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Achtunddreißigstes Kapitel.
Die Prinzipalin hatte, nachdem ich mich vor ihr gerechtfertigt, auch eine Unterredung mit dem Herrn Specht, von welcher mein guter Freund nicht sehr erbaut sein konnte, insofern Madame Stieglitz ihm meine Verteidigung des ersten Anklagepunkts mitteilte, wogegen er nichts erinnern konnte, da der Meister Steffen ihn selbst mit Bittgesuchen um Wiederaufnahme zahlreich überhäufte. Was den zweiten Punkt anbelangt, so war derselbe, wie der Leser weiß, gar nicht gegen mich berührt worden, und hätte ich auch, wenn die Prinzipalin dadurch meiner Ehre zu nahe getreten wäre, alles in Bewegung gesetzt, mich des Buchhalters zu entledigen. Es wäre dann ein erbitterter Kampf um Sein oder Nichtsein daraus entstanden. Das mochte mein schlauer Ankläger auch ganz gut wissen, und da er natürlicherweise keine Beweise gegen mich haben konnte, so ließ er, obgleich aufs tiefste erbittert, die Sache für den Augenblick ruhen, spürte mir aber auf Schritten und Tritten nach, um etwas Rechtes gegen mich aufbringen zu können. Sein Helfershelfer war jener nichtswürdige Kandidat, und Herr Block unterrichtete mich getreulich von den Zusammenkünften jener Herren und von den gewichtigen Unterhandlungen, die sie in meinem Interesse hielten.
Ich wurde vorsichtiger und begann, mich langsam von meinen früheren Kameraden zurückzuziehen, ohne aber auffallend mit ihnen zu brechen, und das wurde mir um so leichter, als auch andere unserer Gesellschaft des überlustigen Lebens satt waren, und diese zweite Auflage der Flegeljahre auch für sie nach und nach das Interesse verloren hatte.
Ueber die Heiratsanträge des Herrn Specht konnte ich nichts Gewisses mehr erfahren; Emma sagte mir nichts weiter darüber und vermied es aufs eifrigste, mit dem Buchhalter allein zu sein. Auch mochte ein zweiter Plan in ihm aufgestiegen sein, denn so lieb es ihm früher schien, daß ich mich um meine Cousine gar nicht bekümmerte, so sehr hatten ihn dagegen jener Handkuß und die Tränen des Mädchens bei unserer Unterredung im Speisezimmer überrascht und aufmerksam gemacht, und er haßte mich nun natürlich desto mehr. Er wurde sichtlich verschlossener und brütete über geheimen Entwürfen.
Es war eines Samstags abends, als ich, zum Ausgehen gerüstet, aufs Kontor ging, um verschiedene Briefe, Rechnungen und dergleichen, die sich gewöhnlich in meinem Pult vorfanden, noch vor dem Sonntage zu erledigen. Der Buchhalter war ausgegangen, und der Herr Block räumte im Kontor und Laden auf, er richtete die Stoffe in den Glaskästen, brachte Schere, Bindfaden und Elle an ihren Platz, legte das große Hängeschloß an die Ladenkasse und pfiff dazu ein lustiges Lied, sich auf den morgenden freien Tag freuend. Ich hatte meinen Hut auf dem Kopfe und war verdrießlich, auf dem Pult noch einen Stoß Papiere zu finden, und fing an, so schnell wie möglich daran herunter zu arbeiten. Es waren ausgezogene Rechnungen, Korrespondenzen des Herrn Specht, welche ich, als das Fabrikgeschäft angehend, mit meinem Visa versehen mußte; ferner Mahnbriefe an hartnäckige Schuldner, Feder- und Stilübungen des jungen Herrn Block; derselbe hatte sich in diesem Geschäftszweige mit Hilfe der vorhandenen Schemas eine ziemliche Fertigkeit erworben und unterschied namentlich dadurch die guten von den minder guten, und die schlechten von den ganz schlechten Zahlern, daß er sich entweder »hochachtungsvoll« oder »mit vollkommenster Ergebenheit« oder »höflichst« oder gar nicht empfahl; diese Briefe hatte ich zu unterschreiben und zeichnete mein »pr. Stieglitz u. Comp.« eiligst darunter. Ein größerer Rechnungsauszug, den ich ebenfalls vorfand, mußte nachgerechnet werden und hielt mich auf; dann kam auch ein eigener Brief der Prinzipalin an unser Bankhaus Schilderer u. Söhne, worin sie die Summe von fünfhundert Talern in Kassenanweisungen für sich verlangte. Dergleichen Briefe der Madame Stieglitz wurden zur besonderen Kontrolle in ein besonderes Buch eingetragen.
