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Siebenunddreißigstes Kapitel.
Wenn man die kleinen lieben Kinder ansieht, die zierlichen Geschöpfchen, Miniaturausgabe des Vaters und der Mutter, im kleinen schon begabt mit deren Tugenden und Fehlern, so unterscheidet man augenblicklich in den Spielen und Unterhaltungen den Knaben vom Mädchen. Sind auch die Röckchen gleich lang, sind die blonden Haare gleich geringelt und gekämmt, das stärkere Geschlecht macht sich doch schon in den ersten Jahren bemerkbar. Der Knabe zerstört und verdirbt, wo das Mädchen sammelt und aufbaut. Er regiert den Hammer, zerschlägt Fenster und Blumenstöcke, hascht nach einem Messer, um in die Tische zu schneiden, sie dagegen putzt die Fenster mit ihrem Schürzchen, pflanzt das Ballbukett der Mama in den Sand des Spucknapfes, und wenn sie einmal ein Messer oder eine Schere in die Hand nimmt, so geschieht es vielleicht nur in der Absicht, um aus der besten Schürze der Mama ein Gewand für die Puppe zu schneiden. Das geht nun so fort, und je sanfter das Mädchen beim Heranwachsen wird, desto unartiger und trotziger wird der Knabe; er weiß, wie der Hahn kräht und wie der Ochs brüllt; als Pferd zerrutscht er seine Hosen auf den Knien und stößt sich Splitter in die Hände; als Wolf streckt er die Zunge heraus, und als Papa zerdrückt er dessen Hut, zerschlägt seine Pfeifen und zerstört seine Zigarren.
Diese Unarten und kleinen Flegeleien in den ersten Lebensjahren, mit jener zierlichen Unbeholfenheit gepaart, die man liebenswürdig finden kann, bringen die eigenen Eltern selten in Zorn. Man tröstet sich, indem man denkt: Diese Zeit geht vorüber, und der Kleine wird endlich einmal verständig werden. Aber der Kleine wird nicht verständig; er geht endlich mit seiner Schwester in die Spielschule, wie diese in einem reinlichen Röckchen und weißer Schürze, das Mädchen kommt auch ebenso wieder nach Hause, der Bube aber beschmutzt und zerzaust; Nachbars Fritz hat ihm die Mütze in den Kot geworfen und die Schürze beschmutzt; daß er aber Nachbars Fritz die Schiefertafel zerbrach, gesteht der kleine Schlingel nicht.
Jetzt kommt die Zeit, wo die Freunde und Freundinnen des Hauses von den Unarten des Sprößlings außerordentlich geplagt werden, ebenso die alte Tante, die ihn erzogen, und natürlicherweise verhätschelt. Sie ist eigentlich die Quelle aller Unarten, wenigstens der großartigen Entwickelung derselben; sie erlaubt ihm hie und da, wenn es niemand sieht, mit dem Fliegenwedel ein Treibjagen auf die Katze anzustellen, auch zuweilen ins Hundehaus zu kriechen, und wenn sich der Vater über dergleichen Geschichten beklagt, so ist die alte Tante glückselig, den Neffen rein anziehen zu dürfen, und versichert, es sei eine Freude, ihn im Hundehause bellen zu hören, der Karo mache es lange nicht so natürlich.
Der Bursche ist jetzt fünf Jahre alt, und die Tante macht sich immer noch das Vergnügen, den verwöhnten Bengel einzuschläfern, indem sie ihm eine Stunde lang schöne Lieder vorsingt; auch versteckt sie beim Abendbrot etwas unter ihrer Schürze, und das verspeist er, wenn sie zu Bett geht, schlaftrunken, aber mit einem ungeheuren Heißhunger. Auf vernünftige Vorstellungen hierüber sagt die alte Tante: »Ach, so ein kleines Kind und so eine lange Nacht!« Und zum Dank für diese kleine Güte steht das kleine Kind in der langen Nacht einigemal auf und plagt die Tante mit Bedürfnissen, deren Natur ich mir nicht erlaube, hier auszusprechen.
Das Mädchen ist in dieser Zeit schon sehr gesetzt, kleidet ihre Puppen an, kocht für dieselben und gibt ihnen zu essen; man erfreut sich an ihrem stillen Wesen und erfreut sich ebenso sehr an der Ausgelassenheit des Buben, denn dieselbe ist noch harmloser Natur, hat etwas Ursprüngliches und Gutmütiges, wie die Gesellschaft, von der er seine Streiche erlernt. Sein Körperchen und Gesicht wird lang und blaß, die alte Tante hat ihm seine langen blonden Haare abgeschnitten, dieselben sorgfältig in ein Papier gewickelt, und zeigt sie ihm an Sonn- und Festtagen, wobei sie seufzend sagt: »Siehst du, das sind die Haare von dem lieben kleinen Wilhelm, der ist aber längst nicht mehr da, und dafür haben wir jetzt einen langen Schlingel, der alle möglichen dummen Streiche macht.« Das Herz der guten alten Tante nämlich hat sich jetzt zu dem zierlichen sechsjährigen Mädchen hingewendet, welches sanft und klug der guten Person mit ihren kleinen Kräften hilft, wo sie kann. Sie liest ihr in der Küche die Erbsen aus, sie kann das Licht putzen, sie weiß, wo das Gesangbuch und die Brille liegt und vergißt nie, mit ihrem Schürzchen die Gläser abzuwischen, ehe sie dieselben der Tante darreicht.
