Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Einunddreißigstes Kapitel.

Die Betstunde.

In einem der entlegensten Teile der Stadt, am Ufer des kleinen Flusses, der an der Hauptstraße jenes Viertels vorbeifließt, lag ein kleines Haus, aus welchem der Vorübergehende oftmals, besonders des Freitagabends, geistliche Lieder erschallen hörte, die darin gesungen wurden. Dieses Haus gehörte einem Färbermeister, einem von der Gnade vollkommen durchdrungenen Manne, der sein Geschäft nicht mehr fortsetzte, da er den ganzen Tag Visionen hatte, deren Glanz und Pracht seine Augen so verdunkelten, daß er nicht mehr imstande war, irdische Farben zu erkennen, und also zu seinem Geschäft vollkommen untauglich geworden war. Der Mann hatte sich einen kleinen Weinschank zugelegt, und böse Zungen behaupteten, er sei selbst sein eifrigster Kunde, deshalb den ganzen Tag betrunken, aus welchem Zustande auch seine Visionen stammten. Dem sei nun, wie ihm wolle, die Gemeinde der Auserwählten hielt ihn für ein erkorenes Rüstzeug, und da der Mann trotz seines Weinschanks in seinen Verhältnissen täglich mehr zurückging, so mietete man, um ihm einigermaßen unter die Arme zu greifen, den obern Stock seines Hauses und ließ dort ein paar große Zimmer zu Betversammlungen einrichten.

Wer in jenem Stadtviertel keine Geschäfte hatte, ließ sich namentlich des Abends dort nicht sehen; über den ziemlich breiten Fluß drang nicht Klang noch Gesang ans andere Ufer, und dort hinaus befand sich ein zweiter Betsaal, wohin sich die Gemeinde später zurückzog, damit profane Ohren auf der Straße nichts von dem Jauchzen des Halleluja vernähmen.

Der Färbermeister hatte, um keine Gäste aus der niedern Klasse in seinem Lokal zu haben, für sehr guten und teuren Wein gesorgt, und so saßen in seinem Hause nur ausgewählte und feine Leute, oben nach dem lebendigen Born himmlischen Wassers, unten nach dem goldenen Born guten Weins trachtend. Die Gäste bestanden aus alten Kaufherren, aus üppigen Kommis, Handlungsreisenden und jungen Beamten; doch war die Anzahl derselben immer klein, da man von einem Stammgast eingeführt sein mußte. In die Wirtszimmer gelangte man von seiten der Straße durch einen dunklen Hausflur, in die Betzimmer aber über eine kleine Altane an der Seite des Flusses, welche auf die Treppe zum ersten Stock führte, und auf diese Art war hinlänglich dafür gesorgt, daß die Kinder Israels von jenen Genossen des Weins und der Sünde nicht gesehen wurden.

Was den Freitagabend anbelangt, so hatte der Färbermeister die strengste Weisung, alsdann seine Gaststube geschlossen zu halten und keine Kunden zu empfangen, doch umging er dieses Gebot, indem er seinen Stammgästen ein kleines Gemach nach dem Flusse hin einräumte, wo sie sich ruhig verhalten mußten.

Nachdem ich dem Herrn Specht das feierliche Versprechen geleistet, niemand aus der Familie meines Vetters etwas davon zu sagen, daß ich begnadigt worden sei, die Versammlungen der Frommen zu besuchen, nahm er mich den nächsten Freitag abends gegen sieben Uhr mit sich. Wir kamen in jenes für mich bis dahin ganz unbekannte Stadtviertel, und es dunkelte bereits, als wir über die Altane schritten, unter welcher das stille, trübe Wasser des Flusses melancholisch dahinrauschte.

Ich weiß nicht, warum ich mit klopfendem Herzen und ängstlichen Gefühlen in die Versammlung trat. Da saßen die Begnadigten auf einfachen Stühlen und Bänken, Männer von jedem Alter, sowie alte und junge Frauen. Da ich in der Stadt überhaupt wenig Bekanntschaften hatte, so sah ich nur ein einziges Gesicht, das mir nicht fremd war, dasjenige meines Schusters, der mich, freundlich blinzelnd, von der Seite ansah und fast unmerklich begrüßte; man überreichte mir ein Gesangbuch, ich ließ mich an der Seite des Herrn Specht nieder, und auf ein gegebenes Zeichen fing die Gemeinde an zu singen:

»Es ist noch Raum!
Mein Haus ist noch nicht voll,
Mein Tisch ist noch zu leer,
Der Platz ist da, wo jeder sitzen soll:
O bringt noch Gäste her
Und nötigt sie auf allen Straßen;
Ich habe viel bereiten lassen,
Es ist noch Raum!

