Karl Gutzkow
Unter dem schwarzen Bären
Karl Gutzkow

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Lehr- und Wanderjahre

Blick in die dreißiger Jahre

Der Strom der Zeit geht nicht so schnell, wie sich aus Strudeln heraus, an Klippen vorüber die Erinnerung, die Darstellung entwindet! Träge, träge schleicht die Stunde! Auch jene Stunde, von welcher Shakespeare seinen Macbeth so wahr, so erquickend sagen läßt, »sie rinne auch durch den rauhsten Tag!« Ja, die Stunde bringt Milde, Frieden, Balsam. Aber sie rinnt langsam und feierlich. Dem Unerwarteten, Plötzlichen geht jene lange unheimliche Stromfahrt voraus, die auf den amerikanischen Flüssen so ergreifend sein soll, wenn sich der Nachen des sich dem Tode weihenden Indianers auf glattem Spiegel dem Niagarafall nähert . . .

Trübe Herbsttage waren im Jahre 1831 über Berlin gekommen. Totenstille herrschte in den Straßen. Der »asiatische Gast«, die Cholera, hatte zum erstenmal Europa berührt. Nichts hatte die Annäherung zurückhalten können. Keine Absperrung gegen Rußland und Polen, kein »Cholerakordon« in der Provinz Posen, der, da er zugleich Kordon gegen die Pest der Revolution sein sollte, die soeben in Polen nach den mörderischen Schlachten von Ostrolenka und Praga von Paskiewitsch niedergeworfen war, dem dazu verwendeten Militär als Kriegsjahr angerechnet wurde; umsonst, die Geißel Gottes, wie sie auf den Kanzeln genannt wurde, war da und sogar in Berlin, in der Hauptstadt der Intelligenz, einer Stadt, wo Schinkel und Rauch und Humboldt lebten und das abstrakte Denken die Materie vergessen lehrte! Schleiermacher fand diesen Gegensatz zwischen Geist und Mensch so fürchterlich, daß er darüber krank wurde, und Hegel erlag ihm unmittelbar.

Trüber Gedanken voll stand ich in einer von den Straßen Berlins, wo es empfindliche Gehörnerven jetzt vor dem Geräusch der Wagen nicht aushalten können. Damals wuchs in der Kochstraße ländlich ungestört Gras. Berlin zählte wenig über 200 000 Einwohner. Dennoch war die Zahl der täglichen Opfer, welche die Cholera fortraffte, schon auf 200 gestiegen. In jedem Viertel gab es Choleraspitäler. Diesen wurden die Kranken in langen mit Wachstuch überzogenen Körben überantwortet. Die Begräbnisse fanden des Nachts statt. Man hatte sich auf eine Haltung eingerichtet, wie sie im Mittelalter stattgefunden haben mochte, wenn die Pest hereinbrach. Alle Träger und sonstige Bedienstete beim Transportgeschäft trugen grüne wachstuchene Überkleider. Alles, was man berührte, roch nach Chlor.

Friedrichsbrücke mit Blick zum Dom

Friedrichsbrücke mit Blick zum Dom

Wer Berlin verlassen konnte, entfernte sich. Auch für mich galt es damals, an der totenstillen Friedrichs- und Kochstraßenecke Abschied zu nehmen. Dort wohnte der Gegenstand meiner Liebe; dort auch der Freund, der mir noch einige Schritte vom Hause Nr. 70 das Geleit gab. Das Segel sollte gelichtet, die hohe See des Wagens und Erprobens der jugendlichen Kraft befahren werden. Die Blüte der Studentenzeit war schon lange verwelkt; jetzt vollends, wo alles »Mäßigkeit« predigte. Die Vorlesungen waren verödet, die Professoren einsilbig. Professor Hecker, der eine Geschichte der Medizin geschrieben, Monographien über den »Englischen Schweiß«, über die Flagellantenwahnkrankheit, war in aller Munde. Was konnte nicht noch alles kommen an ähnlicher Ekstase! Schon hatte es Aufruhr um die Brunnen gegeben. Die Reichen vergifteten diese, hieß es, um die Armen zu vertilgen. Die Berufungen auf den Zorn des Himmels, die öffentlichen Voraussetzungen von der Kraft des Gebetes wurden unerträglich.

Bürger und ich, ein Kreis Kommilitonen, schon von der Schule her verbunden, hatten ein »burschenschaftliches Kränzchen« errichtet, das sich jeden Samstag an einem stillen lauschigen Platze in der Splittgerbergasse in der Nähe der Freimaurerloge »Zu den drei Weltkugeln« versammelte. Ein versteckt liegender Garten, den ein Bretterzaun vom Kultus der eleusinischen Geheimnisse trennte, ein Wirtshaussaal hatten uns Gelegenheit geboten, Gebrauch zu machen von dem mehrerwähnten »Überschuß an Stimmung«. Dieser Überschuß, der dem delphischen Orakelspruch (und hoffentlich auch der Freimaurerei) Ne quid nimis! vollständig widerspricht, beherrschte die jugendliche Seele. Wo soll diese hin mit ihrem Feuer, ihrem Bedürfnis zu lieben, zu bewundern, sogar zu trauern, sogar zu weinen? Im Alter ist es unbegreiflich, woher die hochgespannte Feierlichkeit genommen werden konnte, die den »Landesvater« (wir substituierten das »Vaterland«), den »Fürst von Thoren«, die Rundgesänge »Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust –«, »Bruder, deine Schöne heißt?« und ähnliches mit so urkräftiger Stimme sang? Woher der pedantische Ernst kam, der den ganzen Gang eines Kommerses durchführte? Die Art des Vor- und Nachtrinkens, dann einige Duelle, die zwar nicht aus unseren eigenen freundschaft- und liebeumschlungenen Kreise selbst hervorgingen, aber doch aus andern Sphären in die unsrigen hereinragten und diesen oder jenen als »Losgehenden« oder »Sekundanten« oder »Unparteiischen« betrafen, alles das waren hochwichtige Dinge, wie ein Vorspiel zu den Kongressen von Wien und Verona. Einzelne Charaktere, ein liebenswürdiger gescheuter Nordalbingier, Meyer aus Ratzeburg (später Professor in Riga und Hamburg), gaben diesen Umständlichkeiten eine phantastische Weihe, die imstande war, sie mit Schelling, Hegel, Barbarossa, Max von Schenkendorf und dem Nibelungenhort in Verbindung zu bringen. Unser Liederbuch war das bekannte Serigsche von Leipzig. Jener »Überschuß an Stimmung« – oder soll ich sagen die Selbstaufstachelung zur Rührung? – ging bei einzelnen Versen des Liedes »Wir hatten gebauet ein stattliches Haus« bis zu Tonschwingungen, wie sie etwa bei den amerikanischen Shakers stattfinden mögen, wenn diese im Begriff stehen, den Himmel offen zu sehen. Ein Glück, daß der kräftige Boden der Gläser, wenn diese aufgestampft wurden, als Ableitung des Furore dienen konnte. Schon bei den Worten »Und drin auf Gott vertrauet trotz Regen, Sturm und Graus« hob sich die Stimme zu einem anabaptistischen Tremolo. Es galt das Los der Burschenschaft und ganz Deutschlands. »Die Form ist zerfallen, der Geist lebt in uns fort –« Alle Schleusen im Gemüt öffneten sich, die Jean-Paulsche Idealwelt, die Fixsternanschauung seiner in Regenbogenfarben getauchten Helden schien über uns gekommen. Kein Blick wurde auf die Tür gerichtet, ob nicht etwa der Universitätspedell kam und uns sämtlich unsre »Erkennungskarten« abforderte. Überhaupt, wenn der Deutsche Choral singen kann (»Lieb' Vaterland kannst ruhig sein –«) und sich selbst in Rührung versetzt und dabei an seine Mutter denkt, ist er der größten Dinge fähig. In spätern Jahren begegnete ich dem Verfasser des oben zitierten Liedes, August von Binzer, einem gebornen Holsteiner, in Augsburg. Der Kontrast meiner jugendlichen Überschußstimmung beim Singen seines Liedes mit dem Staunen über die veränderte Haltung des Dichters, vielleicht auch des Zeitgeistes, ließ sich ihm selbst nicht aussprechen. Die Sphäre, die den ehemaligen Kieler Demagogen umgab, fühlte sich als die maßgebendste nach jeder Richtung. Die Gemahlin desselben, eine geistvolle Dame, die anfangs unter dem Namen Beer, später als Ernst Ritter talentvoll geschriftstellert hat, war im Besitz der besondern Freundschaft des österreichischen Dichters Christian von Zedlitz gekommen, und dieser, ein Vertrauter des Fürsten Metternich, hatte den Kreis der Familie, hatte alle Beziehungen des alten Burschenschafts- und Wartburgshelden – auf den Fuß österreichischer und die Wiener Adelsozietät über alles erhebende Voraussetzungen gestellt!