Der Stammhalter dagegen tut der Tante alles mögliche Herzeleid an, er setzt der Katze und dem Jagdhund Schwanzklemmen auf, er trommelt wie ein Rasender im Hause umher, zerbricht alle Augenblicke ein Glas und hat sich des größten Verbrechens dadurch schuldig gemacht, daß er eines Tages die Brillengläser der Tante entwendet, sie vorn und hinten in eine Holzröhre befestigt, wobei er natürlicherweise eins zerbricht, und sich auf diese sinnreiche Art ein Fernrohr verfertigt. Dabei hat er erschrecklich viel musikalische Anlagen, und wenn er mit lauter, krähender Stimme Lieder singt, so schlägt er den Takt hierzu mit der Feuerzange auf dem eisernen Ofenschirm wahrhaft markdurchdringend.
Sein Aussehen ist in diesem Zeitpunkte sehr unvorteilhaft, er hat vom Wachsen eine grüne, kränkliche Gesichtsfarbe, ist faul, gefräßig, schläfrig und vorlaut, und der Vater zuckt die Achseln und sagt: »Das ist einmal nicht anders, der Junge kommt in die Flegeljahre.«
Da ein Gemüt früher oder später als das andere reift, so ist auch der Eintritt dieser merkwürdigen Zeit, dieser moralischen Knabenkrankheit, äußerst unbestimmt; gewöhnlich aber entfaltet sich die zarte Blüte der Flegelei in den Jahren zwischen zehn und sechzehn, äußert sich zuweilen still und schleichend, als Heuchelei und heimtückisches Wesen, oder wild und lärmend, eine Sturm- und Drangperiode, man könnte auch sagen: eine Sturm- und Trankperiode! Denn der hoffnungsvolle deutsche Gymnasiast bereitet sich jetzt verstohlenerweise durch die ersten Anfänge der Trinkkunst aufs Seminar oder die Universität vor. In diesen eigentlichen Flegeljahren nun ist das männliche Individuum das unausstehlichste und zornerregendste Wesen in der ganzen Schöpfung; seine grenzenlose Faulheit, welche jedoch bei diesem Seelenzustand nicht unumgänglich notwendig ist, seine Sucht, dumme Streiche zu erfinden oder auszuführen, ist unbeschreiblich; deshalb ist auch der Lehrer das geplagteste Geschöpf der Christenheit, und deswegen ist es jammervoll, daß demselben seine Bemühungen und sein grenzenloser Aerger so schlecht bezahlt werden.
Es ist eigentlich für den Betreffenden eine selige, vergnügte Zeit, dieses erste Flegeltum, und wir haben gewiß alle die angenehmsten Erinnerungen daran bewahrt. Wie kostbar schmeckt der gestohlene Apfel, wie ist in der Erinnerung selbst das heftige Erbrechen, das wir uns bei der ersten Pfeife Tabak geholt, von einem angenehmen Schimmer umgeben. Wie wenig schmerzten die verbrannten Finger, als wir das Pulverhorn des Vaters geplündert und Sprühteufel gemacht, immer einer größer als der andere, bis uns der letzte, der zu trocken war, in der Hand zerknallte!
Unzählig sind die Fensterscheiben, die wir aus Mutwillen oder Leichtsinn zerbrachen, und dann, welcher Schaden wurde angerichtet, wenn wir die Uebungen des Turnplatzes zu Hause fortsetzten, und, um unsere Geschicklichkeit zu zeigen, mit der wir den ganzen Körper schwebend auf einem Arm erhalten konnten, die Lampe auf das Teeservice warfen, so daß alles zerbrach.
Auch die höheren und gefährlichen Aeußerungen des Flegeltums sind in der Erinnerung schön. Wer verwechselte nicht einmal Wirtshaus- und andere Schilder? Wer riß nicht Klingelschnüre ab, wer warf keine Laternen ein und spannte in der Dunkelheit nicht Schnüre über die Straßen? Gewiß niemand, der nicht später ein tüchtiger Staatsbeamter oder sonst etwas Rechtes wurde.
