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Der Baron George von Breda ließ sein Pferd nicht lange galoppiren; nach einigen Minuten zog er die Zügel an, und da er Lord scheinbar gehen ließ, wohin dieser wollte, so wandte sich das Thier einem ihm sehr bekannten Wege zu und schritt die Landstraße hinauf, von deren Höhe man die Stadt überblicken konnte. Wie es hier fast immer, sonst aber auf eine Bewegung des Reiters, geschah, stand Lord auch dieses Mal aus Gewohnheit still und wandte sich halb rückwärts.
Der Baron schaute auf; da lag die Stadt im hellen Sonnenglanze, der aber nicht kräftig genug war, um die kalten Dünste, die überall auf den Straßen aufgestiegen waren, niederzudrücken, so daß es aussah, als leuchteten einzelne Dächer und verschiedene höhere Gebäude aus einem trüben Wasserspiegel empor, was um so eigenthümlicher erschien, da die Höhen rings umher, namentlich die fernen Berge, mit Tannen bewachsen, sich so scharf und klar von dem hellen Himmel abzeichneten. – Dort lag auch sein Haus, er sah aber nichts als die Spitze des Daches, auf derselben eine hohe Stange, an der eine rothe Fahne flatterte. Das Wrack eines Schiffes, das eben von den gefräßigen Wellen verschlungen wird! so dachte er, als er das sah, und murmelte in sich hinein: »Dann wäre Alles, Alles vergessen, und wir hätten Ruhe.«
Lord schritt weiter, dem Thale zu, das wir bereits kennen, und unten im Grunde bog er von der großen Straße links ab, in den verwahrlosten Waldweg, wo sich Ruheplätze befanden, die keine Ruheplätze mehr waren, und wo die Regenfluten sich andere Straßen gewühlt hatten; in diesen Waldweg, der einstens eine breite Passage gewesen, dem aber jetzt nach und nach die Sträucher rechts und links neugierig näher gerückt waren, gewiß in der Absicht, so bald als möglich das ganze Terrain zu überziehen, und so den zudringlichen Menschen diesen Raum wieder abzugewinnen.
Oft hatte sich der Baron über diesen schrecklich verwahrlosten Weg geärgert, und hatte zuweilen seinem Schwager, dem Herrn von Branchen, darüber Vorstellungen gemacht, ja, sich angeboten, für ihn die Straße wieder herstellen zu lassen. Doch hatte der alte Herr jedes Mal freundlich mit dem Kopfe geschüttelt und still lächelnd gesagt: »Lassen wir den Weg, wie er ist, bester Freund; das ist wie so Vieles in der Welt, unverhofft nach und nach gekommen; aber wir haben uns daran gewöhnt, und jetzt ist mir die Wildniß sogar lieb geworden. Betrachte ich sie doch in meiner Einsamkeit wie eine Art Schutz; denn wenn zudringliche Leute von der großen Chaussee auf diesen Seitenpfad blicken, da denken sie achselzuckend und mit vollem Rechte: Bei den Leuten da drinnen muß nicht viel zu holen sein. So bleiben sie mir vom Halse.« –
»Man könnte ja das Ganze mit einem festen Thore abschließen,« hatte darauf der Baron entgegnet, der alte Herr sich aber alsdann mit einer gewissen Aengstlichkeit auch gegen diesen Vorschlag gesträubt. – »Es paßt so zum Ganzen,« hatte er fast bittend geantwortet, und dann hinzugesetzt: »ich glaube auch nicht, daß es Eugenien großes Vergnügen machen würde, wenn wir den Weg wieder herstellten. Seit sie da ist, ist er so. langsam verfallen, und es war ihr immer ein lieber Spielplatz, so lange ich denken kann.«
Daran dachte heute George von Breda, als er im langsamsten Gange des Pferdes, dem er vollkommen die Zügel ließ, durch den vernachläßigten Waldweg ritt.
