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Zwei Tage, nachdem sie aus Tetuan vertrieben waren, hatten sich Israel und Naomi in einem Häuschen niedergelassen, das eine Tagereise nördlich von der Stadt gelegen war, in der Mitte zwischen dem Dorfe Semsa und dem Fondak an der Heerstraße nach Tanger. Von der Stunde an, da sich die Thore hinter ihnen geschlossen hatten, war es beiden wohl ergangen. Die Landleute, die auf der Heide draußen lagerten, erwiesen ihnen viele Freundlichkeit. Eine alte arabische Frau, die Naomis Blöße sah, kam, ohne ein Wort zu sagen, von hinten auf sie zu und warf ihr eine Decke über Kopf und Schultern. Dann brachte ein Berbermädchen Pantoffeln und zog sie ihr an. Die Araberin trug selbst kein Tuch, und des Mädchens Füße waren bloß. Die Leute waren alle abgemagert, hohläugig und hungrig, aber ihre Herzen wurden weich beim Anblick des vornehmen Mannes in seiner Erniedrigung. »Bei Allah stand es geschrieben!« murmelten sie, aber sie waren barmherziger, als es nach ihrem Glauben ihr Gott war.
So waren denn Israel und Naomi unter stillem Mitleid und lauten Friedenswünschen, durch teilnehmende Worte getröstet und durch Speise und Trank erquickt, von Dorf zu Dorf gewandert, bis sie am Abend eine Stunde nach Sonnenuntergang die Hütte erreichten, in welcher sie ihr neues Heim aufschlagen wollten. Es war ein armseliges, elendes Gebäude – weder ein rundes Zelt, wie es die Berber im Gebirge errichten, noch ein viereckiger Würfel von weißem Stein, dessen Mauern den Garten und Hof umschließen, wie die Heimstätten der maurischen Landleute zu sein pflegen, sondern nur ein länglicher Schuppen, mit einem Dache aus Schilf und Palmettoblättern. Das Ganze glich einer irischen Hütte und war auch wirklich die Behausung eines irländischen Renegaten gewesen, der in Gibraltar von dem Kriegsschiff, das ihn nach Sidney bringen sollte, entsprungen war. In einem genuesischen Kauffahrer nach Ceuta gekommen, war er landeinwärts gelaufen, bis er in diese einsame Gegend unweit Semsa gelangte. Ungleich der Mehrzahl seiner Landsleute war er ein Mann von düsterer Gemütsart und menschenscheuem Wesen. So lange er hier wohnte, war er von seinen Nachbarn gemieden worden, und als er starb, war sein Haus leer geblieben. So geschah es, daß Israel und Naomi ungehindert in den Besitz dieses herrenlosen Anwesens gelangten.
Obwohl nun freilich die kleine Hütte aller Bequemlichkeiten ermangelte, welche dem Menschen wert sind, so war sie doch reich an einigen Dingen, die unmittelbar aus Gottes Hand kommen. Ringsherum blühten Nelken, Rosen und Majoran, und der Jasmin rankte sich um die baufälligen Wände. Diese liebliche Blumenfülle war Israel zuerst in die Augen gefallen, denn aus den Irrgewinden seines Gedächtnisses, in denen die Seele nur dämmernde Umrisse spürt, tauchte ihm eine unbestimmte Vorstellung auf, als habe er dieses verlassene Haus, sowie es jetzt vor ihm stand, schon einmal gesehen. Wie dies hatte geschehen können, blieb ihm allerdings ein Rätsel, da er seines Wissens auf dem Wege nach Tanger noch nie so nahe an Semsa vorbeigekommen war. Als er aber weiter darüber nachsann, traf ihn plötzlich wie ein Blitz in einem dunklen Raum der Gedanke, daß er die Hütte wachend allerdings nie, wohl aber im Traum gesehen habe, in jener Nacht, als er in dem ärmlichen Judenwirtshaus zu Weßan auf der Erde schlief.