Auch der Liebe zarte Blüte treibt zuweilen, aber als schüchterne Spezies, die ersten Früchte: der junge Mensch erkiest sich eine gespielende Schwester zu seiner Auserwählten, und, um ihr zu gefallen, sucht er einen Ruhm darin, unter den Flegeln seiner Bekanntschaft der flegelhafteste zu sein. Natürlich ist sie dem Starken, ist sie dem Raufer hold, und triumphierend kommt er mit einem blauen Auge, mit einer dick aufgelaufenen Nase nach Hause. Auch liebt sie die Blumen, und des Vaters prachtvolle Rosen werden zu einem ungeheuren Blumenstrauß vereinigt. Die Tante wird achtungsvoller behandelt, denn er muß ihre Hilfe in Anspruch nehmen, er schwatzt ihr eine goldene Troddel ab, um sie der Geliebten ins Haar zu heften, er führt die Auserkorene in ihr Zimmer und bittet sie, die Fetzen ihres Kleides, die beim Umherspringen im Garten an einem Dornenbusch hängen blieben, wieder zu einem zierlichen Ganzen zu vereinigen. Liebesbriefe werden ebenfalls geschrieben, doch hat der Vater seine Federübungen entdeckt und handgreiflich und streng bestraft; sie unterbleiben deshalb nach diesem ersten Versuch. Auch ist die Geliebte untreu geworden, denn sie hat mit dem Sohne des Nachbars und dessen Familie eine Landpartie gemacht. Demgemäß aber ist das Herz des jungen Flegels zerrissen von Lieb' und Eifersucht, er tobt noch einmal ganz gewaltig, bekommt zur Strafe seiner Unarten zu Hause häufig nichts zu essen, das Taschengeld, welches ihm der Vater entzieht, wird ihm aber durch der Tante wiedererwachte Zärtlichkeit doppelt ersetzt. Er trinkt sehr viel Bier, gerät in kleine Schulden und lernt einsehen, daß er ein anderes Leben anfangen muß. Er hat ausgetobt und ausgegoren, und der Wein seines Lebens, bis jetzt eine trübe, unerquickliche Masse, beginnt sich zu einem klaren Getränk abzusetzen.
Wie der geneigte Leser durch meine offenherzigen Bekenntnisse erfahren, so hatte ich meine ersten Flegeljahre in dem Reißmehlschen Hause nach allen Dimensionen durchgemacht, und der Teil lag hinter mir. Doch gibt es im Leben manches Menschen noch eine zweite Reihe von Flegeljahren, die, obgleich sie nicht mit so heftigen Erscheinungen wie die ersten auftreten, doch verderblicher auf Seele und Leib wirken können. Um das Gleichnis vom Wein wieder aufzunehmen: es gibt eine Zeit im Jahre, wenn draußen in der Natur der Frühling erscheint, neues saftiges Grün ansetzt, Tausende von Blumen emporsprossen, wenn ein neuer kräftiger Lebenshauch dahinströmt und durch die würzige Luft unbekannte, mächtige Wonneschauer erzittern, da regt es sich in des Kellers Tiefen, der klare Wein wird trübe und gärt aufs neue. Doch ist eine geschickte Hand leicht imstande, diese Wallungen zu besiegen und dem edlen Stoff eine größere Klarheit zu geben, als er früher besaß; eine ungeschickte aber trübt den Wein mehr und mehr, und es bedarf dann größerer Anstrengung, um ihn wiederherzustellen.
Ich war in dem letzteren Fall. Mich hatten die Wonneschauer eines neuen Frühlings ergriffen, ich verschmähte die geschickte Hand eines Freundes, mein Wein trübte sich ernsthaft, und ich geriet in die zweite Auflage der Flegeljahre, von der ich oben sprach. Ich wollte mein Leben genießen und suchte zu dem Zweck lustige Gesellschaft auf, die ich bis jetzt sorgfältig vermieden. Die Prinzipalin ließ mich zu der Zeit meine Freistunden zubringen, auf welche Art ich immer wollte, und diese meine Freistunden waren zahlreich. Um sechs Uhr wurden Wiegkammer und Kontor geschlossen, der Herr Block und Emma blieben im Laden, und der Herr Specht legte mir kein Hindernis in den Weg, zu gehen, wohin ich wollte, ja, es schien ihm sogar lieber zu sein, wenn ich ausging, als wenn ich ihn mit meiner Gesellschaft erfreute. Um acht Uhr war gewöhnlich im Laden nichts mehr zu tun, und die Prinzipalin, Emma, der Buchhalter und Herr Block setzten sich an einen großen, runden Tisch, an welchem ich früher nie gefehlt, und da wurde gelesen und geplaudert. Anfänglich blieb mein Platz zwischen Emma und dem Buchhalter offen, doch als ich ihn allabendlich nicht benutzte, rückte der Buchhalter an meine Stelle, und obgleich ich äußerlich zufrieden und beruhigt, nach getaner Arbeit meinen Hut nahm und wegging, so gab es mir doch jedesmal einen Stich durchs Herz, wenn ich bemerkte, daß niemand auf mich acht gab, und Emma mich nur zuweilen mit einem ernsten Blick anschaute. Hätte sie nur ein einziges Mal gesagt, ich solle dableiben, ich hätte es gewiß getan, aber was lag ihr an meiner Gesellschaft? Außer dem Hause fand ich ja Menschen, die mir mehr zugetan waren – ich dachte hierbei nicht an den Doktor und an Sibylle, denn dorthin ging ich ebenfalls sehr wenig. Mein Freund Burbus tat aber, als ob er das gar nicht bemerkte, und sagte: »Wenn Sie sich anderswo gut amüsieren, ist es mir lieb.« Sibylle war die einzige, die zuweilen freundlich mit mir sprach und mir auch einmal sagte: »Es ist unrecht von dir, daß du die arme Emma unter den fremden Menschen so allein läßt und dich nicht um sie bekümmerst.« Ich lachte dagegen laut auf und entgegnete der Doktorin, indem ich aufs zierlichste meine hellen Glacéhandschuhe anzog: »Was bekümmert sich die Emma um meine Gesellschaft, sie hat ja Madame Stieglitz, den Herrn Block und den Herrn Specht, lauter scharmante Leute!« Damit setzte ich meinen Hut recht unternehmend auf und verließ das Zimmer.