Der Abschied in der Kochstraße wurde nicht wegen der Cholera vollzogen. Er würde auch unter minder düstern Umständen stattgefunden haben. Der Drang der Opposition gegen den absoluten Beamtenstaat hatte mir jeden Eindruck, den mir noch Berlin gewährte, verleidet. Schon hatte der Schriftsteller das Ei durchbrochen und führte die Feder gegen Dinge, gegen welche sich damals, ein Jahr nach der Julirevolution, im Zeitalter der Einkerkerungen, Amtsentsetzungen, Verbannungen, überhaupt schreiben ließ. Die strengsten Zensoren überwachten jeden gedruckten Buchstaben; jede Anzeige im »Intelligenzblatt« wurde geprüft, ob nicht etwa eine versteckte politische Anspielung dahinter enthalten war. Unbegreiflich und nur zu erklären durch die mir zugewendete Gunst des so allgemein gefürchteten Ministers von Kamptz gestattete man mir auf eine Eingabe, die ich ans Ministerium richtete, ein Journal herauszugeben (»Forum der Journalliteratur«), worin mir freigestellt wurde, sogar über Religion und Politik zu schreiben. Ein Kammergerichtsrat Bardua wurde dem Studenten als Zensor bestellt. Die Kosten dieses ersten Durchbrechens des Eies gingen aus meiner Tasche. Unter den Linden, im Hinterhofe des damaligen ersten Restaurants Berlins, des »Traiteur« Jagor, betrat ich zum ersten Male eine Druckerei, die sich mit mir beschäftigte. Sonst war ich schon als Knabe in die schwarze Kunst eingeweiht. Ich hatte den eigentümlichen Duft einer Druckerei zuerst bei einem Verwandten kennengelernt, der sich sogar um die Herstellung einer neuerfundenen Walze, zum Anschwärzen der Lettern, Verdienste erworben hat. Hier bei Konrad Feister, so hieß mein eigner Drucker, sollten nun die Druckfehler mir selbst gelten! Und welch milde Zensur! Der Kammergerichtsrat strich nichts. Denn ich verschmähte die Freiheit, über die Kabinette von Petersburg und Wien zu schreiben. Mir schien denn doch, als würde die gewährte Freiheit Brombeeren gleichen, die von zuviel Brennesseln umgeben sind. Mit echtem Philologenstolz ließ ich das Blatt, um es den Engländern und Franzosen lesbarer zu machen, mit lateinischen Lettern drucken. Im wesentlichen war meine Aufgabe die, den Mann meines Herzens, Wolfgang Menzel, gegen die Angriffe seiner Gegner in Schutz zu nehmen. Es waren Ergüsse der reinsten Hingebung an eine Auffassung der Literatur, die mir zur Alleinherrschaft auf kritischem Gebiete berufen schien. Natürlich war ich nur Romantiker. Die neu aufgekommenen diabolischen Schnörkel, die Heinrich Heine an das Ende seiner Gedichte setzte, konnte ich nicht leiden, noch weniger die Literatur der Wortwitze und der Saphiriaden. Eine Einmischung in die Berliner Tagesliteratur, in die Fehden Saphirs mit seinen Gegnern, schien mir unter aller Würde eines Schriftstellers, der »mit der Milch des klassischen Altertums« gesäugt war – weshalb ich auch noch jetzt nicht begreife, wie sich die jungen Gelehrten Wilhelm Wackernagel und Karl Simrock damals in leichten Kaffee- und Teeblättchen, »Estafette«, »Courier«, gegen das einreißende »Judentum in der Literatur« so erhitzen konnten. Freilich war mir der Name Literatur nicht die Pflege von Balladen und Romanzen, nicht die Pflege von Novellen und Theaterstücken. Der Geist, aus welchem mir alles neugeboren werden zu müssen schien, wollte mir überhaupt nicht mehr im raschelnden Herbstlaub unter den Linden Berlins begegnen. Das Journal erreichte die Höhe von 70 Abonnenten. Es schlief ein. In Stuttgart wollte ich bei Wolfgang Menzel meine schriftstellerische Lehrzeit fortsetzen. Mein damaliger Stil jeanpaulisierte.

 

Reise nach Süddeutschland

Die erste Reise im Leben, die Reise eines Zwanzigjährigen, eine Reise vor fast fünfzig Jahren! Diese war denn auch abenteuerlich genug. Wie fliegt man jetzt dahin! Wie wenig Zeit gewinnt man, nachzudenken, Vorstellungsreihen auszuspinnen, aus Land und Leuten sich neue Erfahrungen zu sammeln! Die nächtliche Begrüßung Wittenbergs, der schnelle Lauf zu Luthers Standbild, das in geisterhafter Stille betrachtet wurde, drüben an der Kirche – eine Stallaterne leuchtete – die Tür, wo die Thesen angeschlagen waren –! Dann Halle! Überall bot die einfache »Fahrpost« Gelegenheit zur Ansiedelung. Aber überall auch visierten die Gendarmen die Pässe. Denn die polnische Revolution war gebändigt, »Warschau ruhig«; wer zu den Ausnahmen der am 1. November gegebenen Amnestie gehörte, ergriff die Flucht. Die Insurgenten wurden von den preußischen Behörden nicht ausgeliefert, doch auf bestimmte Straßen verwiesen, wo sie ihr Ziel, die Schweiz oder Frankreich, erreichen konnten. Die Einsprache Frankreichs, die unbefangene Objektivität Englands hatten den preußischen Staatsmännern denn doch zu Gemüt geführt, daß die Polenfrage unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der europäischen Politik zu fassen war. Im Verlauf der Reise, auf weimarischem Gebiet, kamen über Sachsen her, in Post und Beiwagen, Scharen von Flüchtlingen. Eine Epoche, die alles entbehrte, was ein Volk über seine wahren Interessen aufklären konnte, hatte natürlich nur einen idealistischen Standpunkt für die Polen. Realpolitik trieb selbst Friedrich von Raumer nicht, der die Geschichte der Teilung Polens erzählte. Ein gewesener Finanzminister, Biernazki, der sich in Naumburg mit uns verband, ließ sich mein leidliches Französisch zugute kommen, während einige thüringische Pastoren nur erfüllt waren von gleichzeitigen speziell deutschen Begebenheiten, halleschen Angebereien, evangelischen Kirchenzeitungsverketzerungen, Röhrs, Bretschneiders kräftigen Einsprachen. Erst die Nacht schnitt den Austausch der Meinungen ab. Weimar war erreicht. Es lag im tiefen Schlummer. Ein heiliges Grauen ergriff mich, als ich die Schieferdächer der stillen Stadt sah und unter einem derselben mir den damals noch lebenden greisen Goethe dachte. Erinnerungen an die klassische Zeit tauchten auf. Der Mantel wurde enger angezogen. Geisterhauch, Geniusnähe weckte Schauer. Wie haben sich nach dieser Richtung hin die Nerven abgestumpft! Kultus des Genius! Carlyle mit seinem Zeitalter der Heroenschaft! Lächerlich! Jetzt, wo sich jeder Bauernjunge photographieren läßt und im Budget der Familienväter die jährliche Wiederholung der Photographien zur Familienphysiognomiebeliebäugelung einen ansehnlichen Posten bildet! Narzissus, das ist der Heilige des Tages! Alle Welt scheint in sich verliebt! Und noch enger wird die Gemeinde des Kultus für den Genius loci! Ein mitgenommenes Blatt vom Grabe eines großen Menschen, eine Rose, die in Capri gebrochen, eine Muschel vom Strande der See auf den Shetlandsinseln – immer weniger werden dieser geisterhaften ahnungweckenden Akkorde der Windharfe im Gemüt, eines Instruments, das wohl auch unter den Bäumen eines Parks niemand mehr aufhängen mag.

Kaum hatte ich mir endlich zu Eisenach die Nachtruhe im »Rautenkranz« gegönnt, hatte noch abends zuvor die Wartburg zu erlugen gesucht, hatte mir vorgenommen, die Stelle aufzusuchen, wo 1817 beim großen Wartburgfeste die Burschenschaften den »Kodex der Gendarmerie« meines wohlwollenden Gönners von Kamptz, die Schriften von Schmalz, das Lindnersche »Manuskript aus Süddeutschland« und ähnliche Literatur verbrannten, als an meine Tür gepocht wurde und ein baumlanger weimarscher Husar eintrat, ganz so gekleidet, wie sich später die »Fliegenden Blätter« der weimarschen Husaren bemächtigt haben. »Sie müssen sofort das Großherzogtum verlassen!« hieß es. – »Warum? Hier ist mein Paß!« – »Sie kommen aus Berlin! Sie schleppen die Cholera ein!« – »Desinfizieren Sie mich! Betrachten Sie mein Gepäck! Riechen Sie nichts? Ich verbreite ja eine Atmosphäre von Chlor!« – »Hilft nichts! Sie müssen fort! Augenblicklich! Sie müssen zurück nach Gotha!« – »Was?« rief ich und sprang aus dem Bette. »Zurück? Nimmermehr!« – »Oder vorwärts! Wie Sie wollen! Nur aus unserm Lande hinaus!« Es blieb nichts anderes übrig, als einen Einspänner zu bestellen und mich sofort ins Kurhessische zu schlagen. Der Kurstaat, damals noch nicht unfreundlich gegen Berlin, hatte eine nur zehntägige Kontumaz vorgeschrieben. Zwei Tage außerhalb Berlins hatte ich erst aufzuweisen. Die übrigen acht mußte ich nun sehen, wie und wo ich sie herausbrachte.

