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Das Versprechen, das Israel der sterbenden Ruth gegeben, es Naomi an Liebe und Pflege nie fehlen zu lassen, erfüllte er treulich. Seitdem sie in der Erde ruhte, war er dem Kinde beides, Vater und Mutter zugleich.
Als er an seine Aufgabe herantrat, gewann er zuerst einen vollen Einblick in Naomis Zustand und fand ihn schrecklicher, als die Einbildungskraft ausdenken oder Worte es aussprechen können. Es war leicht gesagt, daß sie taub und stumm und blind sei, aber es war schwer, sich zu vergegenwärtigen, was eine so große Heimsuchung bedeutete. Es bedeutete, daß sie ein kleines Menschenkind war, welches dicht neben den Gliedern seiner großen Familie stand und doch weit von ihnen entfernt war. Sie war so weit von ihnen abgesondert, als bewohnte sie einen anderen Himmelskörper. In Freude und Leid vermochte keine menschliche Teilnahme sie zu erreichen. Im Drama des Lebens fiel ihr keine Rolle zu. Mitten in einer Welt des Lichtes lebte sie im Lande der Finsternis, mitten im Lande der holden Töne in einer Welt des Schweigens. Sie war eine lebendig begrabene Seele.
Und diese Seele selbst, was wußte Israel von ihr? Er wußte, daß sie Gedächtnis besaß, denn Naomi hatte sich ihrer Mutter erinnert; und er wußte, daß sie Liebe empfand, denn sie hatte sich nach Ruth gesehnt und an ihr gehangen. Aber was waren Liebe und Gedächtnis ohne Gesicht und Rede? Nicht mehr waren sie, als der in einem Kästchen verschlossene Magnet – nutzlos und unbrauchbar für Welt und Menschen.
Als er so über dies alles nachsann, wurde es Israel zum ersten Male ganz klar, wie entsetzlich die Heimsuchung seines mutterlosen Kindes war. Blind sein heißt einmal heimgesucht sein, aber blind und taub sein heißt nicht nur zweimal, sondern zweimal zehntausendmal heimgesucht sein, und blind und taub und stumm sein heißt nicht bloß dreimal, sondern über alle Berechnungen der menschlichen Rede hinaus heimgesucht sein.
Denn mit der blinden, aber hörenden Naomi würde ihr Vater haben reden können, und wenn sie Kummer gehabt, hätte er sie trösten, wenn Freude, sie mit ihr teilen können, und in dieser schönen Gotteswelt, die so voll ist von herrlichen Dingen, die man anschauen und lieb gewinnen kann, hätte er ihr sein Augenlicht gleichsam geliehen. Anderseits, wenn Naomi taub aber sehend gewesen wäre, würde sie mit ihm durch das Licht ihrer Augen verkehrt haben, und was der Mann ist und das Weib, und die Welt, das Meer und der Himmel würde für sie ein aufgeschlagenes Buch gewesen sein. Da sie aber blind und taub zugleich war, und weil taub auch stumm, – welche Worte konnten die Trostlosigkeit ihres Zustandes, die öde Leere ihrer Vereinsamung beschreiben? – abgeschnitten, getrennt, beiseite gestellt, eingekerkert, angekettet, eine Seele ohne Verkehr mit anderen Seelen: lebendig tot!
Nachdem er sich so Naomis hilflose Lage recht klar vorgestellt hatte, machte sich Israel daran, zu erwägen, wie er den Zugang zu ihrer im Dunkel weilenden und schweigenden Seele finden könnte. Zuerst bemühte er sich zu erkennen, welche guten Gaben ihr übrig geblieben waren, die er ihr zum Vorteil, und sich selbst zum Trost und zur Freude pflegen und entwickeln könne. Aber er vermochte keine andere Gabe irgend welcher Art in ihr zu entdecken, als die eine, die er von Anfang an bei ihr wahrgenommen – die Gabe des Tast- und Gefühlssinnes. Dieser eine mußte ihr das Gesicht ersetzen, sonst würde es nie in ihr licht werden, und auch das Gehör, sonst würde ihre Sprache für immer das Schweigen sein.