Wie in meinem Innern, so hatte ich mich auch in meinem Aeußern umgewandelt; ich war ein Elegant geworden, wie es die Gesellschaft von jungen Leuten, mit denen ich mich jetzt umhertrieb, verlangte. Dabei muß ich gestehen, daß ich gesucht wurde, es fehlte mir nicht an natürlichem Witz und Munterkeit, ich hatte mir leichtsinnige, burschikose Reden angewöhnt, war ein flotter Tänzer geworden, und wenn ein Mietpferd nicht gar zu unbeugsam und eigensinnig war, so wurde ich vollkommen mit ihm fertig, und konnte mir schon erlauben, des Sonntagnachmittags bei den Fenstern derjenigen Damen vorbeizugaloppieren, mit denen ich die Nacht vorher durchtanzt. Daß ich einen Hausschlüssel besaß, brauche ich wohl nicht zu sagen, daß ich aber bei den vielen Vergnügungen, denen ich nachlief, den Geschäften mit Eifer und Fleiß vorstand, glaube ich erwähnen zu dürfen. Ich hatte das ganze Fabrikgeschäft in der Hand, und es war mir ein Vergnügen, den Buchhalter, Herrn Specht, den ich gründlich haßte, hinauszudrängen. Mit den scheinheiligen Kreaturen, welche er auf die Wiegkammer eingeschwärzt, ging ich, wenn sie nicht auch in ihren Arbeiten und in ihrem Leben brave Leute waren, unbarmherzig um und nahm andere auf, die nicht zur Gemeinde des Herrn Pfarrer Sproßer gehörten. Die Prinzipalin hätte mir diese Handlungsweise nicht so hingehen lassen, wäre ich ihr im Fabrikgeschäft nicht von so großem Nutzen gewesen. Doch hatte mein praktischer Sinn dasselbe vollkommen erfaßt, und ein eigenes Talent der Farbenzusammenstellung und ein guter Geschmack, der mir angeboren war, setzten mich in den Stand, neue Stoffe zu erfinden, wenigstens neue Farbenmuster anzugeben, die allgemeinen Beifall fanden, weshalb unsere Waren außerordentlich gesucht und gut bezahlt wurden.
Man muß nicht glauben, das lustige Leben, welches ich nun führte, sei gerade ein außerordentlich sündhaftes gewesen; ich machte es, wie tausend andere junge Leute, die einigermaßen Zeit und Geld hatten und beides auf die für sie angenehmste Art verbrauchten. Zu unseren abendlichen Zusammenkünften suchten wir gerade nicht die ersten Gasthöfe der Stadt auf, sondern ein heimliches Plätzchen, wo es guten Wein gab, ward unbedingt vorgezogen; auch gespielt wurde, so hoch es unsere Mittel erlaubten.
In einer andern Stadt, namentlich am Rhein, hätten wir höchstens für lustige, fidele Leute gegolten, hier aber, in der fleißigen Fabrikstadt, unter den ernsten Kaufleuten und Fabrikanten, und beaufsichtigt von tausend frommen Augen, denen viel geringere Ausschweifungen schon als Todsünde erschienen, war unsere Gesellschaft, zu deren Haupt ich mich allgemach heranbildete, außerordentlich verrufen, und von den sogenannten ordentlichen Leuten wurden wir geflohen und aufs strengste gemieden. Nicht als ob wir Spieler oder Trinker gewesen wären, oder als ob wir uns diesen beiden Lastern leidenschaftlich ergeben, Gott bewahre! Wir liebten nur den Spektakel, den wir dabei vollführen konnten, und verschmähten namentlich nicht, auf dem Heimwege all die tollen Streiche vorzunehmen, die uns in den ersten Flegeljahren so außerordentlich viel Vergnügen gemacht. Dabei aber hielten wir viel auf unser Aeußeres und versäumten keinen Ball, keine Tanzunterhaltung, und die guten Töchter stiller Familien, denen wir zu Hause als schrecklich verderbte Subjekte geschildert waren, sahen uns doch nicht ungern erscheinen, denn sie mußten sich heimlich gestehen, daß wir viel amüsanter seien, als die andere Gesellschaft, und viel besser tanzten.
