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Zweites Kapitel.
Das Andenken des Gerechten.

. Der nächste Tag war Sylvester. Er fand die beiden Familien in heiterster Stimmung zur Abschiedsfeier des alten und zur Begrüßung des neuen Jahres vereint. Es bleibt etwas Merkwürdiges und doch so Hübsches, daß Verwandte trotz langer Trennung und trotz aller Verschiedenheit von Ansichten und Verhältnissen sich so schnell und innig zusammenfinden. Herr Steffen Jansen und seine Frau fühlten sich bald sehr wohl in der stillen Behaglichkeit des alten gemütlichen Herrenhauses; beide hatten sich nach Ruhe und diesem herzlichen, freundschaftlichen Verkehr gesehnt, der eine ermüdet und abgespannt durch die Aufregungen seines Geschäftes, die andere ermattet und abgehetzt durch die Anstrengungen einer unaufhörlichen Geselligkeit, wie sie die beiden erwachsenen Töchter als ihr Recht beanspruchten.

Hilda und Charlotte machten gute Miene zum bösen Spiel; sie fanden es sehr langweilig und einen schrecklichen Einfall von Papa und Mama, sie mitten aus den Festen und Freuden des geselligsten Teiles des Jahres hierher in diese öde Wüstenei zu versetzen, wo sie unerhörte Entbehrungen ertragen mußten und keine Entschädigung fanden. Aber was half's! Es war nicht zu ändern. So verschliefen sie einen Teil des Tages oder lagen gähnend mit einem Buche in den Sofaecken – denn es gab ja nicht einmal einen bequemen Lehnstuhl oder eine nette Chaiselongue im Hause – und dachten dabei, sie möchten um keinen Preis der Welt mit Christine tauschen, die ja ein wahres Sklavenleben voll Pflichten und Arbeit habe. Ab und zu konnten aber selbst diese verwöhnten Mädchen der zwanglosen Fröhlichkeit um sie her nicht widerstehen, und wenn die übrigen so heiter und vergnügt waren, so mußten auch sie in das Lachen und Scherzen einstimmen, das an der Tafelrunde herrschte.

Die beiden Knaben waren Herzensfreunde geworden, ehe der erste Tag zu Ende ging und obwohl sie merkten, daß sie oft recht verschieden dachten und empfanden. Elschen und Kleinmartha waren unzertrennlich und warteten und pflegten ihre Puppen aufs zärtlichste; die gute kleine Puppenmama sah ihre Lieblinge jetzt schon ohne Besorgnis in den Händen der Cousine, die sogar für die arme Rosalinde eine freundliche Wärterin geworden war.

»Wenn ich nach Hause komme, sollen es meine Puppen auch besser bei mir haben,« versicherte Martha; »aber ich will nicht mehr solch steife Dinger in Seide und Sammet, mit denen sich nichts anfangen läßt, sondern so nette, wie du hast, zum Aus- und Anziehen, mit Sonntags- und Alltagskleidern, die man des Abends zu Bette bringt und des Morgens wieder anzieht. Aber meine Schwestern werden mir keine hübschen Sachen nähen, wie es Christine für deine Puppen thut.«

»Du mußt es selbst lernen. Christel hat es mir gezeigt, und nun macht es mir erst recht Freude,« sagte Elschen.

»Wer sollte es mich lehren?« klagte Martha. »Mama ist müde und angegriffen und muß sich ausruhen, wenn sie zu Hause ist; die Schwestern haben nie Zeit und Lust für mich, und ihre Jungfern auch nicht. Ach, ich wünschte, ich könnte immer bei euch bleiben, es ist so hübsch bei euch!«

Dabei umarmte sie ihre kleine Cousine, die dies mit gleicher Innigkeit erwiderte. –

