seines Bluts hinein bringen hinter den Vorhang und soll mit seinem Blut sprengen auf den Gnadenstuhl und vor den Gnadenstuhl und soll also versöhnen das Heiligtum von der Unreinigkeit der Kinder Israels und von ihrer Übertretung in allen ihren Sünden ... Und wenn er vollbracht hat das Versöhnen des Heiligtums und der Hütte des Stiftes und des Altars, so soll er den lebendigen Bock herzubringen. Da soll denn Aaron seine beiden Hände auf sein Haupt legen und bekennen auf ihn alle Missethat der Kinder Israel und alle ihre Übertretung in allen ihren Sünden; und soll sie dem Bock auf das Haupt legen und ihn durch einen Mann, der bereit ist, in die Wüste laufen lassen, daß also der Bock alle ihre Missethat auf sich in eine Wildnis trage, und er ihn lasse in der Wüste.«
In dieser selben Nacht träumte Israel einen Traum. Er hatte geschlafen und war an einem Orte, den er nicht kannte, erwacht. Es war eine weite, öde Wüste. Aschengrauer Sand lag rings umher; eine ausdörrende Sonne brannte darauf, und nirgends war ein Schimmer von Wasser. Israel schaute umher und unterschied allmählich durch das blendende Sonnenlicht hindurch weiße, dachlose Mauern, welche den Ruinen kleiner Schafhürden glichen. »Das sind Gräber,« sagte er bei sich selbst, »und das ist ein Mukabar – (ein arabischer Begräbnisplatz) – der ödeste Ort auf der Gotteswelt!« Aber als er wiederum hinschaute, sah er, daß die Mauertrümmer den Boden bedeckten, soweit das Auge reichte, und ihm fiel ein, diese Aschenwüste sei wohl die Erde selbst, und die ganze Welt des Lebens und der Menschen sei tot. Da mit einem Male bewegte sich in dieser regungslosen Wüste ein einsames Geschöpf. Es war ein Ziegenbock; der schleppte sich mit gesenktem Haupt und heraushängender Zunge über den heißen Sand. »Wasser!« schien das Tier zu schreien, ohne doch einen Laut von sich zu geben, und seine Augen schweiften über die Ebene, als wollten sie den Boden nach einem Quell durchbohren. Israel schüttelte sich wie im Fieber. Der Bock näherte sich ihm und hob die Augen zu ihm auf. Israel sah ihm ins Gesicht. Da schrie er laut auf und erwachte. Das Antlitz des Ziegenbocks war Naomis Antlitz gewesen!
Allerdings wußte Israel, daß dies nur ein Traum war, angeregt durch die Schriftstelle, welche er um Sonnenuntergang aus dem heiligen Buche vorgelesen, aber so lebhaft war der ihm gebliebene Eindruck, daß er auf seinem Bette keine Ruhe fand, bis er Naomi mit seinem wachen Auge gesehen hatte; dann durfte er im Herzen über die Ausgeburt des Schlummers, die ihn geäfft hatte, lachen. So zündete er seine Lampe an und wanderte durch das stille Haus bis zu Naomis Zimmer im Erdgeschoß.
Da lag sie, friedlich schlummernd. Das sonnige Haar floß zu beiden Seiten ihres schönen Gesichtes über das Kissen und kräuselte sich in kleinen Löckchen um ihren Nacken. Wie süß und hold sie aussah! Einer lieblichen jungfräulichen Knospe gleich, die sich eben dem Auge erschließen will.