Herrliche Novembertage, bitterkalt zwar, aber erfrischend und kräftig belebend! Eine köstliche Fahrt, so allein mit einem schnellgedungenen Führer des Gefährts, der die Furcht Karl Augusts, Goethes und des Kanzlers Müller (das war's doch wohl) vor dem Grauengespenst des Tages, einer noch rätselhaften Furie, nicht teilte, sondern mich wohlgemut mitten durch die roten Felsgesteine um Marksuhl, die Tannengründe, Erlenwälder, die malerisch gelegenen Dörfer, die Abdachungen des Thüringer Waldes nach Vacha und Hünefeld brachte! Wenig erinnerte ringsum an die schon vorgeschrittene Jahreszeit. Der Hemmschuh war in ständiger Bewegung. Denn zu unsern Füßen lagen Talsenkungen mit rauschenden Mühlwässern, noch üppig grünen Wiesen, einsam gelegenen Wirtschaftshöfen. Lange noch war die damals so prosaische Dachperspektive der Wartburg in Sicht. Ich sah die vermummten Reiter dahersprengen, die in diesen Bergen Luthern gefangen nahmen. Ich sah Bonifatius die Wodanseiche fällen. Einem Berliner Kinde, das bis dahin nur hinter Treptow oder am Spandauer Bock im Walde gelegen oder im damals noch verwilderten Tiergarten einsam auf giftiger Sumpfflora geträumt hatte, ging hier das Herz auf. All die Wunden, die ihm schon geschlagen, all der Druck einer schon seit sechs Jahren auf sich selbst gestellten Existenz, all die Leiden eines Geistes, dem nirgends wohltuende Anknüpfung geboten wurde, am wenigsten im Familienkreise, wo die Verblendung in Religions- und politischen Sachen täglich Szenen hervorgerufen hatte – alles war vergessen. An Busch und Baum, an Fels und Strom lehnte sich der jugendliche Mut mit seinem schon errungenen Besitz. Im Reiz des Neuen breitete sich auch das Herz aus mit seinen schon schweren Lasten. Alles bekam gleichsam sein spezifisches Gewicht, den wahren Gehalt, abgewogen gegen eine Welt, die man noch bisher nicht kannte. Und auch diese Erfahrung aus dem Geheimnis des Ortes machte sich, daß so vieles, was mir früher schreckhaft, vielleicht auch ratsam erschien, in Luft und Nebel zerging. Oder wem wäre nicht schon ein Vorsatz, den er in seinen vier Pfählen gefaßt hatte, in nichts vergangen, wenn er an einem inzwischen veränderten Orte des Aufenthaltes an dessen Ausführung gehen wollte! Die wahre Welt und ihre Größe erdrücken die Welt der vier Wände.

In unsern Tagen mag die korrektive Wirkung der Außenwelt auf etwa noch vorhandenen jugendlichen Idealismus noch stärker sein. Denn man fliegt von imposanter Realität zu Realität. Für mich gab es damals eine Kette kleiner Abenteuer. Die nächtliche Rast in einem Dorfe brachte im Wirtshause unter mir einen Tumult der zechenden Bauern und Knechte, der sich bis zum blutigen Kampfe steigerte. Ich eilte hinunter. Messer blinkten. Junge Dirnen, bildschön, schlank gewachsen, vom Tanz, vom Bescheidgeben beim Trinken erhitzt, warfen sich leidenschaftlich zwischen die athletischen Gestalten, rissen diese auseinander oder nahmen selbst Partei. Kaulbach und Piloty hätten Studien machen können. Es war lange nach Mitternacht, als endlich der hinter Wolken hervortretende Mond mit seinem sanften Licht das Bild des Schreckens zerstreute und alles beruhigt zu haben schien. Am Morgen strömte leider ein unermeßlicher Regen. Aber wir brachen auf. Gegen Mittag wurde (in dem Orte Raßdorf) ein Bauernhaus mit Scheune erreicht, in welches die Kontumazverpflichteten gesperrt wurden. Tabaksrauch, Bier- und Punschgeruch wallten mir entgegen. Die Tenne sogleich beim Eintritt war mit Streu belegt für die Handwerksburschen, die Treiber »verdächtigen« Viehs, das in entlegnerer Absperrung stand. Ein Seitenbau war ein geräumiges Haus. Da zankten schon oben wieder unter sich die Polen; andere saßen in dem einzigen größern Raume des Hauses und spielten Karten. Kosciuszco-Lieder wurden gesungen, Skrynezki-Märsche gepfiffen, »Noch ist Polen nicht verloren« – erscholl überall. Die Deutschen schwärmten mit den Kämpfern von Ostrolenka, und die gebräunten ausdrucksvollen Charakterköpfe fesselten in der Tat; teils durch die einschmeichelnde Weiche ihrer Rede im geradebrechten Deutsch, teils durch die Vorstellung von ihrem Mut, ihrer Entschlossenheit, die man beibehielt trotz eines fast weiblichen Niederschlags ihrer Augen. Zum Glück eroberte ich eine Kammer, die mir allein zu bleiben gestattete. Virtuose im Einsiedlerleben, ja Gourmand darin, fand ich in diesen acht Tagen eine wahre Wohltat. Die Worte einer sinnigen Dichterin, es sei ihr nur wohl,

»Wo mich niemand kennt,
Wo mich niemand nennt«

hab' ich ihr im Leben unzähligemal nachgesprochen.

Noch existierte damals nicht bei mir die Zigarre für einen sorgloseren Blick auf das Stundenglas Saturns. Die Lockung des nikotinischen Krauts war an den Primaner zu früh ergangen. Der Rest blieb damals – Schweigen. Vierzig Jahre konnten den Schauder der Nachwirkung nicht überwinden. Doch die Feder war zur Hand, und manches in rascher Auswahl aus meiner schon ansehnlichen Bibliothek mitgenommene Buch lag im Felleisen. Da gab es einige Teile Shakespeare, gab es Grabbes eben erschienenes Drama »Napoleon« und Karl Rosenkranz' »Geschichte der deutschen Dichtung im Mittelalter«, Bücher, wie ich sie mir zu kaufen pflegte, weil sie die Neuheiten des Tages waren. Über das letztere Buch wurde eine Rezension geschrieben und das schöne Werk, das einer unserer gelehrten Germanisten mit dem Stand der altdeutschen Philologie des Tages in Einklang bringen und neu herausgeben sollte, mit der Wärme des Danks für den Genuß, der mir zuteil geworden, empfohlen. Ein Hörer von der Hagens und Karl Lachmanns, stand ich dem Gegenstand in erster Frische der Beschäftigung damit nahe. Der große Brite war mir wie Goethe und Jean Paul das, was vielen jungen Leuten jetzt nur Jokay oder Hackländer ist. Ich las ihn meistenteils laut zum Schrecken der Mutter, die in der stillen Kronenstraße Berlins einen Auflauf befürchtete, mindestens den Schein, als fände in dem Zimmer eines grünen Hauses ein ständiger Wortwechsel, Zank, zuweilen Schlägerei statt. Selbst die heiligen Sonntagvormittage, während mich in der nahen Dreifaltigkeitskirche die Vorträge Schleiermachers hätten anziehen sollen – ich hatte schon lange die Neigung dafür verloren –, waren den Kämpfen der roten und weißen Rose gewidmet. Ich war ein halber Schauspieler, obgleich ich selbst auf Schleiermachers Kanzel gestanden und im Talar einmal eine Predigt gehalten habe. Die wilden Drohungen Shylocks, die Renommagen Percys, die Bravaden Faulconbridges brachte ich in einer Weise zu Gehör, die mir in solchem Grade mustergültig erschien, daß ich zuweilen über die Möglichkeit angefangen hatte nachzudenken, ob ich nicht Schauspieler werden sollte. Nur die Aussicht auf die Demütigung, daß ich auch das würde spielen müssen, was unter meiner Würde und Bildung stand, und daß ich überhaupt, ich, ein Musensohn, Sklave der Menge werden sollte, das brachte mich von dem Gedanken ab, der meinen Freund Bürger überwunden und ihn zum Opernsänger gemacht hatte. Von Grabbe kaufte ich schon als Primaner jedes neu erschienene Werk, ohne davon die volle Befriedigung zu haben. Im »Napoleon« empörte mich der französische Standpunkt. Vergötterung diesem Tyrannen! Gleichstellung mit Männern wie Cromwell, Karl dem Großen, Hannibal! Monologe mit ständiger Armverschränkung wie Wallenstein! Eine Titanenmaske –! Es war mir zuviel. Ich hielt Napoleon und halte ihn noch für das Produkt der Umstände. Diese tragische Glorie, die damals bei Heinrich Heine aufgekommen war, die dann von Franz von Gaudy, Zedlitz u. a. erweitert wurde, ja das förmliche Androhen eines Wiedererwachens der »alten Garde« – das, was daran erhaben sein sollte, erschütterte mich nicht. Mir war Napoleon nur der Korse, der Tyrann, der Deutschland mit Füßen getreten. Alle großen Phrasen, womit seine Gestalt, sein grüner Leibrock, seine weißen Lederhosen, sein Dreimaster, die hohen Stulpstiefel umgeben zu werden anfingen, trennten den, der dergleichen aussprach, von meiner Mitempfindung. Grabbe hatte sogar die Begeisterung der jungen Freiwilligen von 1813 mit Spott eingeführt! Er machte einen Berliner, der mir und mich verwechselt, zum Träger der deutschen Erhebung, während seine Franzosen immer les braves, die Löwen, heißen, die alten Invaliden von Marengo und Wagram, beinahe höhere Wesen. Den übrigen Inhalt des auch ohne alle Wirkung vorübergegangenen Buches, das Renommistische darin, die Narrheit, in einem Drama eine Schlacht vorzuführen, wo General Lobau hier kommandiert: »Schießt!« und Blücher drüben antwortet: »Gleichfalls!« dergleichen bewundert noch der jugendliche Sinn und nimmt das Triviale für genial. Doch konnte mir auch schon damals der Mangel an einem wohltuenden Gesamteindruck des Stückes, das Ergebnis einer einfach nur in Dialog übersetzten Handlungs- und Begebenheitenanhäufung und eines völligen Mangels an individueller, aus dem Willen entwickelter Intrigenführung nicht entgehen.