Das war also die Hütte, in welcher er im Traum mit Naomi gewohnt; hier war es, wo seine Einbildungskraft sie mit hörenden Ohren und sehenden Augen und redender Zunge erblickte. Das war die Vision seiner verstorbenen Frau, welche damals, als er auf der Reise erwachte, sich in seinem Traum wiederzuspiegeln schien; und jetzt war sie verwirklicht, ins Leben getreten, volle Wahrheit. Israels Herz floß über; und da er jetzt geneigt war, in allem Gottes leitende Hand zu sehen, so sah er sie auch in dieser Thatsache. Nachdem er sich durch einige Fragen bei den Nachbarn vergewissert hatte, daß die Hütte herrenloses Gut sei, ließ er sich mit Naomi dankbaren Herzens darin nieder.
Dort lebten sie nun vom Hochsommer bis in den tiefen Winter hinein friedlich und glücklich miteinander. Mancherlei mußten sie freilich entbehren, doch sie litten nicht Mangel, und wenn ihnen dies und jenes fehlte, dessen die meisten Menschen nicht entraten zu können meinen, so waren sie um so dankbarer gegen Gott für das, was sie hatten.
Israel war arm, aber nicht völlig mittellos. Aus den Trümmern seines Vermögens hatte er nach dem Verkauf seiner Hauseinrichtung noch etwas über dreihundert Thaler in seiner Gürteltasche, als er aus der Stadt geworfen wurde. Diese benützte er zum Ankauf von Schafen, Ziegen und Kühen. Einem Lehnsmanne des Pascha pachtete er ein Stück Land ab, und ein gefälliger Nachbar verkaufte für ihn Wolle und Milch auf dem Markte in Tetuan. Die Regengüsse dauerten fort, die Heuschreckeneier wurden vertilgt, grün sproßte das Gras empor, und Israel konnte für sich und Naomi das tägliche Brot gewinnen. So lebte er fröhlich und behaglich Tag um Tag bei der einfachen Feldarbeit in seinem bescheidenen Heimwesen, und dachte nicht an den anderen Morgen.
Und wahrlich, wenn er doch in schwachen Augenblicken gewillt gewesen wäre, sich nach seiner armseligen Größe zurückzusehnen, oder wenn ihm der Mut entsunken wäre unter dem Arbeitsdruck seines neuen Berufes, zu dem gröbere Hände sich besser geeignet hätten, so besaß er stets in seinem festen Willen eine Schutzwehr, in seiner freudigen Hoffnung einen festen Anker.
So oft er bei Tage den Hügel hinter seinem Häuschen erklomm und in der Ferne die weiße Stadt unter ihrem Dunstschleier liegen sah, oder wenn bei Nacht die Stadtlaternen ihren fahlen Schimmer zu dem dunklen Himmel emporsandten, so gab dieser Anblick seinem Willen Kraft und seiner Hoffnung Festigkeit.
»Da unten sind sie,« dachte er dann wohl, »und zanken und streiten, kämpfen und beten, fluchen und segnen, und betrügen einander; und hier bin ich, und zehn lange Meilen der Dunkelheit, der Ruhe, des Schweigens und des lieblichen Odems der reinen Gottesluft trennen mich von ihnen.
Doch stärker noch als die Erinnerung an sein früheres Leben wirkte in ihm ein Blick auf Naomi. Gott hatte ihr Gesicht, Gehör und Sprache geschenkt, und was waren Armut und schwere Arbeit gegen einen solchen Segen? Was war die Macht der Welt, was war alles Gold und Silber ohne ihn gewesen? Und noch höher als Israels Freude an dem beständigen Bewußtsein, daß Naomi blind gewesen war und nun sehen konnte, stumm gewesen war, und nun sprechen konnte, taub gewesen war und nun hören konnte, war der erhebende Gedanke, daß dies alles nur ein Kennzeichen und Symbol sei von Gottes Wohlgefallen, wodurch seine Seele die Gewißheit erhielt, daß das Los des Sündenbockes von ihm genommen war.
Was konnte indes dem rein menschlichen Entzücken gleichkommen, mit dem er Naomis neues Leben beobachtete? Sie war wie ein von neuem geborenes Geschöpf, ein strahlendes, fröhliches Wesen, vor dessen Augen sich eine Wunderwelt ganz frisch erschlossen hat.