Im Gartensaal, der als Versammlungsort diente, stand der Christbaum, der zur Sylvesterfeier noch einmal in hellem Glanze erstrahlte; er war mit vielen guten Dingen behängt, und als es ans Plündern ging, war Alt und Jung auf dem Platze, um etwas zu erlangen und jeder freute sich über die ihm zugefallenen Schätze. Nach dem Abendessen, bei dem der Karpfen als Sylvesterfisch eine Ehrenrolle spielte, kehrte man aus dem Speisezimmer in den Saal zurück, dessen riesiger Kachelofen die winterliche Kälte nicht aufkommen ließ; auf dem Tische dampfte eine mächtige Punschbowle, daneben standen die warmen, duftenden Pfannkuchen, und nun ging's an ein fröhliches Schmausen und Trinken. Was kann doch der Mensch leisten, wenn es ihm nicht an gutem Willen fehlt! Eine Gesundheit folgte der anderen, das Brautpaar mußte zuerst leben, dann kamen die lieben Gäste, der Hausherr, Elschen und Martha, die beiden jungen Damen, die ganze Familie, und wenn sie mit allen glücklich durch waren, fingen sie frisch von vorn an.

Die Tante, die ganz aufgelebt war und nichts von ihrer Nervenschwäche spürte, bekam doch Angst. »Wenn es nur geht, der viele Punsch,« sagte sie mit besorgter Miene.

Der Gutsherr beruhigte sie. »Seien Sie ohne Furcht, Cousine, ihr trinkt viel Wasser, euer Punsch ist sehr unschuldig, für uns Herren habe ich eine Extramischung, und die beiden jungen Sausewinde stehen in der Mitte!«

So ging es also weiter und dazwischen gab es Bleigießen und Greifen unter verdeckte Teller und allerlei wundervolle Schicksalsorakel; jeder fand endlich, was er sich wünschte, und wer etwas Schlechtes erwischte, der zog noch einmal, zuletzt wurde auch er befriedigt.

Unten in der Gesindestube gab es auch eine Sylvesterfeier mit Punsch und Kuchenbergen, und nach guter, alter Sitte des Hauses zogen die Herrschaften mit gefüllten Gläsern hinab, um mit den Leuten auf ein glückliches Jahr anzustoßen. Eine ehrerbietige Stille trat bei ihrem Erscheinen ein, Knechte und Mägde erhoben sich von den hölzernen Bänken und standen verlegen da; als aber ihr Herr sagte: »Kinder, dies Glas gilt eurem Wohl, der liebe Gott schenke uns allen beisammen ein glückliches Jahr!« da brach ein Jubeln und Jauchzen los, und sie schrien alle laut und froh: »Vivat hoch! unser guter Herr soll leben!«

Die Gläser stießen zusammen und als es ein wenig ruhiger geworden war, trat der alte Jakob vor und hob feierlich an: »Es ist uns allen eine große Ehre und ein Plaisir, daß wir solch gute Herrschaft haben, und weil ich der älteste hier im Dienst bin und im Hause alt und grau geworden, so muß ich dies sagen und dazu unserm Herrn und unserm Fräulein mit ihrem Bräutigam und unsern Kindern und unsern lieben Gästen ein Lebehoch ausbringen. Sie sollen leben! Hoch! Hoch! Hurra!«

Der Alte schaute voll freudigen Stolzes um sich und schmunzelte vergnügt, als ihn Herr Steffen wegen seines Trinkspruches belobte. Aber die Erlaubnis seines Herrn, hier unten zu bleiben, wies er energisch zurück: »Nein, danke, Herr Jansen, das ist sehr freundlich, aber ich kenne meinen Platz. Wer sollte denn da oben bedienen? Wenn Herrschaften da sind, gehört der Jakob zu ihnen als ihr Diener.«

»Ein drolliger Kauz,« sagte Herr Steffen leise zu seinem Vetter. »Er ist wohl schon lange in deinen Diensten?«

»Ein Erbstück vom Großvater, der ihn sich erzogen hat,« erwiderte Herr Martin Jansen. »Es ist eine seltsame Geschichte, die Jakob am besten selbst erzählt. Du mußt ihn einmal darauf bringen.«

»Kann es nicht heute schon geschehen, Onkel?« fragte Günther.