Man sah recht an den Schriftzügen, daß die gute Frau alt wurde. Von jeher waren dieselben groß und hart gewesen, aber hier waren sie so undeutlich, daß man kaum ihre Forderung und die Zahl entziffern konnte; auch fiel es mir auf, daß das Papier zu diesem Briefe gar so alt und verlegen war. Doch kannte ich ihre Sparsamkeit im großen wie im kleinen und erinnerte mich genau, wie oft ich von ihr ausgescholten und der Verschwendung angeklagt wurde, wenn ich einen Viertelbogen Papier verdorben, worin ich von jeher sehr stark gewesen. Die Unterschrift der Prinzipalin dagegen war korrekt und fließend und erinnerte mich wehmütig an die erste Unterschrift, welche ich von ihr gesehen. Das war damals, als ich mein erstes Belobungsschreiben zu meinem Vetter, dem Professor, hintrug; dazwischen lagen schon mehrere Jahre, und wieviel hatte sich seit der Zeit in dem kleinen Hause auf dem Hügel geändert! Ich versank in Träumereien, während ich meine Briefe zusammenfaltete, überschrieb und siegelte. Endlich war ich fertig, und der Herr Block stand schon neben mir bereit, um meine Aufträge schnellstens zu übernehmen; ihm war es darum zu tun, das Kontor sobald wie möglich zu schließen. Ich breitete die Briefschaften vor ihm aus und gab ihm Anweisung, was er zu besorgen habe, was auf die Post komme, was für den Boten und was für den Hausknecht sei. »Und hier,« sagte ich zum Schluß, »dieser Brief an Schilderer u. Söhne muß noch heute abend und durch Sie selbst besorgt werden.«
Der junge Mensch sah mich bittend an und kratzte sich am Kopf.
»Ah, ah, ich verstehe Sie,« sagte ich lachend, »junger Leichtsinn, Sie haben heute abend zufällig einen anderen Weg!« Er nickte schmunzelnd mit dem Kopfe. Ich dachte, eine Ehre ist der andern wert, und entgegnete: »Für diesmal will ich es selbst besorgen,« steckte den Brief in die Tasche und ging fort.
Der Herr Block schloß eilig das Kontor, nahm seine Mütze und rannte nach einer andern Seite der Stadt; der junge Mensch, dessen Eltern im Orte wohnten, genoß deshalb viel mehr Freiheit, als ich je gehabt. Für mich war der Dienst, den ich ihm leistete, sehr gering, denn ich ging ohnehin auf das Kontor des Bankhauses, um dort einen meiner Bekannten abzuholen. Dieser, zweiter Kassierer bei Schilderer u. Söhne, war ungehalten über mein langes Ausbleiben, und noch mehr, als ich ihm meinen Brief übergab, der noch durchgelesen und besorgt sein mußte.
»Laßt's gut sein,« sagte ich ihm, »schickt das Geld morgen früh!« – »Den Teufel auch«, entgegnete der Kassierer, »morgen früh sieht mich das Kontor nicht, die Kasse bleibt geschlossen, da nehmt die fünfhundert Taler; ich gebe Euch zehn Fünfziger, sie sind nicht schwer zu tragen, und hier unterschreibt mir schnell die Empfangsbescheinigung.« – »Meinetwegen,« entgegnete ich, nahm das kleine Paketchen und steckte es in die Brusttasche. Der Kassierer schloß eigenhändig die große Kasse, dann den eisernen Fensterladen und die dicke, beschlagene Tür, auch prüfte er jedes Schloß und jeden Riegel. »Ich bin heute doppelt vorsichtig,« sagte er, »da der erste Kassierer auf einige Tage verreist ist und mir die ganze Geschichte auf dem Halse liegt. So, jetzt wäre alles gut verschlossen und kann ruhen bis Montag. Ihren Brief und Ihre Empfangsbescheinigung lege ich auf den Kontortisch zum Eintragen, und wir sind endlich fertig. Die Arbeit ist getan, jetzt hinaus zum Vergnügen!« Wir gingen davon, einem köstlichen Abend entgegen, ein letztes großes Souper sollte noch einmal unsere Gesellschaft vereinigen, ein Souper mit vielem Champagner und allen Torheiten der Jugend. Dann wollten wir den Klub, der den Leuten der Stadt so viel Aergernis gegeben, feierlichst beschließen und auflösen; der Katzenjammer, den wir mit vollem Recht erwarteten, sollte vor der Hand unser letzter und alsdann jeder bedacht sein, seinen Ruf zu verbessern. Unsere ganze Gesellschaft hatte bei ihren Zusammenkünften Spitznamen, mit denen jeder gerufen wurde; wir wählten bei unserem großen Feste einen Präsidenten, der mit dem Champagnerglase gut umzugehen wußte, und hatten einen Ritus eingeführt, ähnlich dem großen Komment der Studierenden, wie wir denn überhaupt unser ganzes jetziges tolles Leben nach einigen Exemplaren burschikoser Musensöhne eingerichtet hatten, die von der Universität kamen und das corpus juris mit dem Hauptbuch vertauscht hatten.