Aber nicht sofort hatte sie diese Freude gekostet. Was sich mit ihr zugetragen hatte, war im Grunde etwas ganz Einfaches gewesen. Mit dem grauen Star auf beiden Augen geboren, hatte die plötzliche Erregung in der Kasbah, als ihres Vaters Leben von neuem gefährdet schien, – wie ein Fall oder ein Schlag – das Häutchen über der Linse gespalten und so die Pupille frei gelegt. Das war alles. Während des ganzen Tages, an welchem die letzte ihrer großen Gaben ihr geschenkt ward, auf dem schmachvollen Wege durch Tetuan sowohl als auch auf dem Wege Hand in Hand mit ihrem Vater nach ihrem neuen Heim, hatte sie die Augen fest zugehalten. Das Licht erschreckte sie. Es drang durch ihre zarten Lider und verursachte ihr Schmerz. Wenn sie einen Augenblick die Wimper hob und Bäume sah, so streckte sie die Hand aus, um sie von sich abzuwehren, und wenn sie den Himmel sah, so hob sie die Arme empor, wie um ihn von sich fern zu halten. Alles schien ihre Augen zu berühren. Die Sonnenstrahlen schienen sie zu durchbohren. Nicht eher, als bis die Dunkelheit herabsank auf die Erde, legte sich ihre Angst und belebte sich ihr Mut. Den ganzen folgenden Tag saß sie unbeweglich in dem Dämmerlicht des finstersten Winkels der Hütte.
Aber dies war nur ihre Lichtestaufe, da sie aus einer Welt des Dunkels heraustrat, gerade so wie ihre Furcht vor den Stimmen der Erde ihre Klangestaufe gewesen war, als sie das Land des Schweigens verließ. Drei Tage später begann ihre Angst der Freude zu weichen; und von der Zeit an war ihren geöffneten Augen die Welt voller Wunder. Wunderlieblich über alle Träume der Phantasie hinaus war ihr Erstaunen und Entzücken über jede Kleinigkeit um sie her. Gras und Kräuter, die kleinste Blume, die ihr entgegensproßte, sogar das schlichte Hausgerät und die Feldsteine, die aus dem Acker herausstarrten – alles ihren Fingern vertraute, ihren Augen aber neue und seltsame Dinge, erschienen ihr wie Wunder, die ein Engel ihr vom Himmel heruntergebracht hatte.
Noch viele Tage, nachdem ihr das Augenlicht geschenkt war, fuhr sie fort, alles durch das Gehör und die Berührung zu erkennen. Als Israel sie eines Morgens früh auf die Augenlider küßte, um sie zu wecken, und sie dieselben öffnete und zu dem sich über sie Beugenden aufschaute, sah sie einen Augenblick noch halb im Schlaf befangen, erschrocken aus, und erst nachdem sie die Augen wieder geschlossen und ihn mit der Hand betastet hatte, erhellte sich ihr Antlitz, sie erkannte ihn, und ihre Lippen riefen ihn bei Namen. »Mein Vater,« murmelte sie, »mein Vater!«
So kam sie an demselben Tage eine Stunde später von dem grasbewachsenen Abhang vor der Thür ins Haus zurückgelaufen mit einer Blume in der Hand, und einer Unzahl brennender Fragen über sie in ihrer anmutig lispelnden, gebrochenen Sprache auf den Lippen. Warum war ihr nie gesagt worden, daß Blumen sehen könnten? Hier war eine, die hatte, während sie sie anblickte, das schöne Auge geöffnet und sie angelacht! »Wie heißt sie?« fragte sie, »wie heißt sie?«
»Es ist ein Gänseblümchen, mein Kind!« antwortete Israel.