»Es ist ein seltsames Mädchen,« hatte der alte Herr, der sein Kind über Alles liebte, weiter gesprochen. »So sehr sie auf Ordnung in ihren Zimmern sieht und bei meinen kostbaren Töpfen – denn die hält sie in Ordnung wie der beste Gallerie-Inspektor – so macht ihr die Wildniß des Weges Vergnügen. Habe ich sie doch schon selbst wie einen kleinen Kobold lachen sehen, wenn sie am Eingang auf die Chaussee, hinter einem Gebüsche verborgen, zuschaute, wie Besucher, die kamen, zweifelhaft waren, ob der Weg auch wirklich zu uns führe. Und dann hat sie hier ihre Lieblingsplätze, wo sie halbe Tage mit ihren Büchern war, bald las, bald träumte.«
Auch daran dachte der einsame Reiter, als er bei den zusammengestürzten Ruheplätzen vorüber kam.
»Ich versichere Sie, Schwager,« hatte Herr von Braachen oftmals gesagt, der es außerordentlich liebte, von seiner Tochter zu reden, »das ist ein ganz sonderbares Kind; wenn rechts oder links am Wege ein neues Reis aufschießt, das pflegt sie, als wenn es ein kostbarer Baum wäre.«
George von Breda betrachtete dahin reitend alle Stauden an der Straße mit dem größten Nachsinnen. War es ihm doch, als sähe er ihre leichte elastische Gestalt durch die Stämme schlüpfen und bemerkte, wie ihre feinen Finger durch die Zweige führen.
Namentlich hatte Herr von Braachen durchaus nichts von einer Wiederherstellung der beiden Pfeiler an der kleinen Brücke wissen wollen, die am Ende des Waldweges lagen, wo dieser auf den ehemaligen Park mündete.
»Das hat Eugenie,« sagte er lachend, »geradezu verboten; da darf man keinen Stein anrühren, den Platz liebt sie über alle Maßen. Sie sagt, es sei ihr Thurm, ihr Luginsland, wo sie nach den Freunden ausschaue, die zum Besuche kommen. Und das werden Sie selbst am besten wissen,« hatte er hinzugesetzt, »denn unter zehn Mal, wo Sie kommen, lieber Schwager, sitzt das Mädchen neun Mal auf der Steinbank an dem Wassergraben und wartet auf Sie; sie freut sich ungeheuer, wenn sie Ihr Pferd von Weitem galoppiren hört.«
An der kleinen Brücke bei den beiden verfallenen Steinpfeilern hielt der Reiter sein Pferd an und dachte am lebhaftesten an das, was ihm der alte Herr so oft über den verfallenen Waldweg gesagt und was er selbst erlebt. Ja, wenn er in seinen Erinnerungen Jahre zurückging, und sich seine vielen Ritte hieher vergegenwärtigte, so dachte er wieder, was er auch damals immer gedacht: Ob das Kind wohl auf der kleinen Steinbank sitzen wird? Und darauf ließ er sein Pferd in vollem Laufe gehen und freute sich jedes Mal, wenn er ein helles Gewand durch die Zweige schimmern sah.
Das war anfänglich die kleine Eugenie, die in die Hände schlug und ihm entgegen jubelte, und wie sie auch nach und nach empor wuchs und ein schönes blühendes Mädchen wurde, so saß sie nicht minder auf der kalten Steinbank und rief ihm fast jedes Mal entgegen: »Onkel George, du warst lange nicht da!« oder: »Onkel George, du kommst heute recht spät!« Das Kind hatte er alsdann vor sich aufs Pferd genommen, und wie hatte sie sich gefreut, wenn er dann über die hallende Brücke hinweg durch den verwilderten Park im vollen Galopp mit ihr bis vors Haus sprengte!
Endlich war Eugenie zu groß geworden, um sie vor sich aufs Pferd zu nehmen, und da machte er ihr häufig das Vergnügen und ließ auf ihre Bitten den Reitknecht absteigen, saß aber häufiger selbst ab, und dann ritt sie auf seinem Sattel oft so wild davon, daß ihm Angst und bange wurde.