Unser Souper war vortrefflich, der Bordeaux sanft erwärmt, der Champagner eiskalt, und unser Durst kaum zu löschen. Als die Köpfe etwas erhitzt waren, drängte ein Toast den andern, und nachdem unser heutiger Präsident mit den Tränen eines sanften Rausches im Auge unser Wohl getrunken, folgte das seinige, stürmisch ausgebracht, und ein beredter Rückblick auf die lustige Zeit, die wir verlebt. Die kristallenen Trinkgläser flogen an die Wand, und das Ganze artete zu einer wilden Orgie aus. Hier wurden unter strömenden Tränen Freundschaften fürs ganze Leben geschlossen, an die man morgen nicht mehr dachte; dort entzweite sich ein Paar, um sich gleich darauf wieder glänzend zu versöhnen. Als nun obendrein der Präsident einen Damenschuh aus der Tasche zog und die Anwesenden veranlaßte, aus diesem Toilettenstück seiner Holden der ganzen Damenwelt ein Lebehoch zu trinken, überstieg der Jubel alles Maß.
Das Souper war zu Ende, und jeder schleppte sich nach Haus, so gut er konnte; ich hatte mir die schwere Aufgabe auferlegt, meinen Freund, den Kassierer des Hauses Schilderer u. Söhne, einen geistig gänzlich Leblosen, ins Bett zu befördern, ehe ich mich selbst zur Ruhe niederlegen konnte.
Nichts von jenen wüsten, trostlosen Bildern, die am andern Morgen beim Erwachen meinen Kopf ausfüllten! Das Andenken des gestrigen Abends lag vor mir, wie ein trüber, schmutziger, übelriechender Sumpf, und auf ihm schwammen leere Champagnerflaschen, halbgeleerte Teller, und aus den Tiefen desselben scholl der Lärm und das Gejohl der Zechbrüder an mein Ohr.
Brennender Kopfschmerz plagte mich, und deshalb tat mir die Kälte wohl, die in meinem Zimmer herrschte; es war spät im Herbst, grau hing der Himmel über der Erde, und ein feiner Regen fiel herab. Als ich so am Fenster saß und hinausstarrte, kam mir jener Morgen wieder lebhaft in Erinnerung, wo ich in ähnlicher Gemütsstimmung auf dem Zimmer des Doktor Burbus saß, jenen unvergeßlichen Kaffee trank und hinüberstarrte nach meinem verlorenen Paradies, dem Reißmehlschen Hause. Mich schauderte aber, wenn ich an jene Zeit dachte und an den gestrigen Abend. Im Grunde hatte ich mich in einer Beziehung seit damals nicht viel gebessert! Das lastete mir schwer auf der Seele, und das einzige, was einen Lichtstrahl in dieselbe warf, war der Gedanke und feste Vorsatz, zum letztenmal einen solchen Abend gefeiert zu haben. »Ja, ja,« sagte ich zu mir selbst, »das liegt jetzt hinter dir, mache einen dicken Strich unter die Seite und fange ein neues Konto an, ein neues Soll und Haben; ins Soll ein anderes Leben, verdoppelter Fleiß, womöglich ein neuer Wandel; ins Haben setze ihr Bild, ihr liebes, klares Auge – arbeite bei diesem neuen Konto fleißig fort, und wenn du alsdann in ein paar Jahren eine neue Bilanz ziehst, so hat sich vielleicht Soll und Haben freundlich gleichstellt!«
Dieser Gedanke erwärmte mir das Herz, und ich wurde munterer. Ich nahm meinen Rock von gestern von dem Stuhl, auf welchen ich ihn geworfen, und im gleichen Augenblick fuhr ich erschrocken nach der Brusttasche, denn jetzt erst fiel mir das Geld der Prinzipalin ein, welches ich dort aufbewahrt – das Paket mit den fünfhundert Talern in Kassenanweisungen war verschwunden! – –