Herr Specht, dem unser nächtliches Schwärmen und unsere Streiche natürlich nicht fremd blieben, tat alles mögliche, um mich in den Augen der Prinzipalin herabzusetzen, und ich wunderte mich oft, daß ihm seine Bemühungen lange Zeit fehlschlugen. Ich Verblendeter wußte ja nicht, daß am Richterstuhl der Prinzipalin ein guter Schutzengel eifrig für mich sprach, ein gutes, liebes Wesen, dessen reines Herz von der Madame Stieglitz wohl erkannt und hochgeschätzt wurde. Emma wandte alle Ungewitter von mir ab, und obgleich sie keinem Menschen, weder dem Doktor noch dessen Frau, jemals sagte, wie sehr meine Aufführung ihr Herz verwunde, so lächelte sie bei der Prinzipalin über meine kleinen Vergehen, wie sie es nannte, und hielt den guten Glauben derselben für mich aufrecht.
Ach, ich wußte das ja nicht, und behandelte ihre Liebe, die sie verschwiegen im tiefsten Herzen für mich trug, mit einer freilich erzwungenen Geringschätzung, ja mit Roheit! So konnte ich spät in der Nacht nach Hause kommen und, statt mich ruhig zu Bett zu legen, in meinem Zimmer herumrumoren und lustige Lieder singen. Letzteres tat ich eigentlich dem Herr Specht zuliebe, dachte aber dabei, es kann auch ihr nichts schaden, wenn sie hört, wie lustig du bist, trotz der Kälte, mit der sie dich behandelt.
Mir war es dagegen mit meiner Lustigkeit nicht so sehr ernst, und oft, wenn ich morgens aufstand, zerriß ein heftiger moralischer Katzenjammer mir das Herz. Ich fühlte wohl, daß meine Aufführung, wenn sie auch dem Geschäft keinen Schaden brachte, in einem so frommen Hause, wo der Herr Pfarrer Sproßer täglicher Gast war, nicht zu lange geduldet werden konnte. Dem Familienleben in demselben war ich ohnedies schon fremd geworden, mein Platz an dem runden Tische wurde nicht mehr offen gelassen, und wenn ich zuweilen Miene machte, ihn wieder zu erobern, so stockte die Unterhaltung plötzlich; Emma sah ernst auf ihr Nähzeug, und der Herr Specht schwieg in der salbungsvollsten Rede. Der Herr Block war der einzige, der treulich an mir hing, ich verschwieg hie und da seine leichtsinnigen Streiche und hatte ihn zuletzt durch kräftige Ermahnungen so weit gebracht, daß dieselben seltener wurden und er zur Zufriedenheit arbeitete. Dieser vertraute mir nun eines Abends, daß ich mich vor den Umtrieben des Buchhalters in acht nehmen solle. »Ich habe,« sagte der schlaue Junge, »neulich eine Unterredung desselben mit der Prinzipalin behorcht, und er hat schöne Dinge von Ihnen erzählt, von Ihren Nachtschwärmereien und, nehmen Sie es mir nicht übel, von Ihrem schlechten Umgang.« – »So,« sagte ich einigermaßen betroffen, »und was entgegnete Madame Stieglitz?« – »Ei nun, sie meinte, es sei ihr nicht lieb, daß jemand aus ihrem Hause auswärts so schlecht prädiziert sei, und wenn sich das wirklich so verhalte, so müsse man seinerzeit eine Aenderung treffen.« – »So, eine Aenderung?« entgegnete ich, und ich muß gestehen, daß der Gedanke, das Dach zu verlassen, unter welchem Emma lebte, mich in dem geheimsten innersten Winkel meines Herzens schmerzhaft berührte. »Aber,« sagte ich, »was kann man mir eigentlich zur Last legen?«
Der Herr Block schwieg still und sah auf den Boden.