»Meinetwegen,« sagte dieser und wandte sich an Jakob: »Alter, die Herrschaften möchten gern wissen, wie du ins Haus gekommen bist. Willst du's ihnen nicht sagen?«

»Sehr gern, wenn ich darf,« antwortete der alte Diener. »Dabei kann ich ja von meinem lieben, alten Herrn sprechen und etwas Schöneres giebt es gar nicht für mich.«

»Na, setz dich nur dabei, unsere Gäste haben nichts dawider,« sagte Herr Martin Jansen und deutete auf einen Stuhl an der Thür.

Aber der Alte wehrte sich erschrocken: »I', wie werd' ich denn. Ich kenne meinen Platz, und meine Beine, die sind kräftig genug und vertragen das Stehen. Aber die Geschichte ist so: Ich war ein recht unnützer Bengel und keiner wollte etwas von mir wissen, denn meine Eltern waren beide tot und in ihrer langen Krankheit hatten sie sich nicht um mich bekümmern können und ich war nun ganz verwildert. Arm war ich auch und eine rechte Last für die Gemeinde. Da sollte ich die Ziegen hüten, aber es ging nicht; wenn es ein Vogelnest zu suchen oder einen Fuchsbau auszuspüren galt, vergaß ich meine Herde und es entstand nur Unheil. Prügel gab's mehr als genug und zu essen viel zu wenig, ohne daß es half. So nahmen sie mir mein Amt wieder. Hier und da versuchte es ein Bauer mit mir und nahm mich in seinen Dienst, aber ich that nirgends gut und wurde immer bald wieder fortgejagt. Meine Not war groß, die Kleider hingen in Fetzen an mir und der Magen knurrte vor Hunger, im Herzen aber wohnten nur Groll und Haß gegen die Menschen, die so grausam gegen mich waren und denen allein ich die Schuld an meinem Elend zuschrieb.«

»Armer Jakob!« sagte Günther mitleidig und blickte voll Teilnahme auf den alten Mann, der ihm bisher mit seinem linkischen, unbeholfenen Wesen nur lächerlich erschienen war. Die Schwestern hatten sehr über einen solchen Diener gespottet und sich über den Onkel und Christine gewundert, daß sie ihn nicht durch einen andern, gewandten und geschickten Bedienten ersetzten, und Günther hatte ihnen zugestimmt.

»So wurde ich dann immer schlechter,« fuhr Jakob fort, »und zuletzt fand ich kein Unrecht darin, das, was ich brauchte und was mir fehlte, zu nehmen, wo ich konnte, und so ward ich zum Spitzbuben. Meist glückte mir der Raub, zuweilen erwischten mich die Bauern. Die ersten Male prügelten sie mich jämmerlich durch, so daß ich mich kaum rühren konnte, das dritte Mal schlugen sie mich zwar auch halbtot, doch genügte ihnen das nicht und sie schleppten mich vor den alten Herrn Jansen, der damals die Polizei hatte und die Gerichtsbarkeit über solche Vergehen. Ich hatte die Prügel und alle Mißhandlungen stumm ertragen, hatte in Wut und Haß die Zähne stumm zusammengebissen und gedacht: Was schadet's, wenn sie dich tot schlagen? Es wäre wohl das beste für dich.

»Nun fing ich aber an flehentlich zu bitten, sie sollten mir alles anthun, nur nicht vor den Herrn mich bringen, denn der war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, vor dem ich mich schämte und scheute. War er doch damals meinen armen Eltern zum Grabe gefolgt und hatte gesagt, indem er mir über das wirre Haar strich: ›Wenn's dir schlecht geht, mein Junge, dann komme zu mir; aber erst versuche dir dein Brot zu verdienen.‹ Schlecht genug war's mir gegangen, aber schlecht war ich auch gewesen, und deshalb mochte ich ihm nicht vor die Augen treten. Natürlich hörten die erbosten Bauern nicht auf mich, und so mußte ich vor den Herrn, schmutzig, zerlumpt, mit Striemen und Beulen bedeckt, das warme Blut noch über mein Gesicht rieselnd, denn sie hatten mir ein tüchtiges Loch in den Kopf geschlagen.