Da erinnerte er sich, während seines Aufenthaltes in England merkwürdige Geschichten gehört zu haben von Stummen, welche reden gelernt hatten, obgleich sie nicht hören konnten, und von Blinden und Tauben, welche verstehen und antworten gelernt hatten. So ließ er sich denn viele Bücher aus England kommen, welche die Behandlung dieser Kinder der Trübsal zum Gegenstande hatten, und grübelte lange und ernstlich über ihnen, und wonnig durchrieselte es ihn bei den wunderbaren Erfolgen, von denen darin erzählt wurde. Als er aber anfing, die Vorschriften, die sie ihm gaben, zu befolgen, wollte sein Geist fast erlahmen, denn die Hindernisse waren zu groß. Einmal über das andere versuchte er vergeblich auch nur einen einzigen Lichtstrahl in die verborgene Seele des Kindes durch ihre Hülle von Fleisch und Blut zu werfen. Weder der einfachste Gedanke, noch der elementarste Begriff der Dinge fand zu ihrem Geiste einen Weg, so dicht waren die Mauern des Gefängnisses, das ihn umschloß. »Ja« war ein Geheimnis, das ihr anfangs gar nicht enthüllt werden konnte, und »Nein« ein Rätsel, das zu lösen weit über ihre Kraft ging. Lächeln und Stirnrunzeln waren natürlich bei ihrem Unterricht ohne Erfolg. Keine Einwirkung auf ihr Gemüt oder Herz konnte geübt werden. Außer einer körperlichen Zurückhaltung von irgend welchen Dingen konnte ihr keinerlei Zwang auferlegt werden. Ihre eignen Triebe allein beherrschten sie.
Israel verzweifelte nicht. Wenn er heute zusammenbrach, so begann er morgen sein Werk mit erneuter Kraft. Zuletzt nach endloser Mühe und Arbeit, war er so weit gekommen, daß Naomi begriff, wenn er ihr den Kopf streichelte, so bedeutete das Beifall, und wenn er ihre Hand berührte, so war das Beistimmung. Da aber hielt er plötzlich inne. Seine Hoffnung war nicht geknickt, auch seine Energie ließ ihn nicht im Stich, aber es hatte sich seiner die Überzeugung bemächtigt, daß in seinem Falle eine solche Anstrengung ein Verbrechen gegen den Allmächtigen sei. Naomi war nicht bloß ein mit Gebrechen behaftetes, aus der linken Hand der Natur hervorgegangenes Wesen; sie war ein heimgesuchtes Geschöpf aus Gottes rechter Hand, das lebendige Denkmal einer Sünde, die nicht ihre eigne war. Es war nutzlos, weiter zu gehen. Das Kind mußte da gelassen werden, wohin Gott sie gestellt hatte.
Inzwischen schien es, als ob Naomi, wenn ihr auch die Sinne der übrigen Menschen abgingen, durch andere Organe als diese mit der Natur verkehrte. Es war, als habe die Geisterwelt selbst sie unterwiesen, und als könne sie ihre wunderbaren Fähigkeiten aus keiner andern Quelle geschöpft haben. Wenn man alles nacherzählen wollte, wie sie ihre Schritte zu lenken, ihre Neigungen zu befriedigen vermochte, so würde es über die Grenzen des Glaublichen weit hinaus gehen. Es schien wirklich, als sähe Naomi trotz der Blindheit ihrer leiblichen Augen ein Licht, das niemand sonst sehen konnte, und als lausche sie trotz der Taubheit ihrer leiblichen Ohren doch auf Stimmen, die niemand sonst hören konnte.
