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Siebentes Kapitel.
Als ich am Morgen nach dem denkwürdigen Besuch bei Doktor Burbus erwachte, graute eben der Tag; ach, es graute auch mir, denn ich befand mich in einem Zustande, der um so schrecklicher war, da ich noch gar nicht wußte, ob es die Folgen des gestrigen Abends waren oder der Anfang einer schweren Krankheit. Ich hatte den ausgebildetsten, entsetzlichsten Katzenjammer, der sich je auf einen Menschen niedergelassen hat. In meinem Kopf war es wüste und leer; und als ich versuchte, ihn aufzurichten und um mich herzuschauen, drehten sich, gerade wie gestern abend, Zimmer, Tisch und Stühle um mich herum; und als ich darauf meine Augen wieder schloß, um dem Schwindel zu entgehen, war es mir, als hätte mich einer bei den Haaren aufgehängt und gäbe mir dazu in einem fort warmes Wasser zu trinken. Ich wendete mich in meinem Bett hin und her und kapitulierte mit mir selbst von Viertelstunde zu Viertelstunde; endlich war es aber die höchste Zeit. Philipp im Nebenzimmer hustete, scharrte und plätscherte in seinem Waschbecken umher, kurz, machte all den Lärm, womit er jeden Morgen seine Toilette begleitete.
Als ich aufstand, ging es mir besser, als ich erwartet; ich hatte gemeint, ich müßte augenblicklich auf den Boden stürzen, ich konnte aber noch so ziemlich auf den Beinen stehen. Nur machte mich eine unbeschreibliche Schwäche besorgt, und ich konnte mir nicht erklären, warum meine Hände zitterten, wenn ich etwas anfaßte. Ich legte mich ins Fenster, teils um die frische Morgenluft zu genießen, teils um in das Zimmer des Doktor Burbus zu schauen, wo ich gestern einen Abend erlebt, an den ich nur mit Schauder zurückdenken konnte. Alles, was ich dort drüben gesehen, war mir im tollen Reihentanze der Träume wieder erschienen, und selbst jetzt noch, am hellen Morgen, wenn ich die Augen schloß, huschten die Zimmergemälde des Doktors sowie das Skelett und er selbst an mir vorüber, und gerade daß ich diese Erinnerungen und diese Bilder nicht los werden konnte, war mir peinigender als mein körperliches Unwohlsein. Wußte ich doch damals noch gar nichts vom Elend, das man physischen und moralischen Katzenjammer nennt, von denen der letztere der schrecklichere ist. Aber der Doktor drüben schien sich keiner Schuld und keines Unwohlseins bewußt. Er hatte trotz der kalten Nacht das Fenster offen gelassen und das Brett, auf welchem ich herübergerutscht, war nur halb hereingezogen. Dabei schnarchte der Treffliche mit solcher Kraft, daß sich seine Fenstervorhänge bewegt haben müßten, wenn sein Zimmer auf solche Art garniert gewesen wäre.
Philipp öffnete jetzt die Tür seines Schlafzimmers, und als er mich dastehen sah, noch unangezogen, mit blassem Gesicht, und wie ich, das Haus drüben anstarrend, bedenklich hinter den Ohren kratzte, machte er ein recht trauriges Gesicht, faltete seine Hände und sah mich mit einem unbeschreiblich wehmütigen Blicke an. Ich meinesteils betrachtete ihn auch; da ich aber aus seiner Stellung ersah, daß er ob meines Leichtsinns und meiner Verdorbenheit ein brünstiges Stoßgebet gen Himmel schickte, ärgerte ich mich und fragte ihn verdrießlich, was er eigentlich wolle. – »O, nichts,« erwiderte Philipp langsam und feierlich; »ich wollte nur sehen, ob Sie bei Ihrem gestrigen Fall ins Zimmer herein keinen Schaden genommen haben, weiter gar nichts.« – »Ich bin ja gar nicht gefallen,« entgegnete ich ihm mürrisch; »das müßte ich doch auch wissen.« – Da flog ein wehmütiges Lächeln über die Züge meines Vorgesetzten, und er sprach: »O Gott, Sie befanden sich in einem Zustande, wo man nicht mehr weiß, ob man fällt oder steht. Ach, und wenn man denn auch körperlich nicht fällt, so ist man geistig doch schon sehr tief gefallen.«