»Der Herr hörte nun all das Schreien und Toben ruhig an; sie konnten mich gar nicht schwarz genug abmalen. Dann fragte er mich, ob es wahr sei, was sie von mir sagten. Der Trotz redete aus mir und ich antwortete: ›Ja, und noch viel mehr.‹ Das machte die Bauern noch wütender und sie schrieen, ich müßte unbedingt ins Zuchthaus, denn ich würde das Unglück von ihnen allen werden, als Dieb anfangen und als Räuber und Mörder endigen. Der Herr ließ sie gewähren, aber endlich gebot er ihnen Stille und nun sagte er: ›Der Junge hat viel Schlimmes verübt, ihr habt ihn auch bereits hart gestraft. Wenn ich ihn jetzt einsperre und es kommt in die Akten, so ist und bleibt er ein Spitzbube sein Leben lang; den Makel wäscht ihm kein Wasser ab. Jetzt ist's nur noch ein schlimmer Knabenstreich. Laßt's mich noch einmal mit ihm versuchen; wenn ich ihn zurechtbringe, so haben wir eine Menschenseele gerettet.‹

»Erst wollten die Bauern nicht auf sein Zureden hören und eiferten dawider; er ließ sie ruhig schelten und toben; dabei schafften sie sich den Ärger und Groll selbst vom Herzen, und so schloß einer nach dem andern: ›Meinetwegen, wenn Sie so denken, Herr Jansen, versuchen Sie's; ich habe kein Vertrauen, aber ich will nicht im Wege sein.‹ Damit gingen sie und ich war nun allein mit dem Herrn. Der führte mich in eine Kammer, gab mir eine Schüssel mit warmem Wasser, Seife und reine Handtücher und gebot mir, mich zu waschen; die Kopfwunde reinigte er selbst und verband sie mir. Dann brachte er auf seinen Armen so viel Heu herein, daß er es kaum tragen konnte; darüber breitete er ein sauberes Leintuch und in ein anderes schlug er eine wollene Decke. Er that alles selbst; vom Gesinde hätte sich wohl ein jeder vor mir gescheut, und später lernte ich von ihm, daß man niemand zu einem Liebesdienste zwingen soll.

Unterdessen war ich fertig geworden, hatte meine schmutzigen Lumpen vom Leibe abgestreift und das schöne, weiße Hemd angezogen, das er mir hingelegt hatte. Dann mußte ich mich auf das weiche, duftende Lager strecken. Auf dem Waldesboden hatte ich manches Mal im Moose geschlafen, auch wohl in Heuschobern weich und warm gelegen, aber frische, saubere Bettücher hatte ich seit der Eltern Tode nicht mehr gekannt. Das Wohlbehagen darüber fühle ich noch heute. Der Herr brachte mir nun einen Teller warme, kräftige Suppe, – es waren Linsen darin, ich weiß alles, als wäre es eben geschehen – dazu ein großes Stück Fleisch, und ich verschlang alles gierig, denn ich hatte seit länger als vierundzwanzig Stunden nichts genossen. Er sah mir lächelnd zu, nahm mir den Teller wieder ab und deckte mich sorgfältig zu. Dann strich er mir über das geschwollene Gesicht und sagte leise: ›Schlaf wohl, mein armer Junge.‹

»Und ich griff nach seiner Hand und küßte sie, und die Thränen, die ich so lange nicht mehr gekannt, stürzten mir aus den Augen und ich weinte, bis ich endlich einschlief, erschöpft von allem Erlebten. Als ich erwachte, dachte ich zuerst, es müsse alles ein Traum sein, es könne mir gar nicht so gut gehen, aber ich merkte doch, es war Wahrheit. Die Morgensonne schien ins Kämmerchen, ich hatte den ganzen Tag und die Nacht verschlafen!