Meine Gefühle in diesem Augenblick sind schwer zu schildern und waren auch von so entsetzlicher, unheimlicher Art, daß es gewiß niemand angenehm sein würde, wenn ich dieselben hier zu schildern versuchen wollte. Gott im Himmel, wenn die Prinzipalin nach ihrem Gelde fragte, wenn ich gestehen mußte, ich habe es geholt und verloren! – Wo verloren? Bei einem Bankett, dessen Ausschweifungen gewiß schon heute, zehnfach vergrößert, auch zu ihren Ohren kamen! Andererseits war der einfache Ersatz von fünfhundert Talern für mich keine Kleinigkeit, sie machten einen bedeutenden Teil meines Jahresgehalts aus, und wo sollte ich sie hernehmen? Aber war denn das Geld wirklich verloren? Es war dies ja kaum möglich, aus der Kasse des Bankhauses hatte ich das Paket in die Brusttasche gesteckt und den Rock nicht mehr ausgezogen, bis heute früh auf meinem Zimmer! An eine Entwendung war noch weniger zu denken, denn was diesen Punkt anlangte, so war ich meiner Gesellschaft vollkommen gewiß. Also nachgesucht, es mußte sich wiederfinden! Aber umsonst kehrte ich die Taschen meines Rockes um, umsonst trennte ich das Futter aus der Brust heraus, es fand sich nichts! Ich untersuchte meinen Paletot, das ganze Zimmer – nirgends eine Spur des verlorenen Pakets! Mir standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn, ich zog mich an und eilte nach dem Gasthof, wo wir gestern abend unser Souper gehalten. Ein verschlafener Kellner öffnete mir den Saal, wo wir heute nacht gehaust. Welcher Anblick, welche Atmosphäre, welcher Geruch! Die schreckliche Verwirklichung der wildesten Träume, die ich in meinem Katzenjammer gehabt, und ich war gezwungen, in diesem dampfenden Lokal, in dieser schauerlichen Unordnung jeden Winkel zu durchsuchen, und je mühsamer ich Stühle aufrichten mußte, Teller und Gläser wegheben, um auf den Boden zu sehen, um so mehr freute ich mich, daß in diesem Chaos noch viel zu untersuchen sei, denn ich fand ja nicht, was ich suchte! Und ach, auch am Ende war alle meine Mühe vergebens, mein Paket war und blieb verloren! Mein Freund, der zweite Kassierer, in dessen Wohnung ich jetzt eilte, lag in seinem Bett, gepeinigt von den fürchterlichsten Kopfschmerzen, er gab mir nur spärliche Antworten und sagte mir wenig Trostreiches.
»Wahrhaftig,« meinte er, »wenn es dir gegangen ist wie mir, so ist das Geld unrettbar verloren; ich weiß nichts mehr von dem, was ich gestern abend getan, ich hätte in meinem Zustande die Kassenanweisungen vielleicht auf die Straße geworfen, oder wohl gar Fidibusse daraus gemacht; so ist es dir vielleicht auch gegangen.« Ich schüttelte schmerzlich mit dem Kopfe, und er fuhr fort: »Aber laß mich um Gottes willen jetzt schlafen, ich bin wie gerädert; es ist ja heute Sonntag, komm morgen früh auf die Kasse, da wollen wir über die Sache weiter sprechen.«
Ich eilte wie ein Betrunkener durch die Straßen, ich mattete mein Gehirn ab und rekapitulierte alles von dem Augenblick, wo ich die Kassenanweisungen empfangen, bis ich mich zu Bett gelegt, vor meinem Gedächtnis; ich hatte meine Besinnung durchaus nicht verloren und wußte alles, was ich getan, ganz genau. Unterwegs traf ich zufällig den Doktor, er nahm mich mit nach Hause und gab mir ein Glas Bitterwein; »zur Wiederherstellung Ihres Magens,« sagte er, »denn Sie sehen verteufelt miserabel aus.« Ich gestand unser gestriges Souper, er drohte mit dem Finger, und ich versetzte mit einem tiefen Seufzer, es sei das letzte gewesen. Emma hatte die Doktorin zur Kirche abgeholt, was mir lieb war, denn ich wäre nicht imstande gewesen, in das klare, ruhige Antlitz von Sibylle zu sehen und eine Unterhaltung mit ihr zu führen. Was der Doktor zu mir sprach, rauschte wie ein Waldwasser in meinen Ohren, und als er mir den Namen Emmas nannte, sah ich ihn fragend an.