Ich merkte, daß der Gute im Begriff war, mir eine Predigt zu halten, und da ich in meiner Verstimmung durchaus nicht gelaunt war, dergleichen hinzunehmen, sagte ich heftig, er solle mich in Frieden lassen. Ueberhaupt, setzte ich im Zorn hinzu, sei mir sein Kriechen und Scherwenzeln höchst widerlich, und er täte mir einen großen Gefallen, wenn er sich künftig gar nicht mehr um mich bekümmerte. – Diese Antwort hatte Philipp von seinem Untergebenen nicht erwartet, und ich glaube, zu einer andern Stunde hätte ich sie ihm auch nicht gegeben. Er hob die gefalteten Hände gegen die Brust, senkte seinen Kopf etwas und sagte nach einer langen Pause mit tonloser Stimme, als presse ihm ein harter Kampf die Worte aus: »So muß ich dem Herrn Prinzipal anzeigen, daß es mir nach dem, was Sie unserer verehrten Jungfer Barbara angetan, sowie nach Ihrer Herzlosigkeit, womit Sie die kleine Fanny gequält, ungerechnet den wenigen Respekt, den Sie dem Hute des Prinzipals und somit diesem selbst bewiesen, und nach Ihrer Aufführung von gestern abend als ordentlichem Handlungsgehilfen unmöglich ist, ferner mit Ihnen zusammen zu leben. Einer von uns muß also das Haus verlassen, Sie – oder –« setzte er mit einem tiefen Seufzer hinzu – »ich!«
Wenn es mir auch im ganzen gar nicht unangenehm gewesen wäre, das Reißmehlsche Haus verlassen zu können, da mir nach dem, was ich hier erlebt, diese Branche des Handelsstandes gründlich verhaßt geworden war, so wußte ich doch zu gut, daß ich durch einen solchen Austritt die Meinigen aufs tiefste betrübt, und sie mich in einen andern Laden gesteckt hätten, wo es mir vielleicht noch schlimmer ergangen wäre. Deshalb erschreckte mich Philipps Aeußerung, und ich wußte nicht, was ich ihm entgegnen sollte: da fiel mir auf einmal eine Aeußerung des Doktor Burbus ein, eine Anspielung auf eine Geschichte, die im ersten Stock des Reißmehlschen Hauses vorgefallen sei, und dies wandte ich durch plötzliche Eingebung auf Philipp an. So ruhig wie möglich sagte ich ihm: »Gut, Herr Philipp, erzählen Sie dem Prinzipal von mir, was Sie wollen; ich werde ihm dagegen etwas mitteilen, was mir der Herr Doktor Burbus gesagt. Verstehen Sie mich, Herr Philipp? etwas, was da unten im ersten Stock passiert ist.«
Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, so tat es mir schon leid, denn aus Philipps Augen sprach die vollkommenste Verzweiflung. Er tat einen Schritt zurück, schlug die Hände vors Gesicht und konnte nur die Worte hervorbringen: »O Gott! das Ungeheuer! – O Barbar . . .!« – »Ja, sehen Sie!« entgegnete ich ihm, »so wie Sie muß man nicht sein! Es ist viel besser, wir bleiben gute Freunde. Wir wollen zusammenhalten, und keiner verrät den andern.«
Er antwortete mir nichts, sondern nickte nur mit dem Kopfe; als ich mich aber umwandte und ihn dann wieder rasch ansah, bemerkte ich, daß er eine Hand in die Tasche seines Kamisols gesteckt hatte und sie zu einer Faust ballte, die wahrscheinlich halb mir, halb dem Doktor Burbus galt, der soeben drüben mit einem sehr nüchternen Gesicht an seinem Fenster erschien, um es zu schließen.
Meine Anspielung auf den ersten Stock hatte den unglücklichen Philipp sichtlich aufs tiefste erschüttert, und ich hätte gar zu gern gewußt, was es mit der Geschichte für eine Bewandtnis habe. Natürlich durfte ich nicht merken lassen, daß ich eigentlich nichts davon wisse, ich nahm mir aber fest vor, bei der nächsten Gelegenheit meinen Kollegen auszuforschen. So sanftmütig dieser überhaupt war, so grenzte doch heute seine Nachgiebigkeit und Freundlichkeit ans Unglaubliche. Ich wurde wirklich gerührt, als er kurz nach Oeffnung des Ladens eigenhändig aus dem Keller eine Handvoll Sauerkraut holte, das er mir als Universalmittel gegen meinen derzeitigen Zustand anpries, und ob ich es gleich mehr in der Absicht verspeiste, ihm einen Beweis meines Zutrauens zu geben, so muß ich doch gestehen, daß es auf meinen Magen die beste Wirkung ausübte. Meine Furcht, er möchte mich wegen des gestrigen Exzesses beim Prinzipal und der Jungfer Barbara verklagen, verschwand völlig, vielmehr trieb er seinen Edelmut so weit, daß er letztere auf die Blässe meiner Wangen aufmerksam machte und ihr dabei zu verstehen gab, er vermute, ich habe aus Gewissensbissen über die Unart, die ich gestern gegen sie begangen, die ganze Nacht kein Auge zugetan, und ich grämte mich sichtlich deswegen ab.
Diese Voraussetzung zerteilte in etwas die finstern Wolken, womit, wenn sie mich ansah, Barbaras Auge umflort waren, und ließ mich heute zuweilen das Streiflicht eines freundlichen Blickes genießen. – Es war aber, als habe sich das Schicksal einmal vorgesetzt, mich dieser Jungfer gegenüber auf keinen grünen Zweig kommen zu lassen.