Israel setzte sich einen Augenblick an ihr Bett. Manches Mal hatte er vordem schon nächtlicher Weile an dieser selben Stelle gesessen, war dann wieder fortgegangen, und sie hatte nichts davon gewußt. Sie war jetzt wie irgend ein anderes Mädchen. Ihre Augen waren geschlossen, wer konnte sehen, daß sie blind war? Ihr Mund atmete sanft, wer konnte erraten, daß er nicht zu reden vermochte? Ihr Gesicht war ruhig, wer würde denken, daß es sich von dem anderer Mädchen unterschied? Israel liebte diese Augenblicke, in denen er mit Naomi allein war, wenn sie schlief, denn nur dann schien sie ihm gänzlich zu eigen zu gehören, und er empfand seine Einsamkeit weniger, so lange er dort saß. Obwohl ihn die Menschen für stark hielten, war er doch sehr schwach. Mit niemand in der Welt konnte er plaudern, als mit Naomi, und bei Tage war sie stumm, doch bei Nacht konnte er kleine Unterredungen mit ihr führen. »Sein Liebling! sein Täubchen! sein Herzblatt!« Wie leicht konnte er sich dann mit dem Gedanken täuschen: »Sie wird sogleich erwachen und zu mir sprechen. Ja, ihre Augen werden sich aufthun und mich hier wiedersehen, und ich werde ihre Stimme hören, die ich so liebe! Vater!« wird sie sagen. »Vater – Vater –«
Nur der Augenblick der Enttäuschung war so grausam!
Naomi bewegte sich. Israel stand auf und verließ sie. Als er durch den Säulengang des Patio in sein Schlafzimmer zurückkehrte, hörte er hinter sich einen unheimlichen Laut, vor dem sich ihm das Haar sträubte. Es war Naomi, die im Schlaf lachte.
Israel träumte in dieser Nacht noch einmal, und dieser zweite Traum dünkte ihn ein Gesicht zu sein. Es war gewiß nur ein Traum wie der erste. Wie aber uns sein Traum erscheint, ist gleichgültig, die Hauptsache ist, wie er ihm erschien. Vergegenwärtigen wir uns das, was er für eine Vision hielt.
Es war um Mitternacht, und er lag in seinem eignen Zimmer, als ein düsterrotes Licht, wie das einer verglühenden Flamme am Fußende des Bettes sichtbar wurde, und eine Stimme, wie die Stimme des Herrn daraus hervorkam und rief: »Israel!«
Und Israel fürchtete sich sehr, und antwortete: »Rede, Herr, dein Knecht höret.«
Da sprach der Herr: »Du hast von den Ziegenböcken gelesen, über die der Hohepriester das Los warf, ein Los für das Sühnopfer und ein Los für den Sündenbock.«
Und Israel antwortete zitternd: »Ich habe es gelesen.«
Da sprach der Herr zu Israel: »Siehe jetzt her auf Naomi, dein Kind, denn sie ist wie das Sühnopfer für deine Sünden, das deine Übertretung sühnen soll, für dich und dein Haus, und darum ist sie stumm und blind, eine Seele in Ketten, ein Geist im Gefängnis, denn siehe, sie ist gleich dem Lose, das da geworfen wurde für die Gerechtigkeit und für den Herrn.«
Und Israel stöhnte in seiner Todesangst und schrie: »Wäre doch das Los auf mich gefallen, o Herr, auf daß du recht behaltest in deinen Worten und rein bleibst, wenn du gerichtet wirst, denn ich allein bin schuldig vor dir!«
Da sprach der Herr zu Israel: »Auf dich auch ist das Los gefallen, ja das Los des Asasel, des Sündenbockes der Feinde des Volkes Gottes.«
Und Israel erbebte vor Furcht, und der Herr rief ihm wieder und sprach: »Israel, ebenso wie der Sündenbock die Sünden des Volkes tragen mußte, so mußt du die Sünden deines Herrn Ben Abu und Katrinas seines Weibes tragen; und wie der Bock die Sünden des Volkes in die Wildnis trägt, so sollst du in der Auferstehung die Sünden dieses Mannes und dieses Weibes tragen in ein Land, das kein Mensch kennt.«
Da rang Israel nicht länger mit dem Herrn, sondern sein Schweiß ward wie Blutstropfen, und er rief: »Was soll ich thun, o Herr?«
Und der Herr sprach: »Liege bis zum Morgen; dann aber stehe auf und eile in die Gegend um Mekines und suche den Mann auf, von dem du Kunde erhalten hast, der wird dir sagen, was du thun sollst.«
Da weinte Israel vor Freude und rief und sprach: »Soll meine Seele leben? Soll das Los von mir genommen werden, und auch von Naomi, meiner Tochter?«
Aber der Herr verließ ihn. Das rote Licht am Bettende erlosch, und alles ringsumher war dunkel.