»Bald wird die Freiheitsstunde schlagen!« sang ich mit dem damals noch nicht allgemein gestatteten Masaniello in der »Stummen von Portici«, der Oper, die dem Könige der Niederlande Belgien gekostet hatte; denn mit ihrer Aufführung im Theater hatte ein Jahr zuvor der Aufstand in Brüssel begonnen. Endlich schlug sie auch für mich. Der Thurn-und-Taxissche Wagen führte mich in das damals in den Nachwirkungen der Julirevolution noch nicht beruhigte Kurhessen. Ich sah das alte kaiserliche Gelnhausen, das durch den neulateinischen Dichter Lotichius mir bekannte Schlüchtern, Hanau, wo der regierende Kurfürst mit Gräfin Reichenbach hauste, schmollend mit Kassel, wo ihm die Stände seinen Sohn als Mitregenten abgerungen hatten; ich hoffte bald Frankfurt am Main zu berühren. Das Terrain ringsum war neuerdings revolutionsberühmt. Jeder Blick auf die Zeitungen brachte die Kunde von neuen Zusammenrottungen, Verhaftungen, bald auf Grund der mit auffallenden Demonstrationen eingeholten Polen, bald auf Anlaß der zerstörten neuen Zollstätten. Langsam hatte sich der preußische Zollverein auszudehnen begonnen. Seine immer weiter greifenden Pulsationen schienen den Feindlichgesinnten ein wachsender Krebs im Organismus Deutschlands. Andere begrüßten ihn mit Jubel als Boten der deutschen Einigung auch in höheren Dingen. Die einzelnen Staaten wurden nur nach und nach gewonnen. Die Zollschranken, die neuen Steueransätze, die Verfolgungen des Schmuggels regten die Unbotmäßigkeit des niedern Volkes immer mehr auf. Dunkle Mächte, und nicht bloß demokratische, kirchliche und politische, schürten. Frankfurt, das von je durch Österreich beeinflußt wurde, entschloß sich erst da zu dem in Handel und Wandel einigen Deutschland hinzuzutreten, als man kaum von Dorf zu Dorf in seiner Umgebung ohne Untersuchung spazieren gehen konnte. Die Geschäfte zogen sich darüber in solchem Grade von Frankfurt nach dem nahegelegenen Offenbach, daß darüber ohne Zweifel jener gewiß in der Frankfurter Schnurgasse entstandene Zornesausruf »Krieg' die Kränk', Offenbach!« zum geflügelten Worte wurde.

Im strömenden Regen, bei nächtlichem Dunkel angelangt vor einer dieser erst vor kurzem zerstörten Zollstätten, an der Mainkur, einer Krümmung des Maines (cornu Moeni, Mainhorn) schon dicht bei dem ersehnten Frankfurt, wurde der Wagenzug, Hauptpost und mehrere Beichaisen, von Zollvisitatoren und Polizeimännern angehalten. Jeder mußte seinen Paß zeigen. »Sie können nicht nach Frankfurt!« rief man mich auch hier bei der Zurückstellung des meinigen an, während der Pinsel eines Honthorst Stoff zu einem Nachtgemälde gehabt hätte. Rings nächtliches Dunkel, die Laternen, das Gewirr der Wagen, der Regen, die Polizeimänner, die Polen in ihren Pelzen und viereckigen Mützen, die zerstörten Zollstätten, alles das gab einen originellen Effekt. »Sie müssen zwanzig Täg' hawwe von Berlin. Sie hawwe nor erscht zehn.« – »Aber Darmstadt? Kann ich denn nicht über Offenbach?« – »Wie Sie wolle! Aber all eins! Die Darmstädter verlange aach zwanzig Tag'!« – Was war zu tun? Ich mußte aussteigen, mein Gepäck einfordern und fernere zehn Tage aus dem Buche meines Lebens streichen. Irgendwo waren sie herauszubringen, zu vergrübeln, zu verträumen. Sie zu verbillardspielen oder zu verrauchen gehörte nicht zu meinen Passionen.

Die sämtlichen Wagen mit ihren nicht aus Berlin, meistens von Leipzig kommenden Passagieren rollten davon. Ich blieb in dunkler Nacht allein. Von dem entzückenden Rundblick, den man gerade von diesem Punkte aus auf die Höhe des alten Ortes Bergen genießen kann, auf die Konturen des Taunus, auf den geheimnisvollen, sagenreichen Odenwald, auf das im Osten gelegene Freigericht, konnte mir keine Ahnung kommen. Ich sah nur strömenden Regen, mein Felleisen, meinen defekten Regenschirm, einige mitleidige Seelen, die mir Ratschläge erteilten, wie sich wohl Stuttgart erreichen ließe, wie Frankfurt, Hessen, Bayern umgangen werden könnten. Alle Staaten hatten sich gegen mich verschworen. Endlich folgte ich dem alten Spruche, daß sich der Weisere immer zurückzieht. Kehre in dein vorurteilsloses, damals ganz preußisch empfindendes Kurhessen zurück! Ich dankte dem Manne im grauen Zollwächtermantel, der mich auf die mit Beichaisen zurückkehrenden Postillione verwies. Um Mitternacht trafen diese auch ein und führten mich in einer der durchnäßten, durch Lederklappen an den Seiten nur wenig geschützten Karreten nach Hanau.

Schon aus jener Zeit ist mir der Ort eine freundliche, werte Erinnerung geblieben. Das regnerische Wetter schlug in Frost um. Es wurde bitterkalt und sonnenhell. Da konnte sich die als Kolonie glaubensverwandter Holländer, Wallonen und Franzosen berühmte Stadt in der ihr eigentümlichen Sauberkeit zeigen, mit ihrer wunderlich geformten französischen Kirche, deren Dach höher ist als ihr Unterbau, mit ihrem imposanten Markte, dem stattlichen Rathause, dem so gefälligen Renaissancebau des Gymnasiums, schließlich mit ihren den Reichtum des Kurhauses verbürgenden Umgebungen an Schlössern, Parks und wohlgepflegten Gartenanlagen. Damals stand wohl noch im nahen Philippsruhe die Allee von Orangenbäumen im schützenden Gewächshause, die später der Vater des Letzten der altehrwürdigen Dynastie Philipps des Großmütigen an den Pächter der Spielbank zu Homburg entweder verkauft oder am grünen Tisch als Einsatz verspielt hat. Sie schmücken jetzt die Anlagen am Kurhause von Homburg.

Die erste Wirtshausrechnung belehrte mich, daß meine Kasse eine achtmalige Wiederholung derselben nicht ertragen würde. Ich nahm daher eine Privatwohnung und fand diese unterm Dach bei einem Schuster, der zugleich Briefträger war. Auch hatte der vielseitige Mann eine Gemahlin, die ihn in der ersten seiner Funktionen unterstützte, sich dafür aber zum Lohn einem stillen Laster ergeben hatte und infolge der durch Alkohol gesteigerten Ekstase auf Pietismus verfallen war durch natürliche Verwandtschaft. Denn ist einmal der Geist in gehobener Stimmung, wohin soll ihn anders, wenn ihm die Unterlagen fehlen, die Ekstase führen als in die Region der Kanzel! Kennt der Inspirierte doch nichts anderes als das Evangelium, über das sich mit angefeuerter Zunge reden läßt. In unsern Tagen haben die illustrierten Volksblätter und die Lehren der Sozialdemokraten schon ein erweitertes Terrain eröffnet, wo, »wenn der Mut in der Brust seine Spannkraft übt«, dem Redebedürfnis das Material der Phrase reicher zu Gebote steht. Damals begannen zuerst die Rufe: Nieder mit den Geldsäcken! Die Gedanken der Volksmassen, die um Hanau und Frankfurt herum die Neigung zu Rottierungen (Krawallen) nur zu oft und bis auf den heutigen Tag verraten haben (die Ermordung Lichnowskis und Auerswalds gab ein Beispiel, wie weit darin gegangen werden kann), gingen im wesentlichen auf Rothschilds Keller. Doch war dieser Trieb auf Teilung nur beim Proletariat vorhanden; allgemeiner noch lautete die Volksparole: »Fürsten zum Land hinaus!«

Einsprechend in dem Laden des freundlichen gefälligen Buchhändlers Friedrich König, eroberte ich die schon von der Polizei verfolgte Neuigkeit des Tages, Börnes »Briefe aus Paris«. Zugleich erhielt ich von dem gesinnungsvollen unerschrockenen Manne die Ermunterung, als junger Schriftsteller das Handwerk im Orte zu begrüßen, den Kammersekretär Heinrich König, den Gymnasiallehrer Zehner und den in der Nähe hausenden ehemaligen Minister Grafen Benzel-Sternau, alle drei, wie mir bekannt, Nachahmer Jean Pauls.