Es ist noch Raum!
Seht meinen Schafstall an,
Wie breit die Wände gehen,
Wie weit gegrünt, so weit man sehen kann,
Da große Hürden stehen;
Mein Zepter und mein Buch des Lebens
Hat nicht so vielen Platz vergebens:
Es ist noch Raum!«

So ging das Lied fort und wurde mit gefalteten Händen in tiefer Andacht abgesungen. Einige lehnten sich über ihr Buch, andere blickten begeistert zum Himmel, aber – ich wußte nicht, wie es kam – in mir schien sich die Gnade nicht regen zu wollen. Ich konnte mich nicht befreunden mit den seltsamen, schwülstigen Bildern dieser Lieder, mir erschienen jene unseres Kirchengesanges schon innig und herzlich genug. Einige Verse des Gesanges wurden von der Gemeinde mit lispelnder Stimme vorgetragen, andere mit lautem Gesang, mit glänzenden Augen und erhobenen Händen.

Es ist noch Raum!
Ach wären Augen da,
O tiefer Liebesgrund,
Kommt, seht hinein und singt Halleluja
Und macht es allen kund;
Erzählt das mächtige Erwarmen
In weiten offnen Liebesarmen,
Es ist noch Raum!

Nach dem letzten Verse – ich glaube, es war der sechsunddreißigste – wurde ein Augenblick stiller Andacht gepflogen, und darauf trat ein junger Mann, schwarz gekleidet, ein angehender hoffnungsvoller Kandidat, in die Versammlung; er hatte ein eingefallenes, hageres Gesicht, lange, blonde, flatternde Haare, und seine Augen glänzten von einem wilden Feuer; er warf mit seiner weißen, magern Hand die Haare hinter seine Ohren, während er sprach: »Selig sind, die zum Hochzeitsmahle des Lammes berufen sind. Was für ein Jauchzen und Freudengeschrei wird da gehört? Die Stimme einer großen Schar, wie das Rauschen vieler Wasser, wie das Rollen starker Donner ertönt es: Lasset uns freuen und frohlocken, denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, seine Braut ist geschmückt zur Hochzeit – und wie geschmückt! In glänzender Seide, eine Seide nicht vom Seidenwurm, doch vom Baum, der sie am Holze des Kreuzes wirkte und sprach: Ich bin ein Wurm und kein Mensch; in dessen Seide, in dessen Gerechtigkeit gekleidet, erscheint die Braut bei seinem Hochzeitsmahle. Sie wird ihr gegeben und sie nimmt sie an und zieht sie an und erscheint in seinem Schmucke. Wie herrlich wird die Braut des Lammes dastehen! Wie selig, wer dazu berufen ist, und wer dabei erscheinen wird in der glänzenden Seide seiner Gerechtigkeit, im Hochzeitskleide! Denn der Schmarotzer, der kein Hochzeitskleid anhatte und deswegen wieder hinausgeworfen ward, ist ohne Zweifel der Patron derer, die sich die Gerechtigkeit Christi nur so zurechnen, ohne sie anzuziehen und in ihrem glänzenden Schmucke wirklich zu erscheinen. Wenn es heißt: es war der Braut gegeben, daß sie sich kleide in glänzende Seide, die Seide aber ist die Gerechtigkeit des Heiligen, so ist beides wohl zu merken; erstens, daß dieses Kleid gegeben, geschenkt, umsonst dargereicht werden muß, daß es sich kein Mensch selber aus eigenen Kräften wählen kann, und zweitens, daß aber die Heiligen es annehmen, sich zueignen, anziehen und darin wandeln. Darum heißt denn die Gerechtigkeit Christi auch die Gerechtigkeit der Heiligen, weil sie Jesum Christum seinen Sinn und Geist angezogen, sich eigen gemacht haben, und weil das ihr eifriges Bestreben auf Erden ist, daß sie sich stets mit dieser Seide der Braut des Lammes schmücken auf den Tag des Bräutigams, um ihm zu gefallen.

