Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Drittes Kapitel.

Philipp.

Ich trat in den Laden des Herrn Reißmehl.

Wem schweben nicht aus seiner Kindheit die Gewölbe vor, in welchen Zucker, Rosinen, Mandeln und dergleichen Herrlichkeiten verkauft werden? Wer gedenkt nicht der Zeiten, wo er mit einigen eroberten Pfennigen vor den Ladentisch trat, seinen Gelüsten den Zügel schießen ließ und Kandiszucker und getrocknete Pflaumen verlangte? Mit welch gierigen, neidischen Augen sah man damals in die Kästen, in welchen diese Artikel aufbewahrt wurden, und wünschte nichts sehnlicher, als im vertrauten Umgang mit diesen Schubladen leben zu können, um ihres Inhalts zu genießen, so oft es einem einfiele! Törichte Wünsche! sie ändern sich wohl mit den Jahren, aber sie verlassen uns nie! Als ich aber an jenem Morgen in den Laden meines künftigen Herrn trat, dachte ich nicht an den süßen Inhalt der Fächer, nein, ich wünschte mit Sehnsucht den Augenblick herbei, wo ich, ein gelernter Kaufmann, dieses Gewölbe verließ, um in das Leben hinauszutreten, wo ich der Seestadt zueilte mit ihrem unendlichen Wasserspiegel und ihrem Mastenwald.

Ich konnte diesen Träumen nicht lange nachhängen; Herr Reißmehl, der meiner bereits ansichtig geworden war, trat aus einer kleinen Glastür, über welcher mit goldenen Buchstaben das Wort Schreibstube zu lesen war. Sein hageres Gesicht hatte ganz denselben freundlich lächelnden Ausdruck, mit dem er im Garten unsere Spöttereien hinnahm; nur trug er auf dem Kopfe statt des Hutes eine weiße Nachtmütze, und statt des braunen Rocks hatte er eine rund abgeschnittene Jacke an. Vom Handgelenk bis zum Ellbogen reichten ein Paar dunkelfarbige Ueberärmel, die auf der untern Seite ganz glänzend waren. Auch hatte der gute Mann eine Brille auf der Nase, die er beim Eintritt in den Laden fester gegen die Augen drückte. Wie es einem so gehen kann, ich hatte den Herrn Reißmehl in meinem Leben viele hundertmal gesehen, aber ihn noch nie ein Wort sprechen hören, so daß mir nicht anders war, als besitze er diese edle Gabe gar nicht, und ich ihn mir nur stumm dachte. Auch an diesem Morgen wurde ich nicht sogleich aus meiner Täuschung gerissen, denn er sah mich durch seine Brille an, nickte ein paarmal freundlich mit dem Kopfe und blickte alsdann auf dem Ladentisch umher, wo seine Augen auf einer kleinen feuchten Stelle haften blieben. Er trat hinzu, wischte etwas mit dem Finger davon auf und brachte es an seine Nase, um sich durch den Geruch zu überzeugen, was es eigentlich sei; zugleich fixierte er es so scharf mit seinen Blicken, daß ihm die Augen ganz schief standen; dennoch aber mußte er den Sinn des Geschmacks zu Hilfe nehmen.

»Ei, ei, so, so!« murmelte er vor sich hin, und ich war ordentlich überrascht, ihn sprechen zu hören; »hm, hm, 's ist Kornbranntwein, doppelter, vom sechsundzwanziggrädigen; sollte nicht so leichtsinnig verschüttet werden! He, Philipp!« – Darauf wandte er sich an mich und begrüßte mich mit den Worten: »Aha! mein lieber junger Mann! scharmant, scharmant, daß Sie heute kommen! aber Ihre Frau Großmutter, die gute Frau, hat Ihnen wahrscheinlich nicht die Stunde angegeben. Ich hatte sie gebeten, die Frau Pastorin, Sie um zwölf Uhr zu schicken. Es sind aber auf meiner –« mit diesen Worten haspelte er die lange Stahlkette und an derselben den dicken Uhrkasten hervor – »es sind aber auf meiner Uhr schon fünf Minuten drüber, fünf Minuten! ei! ei! – He, Philipp!« rief er jetzt abermals ins Haus hinein. »Wo steckt Ihr?«

Der Gerufene erschien langsamen Schrittes und zeigte eine solche Figur und stellte sich mit so ernstem, feierlichem Blick unter die Tür, daß, wenn es nicht heller Mittag gewesen wäre, ich auf alle Fälle geglaubt hätte, Herr Reißmehl habe einen Geist zitiert. Philipp, so hieß die Erscheinung, war ein ziemlich langer Bursche, der wegen übergroßer Magerkeit noch länger aussah, als er wirklich war. Er hatte hellblondes, fast gelbes Haar, das von beiden Seiten des Scheitels, den er mitten auf seinem Schädel angebracht, borstig und straff herabhing und so von weitem einem kleinen Strohdache nicht unähnlich sah. Mochte es diese Frisur sein, die zum Gesicht gar nicht paßte, oder war es der feierliche, gravitätische Ausdruck in Philipps Gesicht, das seinesteils mit den langen, schlottrigen Gliedmaßen gar nicht übereinstimmte, genug, die ganze Figur hatte etwas überaus Komisches. Philipp also, mein kollegialischer Vorgesetzter, erschien unter der Tür und hatte, beiläufig gesagt, so lange Arme, daß er, ohne sich zu bücken, bequem seine Knieschnallen hätte lösen können, wenn er welche gehabt hätte.