So wußte sie, wenn sie durch den Gang um den Patio hüpfte, daß jemand ihr entgegen kam, denn sie streckte die Hände vor sich hin und blieb stehen. Mehr noch; sie wußte auch, wer es war, ebenso gut, als ob ihre Augen oder Ohren es ihr gesagt hätten; denn stets, wenn es ihr Vater war, streckte sie ihm beide Hände entgegen, umfaßte damit seine Linke und drückte sie gegen ihre Wange; und jedesmal, wenn es der kleine Ali war, bog sie beide Arme zusammen, um ihn zu umhalsen; so oft es Fatima war, flog sie an ihre Brust, war es aber Habiba, schritt sie unabänderlich an ihr vorüber. Ging sie mit Ali auf die Straße, so unterschied sie das Mellahthor vom Stadtthor, und die engen Gassen von dem offnen Sôk Sôk oder Soko = der Marktplatz.. Ging sie an der hohen Moschee vorbei, so kannte sie dieselbe unter den niederen Läden heraus, die unter und hinter ihr und um sie herum sich eingenistet hatten. So unterschied sie auch eine Herde Maultiere und Kamele, die ihr entgegenkamen, sehr wohl von einer Rotte Menschen; und kam sie an einen Kreuzweg, so stand sie still und wandte sich nach beiden Richtungen.
Mit den zunehmenden Jahren gelangte sie zu der Kenntnis aller Orte in und um Tetuan; sie kannte die Stadt der Mauren und die Mellah der Juden, die Kasbah und die schmale Gasse, die zu ihr emporführte, die Festung auf dem Berge und den Fluß unterhalb der Stadtmauer, die Berge, welche das Thal einschlossen, und sogar einige ihrer Felsenschluchten. Sie fand ihren Weg überall hindurch, ohne Hilfe oder Führer, und niemand konnte sie hindern, sich in allerhand Gefahr zu begeben. So lange Ali klein war, begleitete er sie auf Weg und Steg, immer bereit zu jedem Abenteuer, das ihr ruheloses Herz anregte. Aber als er heranwuchs und täglich in die Schule ging, wagte sie sich allein hinaus, nur begleitet von einer kleinen weißen Ziege, welche ihr Vater als zweiten Spielgefährten für sie gekauft hatte.
Und weil das Gefühl ihr das Gesicht ersetzte und der Tastsinn das Gehör, und ihr Haupt die Winde des Himmels fühlte, und ihre Füße das Gras des Feldes, ging sie am liebsten barhaupt, ob nun die Sonne hoch stand oder die Luft kühl wehte, und auch barfuß von der Morgenfrühe an, bis die Sterne erglommen. Deshalb warf sie ihre Pantoffeln und den großen Strohhut, den die Judenmädchen tragen, ab und ging gehüllt in einen weißen Wollshawl, der sie in leichten, luftigen Falten anmutig umgab. Der kleinen Ziege nach, obgleich sie das Tier weder hören noch sehen konnte, erklomm sie dann den Hügel jenseits der Batterie und stand auf dem Gipfel, wie eine geisterhafte Luftgestalt. Sie konnte nichts sehen von dem unter ihr ausgebreiteten grünen Thale noch von der weißen Stadt am Fuß des Hügels mit ihren Kuppeln und Minarets, und doch schien sie, ihres hohen Standpunktes sich jauchzend bewußt, neues Leben aus der sie umrauschenden Windsbraut zu trinken. Bei der Rückkehr ins Thal sahen die, welche mit Furcht und Grausen zu ihr aufschauten, sie mit dem Zicklein um die Wette über die Felsen springen. Und wie ein Vogel mit ausgebreiteten Fittichen über das Gefilde hinstreicht, so schien sie dann mit ausgestreckten Armen und lose flatterndem blonden Haar den Hügel hinabzufliegen, als ob ihre Zehenspitzen den Boden nicht berührten.