Vorläufig fesselte mich das wilde Buch, das angeblich in Paris bei Brunet, in Wahrheit bei Julius Campe in Hamburg erschienen war. Auch die Offizin, die es gedruckt hatte, die Altenburger Hofbuchdruckerei, war jedermann bekannt. Selten wohl hat ein Buch so viel Spektakel in Deutschland gemacht, wie die ersten Bände von Börnes »Briefen aus Paris«. Selbst die Freimütigsten stutzten. Sätze, wie »Man kann einen Fürsten verjagen, wenn uns seine Nase stört«, eine Polemik im Stile Rocheforts von heute, war nicht jedermanns Sache. Zahllose. Schriftsteller, Raumer, Willibald Alexis, Friedrich Förster, sämtliche Rezensenten der Brockhausschen Blätter fielen über die Luftfeuerwerkerei des im Pariser Asyl geschützten, von den Rücksichten auf deutsche Zensur befreiten ehemaligen Frankfurter Polizeiaktuars wie über greifbare, tatsächlich festzuhaltende Sätze her. Nur der einzige Wolfgang Menzel war noch unbefangen genug, das Buch als einen Stimmungsausdruck zu bezeichnen, den man subjektiv und in seinen Überschwenglichkeiten mit selbstverständlichem grano salis zu fassen hatte. Was verfolgt ihr den Humor! Der Johanniswurm glüht in milden Nächten wie ein Brillant, solange er über den dunklen Büschen schwebt und im Fluge ist; hascht ihr ihn aber, habt ihn in der Hand und wollt den Brillanten definieren, so ist er ein graues armes Insekt. Mir ging alles in dem Buche natürlich zu, Wahrheit und Übertreibung. Nur die Philisterei konnte den Sonnenstrahl zergliedern wollen, alles Gesagte exakt nehmen, mathematisch abgemessen, keinen Zoll zuviel, keinen zuwenig. Börnes Leben habe ich später selbst geschrieben. Es war mir eigen mit ihm gegangen. Schon als Primaner abonnierte ich mich auf die erste, höchst elegant gedruckte Ausgabe seiner »Gesammelten Schriften«. Ich schwelgte in seiner Denkrede auf Jean Paul, seinen witzigen kleinen Humoresken, »Der Narr im Weißen Schwan«, »Die Postschnecke« und den übrigen Kabinettsstücken einer wohl in den Stoffen, nicht in der Form veralteten Satire. Da erfuhr ich, daß Börne ein Jude sei und eigentlich Baruch heiße. Man wagt heutigen Tages viel, wenn ich gestehe, daß ich über diese Entdeckung unglücklich war. Heute macht man leichter die Revolutionen der Bildung durch. Die Juden nahmen vor einem halben Jahrhundert nur noch vereinzelt am Kulturkampf der Deutschen teil. Erscheinungen wie des Theologen Neander, der Juristen Hitzig und Gans, des Musikers Mendelssohn standen so vereinzelt, daß sich jene Selbstverständlichkeit des Gleichmuts, ob jemand einer Frage der Zeit, der Aufklärung, des Staates, der Kirche gegenüber Christ oder Jude sei, erst durch die Unausweichlichkeit der vollendeten Tatsache gebildet hat. »Christlich-germanischen« Judenhaß brachte schon die Burschenschaft mit sich. Auf der Schule hatte ich Juden als Verräter und Angeber kennengelernt. Ein buckliges Ungetüm aus Polen, rachsüchtig wie Shylock, wurde von allen gefürchtet. Erst dem Studenten traten liebenswertere, gemütvolle Juden entgegen, der wunderlichste darunter ein Königsberger, durch und durch selbst christlich-germanisch, jener Joel Jacoby, der sich später katholisch taufen ließ, Maria Joseph Jacoby. Im Geist des Jarcke-Philippsschen »Politischen Wochenblatts« schrieb er dies und das und wurde zuletzt von Manteuffels Preßmandarinen zum Kanzleirat und Zeitungslektor beim Berliner Polizeipräsidium ernannt. Immer mehr ergab ich mich dem Bedächtigerwerden im Kundgeben ungeprüfter Instinkte und Vorurteile. Die Dressur meiner christlich-germanischen Gefühle ging sogar bis zum aufrichtigen Mitempfinden des als literarische Mode zehn Jahre später aufgekommenen sogenannten »Judenschmerzes«, der »Ahasverustrauer«, wo ich für diese sentimental gewordene Humanitätsfrage redlich das meinige getan und für die Sache der Emanzipation mit Wärme gestritten habe.

Heinrich König, der sich damals durch seinen Roman »Die hohe Braut« noch nicht die allgemeinere Beachtung gewonnen hatte, litt in jener Zeit, als ich ihn besuchte, unter den Folgen eines grauenhaften Mißverständnisses, das seine Person betraf. Seine Frau war ihm mit Tod abgegangen. Leichenbefund hatte auf Erwürgung im Schlaf gelautet! Die Ehe war in der Tat keine glückliche, und König hatte böse Feinde, namentlich in katholischen Kreisen. Waren auch die letzteren in Hanau selbst nicht mächtig, so stand doch Hanau in enger Verbindung mit Fulda, von wo aus König, ein Katholik, schon seit längerer Zeit im Stande der Exkommunikation lebte. Natürlich löste sich die Anschuldigung in nichts auf. Die verdächtigen Sugillationen am Halse, die dem Arzte von einem Strick gekommen schienen, waren nach genauerer Untersuchung die Folge von Umschlägen, die mit einem ätzenden Wasser angefeuchtet gewesen. Die entsetzliche Anklage hatte auch wohl dem freisinnigen Deputierten gelten sollen. König hatte zwar nicht studiert, stand aber auf der Höhe der Tagesfragen und war überall heimisch, soviel auch nur der jugendlich Strebende, der ihn besuchte, bei einem gemütlichen Nachtmahl, wozu er mich einlud, aufs Tapet brachte. Ein »Rosenkranz für Katholiken«, den er eben herausgegeben und durch einen »Christbaum des Lebens« ergänzt hatte, trug den jeanpaulisierenden Charakter, ohne etwa, was die Titel glauben machen konnten, besondere Gefühlsweichheit zu signalisieren. Im Gegenteil, die starken hervorstehenden trotzigen Backenknochen seines Antlitzes verrieten zähe Widerstandskraft. Der wackre Mann hat diese in seinen Kämpfen gegen die Anmutungen der katholischen Kirche gezeigt ebenso wie in den kurhessischen Landtags- und Verfassungswirren. Weicher und mehr den Blumen und Sternen zugewandt erschien der gleichfalls zum Mahle entbotene Professor Zehner, der indessen bald darauf meiner inspirierten Schusterin nachzuahmen anfing, darüber seine Stelle verlor und nach schönen Anfängen einer auf Kenntnis des Orients sich stützenden Muse als Redakteur eines Lokalblättchens in der Gegend um Würzburg her in trauriger Weise verkommen ist. Graf Benzel-Sternau wohnte auf dem Lande.

Endlich brach der zwanzigste Tag und mit lachendem Sonnenschein an. Es war ein Sonntag. Ein leichter Frost hatte die Chausseegräben mit dünnen Eisdecken überzogen. Die Sträucher und Zweige zahlloser Obstbäume schimmerten in der Sonne vom Reif, der sie bezog. In Frankfurt merkte man kaum, daß der Winter schon erschienen war. Die Kirchen entleerten sich grade, während ich meiner Kasse zutraute, die für mich klassische Stätte des »Weißen Schwanen« für einen Tag als Wohnung zu wählen. Mußte es doch am folgenden Tage weitergehen, und wie lockten nicht die Namen: Die Bergstraße und Heidelberg! Sauber gekehrt und sogar hier und dort mit Sand bestreut waren Frankfurts damals noch durch geschlossene Tore eingefriedigten Gassen. Die Kirchen hatten sich durch quer über die Nachbarstraßen gezogene Ketten Ruhe verschafft. An der ominösen Konstablerwache auf der Zeil gab es schon jene Fensterblenden von Gefängnissen, die zwei Jahre später erstürmt werden sollten. Die Volkshaufen, die jedoch in friedlicher Absicht zugegen waren und vor dem ungeschickt gelegenen Gefängnis auf und nieder zogen, gehörten den umliegenden Dörfern an und waren Eingepfarrte der Stadt, die sonntags zur Kirche kamen. Zum Besichtigen der Stadt, zum Aufsuchen etwa der Stelle, wo sich in Goethes »Märchen« die Stadtmauer zum Durchlaß des »Götterknaben« geöffnet hatte – (solchen Bildern der Erinnerung jagte ich sofort nach) –, war meine Zeit zu gemessen. Doch umschritt ich die Stadt, betrachtete mir das damals für Besuch verschlossene Goethehaus und erfreute mich den Abend am »Politischen Zinngießer« im Theater. Im Rahmhof nahm die Thurn-und-Taxissche Post die Passagiere nach Stuttgart nummernweise auf. Mir fiel ein Coupéplatz zu. So konnte ich desto besser jene Bergstraße überblicken, von welcher Kaiser Joseph gesagt haben soll: »Hier bin ich ja in Italien!« Heidelberg wurde in der Nacht begrüßt, noch ehe die Straßenlaternen und – die Lämpchen etwaiger wirklich Studierender über dem Strom erloschen waren. Noch sang sich mancher einsame Bruder Studio taumelnd nach Hause. Auch hier in diesem magischen Bilde war ich heimisch in meiner Art. Der Efeu, der die Trümmer des ehrwürdigen Schlosses umrankt, ein Wintergrün von staunenswertem Alter, konnte erst in spätem Jahren betrachtet werden; aber den geistigen Efeu, der sich für mich um diese Schattenbilder im nächtlichen Dunkel rankte, um die romantische Literaturzeit der Görres, Arnim, Clemens Brentano, die einst hier »Trösteinsamkeit«, die »Zeitschrift für Einsiedler«, »des Knaben Wunderhorn« und andere Erquickungen des deutschen Gemüts in trübster Zeit (1808) herausgegeben hatten, den sah ich schon aus dem Postwagen überall. Aus diesen verhallenden, sich allerdings schon etwas dem Brüllen nähernden Chören des »Faulen Pelz«, des »Prinz Max« vernahm ich den Silberklang der deutschen Lyrik, die bestrickenden Rhythmen, wie »Zu Straßburg auf der Schanz«, »Im Maien, im Maien ist's lieblich und schön«, Weisen, deren Naivität dann Heinrich Heine, später Richard Wagner (beide zugleich mit dem Sagenschatz der Deutschen) zu ihren Gunsten auszubeuten verstanden haben. Am zweiundzwanzigsten Tage nach der Abreise von Berlin war ich endlich in Stuttgart angelangt.