Da trat der Herr ein mit Kleidern auf dem Arm; er sagte nur: ›Guten Morgen, mein Sohn‹, sah nach meiner Wunde und verband sie. Dann mußte ich aufstehen und frühstücken und darauf die leichte Arbeit thun, die er für mich ausgesucht hatte. Mein Essen verzehrte ich im Kämmerchen, denn vom Gesinde hätte sich keins mit mir an den Tisch gesetzt. Abends läutete ein Glöcklein, alle Leute gingen ins Haus; in der großen Halle standen viele Stühle; obenan saß der Herr, seine Frau und seine Kinder neben ihm, vor ihm stand ein Lesepult und darauf lag die große Bibel. Ich mußte mich als Letzter ganz untenan setzen, und ich merkte wohl, wie der Kuhjunge, mein nächster Nachbar, weit von mir abrückte. Der Herr las die Geschichte vom verlorenen Sohn, dann sprach er ein kurzes Gebet und wir sangen einen Liedervers. Danach sagte er uns gute Nacht und wir gingen hinaus, ich in meine Kammer. Heute schlief ich noch lange nicht ein, das Gehörte war zu lebendig in meiner Seele.

»So ging das weiter. Der Herr blieb immer gleich gut und geduldig gegen mich, die andern Leute bewahrten ihr Mißtrauen noch lange und zeigten mir ihre Verachtung. Ich betete jetzt wieder und bat den lieben Gott oft, er möchte meinem Herrn ein großes Unglück schicken, aus dem ihn nur einer retten könne, der sein eigenes Leben für ihn hingäbe, aber dies Gebet wurde nicht erhört. Ich habe ihm nur treu bis an seinen Tod dienen und sein Gedächtnis zu jeder Stunde segnen können, und das ist doch zu wenig gewesen für alles, was er an mir gethan hat. Zuerst habe ich ihm sogar noch manche Sorge gemacht, denn das Böse war in mir zu mächtig geworden und oft regten sich schlimme Gelüste in mir. Aber es war, als könne er in meiner Seele lesen, und wenn ich ihm abends die Bibel auf sein Pult legte, – denn das war mein Amt geworden – dann schlug er sie immer an einer Stelle auf, die zu mir ganz besonders redete, und ohne daß er etwas darüber zu mir sagte, hat er mich durch das Bibelwort getröstet, beraten und geleitet.

»Allmählich wurden meine Kämpfe leichter, ich that meine Pflicht mit Freuden und das Vertrauen meines Herrn gab mir immer mehr Gelegenheit, ihm zu dienen. Mit der Zeit verlor sich die üble Stimmung der andern und verwandelte sich in Liebe und Gunst und ich wurde sehr zufrieden und glücklich. Zehn Jahre habe ich noch meinem Herrn dienen dürfen, und als ihn dann der liebe Gott zu sich rief, reichte er mir zum Abschied die Hand und dankte mir – er mir.«

Der alte Mann konnte vor Rührung nicht weiter sprechen, alle schwiegen tiefbewegt. Heinrich hatte ihn sanft auf einen Stuhl in ihrer Reihe gedrückt und das erschien ihnen allen nur natürlich. Wo Herrschaft und Diener durch solche Bande verknüpft waren, konnten die äußeren Schranken wohl einmal durchbrochen werden. Der Hausherr füllte die Gläser und reichte sie im Kreise herum, auch an Jakob.

»Der Erinnerung an einen edlen Menschen,« sagte Herr Martin; »das Andenken des Gerechten bleibt im Segen.«

Sich von ihren Sitzen erhebend, leerten sie in weihevoller Stille die Gläser. Die heitere Sylvesterlaune hatte einer feierlichen Stimmung Platz gemacht. Schweigend blickten sie auf den Zeiger der Uhr, welcher die letzte Stunde des scheidenden Jahres anzeigte.