Aus welcher Kraft sie das that, wenn es nicht die Kraft der Geisterwelt war, begriff kein Mensch; aber die krankhafte Gemütsverfassung, die in solchen Gefahren schwelgte, nahm zu, als sie aus einem Kinde allmählich zur Jungfrau erwuchs, ja sie kam auf immer neue, seltsame Weise zum Ausdruck. So pflegte im Frühling, wenn der Regen herabströmte, oder im Winter, wenn die wilden Stürme draußen tobten, oder im Sommer, wenn Blitz und Donner leuchteten und krachten, ihr unruhiger Geist zu verwandtem Aufruhr erregt zu werden, und wenn sie den sie beobachtenden Augen entschlüpfen konnte, rannte sie durch das Unwetter, und ihre Augen glänzten und ihre Lippen lachten. Dann ging Israel selbst aus, sie zu suchen, und wenn er sie gefunden hatte, ohne Kopfbedeckung und ohne Schuhe an den Füßen mitten im Platzregen, führte er sie bei der Hand heim, und wenn sie mitsammen durch die Straßen gingen, war sein Haupt gesenkt und seine Augen niedergeschlagen.
Aber nicht immer durfte der Vater sich Naomis schämen. Viel häufiger erheiterte ihn ihr munteres Wesen, denn vor allem andern war sie ein fröhliches Geschöpf. Freude schien sie zu umschweben, wo sie ging und stand. Ihr Herz strahlte inmitten seiner Dunkelheit. Mit ihrem Wachstum nahm auch ihre Schönheit zu, obgleich eins dabei rührend und eigen war – ihr Gesicht wurde mit den Jahren nicht älter, sondern blieb immer das eines Kindes, dessen süßer Ausdruck unter dem Duft und der Blüte der erwachenden Jungfräulichkeit sich behauptete. Auch ihre Liebe zu den Blumen nahm zu, und dabei schien ihr Geruchsinn sich zu entwickeln, denn sie erfüllte das Haus mit all den duftenden Blumen der Jahreszeit, wand sie um die weißen Pfeiler des Patio und bekränzte die braunen Wasserkrüge, die darin standen. Mit ihrer jungfräulichen Entwicklung nahm auch ihre Liebe zum Putz zu; aber es war nicht eines jungen Mädchens Freude an hübschen Sachen; es war eine wilde Lust an leichten, losen Gewändern, welche sie in angeborener Grazie um sich her flattern ließ. Sie war unleugbar ein Geschöpf der Freude und des Frohsinnes, glücklich wie ein Sommertag, und frisch wie ein tauiger Morgen im Lenz. Ihr silberhelles Lachen klang wie Quellengeriesel im Sonnenschein, und eine Flut goldenen Lichtes schien sie auf Schritt und Tritt zu umfließen. Und für Israel war sie gewiß ein Himmelsstrahl, der sein vereinsamtes Haus mit Sonnenschein erfüllte.