 

Stuttgart

Wieder schien golden, doch jetzt im Untergehen, die Sonne. Sie beleuchtete die große Muschel, die Stuttgarts reizende Lage bildet. Die übliche Vergleichung mit einem »Kessel« paßt für diese sanft aufsteigenden Höhen nicht. Es ziehen sich längliche Furchen, Taleinschnitte und Senkungen in die abschüssig gehenden Berggelände, in denen im November noch mancher Holzpflock mit verbranntem Papier vom letzten Weinlesefeuerwerk von einem der Landessitten Kundigern hätte bemerkt werden können. Noch duftete die Stadt nach Wein- und Äpfelmost. Die Stiftskirche, das Schloß, die kleinen Häuser, manche von diesen noch mit Kolben türkischen Korns umzogen, es gab ein Bild provinzieller Abgeschlossenheit und Einfachheit, das aus dem sich jetzt so großstädtisch fühlenden Haltestationspunkte zwischen Wien und Paris kaum noch herauszufinden ist. Dazu allerwege klassische Erinnerung. Schiller ist uns hier gegenwärtiger als in Weimar. Lieben wir doch mehr den in tyrannos sich erhebenden jungen Adler, den Flüchtling nach Mannheim, als den spätern Hofrat. Das Cottasche Geschäft war wie ein Mausoleum des Dichters. Und Goethe, der ebenfalls Cotta gehörte, lebte ja noch. Kurz, ich betrat Stuttgart, wie man in eine Kirche tritt. Im »Waldhorn«, nicht im »König von England« abzusteigen, entsprach schon der romantischen Stimmung meines Gemüts und meiner Kasse.

Wolfgang Menzel, ein geborner Schlesier, hieß den schon lange erwarteten blassen, magern, blonden Berliner Ankömmling willkommen. Ihn selbst hatte die Natur mit breiten Schultern, kräftiger Brust, dunklem Haar ausgestattet. Sein Kopf hätte einem katholischen Geistlichen gehören können. Um den Mund, dessen Zähne vernachlässigt waren, spielte ein satirisches Lächeln, das sich bei manchem seiner Einfälle ins Sardonische verlieren konnte, während seine kurzsichtigen Augen, sooft die Brille, die solche regelmäßig bedeckte, abgenommen wurde, Trotz, strengen Ernst, ja zuweilen etwas Verklärtes oder Feierliches bekommen konnten. Sein Temperament schien das heftigste zu sein; der einmal ausgesprochene Wille unbeugsam. Selten mögen in einem Charakter soviel Widersprüche gepaart gewesen sein, wie in diesem vielseitigen Schriftsteller, diesem damals den Ton angebenden Kritiker. Sogar bis zum Faunischen konnte sich der Ausdruck seiner Mienen steigern, wenn ihm die Erinnerung an Thümmels »Wilhelmine« kam oder sonst eine erotische Schrift des abgewichenen Jahrhunderts, über die er mit ebensoviel Interesse sprechen konnte, wie dann wieder über Jakob Böhmes oder Jung-Stillings Schriften. Feierlichen Ernstes zog er historische Parallelen zwischen Charakteren der Geschichte oder Zuständen von sonst und jetzt. Der Mann, der so vieles tadelte, hatte ohne Zweifel an seinem Schädel den »Verehrungssinn«. Ihm war das Gegenteil des nil admirari Bedürfnis. Düster blickte er in die Zukunft, gläubig starrte er vor dem Rätselhaften, Unentschleierten. Bald bemerkte ich neben stereotypen Stichblättern seiner Satire ehenso viele Namen und Verhältnisse, wo bei ihm die Kritik sich entwaffnet gab. Letzteres war leider vorläufig mir selbst gegenüber der Fall. Ich war ihm eine Anomalie seiner Berliner Erfahrungen und als solche bis auf weiteres in meiner Art auf dem vollkommen richtigen Wege.

Nützlicher als das unermüdete Abdrucken meiner Berichterstattungen über einen Ballen Biographien und einen andern, der aus theologischen Werken bestand, wäre mir mancher Tadel, wenigstens mancher Fingerzeig für die Schulung meiner Feder gewesen. Die Regeln, welche Menzel gab, waren nur allgemeine. »Ich schreibe, wie ich denke«, sagte er. »Sehen Sie meine Manuskripte an! Nichts wird da ausgestrichen, nichts wird noch hinzugesetzt.« Menzel hatte »Streckverse« herausgegeben, wie Jean Paul ungereimte Gedichte genannt hat. Jeder Gedanke darin ist von einem Bilde begleitet. Dennoch sagte er: »Bilder müssen mir zufällig unter die Feder kommen während des Schreibens. Die gesuchten, die erzwungenen, erkennt der Leser auf den ersten Blick.« Die Richtung, die einzuschlagen nicht grade empfohlen, aber gutgeheißen wurde, konnte hier nur – die der Satire sein. Mit allzu sichtlichem Wohlgefallen, mit unverkennbarer Befriedigung verweilte der nun fast täglich von mir Besuchte oder auf Spaziergängen Begleitete bei Voltaire, Diderot, dem Verfasser der Memoiren des Freiherrn von S–a, Woltmann, bei Knigge, vor allem bei einem schlesischen Landsmann Schummel, dessen »Spitzbart« ihm eine »köstliche Satire gegen den Philanthropinismus Basedows« erschien. Und das alles kam von einem Gegner des Rationalismus –! Ebenso hatten einst Tieck und die Romantiker die Tendenzen der Humanität, der Menschenveredlung, der religiösen Aufklärung verspottet –! Aus den vernunftgemäßen Entwicklungen der neuern Philosophie, Theologie, Pädagogik die allmähliche tiefere Begründung abzuwarten, diese jedenfalls als eine Zwischenstufe zu einem vorurteilsfreiern Erkennen zu betrachten, das dauerte dem eigentümlichen Geschmack des literarischen Amateurs zu lange. Frischweg setzte er sich sofort auf die beiden schroffsten Gegensätze, Ironie und Satire auf der einen, Mystik auf der andern Seite. Entweder entschied er sich für Voltaire oder für Görres. Auch Görres war in dieser Art einst Jakobiner und hatte sogar dem Buchhändler Friedrich Perthes in Hamburg 1811 ein Manuskript zum Druck übergeben: »Fall der Religion.« Es enthielt Dinge, die den frommen Verleger bestimmten, es nicht erscheinen zu lassen.

Die Jugend hat in geistigen Dingen einen wahren Straußenmagen. Sie verdaut alles durcheinander. Noch stellte der Neuling keine Prüfung an über die Fülle von Eindrücken, die ihm zuteil wurden. Menzels Urteile über die Personen wurden hingenommen, als verstünden sie sich von selbst. Ließ sich aber auch etwas einwenden gegen die Schilderung des lyrischen Kreises, der sich um Uhland, unmittelbarer um Gustav Schwab gebildet hatte und sich in eine wechselseitige Anpreisung verlor, die zuletzt vom deutschen Parnaß fast ausschließlich Besitz nehmen wollte und genommen hat? Der Schwerpunkt des »Morgenblattes« wurden Gedichte. Gustav Schwab redigierte diesen Teil des damals ersten deutschen belletristischen Blattes und verbesserte die Arbeiten der jungen Tübinger Studenten und Stiftler wie ein zweiter Berliner Ramler. Gustav Schwab, der Sänger des schönen Studentenliedes »Bemooster Bursche zieh' ich aus«, Professor am Stuttgarter Gymnasium, war eine Erscheinung von ansehnlicher Leibesfülle, mit einem ständigen starken Blutandrang zum immer geröteten Kopf. Die Zuvorkommenheit seines Benehmens ging fast zu weit und mußte peinlich wirken. Wer hält nicht übergroße Höflichkeit für den Ausdruck eines nur geheuchelten Wohlwollens? Im vollen Gange war damals die eigentümliche Verbindung dieses Kreises mit Justinus Kerner in Weinsberg, mit dem »Riekele« (Kerners Frau) und den Gespenstern des Zwischenreichs. Als sich zu Nikolaus Lenau und Anastasius Grün gar noch ein Graf von Württemberg in den Kreis der Lyriker begeben hatte, da scheute man sich nicht, jeden Kaffeebesuch innerhalb dieser Sphäre zum Anlaß von Schilderungen zu machen, die für die Chronik der Literatur des deutschen Volkes maßgebend sein sollten . . .

 

Im März 1832 kam die Kunde, Goethe ist tot. Die Aufregung darüber war groß und in Stuttgart, in der Nähe des Cottaschen Hauses, um so größer, als es hieß, nun würde vom »Faust« der zweite Teil erscheinen. Immermann veranstaltete für die Düsseldorfer Bühne eine Erinnerungsfeier, die auf mancher andern Bühne wiederholt wurde. Jede gab einen Tribut der Huldigung. Dem bekannten Gegner Goethes war ein Anlaß zur Aufregung geboten. Alles blickte auf ihn, und so erfuhr ich denn auch gelegentlich den Ursprung seines Hasses auf Goethe. Ich erzählte denselben vor einiger Zeit in einer Plauderei, die das Thema behandelte, warum ich nicht ebenfalls unter die Lyriker gegangen sei. Ich wiederhole sie hier.