»Ja, meine Freunde, süß und lieblich ist das Begehen der Hochzeit des Lammes, süß mit den Genossen und der Genossin, in deren Innern verwandte Flammen schlagen, die im sanften Bunde emporleuchten gleich himmlischen Hochzeitskerzen. Das Lamm ist in uns und ist die Gnade, der wir teilhaftig geworden sind. O nähere dich mir, Genossin, die du im Geist und in der Wahrheit die Hochzeit meines Lammes mit mir begehen willst, wirf von dir alle Eitelkeit dieser Welt, wirf von dir alle Zurückhaltung und folge demütig und bereitwillig der Stimme in deinem Innern; fühlet ihr, Geliebte, wie warm und anmutig die Gnadenflamme euer Herz durchglüht? Ja, ihr fühlet es und fühlet auch, wie holdselig es ist, wenn sich der Genosse und die Genossin des Lammes zum Jauchzen des Halleluja vereinigen. Seht, wie die Flammen des Opfertisches sich einander nähern und lieblich durcheinander flackern, ein gemeinsames, erfreuliches Opfer.

»O Genossin des Lammes, du, die du von mir erwählt bist, du bist das Kleid, das sich zur Feier um mein Inneres schlingt, höre und merke dir, dieses Kleid muß gegeben, geschenkt, umsonst dargereicht werden.«

So sprach der junge Mensch, und wenn er auch Worte sagte, die ich verstand, so war mir doch der Sinn diesem Worte gänzlich unverständlich, ich konnte mich eines eigenen Schauders nicht erwehren, wenn ich all die glühenden Blicke um mich her bemerkte, die lechzend an seinem Munde hingen; ihnen schien der Sinn seiner Rede nicht zu entgehen, warum denn mir? Sollte das das Werk der Gnade sein, die mir noch abging, und jenen schon zuteil geworden war? Ich dachte an die Lehre des Buchhalters, in meinem Herzen ein Bild aufzustellen, das mir das Unverständliche schon klar machen würde. Unter den Reden des Theologen träumte ich wieder von der dunkeln Kapelle, von der großen Kirche, und die glühenden Worte, die er sprach, tanzten wie rote Blumen und zitternde vielfarbige Streifbilder um das Bild meiner Nichte Emma, das nach und nach in mir aufdämmerte. Doch schauten mich die großen, klaren Augen so ernst und so geisterhaft an, daß ich erschrocken zurückfuhr und alles wieder in Nacht und Finsternis unterging.

Der Redner hatte aufgehört, zu sprechen und sank ermattet in seinen Stuhl, ein neues Lied wurde gesungen, und darauf erhob sich der Herr Specht von seinem Stuhl und ging, von meinem Bekannten, dem Schuhmacher, gefolgt, an den Reihen der begnadigten Kinder Israels vorbei. Der Schuster trug auf einer silbernen Platte einen großen, silbernen Krug und ebensolchen Becher, welchen der Herr Specht vollschenkte und jedem der Anwesenden zum Austrinken gab. Auch ich erhielt meinen Teil und trank den süßen Wein, auf eine befehlende Miene des Buchhalters, heftig hinunter. Wunderbar erwärmte mich das Getränk, und mein Gehirn durchkreuzten leuchtende Visionen.

»Lassen wir jetzt,« sprach der Kandidat mit tiefer, zitternder Stimme, »lassen wir jetzt zur stillen Betrachtung schreiten.« Die Versammelten erhoben sich, mehrere der anwesenden Weiber schlugen die Augen nieder, andere blickten wild und verlangend um sich. Der Schuster, welcher mir der Diener der Gemeinde zu sein schien, öffnete die Tür des Nebenzimmers, wo von der Decke eine Art Alabasterlampe hing, deren Gehäus aber so dick war, daß kaum so viel Licht durchfiel, um die Gestalten der Hineinwandelnden zu sehen, ohne sie erkennen zu können. Mich erfaßte eine unbeschreibliche Angst, und das geheimnisvolle Dahinschreiten erschien mir grausenhaft, ja gespensterartig. Die Tür schloß sich, die Lampe schien zu erlöschen, und durch die dünnen Vorhänge der Fenster drang vom andern Ufer des Flusses her das ungewisse Licht der Gasflammen; unten rauschte das Wasser, und man hörte in der Versammlung nichts als Flüstern. Nach einiger Zeit erhob der Theologe seine Stimme und sprach: »Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen, dein Haar ist wie die Ziegenherden, die beschoren sind auf dem Berge Gilead.«

Er schwieg, und nach einer Pause sagte eine andere Stimme: »Deine Zähne sind wie die Herden mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen, die allzumal Zwillinge tragen, und ist keine unter ihnen unfruchtbar.«

Eine dritte Stimme fuhr fort: »Deine Lippen sind wie eine rosenfarbene Schnur, und deine Rede lieblich, deine Wangen sind wie der Ritz am Granatapfel zwischen deinen Zöpfen.«

Ein vierter sprach jetzt leise und murmelnd: »Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden.«