»Wenn Sie etwas wissen,« fuhr ich fort, »so sagen Sie mir's frei heraus, ich werde Ihnen dankbar dafür sein und bin sehr verschwiegen.«
Der junge Mensch fuhr schüchtern fort: »Ich hörte also ferner, wie der Buchhalter sagte, Sie brächten das Geschäft in vollkommenen Mißkredit, und dabei nannte er den Namen des Meisters Steffen.« – »So, so,« sagte ich bestürzt, »was zum Henker weiß der Buchhalter vom Meister Steffen?«
Der Herr Block zuckte die Achseln, und ich versank in tiefes Nachsinnen; freilich, mit dem Meister Steffen hatte es eine eigene Bewandtnis, und wenn ich auch an der Geschichte unschuldig war, so war doch der Schein gegen mich. Dieser Meister Steffen nämlich war mir von einem lockern Zeisig meiner Gesellschaft als fleißiger und geschickter Mann empfohlen worden, und man hatte mich dringend gebeten, ihn auf unserer Wiegkammer zu beschäftigen. Ich nahm ihn auch an, bereute es aber bald wieder, denn der Meister Steffen, obschon ein geschickter Weber, wenn er wollte, war eigentlich ein liederliches Subjekt und fast jeden Tag betrunken. Dazu hatte ich obendrein erfahren, daß er der Vater einer sehr schönen, aber äußerst leichtsinnigen Tochter sei, deren Ruf der schlechteste war, den ein Mädchen nur haben kann, und wenn der gute Buchhalter die Annahme des Vaters aus der Freundschaft gegen die Tochter herleitete, so war das allerdings für die Prinzipalin ein bedeutender Grund, mir ihre Gunst zu entziehen! Und Emma – – ich fühlte, daß bei dem Gedanken an sie eine flammende Röte mein Gesicht bedeckte. »Schurke, infamer!« sagte ich und ballte die Faust, die Zigarre, die ich gerade rauchte, fuhr in einen Winkel, ich sprang auf, dankte dem Herrn Block für seine Aufrichtigkeit und sagte: »Ich weiß genug.«
Der junge Mensch sah auf den Boden und entgegnete mir mit leiser Stimme: »Ja, aber noch nicht alles.« – »Noch nicht alles?« fragte ich erstaunt, »was zum Teufel kann denn noch Schlimmeres und Scheußlicheres über mich ausgesagt werden? So reden Sie doch!« – »Ferner meinte der Herr Specht,« antwortete der Lehrling schüchtern, »Ihre großen Ausgaben seien eigentlich in keinem Verhältnis zu Ihren Einnahmen, und – –«
Ich stand niedergedonnert und konnte kaum atmen, vor mir öffnete sich ein Abgrund, ein Abgrund, schrecklich finster, an den ich bis jetzt noch nicht gedacht! Obgleich mich mein Bewußtsein von aller Schuld freisprach, so war mir doch, als habe der Geifer, den jener schlechte Kerl auf mich geschleudert, wirklich mein Herz schon angefressen, und mir schien, als sei diese ungeheure Anklage imstande, mich in der Tat schuldig zu machen. Ich hatte ja selbst einen verwerflichen Stolz darin gesucht, daß man mich für einen leichtsinnigen jungen Menschen halte, um so mehr, da ich mir bewußt war, meinen Dienst nie vernachlässigt zu haben. Was sollte ich tun? Den Doktor um Rat fragen? Ich schämte mich vor der ganzen Welt, auch erinnerte mich der Herr Block dringend an mein Versprechen, nichts von dem sagen zu wollen, was er mir mitgeteilt. Ich konnte also nichts tun, als die Dinge, die da kommen würden, abzuwarten und sorgfältiger, als bisher, mein Tun zu prüfen.
Das Gift, welches der Buchhalter gegen mich gebraucht, wirkte zwar schneller, aber nicht so heftig, wie er gedacht. Ich wurde den andern Tag zur Prinzipalin berufen, und als ich ihr Zimmer betrat, verließ Emma dasselbe, und mir schien, als habe sie verweinte Augen. Zu meinem Glück war ich durch den Herrn Block vorbereitet und auf das Schlimmste gefaßt, doch kam es für diesmal besser, als ich erwartet. Madame Stieglitz saß auf ihrem Sessel, legte bei meinem Eintritt die Brille auf das Gesangbuch neben sich und redete mich ernst, ja finster an. »Ich habe Ihnen,« sagte sie, »in jeder Hinsicht mein Vertrauen geschenkt, ich habe Ihnen die Geschäfte meiner Fabrik übertragen, und ich muß gestehen, daß Sie dieselben zu meiner Zufriedenheit geführt. Ueber den Geschäftsmann kann ich also nicht klagen; doch habe ich mit großem Schmerz vernommen – ja, mit wahrem Schmerz,« wiederholte die würdige Frau, »daß Ihr Lebenswandel in letzter Zeit sich so zu Ihrem Nachteil geändert habe, daß Ihre besten Freunde den Kopf darüber schütteln. Sie sind, wie man sagt, das Mitglied, der Chef einer Gesellschaft junger, leichtsinniger Menschen, die, obgleich schon bei vorgerücktem Alter, Torheiten und Ausschweifungen begehen, wie sie nur für ganz unerfahrene Menschen verzeihlich wären. Glauben Sie mir, ich habe oft für Sie gebetet, ebenso meine gute Emma, denn Sie selbst denken an dergleichen Kleinigkeiten nicht; ich habe immer gehofft, Sie würden Ihr unregelmäßiges Leben einstellen, und da das nicht geschah, so habe ich gedacht, er ist ja nicht dein Kind und wenn er die Geschäfte des Hauses gut und redlich besorgt, die Ehre desselben bewahrt, so kann es dir am Ende gleichgültig sein, was er außer dem Hause treibt.«
Ich hörte regungslos diesen herzlichen Worten zu, und mein Herz war tief bewegt. Nach einer Pause fuhr die Prinzipalin fort: »Jetzt aber habe ich von einer Sache vernommen, welche die Ehre meiner Firma angeht und auf mein Haus ein schlechtes Licht wirft. Sie haben in meiner Wiegkammer einen Menschen angestellt, einen Weber, der nicht nur selbst den schlechtesten Ruf hat, sondern dessen Familie allgemein verachtet ist« – »Den Meister Steffen,« sagte ich ruhig.