»Als Zwanzigjähriger, schwärmend für Tieck und Novalis, wobei ein lebhafter kritischer Zerstörungssinn nicht ausgeschlossen war, kam ich zu Wolfgang Menzel und sollte ihn im Bücherrezensieren unterstützen, da sich der Patriot in die württembergische Kammer wählen lassen wollte. Frisch von der Universität kommend, brachte ich leidliche Kenntnisse und ein Chaos unklarer Stimmungen mit. Und eben aus diesen letztern heraus wollte sich zuweilen Lyrisches entwickeln und um so mehr, als damals die Literatur durchweg auf Lyrik stand. Im Schwabenlande lyrisierte alles. Nicht bloß die Gymnasiasten und Tübinger Stiftler, selbst Oberamtmänner und Obersteuerrevisionsräte wanderten durch die Wiesen und sammelten Blumen und wanden diese zu poetischen Sträußlein. Goethe starb. Da suchte jeder, der nur ein wenig Zeit hatte, ihn möglichst zu ersetzen. Dann mußte damals so viel geheuchelt und gelogen werden der mangelnden politischen Freiheit wegen, daß die meisten der Gebildeten, sogar die Hofräte und Polizeidirektoren, zwei Welten hatten, in denen sie lebten, eine ostensible und offizielle bürgerliche, und drehte man diese um, so hatte man zu seinem hellen Erstaunen einen heimlichen Dichter, einen ›sinnigen Lyriker‹. Die Konversation in Stuttgart bestand 1831 nur aus Liedervorlesungen beim Tee, wenn Damen zugegen waren – beim Wein und vielleicht sogar unter freiem Himmel, wenn die Männer allein waren. Die ästhetischen Honneurs in Stuttgart machten zwei Familien, die Hofrat Reinbecksche (eine aus Norddeutschland eingewanderte, welche berlinische Teegesellschaften alten Stils gab) und die Gustav Schwabsche, eine urschwäbische. Damals ging Lenau, ›der Herr Baron aus Ungarn‹, aus einer dieser Gesellschaften in die andere. Jede wetteiferte, wer ihn mit größerem Lob, mit exaltierterer Bewunderung überhäufen konnte. Erst galt der Enthusiasmus, wie sich gebührte, seinem Talent, dann seiner poetischen Heimat, zuletzt (last not least) dem ›Baron‹. Man wollte einen andern ›Herrn Baron‹, den Baron von Cotta, veranlassen, die gesammelten Gedichte des ungarischen ›Herrn Barons‹ zu drucken. Ein alter feiner Herr, dieser erste klassische Cotta! Später, als ich Metternich kennen gelernt, fand ich Ähnlichkeit zwischen beiden. Sie waren auch intime Freunde und sagten sich das täglich und leider allzulange in der ›Allgemeinen Zeitung‹. Dieser alte Herr, auch Begründer der Dampfschiffahrt auf dem Bodensee, betrieb den Buchhandel sozusagen staatsmännisch. Vollkommen wissend, daß die von ihm gedruckten Dichter à peu près zu deutschen Klassikern gestempelt waren, verhielt er sich vorsichtig in der Annahme von Gedichtsammlungen und benahm sich auch infolgedessen spröde gegen den Reinbeck-Schwabschen Enthusiasmus, der wieder einen Neuling traf, wo ihm schon Karl Grüneisen, ja Gustav Schwab selbst nicht recht ›eingeschlagen‹ waren; er schlug die Lenausche Sammlung fürs erste ab. Das alles beobachtete Wolfgang Menzels scharfe Satire, seine aufhorchende Spürkraft, seine immer zu den ergötzlichsten Glossen bereitwillige Ironie. Das Treiben dieser schwäbisch-lyrischen Uhland-Epigonen war ihm zuwider. Fand doch sein polemischer Eifer fast überall in Schwaben Cliquenwesen, Gevatter- und Muhmen- und Verwandtschaftskuppelei. Bei alledem kam auch mir der Trieb, den ich schon lange hegte, dem Wort zuweilen die schöne Fessel des Reims anzulegen. Aber die Umstände waren zu ungünstig! Einmal war Gustav Schwab die unumgängliche Instanz für jedes zu veröffentlichende Gedicht. Fast für die gesamte Lyrik der Zeit, falls diese durch die drei Kanäle, Morgenblatt, Cottas Verlag oder den Weidmannschen Musenalmanach, an die Öffentlichkeit treten wollte, überall war Gustav Schwab die entscheidende Instanz. Er hatte die Weise des alten Ramler, der die ihm eingesandten Gedichte feilte und umarbeitete. Gewiß ist diese Leidenschaft den Gedichten Lenaus aus dessen erster Periode zugute gekommen. Dem Schwabschen Kreise mich nun besonders zu nähern, verbot mir eben die Rücksicht auf Menzel.

Dann aber hatte ich doch eines Tages den Mut, Menzeln ein Heft ›Gedicht‹ zu überreichen mit der Frage, ob ich sie wohl bei Schwab unters Joch der Prüfung schicken könnte, um sie ins Morgenblatt zu bringen. Sehr spät gab er sie mir wie etwas bei einem Besuch Vergessenes zurück mit den hingemurmelten Worten: ›Gott, das bringt ja nichts ein!‹ Und dieser Ausspruch hatte viel, wenn nicht alles für sich. Denn mein Chefredakteur zahlte mir monatlich 30 Gulden Gehalt, und – hört! hört! – ich lebte von diesen 30 Gulden – jede Mittagsmahlzeit kostete 24 Kreuzer. Durch ›Gedichte‹ konnten Supplemente zu den Fl. 30 nicht errungen werden. Sich ganz auf die Literatur stellen wollen, alle Beziehungen zur Möglichkeit einer künftigen Anstellung abbrechen und sich dann an Gustav Schwab anschließen, um ab und zu eine Tasse Tee und ein Gedicht ins ›Morgenblatt‹, alle Jahre zwei in den ›Musenalmanach‹ zu bringen, das ließ sich nicht vereinigen. Und so resignierte ich mich damals auf Lyrik als Spezialität, obschon es mir in dem an Menzel übergebenen Hefte um ein Gedicht leid tat. Ich hatte – mein Vorbild war natürlich Walther von der Vogelweide – als ›Wanderer‹ im Minneliederton an eine schöne Winzerin die naive Frage gerichtet: ›Holde Maid, entschuldige, daß ich dich in deiner Arbeit unterbreche; kannst du mir nicht den Weg sagen, den richtigen, der zu deinem purpurroten Munde führt?‹ Die Winzerin stand etwas höher postiert als der Wanderer unten im Chausseegraben. Je trotziger, desto schöner erwiderte die Maid: ›Das will ich dir wohl sagen, du Narr! Da mußt du rechts den Weg nehmen, erst den Berg ersteigen, an der Kapelle drüben vorübergehn und bis an den dunkeln Wald, wo du vielleicht den Kuckuck um den weitern Weg befragen kannst.‹ Hierauf zweites Ritornell. Erwiderung des Wanderers, enthaltend die Bitte um den richtigen Wegweiser zu ihren Purpurlippen. Wiederum erfolgt die Antwort, aber diesmal schon mit beschränkterem Rayon in der malerischen Umgegend. Der Frager brauchte nicht mehr den Berg zu besteigen, auch nicht den Kuckuck im Walde zu befragen; er wurde schon auf die Antwort der Distel, die tief unten im Tale blühte, unterhalb der Kapelle verwiesen. Das neckische Spiel ging dann eine Zeitlang so fort, bis die Wege immer näher und näher lagen und der wegunkundige Wanderer zuletzt das reizende Mädchen mit den Purpurlippen in seinen Armen hielt. Mit diesem – nicht wahr, wunderschönen – Liede bin ich mit meiner Laufbahn als ›Lyriker von Profession‹ stecken geblieben.

Übrigens bin ich weit entfernt, etwa bei dieser Gelegenheit Wolfgang Menzel beschuldigen zu wollen, als hätte er den Erwerb zur Richtschnur für die Wahl der poetischen Beschäftigung empfohlen. Im Gegenteil, einst fand ich ihn schmerzlich bewegt durch den Besuch seiner Mutter, die aus Schlesien gekommen war, um ihren damals vielbesprochenen Sohn, der vor längern Jahren aus deutschen Landen der Burschenschaft wegen entflohen war, wiederzusehen. Die einfache Frau kam mit einem inzwischen erheirateten zweiten Manne, einem Landwirt, der einen schwunghaften Viehhandel betrieb, nach Stuttgart. ›Wieviel hat dir dein Buch »Die deutsche Literatur« eingetragen?‹ fragte mich mein Stiefvater, erzählte Menzel. ›Hundert Karolins!‹ sagte ich. – ›Wieviel ist das?‹ – ›Sechshundert Taler!‹ – ›Hahaha!‹ lachte der Schlesier. ›Das ist was Rechtes! Da verdiene ich an jedem Viehmarkt, wo ich kaufe und verkaufe, an hundert Ochsen mehr!‹