»Sie scheinen einigermaßen geistesabwesend,« lachte mein Freund, »sonst müßten Sie deutlicher hören, daß ich von etwas sprach, das auch Sie freundlich angeht.« –»Von Emma,« antwortete ich zerstreut.
»Allerdings,« entgegnete der Doktor, »ich meinte nämlich, daß es bald Zeit sei, daß Sie das Stieglitzsche Haus verlassen, eine andere Kondition annehmen, sich dort in Sprachen und dergleichen mehrerem ausbilden und dann die Leitung des Fabrikgeschäfts der Madame Stieglitz übernehmen oder ein ähnliches anderes. Emma aber könnte die Zeit in unserem Hause zubringen, was passender und schicklicher wäre.« – »Ja freilich,« antwortete ich, immer zerstreuter, ohne recht zu wissen, wovon er sprach; ich überlegte nämlich in dem Augenblicke, ob ich den Doktor von meinem Unglück in Kenntnis setzen solle, und da fiel mir plötzlich ein, daß mir zu Haus, in dem kleinen Verschlag, wo die Schlüssel hängen, derjenige zu meiner Stubentür auf den Boden gefallen war, und ich mich nach ihm gebückt und ihn lange gesucht.
Da mußten meine Kassenanweisungen liegen, ich nahm meinen Hut, sagte dem Doktor, der mich wie einen Verrückten anstarrte, eilfertigst »Guten Morgen« und sprang davon.
Zu Hause angekommen, öffnete ich jenen Verschlag und untersuchte mit meinem Licht jeden Winkel – ich fand nichts! Darauf eilte ich auf mein Zimmer und überließ mich einer vollkommenen Verzweiflung; wie oft war ich im Begriff, zu der Prinzipalin zu gehen und ihr meinen Verlust, den ich ja durch Abzüge während einiger Jahre decken konnte, anzugeben; o, hätte ich es nur getan! Wie oft hatte ich die Türklinke in der Hand, und immer hielt mich falsche Scham ab, nur ein Gedanke peinigte mich: das war, die Prinzipalin könnte denken, ich habe heute nacht in dem Taumel des Banketts von ihrem Gelde Gebrauch gemacht und scheue mich natürlicherweise, dies einzugestehen. So kam die Mittagszeit; ich ging zu Tisch, und glücklicherweise war Emma, die bei dem Doktor speiste, nicht da. Der gute Herr Block sagte mir, ehe wir ins Speisezimmer traten: »Herr Gott, wie sehen Sie aus!« und ein Blick in den Spiegel überzeugte mich, daß neben den Spuren der vergangenen Nacht auch mein verstörter Seelenzustand deutlich auf meinem Gesicht zu lesen war. Die Prinzipalin sagte sehr ernst: »Ei, ei,« und der Herr Specht hielt ein sehr langes Tischgebet und sprach sein: »Führe uns nicht in Versuchung« mit erhobener Stimme.
Nachmittags begann ich mein Suchen nochmals, ging wieder in den Gasthof und fragte Kellner und Hausknecht, ob sie nichts gefunden.
Nirgends eine Spur: jetzt ging ich nach Hause mit dem festen Vorsatz, meinen Verlust zu gestehen. Die Prinzipalin war ausgegangen, und als ich mich auf mein Zimmer begab, ihre Rückkunft erwartend, war es schon spät am Abend; bald fing es an zu dunkeln, und ich war etwas ruhiger geworden, denn ich sagte mir, die Geschichte ist ein Unglück, das am Ende jedem vorkommen kann, und die Prinzipalin wird meinen Worten schon glauben. Ich setzte mich ans Fenster, sah dem Leben und Treiben in dem gegenüberliegenden Gasthofe eine Zeitlang zu, und schlief endlich vor Ermattung ein.
Als ich wieder erwachte, waren die Lichter in dem großen Hause drüben ausgelöscht, alles still und finster, und meine Uhr zeigte zu meinem großen Schrecken auf zwölf. So hatte ich denn die Ankunft der Madame Stieglitz verschlafen, und ich konnte jetzt nichts Besseres tun, als zu Bett gehen. Vorher aber schrieb ich noch einen langen Brief an den Doktor, worin ich ihm den unglücklichen Vorfall erzählte, ihn um Rat fragte, wie dieser Verlust wohl am besten zu decken sei, und ihn bat, der Prinzipalin ein paar passende Worte darüber zu sagen.
Etwas getröstet, schlief ich aufs neue ein und erwachte erst wieder, als es heller Tag war.