»Bis der Tag kühl werde,« flüsterte eine Weiberstimme, »und der Schatten weiche, ich will zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauch-Hügel.«

Jetzt erkannte ich die Stimme des Buchhalters, der sprach: »Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, mit deiner Augen einem und deiner Halskette einer. Wie schön sind deine Brüste, meine Schwester, liebe Braut; deine Brüste sind lieblicher denn Wein, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würze.«

So summte und murmelte es um mich her in sonderbar zitterndem Tone und mit eindringender, hastiger Stimme. Durch das Zimmer wehte ein eigener Wohlgeruch, und mir war zu Mute, als hörte ich »den Nordwind und fühlte den Südwind, der durch den Garten wehte, daß seine Würze triefe«. Ich hatte nicht gewagt, niederzusitzen, sondern mich an das Ende einer Bank gestellt, und obgleich meine unerklärliche Bangigkeit immer zunahm, so hielt es mich doch auf dem Platze, solange die summenden Stimmen nicht in meiner nächsten Nähe ertönten. Jetzt aber flüsterte dicht neben mir eine Frauenstimme: »Ich schlafe, aber mein Herz wacht, da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft: komm herauf, liebe Freundin, meine Schwester, meine Taube, meine Fromme, denn mein Haupt ist voll Taues, und meine Locken voll Nachttropfen.«

Entsetzt wollte ich auf die Seite fahren, doch faßte eine Hand die meinige und zog mich nieder auf die Bank. Mir sauste es vor den Ohren, mein Herz pochte gewaltig, ich wollte davon und konnte nicht. Eine Zeitlang herrschte ringsum tiefe Stille, dann vernahm ich die Stimme des Kandidaten, der leise sprach, so leise, daß seine Worte ein fast unhörbares Geflüster waren, und doch verstand ich sie. »Mein Freund ist hinabgegangen in den Garten,« sagte er, »zu den Würzgärtlein, daß er sich weide unter den Gärten und Rosen breche. – Halleluja!«

»Halleluja!« summte die ganze Versammlung, und ich, der die Augen fest geschlossen hatte, fühlte auf meinem Munde ein paar warme Lippen, die mich innigst küßten.

Erschreckt sprang ich empor, riß mich los, stolperte über einige, die mir im Wege saßen, und sprang so heftig gegen die Tür, daß das Schloß aufsprang und ich, hochaufatmend, die Helle des Vorzimmers wiedersah. Hinter mir entstand Geräusch und allgemeiner Aufbruch, ich eilte auf die äußere Tür und stürzte durch dieselbe auf die Treppe, da ich eilige Schritte hinter mir hörte. Den mich Verfolgenden zu entgehen, sprang ich die Stufen in großen Sätzen hinab, als ich mich von hinten gefaßt und festgehalten fühlte. Ich wandte mich um und erblickte das blasse, verstörte Gesicht des Herrn Specht, der mich am Arme festhielt. »Wohin?« rief er mit heiserer Stimme, und jener gewisse Strahl aus seinen Augen blitzte unheimlicher als je auf.

»Fort, fort!« rief ich ihm zu, »lassen Sie mich gehen!« – »Er wird uns verraten,« flüsterte eine andere Stimme, und ich erblickte neben mir den Kandidaten, dessen Augen häßlich durch die Nacht leuchteten. »Unbesonnener Mensch,« fuhr er, zähneknirschend, zu dem Buchhalter gewandt, fort, »jemand in unsere Versammlungen zu bringen, dessen man nicht sicher ist.« – »Er soll einen feierlichen Schwur leisten,« entgegnete der Buchhalter, »einen fürchterlichen Schwur, auf daß er uns nicht verrate.« – »Ich schwöre nicht!« schrie ich laut und entschlossen.

»Du mußt!« antwortete giftig der Kandidat, »oder, bei Gott, wir werfen dich ins Wasser.«

Die beiden packten mich an der Schulter, ich aber faßte krampfhaft die Lehne der Altane und schrie um Hilfe. Einen Augenblick waren die beiden unentschlossen, was sie tun sollten, da öffnete sich der Fensterladen der Wirtsstube, es schaute jemand heraus, und eine mir bekannte Stimme rief laut: »Laßt den Burschen los, ihr Nachteulen, oder ich werf' euch mein Messer in die Rippen, daß keiner von euch das Tageslicht wieder sehen soll. Fort, Halunken, ich komme schon!«

Ich erkannte zu meinem höchsten Schrecken die Stimme meines Prinzipals, Herrn Stieglitz, riß mich los, sprang auf die Straße und eilte davon, so schnell mich meine Beine trugen.


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