Während der Baron alles dieses vor seinem Geiste vorüber gehen ließ, war er auch heute wieder von seinem Pferde abgestiegen, und wie in gänzlicher Vergessenheit schaute er um sich her, ob sie nicht hervortreten würde, den Hals des Pferdes streicheln, und, wie das schöne Mädchen in der letzten Zeit oft zu thun pflegte, ihren Arm in den seinigen schieben, um fröhlich plaudernd mit ihm nach dem Schlosse zu gehen.
Aber sie konnte ja nicht da sein; hatte er doch ihren Ruf vernommen, als er vom Hause weggeritten, und gestand sich jetzt, daß er absichtlich davon gesprengt war, ohne sich umzuschauen. Er setzte sich auf die kleine Steinbank, genau auf denselben Platz, wo sie gewöhnlich gesessen, und da es ihm warm geworden, nahm er seinen Hut ab und lehnte die heiße Stirn an die kühlen Steine des Pfeilers. – Ah! sie mußten wohl feucht sein, diese kalten Steine, denn als sich George von Breda nach längerem Hinträumen mit einem Male wieder aufrichtete, war sein Gesicht naß geworden – natürlicher Weise von den nassen Steinen. – So schien er selbst zu glauben, denn er faßte unwillkürlich mit der Hand dorthin, sagte aber darauf plötzlich, wie sich besinnend, mit einem sehr schmerzlichen Ausdruck in den Zügen: »Es ist das keine Schande; hat doch der harte Stein, an den sie so oft ihr Haupt gelehnt, ebenfalls geweint. Gewiß mit vollem Rechte; denn sie ist lange, lange nicht hier gewesen, und wer kann ihre Abwesenheit ruhig ertragen?«
Hierauf stand er langsam auf, hängte den Zügel von Lord über den Arm und trat über die Brücke in den verwilderten Park. Die Fläche mit einzelnen Partien alter, riesenhafter Bäume kam ihm heute ausgedehnter vor als sonst, was natürlich war, da auch das Unterholz nun seine kahlen Aeste zeigte und so eine weitere Aussicht gestattete. Die Natur schien still zu stehen und sich zu besinnen, ob es jetzt genug mit dem Winter und ob man jetzt so weit auf das Frühjahr hoffen könne, um die zarten Gräser und Knospen aus ihrem Gefängniß zu entlassen. Der Sonnenschein der letzten warmen Tage war verführerisch gewesen, weßhalb man hier und da schon ein vorwitziges Gras sah und selbst in der Entfernung an den Bäumen zu bemerken glaubte, wie ein eigener Schimmer, ein Duft sich um die nackten Aeste gewoben hatte und anfing, deren scharfen Contouren ihre Härte zu nehmen.
Dieser Duft des Vorfrühlings hat etwas unaussprechlich Angenehmes, ja, Rührendes – das unmerkliche Oeffnen dieser Tausende von Knospen, ein Blinzeln der Blätter durch die schützende Umhüllung, eine Frage an den Wind, der vorüberstreicht, ob es jetzt nicht bald genug sei mit Schnee und Eis. – Und dieser Flor, dieser Duft wechselt bei gnädigem Frühjahr von Tag zu Tag aus leichtem Grau ins Bräunliche, dann in Dunkelviolet, das täglich massiger wird und zuletzt einen sanften, Anfangs unbestimmten grünen Schimmer zeigt. Bis hierhin reichen die ersten schüchternen Versuche der kindlichen Blätter; haben sie das erst glücklich überwunden, dann können sie sich vor Freude nicht mehr halten, reißen gewaltsam die Knospen aus einander und purzeln so vergnügt heraus, daß man oft, namentlich nach einem warmen Regen, in der That glauben möchte, man könne ein fröhliches Juchhei hören.