»Ein Gänseblümchen!« rief sie ganz verblüfft; und dann schloß sie nach kurzem Stillschweigen, in dem ihr ein plötzlicher Einfall gekommen war, die Augen, ließ die feinen Finger rasch über den kleinen Kreis rotspitziger speerförmiger Blättchen gleiten und sagte sehr leise mit seitwärts geneigtem Köpfchen, als schäme sie sich: »Ach ja, es ist wahr; es ist nur ein Gänseblümchen.«
So eilten die ersten Tage des jungen Augenlichtes dahin, und jeder brachte ihr neue Überraschungen und neue Wunder, jeder bereitete ihr neue Freude und neues Entzücken. Obgleich sie wohl eine halbe Meile von der Küste entfernt wohnten, konnten sie von der nahen Anhöhe das Meer deutlich sehen; und eines Tages, als Naomi mit ihrem Vater dorthin gegangen war, schmiegte sie sich plötzlich an seine Seite und rief atemlos vor scheuem Staunen: »Der Himmel! Sieh! Dort ist er auf die Erde gefallen!«
»Das ist die See, mein Kind,« versetzte Israel.
»Die See!« rief sie. Dann schloß sie ihre Augen und lauschte, bald öffnete sie sie wieder, errötete und sagte, während ihre in Falten gezogenen Brauen sich glätteten, indem sie das schöne Gesicht abwandte: »Ach ja, es ist die See!«
Den Rest dieses Tages und die ganze folgende Nacht stand ihr Geist unter dem Banne jenes wunderbaren Anblicks. Am nächsten Morgen bestieg sie die Anhöhe allein, um ihn wieder zu genießen. Da sie einmal soweit war, schritt sie weiter und weiter, durch Felder von blühendem Lavendel und Kamillen, und immer weiter, wie vom Zauber der mächtigen Tiefe, die funkelnd im Sonnenlicht dalag, angezogen, bis sie endlich aus einen Felsvorsprung gelangte, den eine ins Land eindringende tiefe und schmale Meeresbucht gebildet hatte. Verzückt hingen ihre Blicke an den Wassern, bis ein neues Wunder sie in Anspruch nahm. Die Bucht war ein abgelegener Ort und von zahllosen Seevögeln bewohnt. Vom höchsten Felszacken oben bis weit unten im tiefsten Schlunde flatterten sie aus jeder Spalte von allen Seiten mit weißen, schwarzen, grauen und blauen Flügeln, und ihre Stimmen zerrissen die Luft, bis das widerhallende Gestein selbst mit ohrenbetäubendem Klange mit zu kreischen und zu gellen schien.
Es war um die Mitte des Tages, als Naomi diesen Platz erreichte. Dort saß sie eine ganze Stunde voll Angst und Bestürzung. Als sie zu ihrem Vater zurückkehrte, erzählte sie ihm grausige Geschichten von Dämonen, die zu Tausenden am Meeresstrande wohnten, die in der Luft mit einander kämpften und einander töteten. »Und sieh!« rief sie, »sieh dies, und dies!« Israel warf einen Blick auf die Trophäen des teuflischen Gefechtes, die sie mitgebracht hatte. »Dies,« sagte er, indem er eins davon aufnahm, »ist die Feder eines Seevogels; und dies,« er hob ein anderes auf, »ist ein Seevogelei; und dies,« er hob das dritte auf, »ist ein toter Seevogel!«
Wieder runzelte Naomi nachdenklich die feinen Brauen, schloß die Augen und betastete die wohlbekannten Dinge, über die ihr Gesicht sie getäuscht hatte. »Ach ja,« sagte sie sanft und lächelte ihren Vater an, »sie sind freilich nichts weiter.« Und dann setzte sie wie bei sich selbst hinzu: »Wie lange es doch dauert, bis man sehen lernt!«
Es lag wohl zum Teil an der ganzen Art, wie sie, von allem Verkehr abgeschlossen, nur in Israels Gesellschaft aufgewachsen war, daß jetzt jedes neue Wunder, das ihren Augen begegnete, bald eine übernatürlich grausenvolle oder eine übernatürlich herrliche Gestalt annahm. Eines Abends, an dem sie bis zum Anbruch der Nacht draußen geblieben war, kam sie in wilder Begeisterung zurück und erzählte von Engeln, die sie soeben am Himmel gesehen habe. Sie hätten purpurne und scharlachrote Gewänder getragen, ihre Schwingen hätten feurig gestrahlt, sie seien in großen Scharen über die Wolken gezogen und endlich allesamt am Ende der Welt verschwunden, indem sie durch seine offenen Thore zum Himmel eingegangen wären.