»Der Großvater kannte nur einen Anfang und ein Ende,« sagte Herr Martin Jansen dann; »laßt uns seinem Vorbild folgen!«

Er hatte ihnen allen aus der Seele gesprochen; über Jakobs Züge flog ein glückliches Lächeln und ohne weiteres Geheiß eilte er nach der Ecke der Halle, wo das Lesepult des Großvaters stand mit der großen, in Leder gebundenen Familienbibel darauf, die der alte Herr selbst zur Schonung des Einbandes mit einer Umhüllung von grauem Leinen versehen und diese sorgfältig mit seinen Siegeln befestigt hatte.

»Das war des Herrn Lieblingspsalm,« sagte Jakob und legte die Bibel offen vor seinen jungen Herrn, wie er den jetzigen trotz seines ergrauenden Haares noch immer bezeichnete.

»Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt,« las Herr Martin mit bewegter Stimme; andächtig lauschte der Kreis um ihn.

Als er geendet, schlug er die Blätter des alten Buches um; auf dem vordersten befand sich die Eintragung der Familienereignisse von der Hand des Großvaters. Christinens Geburt war das letzte gewesen, was er noch erlebte. Schweigend deutete Herrn Martin Jansens Finger auf die Zeilen, welche er heute schon gegen den Vetter erwähnt hatte, und dieser las sie aufmerksam, sagte aber nichts.

Jetzt schlug die Uhr die zwölfte Stunde und mit lauten, herzlichen Glückwünschen begrüßte sich die Familie zum Jahreswechsel. Bald darauf trennte man sich.

»Du bist so ernst und still, mein Herz,« flüsterte Doktor Hagen seiner Braut zu.

»Es liegt wie eine bange Ahnung auf mir,« erwiderte sie. »Vielleicht bin ich zu glücklich und fürchte jeden Wechsel. Aber wir wollen auf Gott vertrauen. Wie er es auch fügt, es wird gut und zu unserm Heil sein.«

Am Neujahrstag fand man sich vergnügt und fröhlich am Frühstückstisch zusammen; die Sylvesterfeier hatte die beiden Familien sich noch näher gebracht und selbst Hilda und Charlotte waren jetzt mit dem Besuche in Schönwiese ausgesöhnt.

»Nächstes Jahr müßt ihr uns nun besuchen, Kinder,« sagte Herr Steffen Jansen.

»Nein, dann empfängt uns Cousine Christine in ihrem Hause,« meinte Charlotte.

»O, das könnte sie jetzt schon,« rief Heinrich aus. »Ein Haus hat sie schon lange.«

»Von diesem geheimnisvollen Besitz wußte ich ja nicht einmal etwas,« sagte Doktor Hagen lachend. »Es handelt sich wohl um ein Schneckenhaus, aus dem du die rechtmäßige Besitzerin vertrieben hast.«

Ohne etwas zu erwidern, stand Christine auf, ging in ihr Zimmer und kehrte gleich darauf mit einem Schriftstück zurück, das sie ihrem Verlobten lächelnd vor die Augen hielt.

»Glaubst du es nun, wenn ich es dir schwarz auf weiß zeige?« fragte sie ihn.

»Alle Tausend! Ein richtiger Kaufbrief!« rief er aus. »Du bist also Eigentümerin eines Palastes in Flundersdorf.«

»Laß mich sehen! Nein, gebt mir das Dokument! Was hat denn das für eine Bewandtnis?« hieß es in neugierigem Durcheinander.