Der Baron von Breda hatte schon oft hier auf diesem Platze den Winter schwinden, den Frühling kommen sehen. Und jedes Mal hatte er mit der ganzen Natur so gern das behagliche Gefühl getheilt, welches durch alles, was da lebt und webt, hindurch zu strömen scheint. Heute dagegen war es ihm zu Muth, als sollte der Herbst kommen, und das rührte wohl daher, weil er sich gern eines Tages des letztvergangenen prachtvollen Herbstes erinnerte, wo er sich auf derselben Stelle befunden, wo die Sonne gerade so am Himmel gestanden wie jetzt; wo sie auch drüben ihre goldenen Lichter auf die mächtigen Stämme der Bäume gezeichnet, wo sie das gelbe Laub am Boden erglühen ließ wie heute, wo ein ebenso leiser Wind die vertrockneten Blätter vor sich hinflattern ließ und mit den Gräsern spielte, deren glatte Fläche dann so eigenthümlich im Sonnenlichte glänzte. Ja, die ganze gelbgraue Färbung war an jenem Herbsttage gewesen wie heute, und doch hatte George von Breda damals, wenn auch sinnend, doch freudig, fast glücklich den langen Winter mit seinen Nebeln, seinem Schnee und Eis entgegengesehen, während er heute, wo sich Alles zu einem fröhlichen Erwachen anschickte, tief betrübt und unglücklich dem kommenden Frühjahr entgegen sah.
O, warum tragen wir in unserem armen Herzen die Trauer überall hin und nehmen den Frieden von Wald und Thal durch unsere kleinen und großen Leiden!
Indem George von Breda langsam weiter schritt, sann er darüber nach und suchte vergeblich zu ergründen, ob die Unterredung mit seiner Frau heute Morgen, Eugenie und den Baron Fremont betreffend, so ohne allen Grund aus deren Kopf entsprungen sei, ob Fremont über dieses Projekt noch gar nicht nachgedacht oder ob er durch ein Wort, einen Blick, den Frau von Breda aufgefaßt, dazu Veranlassung gegeben habe. Er hatte nichts bemerkt und sagte sich kopfschüttelnd: Was mich beruhigt, ist, daß Fremont ein vortrefflicher Rechner ist und mir schon oft gesagt hat, es würde für ihn nicht angehen, eine Frau ohne Vermögen zu heirathen. – Spekulirt er vielleicht, weit voraussehend, auf das Geld meiner Frau und denkt, ich würde den gutmüthigen Onkel machen, und mich bei Lebzeiten schon beerben lassen? – Für Eugeniens Glück? – – Ah, das ist ein Gedanke, der mich beim ersten Ergreifen toll machen könnte und doch wieder etwas Tröstliches hat. – Ich habe von meiner Frau nie etwas erbeten, setzte er düster nachsinnend hinzu, aber wenn eine Heirath mit Fremont das Glück des Mädchens ausmachen könnte, da würde ich sie auf meinen Knieen anflehen, als Mutter für sie zu sorgen. – Ja, wenn Eugenie Fremont liebte! – Bah, Unsinn! sie kennt ihn nicht. – Das heißt, sie sah ihn oft genug, und wer vermag das Herz eines Mädchens zu ergründen! – Dieser Fremont! weg, weg mit diesen höllischen Gedanken! Denke ich so oder denke ich so, es ist für mich Alles gleich entsetzlich. – Wohin ich blicke, finstere Nacht.
Der Baron hatte bei diesen Gedanken seine Hände erhoben und drückte sie fest an seine Schläfe, als er mit einem Male, obgleich durch den weichen Grasboden gedämpft, den Galoppschlag der Hufe eines ihm entgegen kommenden Pferdes vernahm. Rasch blickte er auf und sah in demselben Augenblicke auch schon einen Reiter einige Schritte von sich pariren und hörte eine lustige Stimme, die ihm zurief:
»Da kann man Jemand sehen, der seine Zeit nach allen Richtungen zu genießen versteht. Es ist bei Gott eine vortreffliche Idee, an diesem herrlichen Tage im milden Sonnenschein, nachdem man sich müde geritten, zu Fuß zu gehen. Man kann immer von dir lernen.«
Es war Herr von Tondern, der also sprach und dabei, ungenirt aus dem Sattel rückend, den rechten Steigbügel vom Fuße fallen ließ.