Israel erwiderte auf diese Erzählung: »Das war der Sonnenuntergang, mein Kind. Jeden Morgen geht die Sonne auf, und jeden Abend geht sie unter.«
Sie sah ihn ernsthaft an und errötete. Zuweilen war die Scham über ihre phantastisch lieblichen Mißverständnisse größer als ihre Freude an der neuen Errungenschaft des Augenlichtes, und Israel hörte, wie sie vor sich hin flüsterte: »Die Augen sind doch sehr trügerisch!« Das Schauen war die Sprache ihres neuen Lebens, und sie mußte sie noch lernen.
Nicht lange sollte aber ihr Entzücken über die Schönheit der Welt durch solche Betrachtungen gedämpft werden. Ja das Beste und Seltenste davon, was sie ihr bot, kam ihr nur aus ihrem eignen Innern. Ein ander Mal, ganz früh am Morgen, nahm Israel sie nach der Küste mit und stieß in einem Boot mit ihr vom Lande. Die Luft war still, die See glatt, die Sonnenstrahlen glitten schräg über das Wasser, und außer einem florartigen Wolkenbande war der Himmel tief blau. Sie segelten in einer winzig kleinen Bucht, in deren Mitte ein mit rotem Heidekraut und langhalmigem Rißpengras bewachsenes Inselchen lag, gleich einem Rubin im Ringe. Durch flüsterndes Röhricht glitten sie weiter und schwebten über Korallenbänke, auf denen glitzernde Fische spielten. Seevögel flogen kreischend, als grollten sie über die Eindringlinge, über ihnen dahin, und unter ihren Rudern erblickten sie in der Tiefe das Moos an den Kieseln und Steinblöcken. Es war ein rechter Gottesmorgen, und nicht minder in der Freude über seine Lieblichkeit, als im Gefühl ihrer eignen Daseinswonne erhob sich Naomi im Boot, öffnete die Lippen und breitete die Arme dem Lufthauch entgegen, der mit ihren lockigen Haarwellen spielte, als wolle sie ihn trinken und umarmen.
Da plötzlich erschaute sie ein neues, noch süßeres Wunder. Jedes Mädchen, die Gott schön erschaffen hat, kennt es, doch keine kann sich der Stunde erinnern, in der sie es zuerst erfuhr. Als Naomi nämlich mit den Augen dem Schatten der Klippe auf dem Wasser und dem breiten Wolkengebirge folgte, das in der blauen Tiefe sich spiegelnd darüber hinglitt bis dahin, wo das blendende Halbrund der zurückgestrahlten Sonnenscheibe neben dem beschatteten Rande des Bootes zum Vorschein kam, beugte sie sich hinüber und sah nun den Wiederschein eines anderen holderen Bildes.
»Vater,« rief sie erschrocken, »ein Gesicht ist im Wasser! Sieh! Sieh!«
»Es ist dein eignes, mein Kind,« sagte Israel.
»Meines?« rief sie.
»Das Spiegelbild deines Gesichts,« sagte Israel; »das Licht und das Wasser bringen es hervor.«
Dieses Wunder war schwer zu verstehen. Dies Ding, das sie selbst und doch wieder nicht sie selbst war, dies Gesicht, das sie ansah und anlächelte und doch keinen Laut von sich gab, hatte etwas Gespensterhaftes. Sie lehnte sich im Boot zurück und fragte Israel, ob es noch im Wasser sei. Aber als sie endlich das Geheimnis begriffen hatte, war ihre ungekünstelte Freude höchst anmutig. So oft das Boot hielt, lehnte sie über den Bord und schaute in die blaue Tiefe.