»Philipp,« fragte der alte Herr, »warum wird denn immer der Ladentisch voll Branntwein geschüttet? Ich kann das nicht leiden! Habe ich doch alle möglichen Lappen und Schwämme angeschafft. Ei, ei! das Holz wird schmutzig und der gute sechsundzwanziggrädige Branntwein vergeudet.« – Philipp wandte den Kopf stark auf die linke Seite, wahrscheinlich aus Demut, und um, da er größer als der Prinzipal war, diesem nicht von oben herab ins Gesicht sehen zu müssen. Dann öffnete er seinen breiten Mund und sagte mit leiser Stimme und einer Langsamkeit, wie ich in meinem Leben nichts Aehnliches gehört: »Herr Prinzipal, 's ist nur ein Versehen. Als ich den Branntwein hier gemessen hatte, fing drinnen das Möpschen so an zu heulen, daß ich eilig hineinging, um nachzusehen.« – »Ei, ei, so, so!« fiel ihm der Alte in die Rede. »Was ist der armen Fanny geschehen?« – »O, nichts, Herr Prinzipal,« antwortete Philipp; »sie lag nur am Fenster in der Sonne, ja, und da kam eine Wolke und machte Schatten, und das mißfiel dem armen Hunde.« – »Nun, nun,« entgegnete Herr Reißmehl, »laßt nur gut sein, die Sonne wird schon wiederkommen. Hier ist unser neuer Lehrling,« fuhr er fort, indem er auf mich zeigte. – »Ich hoffe, Philipp, Ihr werdet Euch seiner aufs beste annehmen und ihn nach und nach mit allem bekannt machen.«

Philipp hob jetzt seinen Kopf einen Augenblick in die Höhe, um mich etwas von oben herab anzusehen; dann aber ließ er ihn auf die rechte Seite sinken und versicherte dem Prinzipal, er werde sein möglichstes tun, mich aufs beste heranzubilden. Darauf zog sich Herr Reißmehl in seine Schreibstube zurück, und ich folgte meinem neuen Lehrer in das Ladenstübchen, wo er gleich seinen Unterricht begann. Ich mußte die Ueberärmel anziehen, die mir die Jungfer Schmiedin genäht hatte, und als mir darauf Philipp eine grüne Schürze gab, welche ich um meine Lenden gürtete, gedachte ich lebhaft der guten Person, und was sie wohl sagen würde, wenn sie mich in diesem Aufzug sähe.

Das erste, wozu mir Philipp Anleitung gab, war das edle und notwendige Geschäft des Tütenmachens, und da ich die Anfangsgründe desselben bereits bei meiner Tante erlernt hatte, so ging die Arbeit rasch von der Hand. Ich merkte mir schnell die verschiedenen Größen und Formen, die im Reißmehlschen Geschäft gang und gäbe waren, und als der Prinzipal um ein Uhr in das Ladenstübchen trat, um uns zum Mittagessen zu rufen, war er sichtlich erfreut über meine reißenden Fortschritte und versicherte, ich würde mich bald in das Praktische eingeschossen haben.

Bei der Mittagstafel wurde ich der dritten Person des Hauses, der Schwester unseres Prinzipals, der Jungfer Barbara Reißmehl, vorgestellt, die ich schon von ihrem täglichen Erscheinen am Gartenfenster her kannte. Diese gute Person war über die Blüte ihres Lebens hinaus, und von der Frische und Regsamkeit der Jugend war ihr nichts geblieben als eine Lebendigkeit der Sprachorgane, die in Erstaunen setzen konnte. Sie war äußerst liebenswürdig gegen mich, und während sie ihre Suppe verzehrte, erzählte sie mir von meiner Großmutter, von allen meinen Tanten und von einer Menge anderer Personen, die als Staffage dieser Geschichte dienten. Der Prinzipal dagegen war bei Tische äußerst schweigsam, was mir keinen übeln Begriff von seinem Verstand gab oder von seiner Güte gegen uns. Hätte er auch erzählt, wie Jungfer Barbara, so würden wir schwerlich einen Bissen hinunterbekommen haben; denn der Anstand erforderte es doch, wenn sie in ihrer Erzählung an einen wichtigen Moment kam, was leider gar zu oft geschah, daß wir Messer und Gabel ruhen ließen, um aufzuhorchen. Philipp machte es wenigstens so und saß fast das halbe Mittagessen über aufmerksam lauschend, mit offenem Maule da; ein Benehmen, wodurch er sich offenbar in der Gunst Barbaras festgesetzt hatte. Ich bin aber noch heutigen Tages des Glaubens, daß eben hierdurch seine Magerkeit täglich zunahm.