»Es wird Einem fast zu warm,« fuhr er fort, indem er seinen Hut abnahm; »wenn man scharf reitet, so spürt man wahrhaftig schon die Kraft der Sonne. – Aber wo willst du hin? – doch ich brauche das eigentlich nicht zu fragen,« meinte er lächelnd; »du bist im Begriff, deiner liebenswürdigen Schwägerin einen Besuch zu machen.«
George von Breda nahm sich zusammen, nickte mit dem Kopfe und entgegnete: »Um das zu wissen, brauchst du allerdings nicht viel von deinem gewöhnlichen Scharfsinn aufzuwenden. Du stehst mich in den Grenzen des Gutes; dort zwischen den Bäumen blickt das rothe Gebäude hervor.«
»Es ist wahrhaftig schade,« gab Tondern zur Antwort, »daß du nicht früher geritten bist; wir hätten die kleine Tour zusammen machen können.«
Er schlug dabei, außerordentlich gleichgültig aussehend, mit der Reitpeitsche nach einem welken Blatte, das den Winter überdauert hatte und nun vor dem Hauche des Frühlings herabflatterte.
»Du warst auch dort?« fragte George von Breda.
»Ja, ich habe einen Besuch gemacht,« entgegnete Tondern, »was ich leider nur in großen Zwischenräumen thue. Und ich sage jedes Mal: leider! so oft ich von dort komme. Deine Schwägerin ist und bleibt doch eine höchst interessante, eine geistreiche Frau. Schade, daß sie sich von der Welt zurückzieht. Ich bitte, ihr zu bemerken,« fuhr er lustig fort, »daß ich mit Entzücken von ihr gesprochen. Es ist das ein Freundschaftsdienst, den du mir erzeigen kannst, und stehe ich zu allem Gleichen gern bereit.«
»Und wenn ich es thue, was kann es dir nützen?« sagte der Baron mit einem ernsten Blicke.
»Nützen? nützen?« fuhr der Andere lachend fort. »Den Teufel! du kennst meine Schwäche, guter George, mit der ganzen Welt auf gutem Fuße zu stehen. Und dann, Scherz bei Seite, ich verehre deine Schwägerin!«
»Seit wann?« fragte der Baron von Breda ziemlich kurz, da ihn ein unangenehmes Gefühl bei der Begegnung Tondern 's, des vertrauten Freundes vom Baron Fremont, gerade auf diesem Terrain überschlichen.
»Seit wann? komische Frage! Hast du je aus meinen Reden oder aus sonst etwas entnehmen können, daß ich Frau von Braachen nicht nach Verdienst verehre? – Aber, Teufel! lieber George, du siehst verdrießlich aus, du bist schlechter Laune – was fehlt dir?«
»Mir? ganz und gar nichts,« gab der Baron zur Antwort, indem er mit seinem gewöhnlichen, ruhigen Gesichtsausdruck den Andern fest anschaute. »Meine Laune bleibt sich, Gott sei Dank! immer gleich. Ich spazierte langsam dahin und dachte an Dies und Das.«
Als er dies gesagt, ärgerte er sich über sich selbst, weil seine Worte wie eine Entschuldigung klangen, die er Tondern gegenüber am allerwenigsten nothwendig zu haben glaubte.
»Ja, nachdenkend warst du,« meinte Tondern; »ich sah dich schon lange, ehe du mich bemerktest, du gingst sehr gebückt und berührtest mit den Händen deine Stirn. Du hast vielleicht Kopfweh?«
»Auch ein wenig. – Also ich finde meine Schwägerin zu Hause?« fragte er nach einer kleinen Pause.
Herr von Tondern hatte mit dem rechten Fuß nach seinem Steigbügel geangelt und antwortete, indem er sich darauf wieder in den Sattel zurecht setzte: »Alles zu Hause; ich habe den alten Herrn mit einem Scherben glücklich gemacht, wodurch ich zweien Menschen eine freilich ganz verschiedene Emotion verursacht, deinem Schwager, der sich darüber gefreut, und unserm unruhigen Legationsrath, der sich ärgern wird, da ich ihm das Geschirr entwendet. – Man muß sich in der Welt zu helfen wissen,« setzte er laut lachend hinzu.