»Wie schön!« jubelte sie, »wie schön!«
Sie klatschte in die Hände, blickte wieder hin, und aus dem stillen Wasser schauten sie ihre eignen lustig funkelnden Augen an. »O wie sehr schön!« rief sie, ohne ihr Gesicht aufzurichten, und als sie sah, wie ihre Lippen sich beim Sprechen bewegten und ihr sonniges Haar um ihr rastloses Köpfchen flog, lachte sie wieder und wieder aus Herzenslust.
Israel blickte eine Weile auf das süße Bild, und so sehr er der Gefahr sich bewußt war, die in Naomis harmloser Freude an der eignen Schönheit lag, so hatte er doch nicht das Herz, ihr Einhalt zu thun. Zu lange hatte es schmerzvoll und beschämend auf ihm gelastet, daß er der Vater eines schwer heimgesuchten Kindes war, als daß er sich jetzt das berauschende Entzücken über ihre Genesung hätte versagen sollen. »Bleibe du nur immerhin ein Kind, Kleine,« dachte er; »bleibe ein Kind, so lange du kannst, ein Kind auf immer, mein Täubchen, mein Liebling! Mir hat das Leben ja nie eine Kindheit gegönnt.«
Naomis Freudigkeit nahm täglich zu und fand immer wieder neue reizende und seltsame Weisen, sich zu äußern. Alles Schöne auf Erden gewann für sie eine Stimme, und sie konnte mit Bäumen, Vögeln und Blumen plaudern. Wie ein Lämmchen streckte sie sich im Grase aus mit ebensowenig Ziererei und ebensoviel holder Anmut. Noch war ihr kein Schimmer aufgegangen von jenem großen Geheimnis, das wie ein unsichtbarer Mantel vom Himmel her ein junges Mädchen umfängt und damit ihre Kindeszeit abschließt. Naomi war noch ein Kind. Oder vielmehr, sie war es zum zweiten Male geworden, denn so lange sie blind war, schien es eine Zeitlang, als reife sie durch die furchtbare Erkenntnis ihres Gebrechens und ihrer Sonderstellung unter den Menschen zum Weibe heran. Jetzt aber war sie nicht länger das geduldige, schwache, blinde Mädchen, sondern aufs neue ein unbefangen fröhliches Gemüt, ein nie ruhender, tanzender Strahl menschlichen Sonnenlichtes, der ihres Vaters Haus mit Sonnenschein erfüllte.
Es war ganz in der Ordnung, daß sie, die so lange der besten Gottesgaben hatte entbehren müssen, sie jetzt in seltener Vollendung besaß. Ihre Sehkraft war ebenso scharf, wie ihr Gehör, aber die herrlichste ihrer Gaben war doch ihre Stimme. So innig und voll, so tief, so weich, wie Naomis Stimme allmählich geworden war, glaubte Israel noch keine andere gehört zu haben. Ruths Stimme? Ja, sie war es wohl, aber dazu mit Begeisterung erfüllt, von sprühender Lebendigkeit überschäumend und aus den Tiefen eines glückseligen Herzens ertönend. Den ganzen Tag über ließ Naomi sie hören. Mit Gesang stand sie morgens auf, mit Gesang ging sie abends zur Ruhe. Wenn Leute auf der Straße sich ihr näherten, so war der Klang ihrer Stimme das erste, was sie von ihr bemerkten. Die Bauern hörten sie weit über die Felder hin, und manchmal hörte Israel sie von der Hütte aus bis über den Hügel hinweg. Oft erschien sie den Leuten wie ein Vogel, der verborgen auf einem Baume sitzt und sich nur durch seinen Gesang verrät.
Fatimas Lieder entzückten Naomi noch immer. Einige davon klangen freilich seltsam von ihren keuschen Lippen, so nahe grenzten sie an das Zweideutige. Ihr Lieblingslied blieb aber das ihrer Mutter:
»O komm, du große Liebe, komm!
Und hole dir dein Eigentum,
Nimm deinen Thron, o Liebe, ein
Und herrsche ewig und allein,
Glorreiche Liebe, herrsche!«
Es war, als lege sie, je mehr ihre Stimme erstarkte, eine immer tiefere Glut in diese Worte. Unschuldig wie ein Kind und ohne die Bedeutung der Worte zu ahnen, war es doch, als erfülle sie gewissermaßen das Naturgesetz der Jungfrau und treibe blindlings dem Morgendämmern der Liebe zu. Sie dachte nicht an Liebe, aber es war gleichsam, als dächte die Liebe immer an sie; als umschwebe sie fortwährend unsichtbar der Genius der Liebe, und als wandele sie unter seinen ausgebreiteten Schwingen.