Bis zum letzten Tage und in der letzten Stunde seines Lebens würde Israel einen Eid auf die heilige Schrift abgelegt haben, daß er diese Vision gesehen und diese Stimme gehört hatte, nicht im Schlaf und nicht in der Form eines Traumes, sondern in wachem Zustande und bei vollem Bewußtsein inmitten der deutlich erkannten Umgebung, in seinem Zimmer, in seinem Bett mit dem Baldachin darüber. Und als er am folgenden Morgen mit Tagesanbruch aufstand, war das Bewußtsein von dem, was er gesehen und gehört hatte, ihm so gegenwärtig, und der Eindruck, den es auf ihn gemacht, so mächtig, daß er sich ungesäumt daran machte, den empfangenen Befehl Gottes ohne Frage nach seiner Wirklichkeit und ohne den leisesten Zweifel an seiner Vollgültigkeit auszuführen.
Indem er deshalb seinen Haushalt der Fürsorge Alis befahl, der jetzt zu einem stämmigen schwarzen Burschen herangewachsen, seine rechte Hand und sein treuer Gehilfe geworden war, sandte Israel zuerst dem Statthalter die Mitteilung, er werde zehn Tage von Tetuan abwesend sein. Dann ließ er aus der Kasbah einen Soldaten und einen Führer holen und Maultiere vom Markt.
Die Sonne war noch nicht sehr hoch gestiegen, als alles bereit stand und die Karawane vor der Thür wartete. Da gedachte Israel Naomis. Wo war das Mädchen, daß er sie diesen Morgen noch nicht gesehen hatte? Sie habe ihr Zimmer noch nicht verlassen, wurde ihm geantwortet. Er schickte die Negerin Fatima, um sie zu holen. Als sie kam und er sie mit schweigendem Abschiedsgruße geküßt hatte, beschlich ihn plötzlich eine schlimme Ahnung. Nachdem er den Fuß in den Steigbügel gesetzt, kehrte er noch einmal zu ihr zurück. Sie stand zwischen den beiden Sklavinnen im Patio.
»Ist sie auch wohl?« fragte er.
»O ja, ganz wohl – ganz wohl,« sagte Fatima, und Habiba sprach es ihr nach. Dennoch fiel es Israel aufs Herz, daß er die einzige Sprache ihrer Lippen, ihr Lachen, noch nicht gehört hatte, und als er von neuem auf sie blickte, sah er, daß ihr Antlitz, welches sonst so heiter war, traurig dreinschaute. Da bereute er fast sein Vornehmen, und hätte er sich nicht vor sich selbst geschämt, so wäre er am Ende nicht fortgegangen, denn eine tödliche Angst überfiel ihn. Wenn sie sich auch noch so krank fühlte, konnte sie ja doch nichts sagen, um ihn zurückzuhalten, und ob sie gleich dem Tode nahe wäre, müßte sie ihn doch ungewarnt seines Weges ziehen lassen!
Er küßte sie noch einmal, und sie umschlang ihn fest, so daß er sich endlich mit vielen zärtlichen Worten, die sie nicht hörte, aus ihren schönen Armen losreißen mußte.
Ali wartete bei den Maultieren auf der Straße. Der Soldat, der Führer, die Maultiertreiber und Zeltträger waren schon aufgesessen, und ringsherum stand eine schwatzende Gruppe von Neugierigen.
»Ali, mein Junge,« sagte Israel, »wenn während meiner Abwesenheit Naomi irgend etwas zustoßen sollte, wirst du über sie wachen und sie beschützen mit Aufbietung aller deiner Kraft?«
»Mit meinem Leben,« versicherte Ali stolz. Er war nicht mehr Naomis Spielgenoß, sondern ihr völlig ergebener Sklave.
Da trat Israel seine Reise an.