»Jeder nach seinem Geschmack,« meinte George von Breda. – »Behüte dich Gott!«
Damit grüßte er mit der Hand und schritt neben seinem Pferde dem Hause zu.
Herr von Tondern blieb noch einen Augenblick halten, um dem Baron kopfschüttelnd. nachzuschauen, dann galoppirte er davon, indem er zu sich selber sprach: Was Teufel ist dem George in die Krone gefahren? Sollte Fremont ein verfluchter Kerl gewesen sein, sollte er vielleicht allzu bemerkbar gegen Eugenie den Niedlichen gespielt haben? Es sähe seiner Dummheit ähnlich. Und wenn dem so ist, hat er vielleicht in aller Einfalt klug gehandelt. – Gott ist zuweilen stark in den Schwachen.
Er ließ sein Pferd so viel wie möglich ausgreifen, um den für ihn so langweiligen Waldweg recht bald hinter sich zu haben.
Als George von Breda dem Hause näher kam, blieb er einen Augenblick stehen, wandte sich um und dachte seinerseits: Was hatte Tondern hier zu schaffen? Mir scheint es wahrhaftig, als wenn Julie nicht ohne Einwirkung von jener Heirath gesprochen. Sollte da nicht am Ende ein kleines Complot bestehen? – Ah, wir wollen das bald erfahren.
Kurze Zeit darauf hatte er den Hof erreicht und fand Francis, der ganz gegen seine sonstige Gewohnheit eilfertig herbeigekommen war, um dem Baron das Pferd abzunehmen. Doch dankte ihm dieser mit einer kurzen Handbewegung, und da er nicht Lust hatte, den edlen Lord der Pflege des Italieners zu überlasten, so brachte er das Thier selbst nach dem Stalle und sorgte dort für dasselbe, ehe er in das Haus eintrat.
Der Besuch war indessen schon von droben bemerkt worden, und Herr von Braachen bewillkommte seinen Schwager an der Hausthür.
Das Aeußere des alten Herrn war nach dem Winter gerade so, wie es vor demselben, als wir seine Bekanntschaft gemacht, gewesen war; nur schien sein ziemlich nachlässiger Anzug noch etwas mehr von der Farbe des Rostes angenommen zu haben, und sein Gesicht war fast noch grünspanartiger geworden; doch glänzten seine Augen in der bekannten Herzlichkeit und Güte. Er hatte sich gerade mit seinem roth carrirten baumwollenen Schnupftuche beschäftigt, das er nun eilig in eine der Taschen seines Rockes zurückbrachte, um beide Hände dem Gaste darreichen zu können.
»Freut mich außerordentlich, freut mich recht sehr, daß Sie wieder einmal kommen, nach uns zu sehen. Das soll aber kein Vorwurf sein, denn Sie waren vorige Woche noch hier, sondern ich will Ihnen damit nur anzeigen, wie angenehm für uns es immer ist, sobald Eins von euch kommt, vor allen Sie. – Was macht denn Eugenie?« fragte er darauf mit großer Herzlichkeit, beantwortete sich aber gleich darauf diese Frage selbst, indem er hinzusetzte: »Sie wird vollkommen wohl sein; war sie es doch vorgestern, als sie mit Ihrer Frau da war. Nun, habt ihr noch nicht genug, an dem Wildfang? Daß sie in dem Hause, wo sie ist, einen gehörigen Lärm macht« – das sprach er fast traurig, obgleich er dabei lächelte – »weiß ich am besten; denn seit sie nicht mehr da ist, ist es bei uns sehr still geworden, feierlich wie in einer Kirche. – Das macht aber auch der Winter,« meinte er gutmüthig; »jetzt wird es ja Frühjahr, da kommen mehr Leute zu Besuch, und dann singen die Vögel wieder, das belebt.«
Damit waren die Beiden durch das verfallene Haus die Treppe hinauf gestiegen und hatten sich dem Zimmer der Frau von Braachen genähert, die ihrem Schwager entgegen kam, ihm die Hand reichte und ebenfalls ihre Freude aussprach, ihn zu sehen.