Doch dieser Himmelsstrahl wurde auch zuweilen von düsteren Wolken umschattet, und wenn Israel in seinen dunklen Stunden nach einem mehr menschlichen Verkehr lechzte und wünschte, der kleine Spielgenoß der Engel, welcher in sein Haus herabgekommen war, möchte doch nur ein bloßes Menschenkind sein, so erfüllte sich ihm dies Verlangen zuweilen und brachte ihm manch herbes Weh. Denn es geschah oft, und besonders zu Zeiten, wo keine Winde sich regten, wo toter Friede und ödes Schweigen in der Luft herrschte, daß Naomi in eine krankhafte Sehnsucht zu verfallen schien, deren Ursachen Israel nicht zu ergründen vermochte. Dann trübte sich ihr liebliches Gesicht, ihre schönen blinden Augen wurden feucht, und ihr anmutiges Lachen hallte nicht mehr im Hause wieder. Und manchmal in tiefer Nacht erhob sie sich von ihrem Bette, schritt durch die dunklen Gänge, – denn ihr war ja Licht und Finsternis gleich – bis sie in Israels Zimmer kam; wenn er dann aus dem Schlafe auffuhr, erblickte er sie neben seinem Bette wie eine kleine weiße Traumgestalt. Was sie da wollte, konnte er nicht erfahren, denn er war ja ebenso wenig im stande, sie zu fragen, wie sie zu antworten, ob sie krank sei oder ihr etwas weh thäte, oder ob sie im Schlafe ein Gesicht aus der unsichtbaren Welt gesehen und eine Stimme gehört, die sie rief, oder ob es ihr vorgekommen, als sei sie noch einmal von den Armen ihrer Mutter umschlungen, und dann denselben von neuem entrissen worden, und sei nun beim Erwachen in ihrer Angst zu ihm gekommen, da sie doch nicht wußte, was Träumen sei, sondern wohl alle bösen Träume für Wirklichkeit und neues Leid hielt. So stand er dann seufzend auf, nahm seine Lampe, führte sie in ihr Zimmer zurück, und brennender als die Thränen, welche in Naomis Augen standen, glühten die heißen Tropfen, welche in den seinigen emporstiegen.
»Mein armer Liebling,« sagte er dann, »kannst du mir dein Leid nicht klagen, daß ich dich tröste? Nein, nein, sie kann mir's nicht sagen, und ich kann sie nicht trösten. Mein Liebling, mein Liebling!«
Wenn sich derlei ereignete, dann ersehnte Israel am heißesten ein Wunder vom Himmel, durch das er den Weg zu des kleinen Mädchens Geist finden, sie fragen, antworten und erkennen lehren könnte, und doch wagte er nicht darum zu beten, denn größer als sein Mitleid mit dem Kinde war seine Furcht vor dem Zorne Gottes. Und aus dieser Furcht heraus erstand ihm endlich ein grauenhafter, schrecklicher Gedanke: obgleich also sein Kind und er hienieden getrennt waren – vor dem Richterstuhle Gottes müßten sie doch eines Tages zusammen erscheinen, und dann – wie würde es dann um ihre Seele stehen?
Naomi wußte nichts von Gott, da sie ja vom Verkehr mit den Menschen ausgeschlossen war. Würde Gott sie deshalb verdammen und sie auf ewig verwerfen? Nein, nein, nein! Gott würde nicht verlangen, daß sie im Lande des Schweigens gute Werke vollbrächte, noch daß sie wirkte im Bannkreis der Nacht. Sie hatte keine Augen, um Gottes schöne Welt zu sehen, keine Ohren, um sein heiliges Wort zu hören. Gott hatte sie so erschaffen, er würde das Werk seiner Hände nicht vernichten. Weit eher würde er sein auf Erden so lange und schwer geprüftes Kind liebevoll und erbarmend ansehen und sie endlich zu sich nehmen, um sie zu einer Heiligen des Himmels zu verklären.
So versuchte Israel sich zu trösten, aber seine Anstrengung war vergebens. Er war ein Jude bis ins innerste Herz hinein, und er antwortete sich selbst, daß es sein eigner sündiger Wunsch gewesen, und nicht Gottes Wille, der Naomi in die Welt gerufen hatte, so wie sie war. Wie sollte er ihr also an dem Tage der großen Abrechnung für ihre Seele Rechenschaft geben?
Vor seinem Geiste erhoben sich allerhand Schreckgebilde endloser Vergeltung für die Seele, die Gott nicht gekannt hatte. Grausig verfolgten sie ihn lange schlaflose Nächte hindurch, endlich aber überkam ihn der Friede, da er den Pfad seiner Pflicht deutlich vor sich sah. Es war seine Pflicht gegen Naomi, ihr von Gott zu erzählen und ihr des Herrn Wort zu erschließen. Was that es, daß sie nicht hören konnte? Wenn sie soviel Sinne gehabt hätte, wie es Sandkörner am Meeresstrand gab, so konnte doch nur der Herr allein sie den Weg des Lichtes führen. Was verschlug es, daß sie nicht sehen konnte? Die Seele war das Auge, das Gott sah, und mit leiblichen Augen hat kein Mensch ihn je gesehen!