»Die Sache ist nicht so großartig, wie sie sich anhört,« erklärte der Gutsherr lächelnd. »In Flundersdorf hatten die Grundstücke bisher keinen Wert; für einige tausend Mark konnte man ein ganz nettes Häuschen mit Garten erwerben. Jetzt sind dort einige Vorrichtungen getroffen, um das Baden in der See zu ermöglichen. Um täglich hinüberzufahren, ist der Weg aber doch zu weit, es sind mehr als zwei Meilen. So kaufte ich das Häuschen, ließ es auf Christinens Namen schreiben und überraschte sie damit an ihrem letzten Geburtstag. Im vorigen Sommer hat sie dort mit Heinrich und Elschen einige Wochen gewohnt, nachdem wir es mit dem notwendigsten Hausrat ausgestattet hatten, und der Aufenthalt am Meer hat allen dreien sehr wohl gethan. Es gab sogar ein Dutzend Badegäste dort; Flundersdorf hat jedenfalls eine Zukunft.«

»Wie nett muß das gewesen sein!« rief Günther aus.

»Es war famos!« versicherte Heinrich.

»Christine muß uns ihr Haus zeigen, morgen fahren wir hinüber,« schlug Hilda vor, und in vergnügter Laune wurde der Beschluß gefaßt und am nächsten Tage ausgeführt.

Die Schlittenbahn war eine so vorzügliche, daß der Weg bald zurückgelegt wurde, es gab eine allerliebste Spazierfahrt, und obwohl es in dem Häuschen, das mit geschlossenen Fensterläden einsam und verlassen dastand, eisigkalt und dumpfig war, so that das doch der wohlwollenden Stimmung keinen Eintrag, sondern die Gäste wetteiferten im Lobe des kleinen Besitztums, und die Cousinen behaupteten, sie könnten sich nichts Schöneres vorstellen, als solchen Landaufenthalt in den niedlichen, kleinen Zimmern, deren Fenster dann der wilde Wein umrankte, dazu die reizende Laube in dem Gärtchen mit dem Ausblick auf das Meer, das rastlos gegen die Felsen des steilen Ufers anprallte.

»Ihr würdet euch bald zu Tode langweilen,« sagte die Mutter. »Für mich würde die Stille hier eine Wohlthat sein.«

»So werden noch andere denken,« stimmte ihr Gatte zu. »Glaubt mir, in kurzer Zeit wird dieses kleine Haus ein nicht zu verachtender Besitz sein. Flundersdorf ist im Erblühen, und eine schönere Lage kann sich kein Badeort wünschen. Ich prophezeie Christinen, daß sie ein gutes Geschäft machen wird, oder mein kaufmännischer Scharfblick müßte mich ganz und gar täuschen.«

»Nein, ich würde das Häuschen nicht hergeben, es macht mir so viel Freude,« sagte Christine.

»Bewahre,« stimmte ihr Verlobter zu, »hier verleben wir unsere Ferien, ganz in der Nähe von Papa und den Geschwistern, mit denen wir fleißig Besuche austauschen. Ich interessiere mich sehr für die Fauna des Meeres, vielleicht entdecke ich noch einige Arten von Krabben oder Quallen, die den Gelehrten bisher entgangen waren.«

»Wir dürfen doch auch einmal erscheinen, oder wollt ihr in eurem Idyll völlig ungestört bleiben?« fragte der Kaufherr.

»O natürlich, Gäste sind hochwillkommen, am meisten liebe Verwandte,« versicherte Doktor Hagen.

Die Zeit verging so schnell und angenehm, daß alle mit Bedauern die Scheidestunde herannahen sahen, die am nächsten Tage schlug. Länger konnte sich der Handelsherr nicht seinen vielen Geschäften entziehen und ebenso mußte Doktor Hagen zu seinen Vorlesungen zurückkehren. Dafür traf der Kandidat ein, der Heinrich und Elschen wieder ins Schuljoch spannte, und so lag Schönwiese bald wieder in stiller, winterlicher Abgeschiedenheit da, dem Frühling und dem Pfingstfest entgegenhoffend, das die Familien wieder vereinen sollte, diesmal in der großen Stadt bei Herrn Steffen Jansen.


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