Dem alten Herrn hatte der Baron auf seine Fragen und Reden nicht viele Antworten gegeben, höchstens dazu mit dem Kopfe genickt, und erwartete derselbe auch nicht viel Anderes; er liebte es, das, was er dachte, oft ohne gar zu viel Zusammenhang, in Worten von sich zu geben, und Eugenie hatte ihn in dieser, einigermaßen üblen Gewohnheit noch bestärkt, da sie sich in ihrer Liebe und Güte alle Mühe gab, die laut ausgesprochenen Gedanken ihres Vaters durch ihre Bemerkungen im Zusammenhänge zu erhalten.
Alle Drei, der Baron, der alte Herr und Frau von Braachen, traten nun in das uns bekannte Zimmer mit dem einzigen großen Fenster, welches auf die schöne Waldpartie und den stillen, dunklen See ging.
Sowohl im Zimmer selbst, als draußen in der Landschaft war Alles beinahe ebenso, wie wir es damals gesehen: die entlaubten Bäume, heute im gleichen Lichte, mit denselben phantastischen Zeichnungen auf ihren weißgefleckten Rinden, die gewundenen Fußpfade, sich geheimnißvoll in dem Dickicht verlierend, der Nachen, unbeweglich an derselben Stelle, sich in dem klaren Wasser spiegelnd, – nur Eines fehlte heute: ihr liebes Auge, ihre schöne Gestalt, ihre helle, klare Stimme mit dem vergnügten Lachen, kurz, das Leben, welches sie, wie der alte Herr ganz richtig sagte, in das Haus zu bringen pflegte, wo sie sich befand. Es war allerdings ein wenig still und feierlich in dem alten Gebäude.
Frau von Braachen setzte sich vor ihren Kamin, und Baron Breda ließ sich ihr gegenüber nieder. Sie sah nicht so aus, wie das letzte Mal, wo er da gewesen; ihr Teint war noch durchsichtiger, der Blick müder und der krankhafte Reif um die Augen hatte sich noch dunkler gefärbt; auch hustete sie leicht in das Sacktuch hinein.
George von Breda wandte seinen Kopf gegen den alten Herrn, der sich im Hintergrunde des Zimmers befand, dort aufmerksam etwas betrachtend, und sagte: »Was machen die Sammlungen, Schwager? Haben Sie was neues Interessantes gefunden?«
»Bis heute nicht,« gab dieser zur Antwort. »Sie wissen ja, es geht mir wie den Kindern, Sommers suchen sie Steine, aber wenn der Boden zugefroren ist, müssen sie es bleiben lassen; ich kann mit ihnen singen:
Winterzeit – harte Zeit,
Schnee, der liegt da weit und breit.
Aber heute,« fuhr er triumphirend fort, »bin ich für langes Darben entschädigt worden. Schauen Sie her.«
Er kam aus seinem Winkel hervor und hielt in der Hand einen kleinen irdenen Krug von äußerst zierlicher Arbeit.
»Das ist echt,« sagte er mit strahlenden Blicken, »ein etruskisches Gesäß, mit wunderbaren Verzierungen; Herr von Tondern hat es mir gebracht – ein charmanter, angenehmer Mann.«
Baron Breda schaute nicht ohne Absicht fragend auf seine Schwägerin, die mit einem sehr gleichgültigen Blicke bemerkte: »Tondern war vor wenigen Augenblicken hier; Sie müssen ihm ja begegnet sein. Er hat das kleine Gefäß mitgebracht.«
»In der That etwas Kostbares,« sagte der alte Herr mit bestimmtem Tone, indem er seinen Schatz mit großer Aufmerksamkeit in den Händen drehte und von allen Seiten betrachtete. »Aber das Merkwürdigste und für mich Interessanteste an der Sache ist die seltsame Art und Weise, wie Herr von Tondern zu dieser kleinen Vase gekommen.«
Der Baron, welcher die seltsame Art und Weise genau kannte, konnte sich nicht enthalten, über die Worte seines Schwagers zu lächeln.