Israel sah das, und er fing an, sich allerhand Luftschlösser zu bauen, hinter denen sich eine weite Aussicht eröffnete. Eine reizende Vorstellung von Naomis Zukunft erhob sich vor seiner Seele. Die Liebe war über sie gekommen. Das große Geheimnis, das Entzücken, das selige Wunder, die süße, heimliche, köstliche, herzbewegende Freude. Er wußte, sie mußte einmal kommen – vielleicht heute, vielleicht morgen. Und wenn sie kam, so würde sie gleichsam ein sechster Sinn sein.
In ruhigen Stunden – gewöhnlich bei Nacht, wo er dann ein Licht zu nehmen und sie in ihrem Schlafe zu betrachten pflegte – führten ihn seine Zukunftsträume für Naomi noch um einen Schritt weiter, und er sah sie dann als junge Mutter. Ihr zartes, milchweißes und rosiges Gesicht; der Stolz, die Freude, die Sehnsucht, die daraus blickten, und dann das innige Erbeben, wenn die kleinen roten Fingerchen sich an ihren weißen Busen drückten. – O welch ein Ausblick offenbarte sich ihm da!
Wie sehr er sich aber auch bemühte, an diesen Phantasiegebilden Freude zu haben – er konnte es nicht verhindern, daß sie ihn zu gleicher Zeit schmerzten. Sie übten eine dämonische Anziehungskraft auf ihn aus, aber vor Naomi verbarg er sie. Er meinte, seine unsterbliche Seele hätte er für sie hingeben können, aber niemals einen Anteil an diesen Schattenbildern. Das war der geringe Tribut, den er der menschlichen Selbstsucht zollte, die letzte zärtliche, eifersüchtige Schwachheit des Vaters. Er fürchtete sich vor dem Tage, wo ein anderer – ein noch Unbekannter – vor ihn treten, und er die Tochter verlieren würde, die jetzt ganz sein eigen war.
Zuweilen war es, als ob die Erinnerung an das, was sie in Tetuan erlitten, wie eine Gewitterwolke über die lichte Bläue von Naomis Himmel hinzöge. Aber die Wolke war in der nächsten Stunde verschwunden. Die Erde war zu voll des Wunderschönen, um etwas anderes als Bewunderung aufkommen zu lassen. Einmal nur fuhr sie erschrocken vom Schlafe auf und erzählte Israel die Geschichte, die ihr in der Nacht, wie sie glaubte, begegnet sei. Man habe sie fortgebracht – sie wußte nicht wann und wie – ja sie wußte von nichts, bis sie sich in einem großen Patio befand, dessen Boden mit Fliesen bedeckt und dessen Wände mit glasierten Ziegeln ausgelegt waren. Männer in spitzen, roten Mützen und wallenden weißen Kaftans standen ringsum, und vor ihnen ein alter Mann, in Gewändern, deren Farbe der Abendsonne glich mit glockenartigen Ärmeln ein gekrümmtes silbernes Messer im Gürtel und um den Hals eine Reihe kleiner Ledersäckchen an gelben Schnüren. Neben diesem Manne stand ein Weib mit grausam lachendem Gesicht; und sie selbst, Naomi, – aber allein, denn ihr Vater war nirgends zu sehen – stand in der Mitte, und aller Augen waren auf sie gerichtet. Was dann kam, wußte sie nicht, denn alles wurde plötzlich dunkel, und in der Zwischenzeit mußten wohl die, welche sie fortgetragen hatten, sie wieder zurückgebracht haben; denn als sie die Augen öffnete, lag sie auf ihrem eignen Bette in der gewohnten heimischen Umgebung, und ihres Vaters Augen blickten auf sie herab, sein Mund küßte sie; draußen schien die Sonne, die Vögel sangen, das lange Gras flüsterte im Winde, und es war ganz, als ob sie die Nacht geschlafen hätte und morgens aufgewacht wäre.