So nahm denn Israel seitdem täglich um Sonnenuntergang seine kleine Naomi bei der Hand und führte sie in ein Obergemach; es war dasselbe, worin ihre Mutter gestorben; dann holte er aus dem Wandschrank das Buch des Gesetzes, und las ihr vor aus den durch Mose gegebenen Geboten des Herrn und aus den Propheten und aus den Königen. Und während er las, saß Naomi stille zu seinen Füßen und drückte seine freie Hand mit ihren beiden fest an ihre Wange.
Was das Kind in ihrer Finsternis von diesem Vorgange denken mochte, was für ein Mysterium es für sie war, und warum es das war, konnte nur das Auge dessen sehen, vor dem auch Finsternis wie das Licht ist; aber es kam allmählich dahin, daß, sobald die Sonne untergegangen – denn sie wußte, wann das geschehen war – daß Naomi selbst ihren Vater bei der Hand nahm, ihn in das Obergemach führte, das Buch holte und auf seine Kniee legte.
Und zuweilen, wenn Israel las, kam ein böser Geist über ihn und spottete sein und sprach: »Das Kind ist taub und hört nicht, – geh und lies dein Buch den Gräbern vor!« Aber er steifte seinen Nacken dagegen und lachte stolz. Und wieder schien es ihm, als spräche der böse Geist: »Warum reibst du dich in diesem thörichten Wunsche auf? Das Kind ist lebendig begraben, und wer wird den Stein abwälzen?« Aber Israel erwiderte: »Des Herrn Sache ist es, Wunder zu thun, und der Herr ist allmächtig!«
Stark in seinem Glauben fuhr Israel fort, Naomi Abend für Abend aus der Schrift vorzulesen, und wenn sein Gemüt wund war von den vielen Schmähungen, die der Tag ihm gebracht, pflegte seine Stimme heiser zu sein, und er las das Gesetz, das da sagt: »Du sollst dem Tauben nicht fluchen, noch einen Stein in den Weg des Blinden legen.« Aber wenn sein Herz friedlich gestimmt war, dann war auch seine Stimme weich und er las dann wohl von dem Knaben Samuel, der dem Herrn in seinem Tempel geweiht wurde, und wie der Herr ihn rief und er antwortete:
»Und es begab sich, zu derselben Zeit lag Eli an seinem Ort, und seine Augen fingen an dunkel zu werden, daß er nicht sehen konnte. Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, da die Lade Gottes war, und die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Und der Herr rief Samuel. Er aber antwortete: »Siehe, hier bin ich!« Und lief zu Eli und sprach: »Siehe, hier bin ich! du hast mir gerufen!« Er aber sprach: »Ich habe nicht gerufen, gehe wieder hin und lege dich schlafen.« Und er ging hin und legte sich schlafen. Der Herr rief abermal: »Samuel!« Und Samuel stund auf, und ging zu Eli und sprach: »Siehe, hier bin ich! du hast mir gerufen!« Er aber sprach: »Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; gehe wieder hin und lege dich schlafen.« Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart.«
Und wenn er mit Lesen zu Ende war, schloß Israel das Buch und sang aus Davids Psalmen denjenigen, worin es heißt: »Es ist mir lieb daß du mich gedemütiget hast, daß ich deine Rechte lerne!« (Ps. 119, 71.)
So las Israel Abend für Abend, wenn die Sonne untergegangen war, aus dem Gesetz, und sang Naomi, seiner taubstummen und blinden Tochter die Psalmen Davids vor. Und obwohl Naomi weder hörte noch sah, war doch in dieser stillen Stunde noch ein anderer bei ihnen in der Kammer – ein dritter, und das war Gott.