»Wissen Sie,« fuhr dieser fort, wobei er leicht mit dem gekrümmten Finger auf das Gefäß klopfte und sich an dem Klange desselben erfreute, »wenn man das von Italien daher schickt, so hat es am Ende für uns kein übermäßig großes Interesse. Aber was glauben Sie wohl? – es ist hier gefunden.«
»Hier gefunden?« fragte Herr von Breda.
»Hier gefunden!« wiederholte triumphirend der alte Mann. »Herr von Tondern hat mir das ausführlich erzählt; es war ein reiner Zufall, welcher ihm die kleine Vase in die Hände spielte. Er ist nämlich den Weg durch den Wald hieher geritten; man kommt da bei einer Niederung vorbei, wo ich schon oft die untrüglichsten Spuren einer Römerstraße gesehen. Da, in dieser Niederung, befindet sich eine Lehmgrube, wo gerade Arbeiter beschäftigt waren, welche dieses kleine Gefäß ausgruben im Augenblicke, als Herr von Tondern vorbei ritt. Ist das nicht merkwürdig?«
»Höchst merkwürdig!«
»Daher ist mir die Vase auch von so großem Werth, denn wo sich das fand, da steckt noch viel mehr verborgen, und ich habe mir fest vorgenommen, nächstes Frühjahr, soweit meine Mittel reichen, dort Nachgrabungen anzustellen. Vielleicht stößt man auf eine römische Niederlassung, eine Villa, ein Bad oder etwas dergleichen. Denken Sie sich nur, wenn ich das Glück hätte, etwas Ordentliches zu finden, einige Statuen, einen prachtvollen Mosaikboden oder so etwas.«
Baron von Breda schüttelte mit dem Kopfe und antwortete, nicht ohne Beziehung, dem alten Herrn, wobei er aber Frau von Braachen von der Seite anblickte: »Nehmen Sie sich vor dem Tondern in Acht, bester Schwager, das ist ein Schalk; wer weiß, ob das Gefäß echt ist!«
»Was das anbelangt,« versetzte der alte Herr mit einem mitleidigen Lächeln, »so bin ich sehr competent; es ist echt, wie nur irgend etwas echt sein kann.«
»Zugegeben; aber ich glaube nimmermehr, daß Tondern es in der angegebenen Lehmgrube gefunden hat; der hat sich einen Spaß machen wollen und Sie zu Nachgrabungen veranlassen, an einem Orte, wo Sie in Ihrem ganzen Leben nichts finden. Er hat nun einmal die üble Angewohnheit, überall seine Späße zu treiben und die Leute irre zu führen.«
Die Dame des Hauses erhob ihren Blick und ließ ihn eine Sekunde über das Gesicht des Barons schweifen; dann nahm sie ihr Taschentuch vor den Mund und hustete leicht hinein.
George von Breda war die Unterhaltung über das kleine Gefäß recht willkommen gewesen; es gewährte ihm Zeit, sich zu sammeln, seine Emotion zu verbergen, ruhig zu scheinen und auch wirklich ruhiger zu sein; er fühlte, daß das seiner Schwägerin gegenüber nothwendig war.
Der alte Herr hatte seine Vase hoch empor gehoben, schüttelte den Kopf und sagte: »Daß die echt ist, darauf will ich mein Leben lassen. Was das Andere anbelangt, so kann es sein, kann aber auch nicht sein. – Ich glaubte,« setzte er zögernd und mit einem fast bittenden Blick auf seine Frau hinzu, »man sollte im Frühjahr doch einmal in der Lehmgrube nachgraben lassen.«
»Das würde ich auch thun,« meinte diese in sehr ruhigem Tone. »Vielleicht findest du doch etwas Interessantes.«
Auf das hin verließ der Hausherr, eine alte, sehr unbekannte Melodie summend, das Zimmer, um seinen Schatz zu anderen ähnlichen Dingen zu bringen, worunter sich aber ziemlich viele werthlose Scherben befanden.