»Das war ein Traum, mein Kind,« sagte Israel, und dachte nur, wie lebhaft ihre Augen bei dem ersten Erwachen der Sehkraft das Bild jenes Tages in der Kasbah aufgefaßt hatten.
»Ein Traum!« rief sie; »nein, nein! Ich habe es ja gesehen!«
Bisher waren ihre Träume Blindenträume gewesen, und wenn sie von den Ihrigen träumte, so waren es nicht ihre Gesichter, die ihr erschienen, sondern sie fühlte ihre Hände und hörte den Klang ihrer Stimmen. So hatte sie sie immer gekannt, und es waren entweder ihrer Mutter Arme, die sie an sich zogen, oder ihres Vaters Lippen auf ihrer Stirn, und zuweilen Alis Stimme in ihren Ohren gewesen, die sie unterschieden hatte.
Israel streichelte ihr Haar und beschwichtigte ihre Angst, aber er dachte doch bei sich, als er ihren Traum und ihre kindlich naiven Worte überlegte: »Sie ist ein Kind, ein Kind, das als erwachsenes Mädchen auf die Welt kommt, und der die schützende Schwäche des Kindes fehlt. O welche große Weisheit liegt doch in Gottes Ordnung, daß die Menschen als Säuglinge geboren werden!«
Indem er sich so Naomis kindisches Wesen vergegenwärtigte, bewachte und hütete Israel sie fortan auf das sorgfältigste. Aber wie sie der Sonnenstrahl seiner einsamen Wohnung war, so glitt sie auch wie ein solcher ihm unter den hütenden Händen hinweg, und eines Tages fand er sie nahe bei dem Fußsteig, der nach dem Fondak führte, wie sie mit einem Reisenden sprach, der des Weges kam, und in dem er den schamlosesten Wüstling Tetuans erkannte. Unverschleiert und unbefangen, mit dem süßesten Ausdruck vollen Vertrauens blickte sie dem Menschen offen in das gemeine Gesicht und beantwortete seine sündhaften Fragen mit der harmlosesten Einfalt der Unschuld. Mit einem Satz stand Israel zwischen ihnen, und im nächsten Augenblick hatte er Naomi mit sich fortgerissen.
In dieser Nacht, während sie sich fast die Augen ausweinte über das erste zornige Wort, das ihr Vater zu ihr gesprochen, ergoß Israel in einer ganz neuen Todesangst seine Seele in einem neuen Gebet zu Gott.
»O Herr, mein Gott,« rief er, »als sie blind und stumm und taub war, da war sie ein von allen abgesondertes Wesen, sie war ein Kind und in keiner Gefahr, die aus ihr selbst kam, denn deine Hand leitete sie, und auch in keiner Gefahr von außen, denn kein Mensch wagte sie in ihrem Unglück zu beschimpfen. Aber jetzt ist sie eine Jungfrau, und viele Gefahren drohen ihr, denn sie ist schön, und das Herz der Männer ist verderbt. Gib, daß ich immer um sie bleiben darf, o Herr, um sie zu behüten und zu leiten! Nimm mich nicht von ihr, denn sie weiß noch nicht, was gut und böse ist. Friste mein Leben noch eine Spanne länger, obgleich ich hochbetagt bin. Um ihretwillen erhalte mich, o Herr – es ist mein letztes Gebet – das letzte, o Herr, das letzte – um ihretwillen – erhalte mich ihr!«
Gott erhörte Israels Gebet nicht. Am nächsten Morgen kam eine Abteilung Soldaten aus Tetuan herüber und nahm ihn im Namen des Kaid gefangen. Die Befreiung der armen Nachfolger Absalams aus dem Gefängnis von Schawan war ruchbar geworden, denn einer von ihnen war in seiner blinden Dankbarkeit nach Tetuan gelaufen und hatte sich in der Mellah vor Israels Hause mit dem Angesicht zu Boden geworfen.