Nach dem Essen wünschte Philipp dem Prinzipal und Jungfer Barbara eine gesegnete Mahlzeit, ich tat desgleichen, und wir zogen uns zurück. Der Nachmittag wurde dazu angewendet, mich noch ferner ins Praktische einzuschießen, und ich lernte allerhand schöne und nützliche Dinge, als: Oel und Essig ausmessen, wobei mir aber ein kühner und geschickter Handgriff Philipps, um die vom Maß abträufelnde Flüssigkeit wieder in den Trog zu streifen, nicht gleich gelingen wollte. Auch lehrte er mich, wie man Kaffee, Zucker usw. abzuwiegen habe, ohne die Kunden zu beeinträchtigen und dem Prinzipal zu schaden. Während dieser Lektion verschwand einmal mein junger Vorgesetzter in das Nebenzimmer, wo wir gespeist hatten. Dann hörte ich zuweilen die Stimme der Jungfer Barbara leise sprechen, und mein feines, geübtes Ohr vernahm deutlich das Geklapper von Tassen, ein Geräusch, das zu süßen Hoffnungen berechtigte, die aber wenigstens für mich nicht in Erfüllung gingen. Philipp dagegen schien der Jungfer Barbara eine Kaffeevisite gemacht zu haben, denn obgleich er sich bei der Zurückkunft mit dem oberen reinlichen Teile seines Ueberärmels das Gesicht tüchtig wischte, konnte er doch einige braune Flecken nicht vertilgen, die sich in seinem langen, faltigen Mundwinkel festgesetzt hatten. Natürlich verdroß mich diese Vernachlässigung meiner Person, da ich obendrein heute noch als Gast betrachtet werden konnte. Da bemerkte ich aber zu meiner großen Verwunderung, daß der gute Prinzipal ebensowenig zum Kaffee geladen wurde, oder überhaupt welchen erhielt wie ich; vielmehr erklärte ihm später Jungfer Barbara auf seine Frage ins Nebenzimmer hinein, ob heute Kaffee bereitet würde, sie habe keine Zeit. O weh! in mir stiegen ganz sonderbare Ideen auf, und wenn ich in Jungfer Barbara alsbald eine mächtige Person erkannt hatte, so konnte ich nach diesem Vorfalle nicht umhin, erstaunt an Philipp hinaufzusehen. Welche enormen Talente und Kenntnisse muß er besitzen, um sogar vor dem Prinzipal einen Vorzug zu erhalten!

Als es Abend wurde, gegen acht Uhr, zog der Herr Reißmehl seine Schreibärmel und seine Jacke aus, die er hinter seinem Pult an einen großen Nagel hing; seine Nachtmütze setzte er einem kleinen steinernen Ungeheuer auf, das auf dem Ofen stand, und dem er dabei freundlich auf die Backen klopfte, dann schloß er die Schreibstube ab, warf sich in das Kostüm, in dem er seine Gartenvisiten machte, setzte den Hut ebenso vornüber und vervollständigte diesen Anzug durch ein langes spanisches Rohr mit silbernem Knopfe, worauf er sich bei Jungfer Barbara beurlaubte, einen prüfenden Blick im Laden umherwarf, hier und da eine Schublade zudrückte, die etwas geöffnet war, oder ein Gefäß vorzog, das zu weit nach hinten stand. Als er bei mir vorbeikam, sah er mich einen Augenblick durch seine Brille an, nickte mit dem Kopfe und fragte, wie mir das Geschäft gefalle. Darauf blieb er unter der Ladentür stehen und rief den Mops, die kleine Fanny, heraus, die auch herbeigewatschelt kam und den Prinzipal bis vor das Haus begleitete, dann aber eilends zurückkehrte.

Philipp gab mir einige blecherne Oelmaße zu putzen, und während ich dies Geschäft besorgte, verschwand er ins Nebenzimmer, von wo er erst gegen neun Uhr wiederkehrte, um mir Anleitung zu geben, wie die Läden des Gewölbes zu schließen seien. Darauf holte er eine große kupferne Lampe, zündete sie an, und wir stiegen die Treppen hinauf, nachdem mir vorher im Laden ein frugales Abendbrot, aus einem Butterbrot und einem Glase Bier bestehend, vorgesetzt worden war.


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