»Ganz richtig,« antwortete die Prinzipalin, »derselbe; Sie wissen darum, sind meine Vorwürfe ungerecht?« – »Nein, Madame,« entgegnete ich, »aber Sie werden mir erlauben, einiges zu meiner Entschuldigung zu sagen. Dieser Mann wurde mir von einem Bekannten empfohlen; ich hätte allerdings auf diese Empfehlung kein Gewicht legen sollen, doch wurde er mir als fleißig und arbeitsam gerühmt, und ich kann den feierlichsten Eid schwören, daß ich über ihn und seine Familienverhältnisse nichts Nachteiliges gewußt, daß ich ferner von der Familie nie jemand gesehen. Auch,« setzte ich mit erhobener Stimme hinzu, »habe ich erst zufällig vor ein paar Tagen erfahren, wie schlecht dieser Mensch prädiziert ist, und daraufhin hat er gestern seinen Abschied erhalten.« Das war die Wahrheit; ich hatte dem Meister Steffen schon mehrmals mit seiner Entlassung gedroht und sie ihm nach der Unterredung mit Herrn Block augenblicklich zugefertigt.
Die Ruhe, mit welcher ich diese Antwort der Madame Stieglitz gab, wirkte sichtlich zu meinen Gunsten auf die gute Frau. »Ich danke Gott,« sagte sie, »daß die Sache sich so verhält. Sie können mir glauben, daß ich an Ihrem Tun und Lassen den innigsten Anteil nehme; beherzigen Sie meine Rede, und wenn Ihnen das Leben, welches Sie bis jetzt geführt, nicht selbst unerträglich ist, so bitten Sie den Höchsten, daß er Sie in Ihrer Finsternis erleuchte und Sie erkennen lasse, daß ein solcher Wandel nicht geeignet ist, die Liebe und Achtung guter Menschen zu erwerben.«
Ich war sichtlich von ihren Worten ergriffen, und die Prinzipalin, welche es bemerkte, reichte mir die Hand, die ich ehrerbietig und herzlich küßte. Ich glaube, es fielen auch ein paar Tränen darauf, und meine Stimme zitterte heftig, als ich ihr entgegnete: »Glauben Sie mir, Madame, daß ich Ihnen für Ihre Rede, so hart sie wir auch anfangs erschien, innigst danke. Für jemand, der, wie ich, vater- und mutterlos, ja fast ganz verlassen in der Welt steht, ist die Strenge, mit Herzlichkeit und Liebe gepaart, die Sie mir seither bewiesen, ein Ersatz für die Worte der Eltern, die ich unendlich lange nicht mehr gehört, und Sie sollen sehen, ob Sie zum zweitenmal in den Fall kommen werden, mich daran zu erinnern, was ich der wahrhaft mütterlichen Behandlung, wie ich sie von Ihnen erfahren, schuldig bin.« Mein Herz war zum Zerspringen voll, und ich durfte nicht viele Worte machen, indem ich großer Mensch befürchtete, in lautes Weinen auszubrechen. Und was hätte ich nicht noch alles sagen können? War ich doch einen Augenblick entschlossen, ihr zu sagen, wie sehr ich meine Nichte Emma liebe, und sie kurz und gut zu bitten, bei dem Mädchen für mich zu sprechen; doch brachte ich kein Wort weiter hervor, machte eine stumme Verbeugung und eilte aus dem Zimmer.
Unten an der Treppe begegnete mir der Herr Specht, und ich wandte den Kopf ab, um ihn nicht zu sehen und um mein Gesicht nicht sehen zu lassen, auf welchem Schmerz und Freude zu lesen war. Auch sah ich in dem Speisezimmer meine Nichte Emma stehen, welche beschäftigt war, den Tisch zu decken. Ich trat eilig hinein und drückte die Tür hinter mir zu. Das Mädchen ließ die Servietten fallen, als ich auf sie zutrat und hastig ihre Hand ergriff.
»Ich komme soeben von der Prinzipalin,« sagte ich sanft, aber ernst, »und ich habe ihr bewiesen, wie falsch man mich anklagt; ja, man hat mich falsch angeklagt,« wiederholte ich, »aber Emma, du hast doch nie etwas Böses von mir geglaubt?«
Sie wandte das Gesicht weg und schüttelte mit dem Kopfe.
»Emma,« fuhr ich fort, »laß mir einen Augenblick deine Hand, deine liebe Hand, es ist gewiß und wahrhaftig nicht gut, daß du mich immer so kalt und streng behandelst; warum tust du das?« – »Ich weiß es nicht,« antwortete das Mädchen mit leiser Stimme und sah mich mit ihren großen, hellen Augen an, in welchen Tränen standen.
»Du weißt nicht, warum du mich quälst?« fuhr ich bewegt fort, »o, das ist doppelt unrecht.« – »Ich will dich nicht quälen,« entgegnete sie, »aber wie kann ich anders sein, ich bin dir fremd geworden, du bist mir fremd geworden!« – »Fremd, gänzlich fremd?« sagte ich erschreckt und ließ ihre Hand los, »also doch gänzlich fremd?« – »Wie ist es anders möglich?« sagte sie, mit schmerzlichem Tone in der Stimme, »du gehst fort, wenn du kannst, und bekümmerst dich um mich gar nicht, o, du tust sehr, sehr übel daran.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, doch fuhr sie einen Augenblick darauf gefaßt fort: »Ich bin in dies Haus gekommen, wo es außer dir nur ein einziges offenes und gutes Herz gibt, das der Madame Stieglitz, ich bin vertrauensvoll hier eingetreten, indem ich dachte, du seiest ja auch da und werdest mich beschützen wie ein Bruder die Schwester.« – »Ja,« unterbrach ich sie bitter, »wie ein Bruder die Schwester.« – »Und du hast dich schon in der ersten Zeit von mir losgesagt; weshalb? ich weiß es nicht, ich kann es wenigstens nicht begreifen.« – »Weshalb? Emma,« entgegnete ich heftig, »weshalb? Ich will es dir sagen: weil ich dich liebte, und weil du meine Liebe kalt zurückstießest. O, du hast sehr gegen mich gefehlt; ich habe Zerstreuung außer diesem Hause gesucht, Zerstreuung, die mich anekelt, während ich hier vergnügt und glücklich hätte leben können, ja, selig durch ein einziges Wort, wenn du gesagt hättest: »ich liebe dich,« und wenn du mir zuweilen erlaubt hättest, deine Hand zu drücken und hoffend in dein liebes Auge zu sehen – doch war das zu viel verlangt,« setzte ich bitter hinzu, »ich sehe es jetzt wohl ein.«
Es trat eine lange Pause ein, peinlich für uns beide, und, mühsam von etwas anderem sprechend, fragte ich: »Was wolltest du aber damit sagen, daß ich dich schützen sollte, du, der Liebling der Prinzipalin, ja die Herrin des Hauses?«
Das Mädchen warf einen ängstlichen Blick um sich, faßte heftig meine Hand und flüsterte: »Ja, schütze mich, schütze mich vor dem Buchhalter!« – »Vor dem Buchhalter?« entgegnete ich hastig; »was will der Herr Specht?« – »Er verfolgt mich,« sagte das arme Mädchen, »mit seinen Aufmerksamkeiten und, sind wir allein, mit seinen Anträgen.« – »Mit Anträgen?«
In ihrem Gesicht schlug eine glühende Röte auf, die sich hinabsenkte bis auf ihre Brust, wo es unter dem weißen Hauskleidchen so heftig wogte, daß auch ich errötete.
»Mit Anträgen?« wiederholte ich; »was trägt er dir an?« – »Ich glaube, seine Hand,« sagte das Mädchen mit gesenktem Blick und kaum vernehmlicher Stimme.
»Seine Hand?« wiederholte ich, laut und zornig lachend, »die Hand des Herrn Specht? O, er ist nicht so dumm, der Herr Buchhalter, und du?« setzte ich argwöhnisch hinzu.
»Mich hat's geschaudert,« sagte das unschuldige Mädchen und sah mich mit dem klaren, treuen Blick fest an; »aber was soll ich tun? Rate mir! Der Prinzipalin davon sprechen? Du weißt, wie günstig sie über den Buchhalter denkt, und ich bin ja,« setzte sie ernster hinzu, »ein so armes Mädchen. Dem Doktor habe ich davon erzählt.« – »Nun, und was meinte der Doktor?« – »Er stampfte heftig mit dem Fuß,« entgegnete Emma, »und sagte, das habe er sich gedacht; dann gab er mir einen Brief und befahl mir, denselben, sowie sich der Buchhalter an die Prinzipalin wende und diese zu mir von dessen Antrag spreche, ihr zu übergeben.« – »So,« antwortete ich hastig; »gib mir den Brief.« – »Ich möchte gern,« sagte das Mädchen, »denn mir ist das Papier unangenehm, und ich fürchte mich vor demselben, als sei etwas Widerwärtiges, Häßliches darin verschlossen; aber der Doktor hat mir streng verboten, ihn in andere Hände, als die ihrigen, zu geben. Geh aber jetzt, es kommt jemand, und denke nach, was zu machen ist.« – »O, ich wüßte wohl, wie sich alles zum besten lenken könnte,« sagte ich eifrig und küßte ihre Hand. – – –
In diesem Augenblick trat der Buchhalter ins Zimmer und sah uns beide mit einem seltsamen Blick an. »Es ist ein Uhr,« sagte er mit leiser Stimme, als er bemerkte, daß noch kein Tisch gedeckt war, »wir werden wohl baldigst essen?«
Mein Zorn flackerte auf, als ich den Heuchler sah. »Die Prinzipalin wird mich entschuldigen, ich kann heute nicht hier essen,« sagte ich zu Emma; »und Ihnen,« sprach ich mit festem Blick zum Buchhalter, »und Ihnen, Herr Specht, wünsche ich zum guten Appetit eine gesegnete Mahlzeit.«