Den Ursprung seiner bekannten Opposition gegen Goethe erzählte Menzel folgendermaßen: ›Ich studierte in Jena. Wir Studenten hatten die Gewohnheit, öfters in größerer Zahl nach Weimar zu fahren und einer Theatervorstellung beizuwohnen. Bei den »Räubern« hatten wir sogar das Privileg, im Chor vom Parterre aus mitzusingen. Nie hatte ich bei dieser Gelegenheit der alten Exzellenz Goethe ansichtig werden können. Da trifft es sich eines Abends, als wir wieder nach Weimar gekommen waren, daß wir im Theater Streit bekamen. Während die Worte noch hin und her flogen und das Publikum parteilos zuhörte, streckte sich eine hagere, lange Gestalt aus einer untern Proszeniumsloge, im schwarzen Frack mit Ordensstern, weißem, scharfmarkiertem Kopf, und rief mit einer widerwärtig-häßlich schnarrenden Stimme: »Ruhe!« Das war Goethe, Goethe in Person, Goethe als Staatsminister. Er machte im Theater den Polizeiminister, und das in einer so verächtlichtuenden, so von oben herabsehenden, impertinenten Art gegen uns, daß ich von Stund' an den Mann hassen mußte und an seinen Schriften kein Gefallen mehr hatte.‹ Als Ergänzung dieser Erzählung mag die Erinnerung dienen an eine bekannte Stelle in Novalis' Fragmenten, die gegen Goethes ›Wilhelm Meister‹ gerichtet ist. Diese hat wohl des weitern auf den leidenschaftlichen Romantiker für seine Polemik eingewirkt.«

Es gibt im Menschen eine doppelte Entwicklung, eine nach der Seite des Berufes hin, die andre nach seiner Welt- und Lebensauffassung überhaupt. Dies Nebeneinander wird uns aber nicht bewußt, wenigstens nicht in der Jugend. Was da nun einem Künstler, einem Dichter gewonnen wird, einem Kritiker, das ist zugleich dem Menschen, dem Charakter gewonnen. Oft währt es lange, lange, bis man sich als Charakter aus den Interessen seines Berufes herausfindet. »Literaten« hat man in verächtlicher Weise diese Individualitäten genannt, an denen sich eben nichts als die Schreibfeder verkörpert zu haben scheint. Ein solches Verkommen im Handwerk war dem Erzähler fremd. War ihm auch die Produktion nun schon Existenzfrage geworden, so ergriff sie doch innerlich seinen ganzen Menschen. Sie war wie die Anwendung angeborner Organe. Diese Organe waren kämpfende, angreifende, abwehrende. Immer galt es die Sache. Sinnen dagegen über die Form, ein Bild, ein Gleichnis, wie die Lyriker pflegten, sich immer nur ein Segment von jenem Globus abschneiden, den Titanenkräfte zu wälzen glaubten, und diesen nur ausputzen zum Reiz der Formenschöne, das wurde nicht genährt durch die Richtung, in welche ich geraten war. An mir selbst fühlte ich den Prozeß einer werdenden neuen Literatur sich vollziehen. Den Trieb dieser Uhland-Schwabschen Sänger, Balladenstoffe aufzustöbern oder sich interessant genug vorzukommen, jede sich abgelauschte Stimmung in Reime zu bringen, dem Feilen der Worte nachzuhängen, der Wahl, ob hier Gold- oder Silberglanz besser am Orte wäre und dabei nebenbei und ganz praktisch Obersteuerprokurator oder Professor oder Konsistorialrat zu bleiben – diesen glücklichen Ego- und Dualismus wagte ich mir nicht zu gönnen. Ich gönnte ihn mir nicht dem Rauschen der Zeit gegenüber, den von überallher vernommenen Mahnungen an den, der die Feder führte, daß er das Notwendige sagen sollte, daß er die Aufgaben, die mir an die Sterne geschrieben schienen (nicht an die Flügeldecken der Mücken und Käfer des Justinus Kernerschen Kreises), rasch aussprechen und zu lösen helfen suche. Im Kreise dieser schwäbischen Dichter herrschte in erster Reihe das Wort, das Bild, das Adjektiv. Ich sah ein einzelnes im Schriftwesen einer Nation über die Gebühr hervortreten. Die gesamte Literatur sollte auf den Vers gestellt werden und wurde es später in der Tat. Denn entfessele nur einer den Dilettantismus, und dieser macht sich bald seine Altäre und Tempel! Alle, die dasselbe treiben, was der Dilettant treibt, sind seine Ausschließlichen, seine Klassiker. Der Dilettant kann zeigen, daß er schwäbeln und schwäbisch lesen, schwäbisch vorlesen kann – es lebe die Dorfgeschichte vom Schwarzwald! Der Dilettant kann zeigen, daß er plattdeutsch reden und mit plattdeutschem Vorlesen seine Eitelkeit befriedigen kann – es lebe alles, was plattdeutsch! Überall, wo man über den Schweif des Pferdes mitaufhocken kann, geht die Mode vorwärts im Galopp.

Was mich von schöngeistiger Literatur in Stuttgart umgab, gebärdete sich anspruchsvoll und kam erst zur Besinnung durch die Eckermannschen Gespräche mit Goethe. Da hatte der Alte sogar auf Uhlands Sagen- und Balladenpoesie, wenn nicht sogar auf Uhlands Naturstimmungsgedichte, diese »Welt im ewigen Sonntagsstaate«, wie ich sie gelegentlich genannt hatte, als die »geflickten Lappen eines Bettlermantels« angespielt und damit das Entlehnen unwahrer Stimmungen von alten Klöstern, Burgen, Hirten, die es nie gegeben hat, Schäferinnen, die schon zu Geßners Zeit antiquiert waren, Priestern, die man jetzt in ganz andrer, fast sulfurischer Beleuchtung sieht, und ähnliche Widersprüche angedeutet. Außerhalb des Menzelschen Kreises wurzellos geblieben, gedachte ich in die Heimat zurückzukehren und dort, wenn auch unter mir verhaßten Verhältnissen, doch die Laufbahn als Gymnasiallehrer anzutreten.

»Der alte Cotta« hatte mir allerdings in zutraulichster Weise die Aufforderung zur Teilnahme an seinen Blättern ausgesprochen. Hermann Hauff leitete statt seines kurz zuvor verstorbenen Bruders Wilhelm das »Morgenblatt«. Der wohlwollende Mann nahm, was ich ihm anbot, Skizzen aus dem bürgerlichen Kleinleben Berlins, novellistische Versuche. Eine jeanpaulisierende Arbeit, »Briefe eines Narren an eine Närrin«, zeigte ich Menzel. Ich wollte durch diesen Briefwechsel eine Art Novelle hindurchschimmern lassen, die Aufklärung, worüber beide Teile ins Irrenhaus gerieten. Menzel sagte mir, die wenigen Blätter in der Hand wiegend: »Beinahe geht es mir hier wie mit Wilhelm Hauff, um den die Schwaben jetzt soviel Trauerns anstellen, während die Herren Lyriker bei seinen Lebzeiten von dem frischen Burschen nichts wissen wollten! An den Wilhelm Waiblinger – da haben sie alles gewandt, Empfehlungen, Stipendien, Reisevorschüsse! Da sollte durchaus ein Goethe herauskommen, zum mindesten zum zweitenmal Platen! Warum? Weil er Elegien aus Sorrent, Episteln aus Capri ins ›Morgenblatt‹ schickte, Sachen, die sich in ihrer Weise schulmäßig anließen! Wilhelm Hauff brachte mir eines Tages seinen ›Mann im Monde‹. Es war ein Machwerk ganz à la Clauren, und zwar im vollen Ernste so gemeint. Schämen Sie sich denn nicht? sagte ich ihm. Wollen Sie denn auch den Berliner Postrat nachahmen? Können Sie denn nicht höher fliegen? Nach einer Weile milderte ich meinen Ton und fuhr fort: Kehren Sie den Spieß um, tragen Sie das Claurensche Kolorit noch viel stärker auf, lassen Sie dann das Buch unter Claurens Namen erscheinen, und jeder wird sagen: Sie haben eine köstliche Satire auf Clauren geschrieben. Richtig, Hauff befolgte den Rat und begründete seinen Ruf mit dem ›Mann im Mond‹. Machen Sie es ähnlich! Der kleine Aufsatz gibt ein Buch, wenn Sie alles mit hereinziehen, was in diesem Augenblick die Menschen beschäftigt, Politik, Literatur, Kunst – ich will nicht sagen, daß es eine Satire auf Jean Paul werden soll, bewahre; aber besser verwerten können Sie den guten Titel als durch ein paar Nummern im ›Morgenblatt‹.« Zur Satire auf Jean Paul, den Liebling meines Herzens, den Weisen, den Propheten, war in mir nichts gerüstet. Aber »Briefe« waren damals Mode geworden, »Briefe eines Verstorbenen« – »Briefe eines Lebenden« (von Friedrich Förster) – da konnten wohl auch Narrenbriefe willkommen sein. Ich ging auf den Vorschlag ein. Das Ganze wurde durch Ergänzungen zu einem größern Umfange gebracht und verdankte der Empfehlung Menzels einen Verleger, Hoffmann und Campe in Hamburg, leider in einem Augenblick, wo der Börneschen Briefe wegen in Preußen dieser Hamburger Verlag verboten wurde, der jetzige und der künftige. Die Axt war damit an die Wurzel meiner ersten schriftstellerischen Entwicklung gelegt. Denn wie die Zustände waren, in Österreich nahm man solche Verbote leicht und wußte sie zu umgehen, in Preußen aber herrschte die strengste Aufsicht, und die Loyalität kam den Machtsprüchen der Polizei auf halbem Wege entgegen.

Nach einer Reise über Nürnberg und Leipzig, die wiederum im »Morgenblatt« beschrieben wurde, kehrte ich auf den sich gleich gebliebenen monotonen Schauplatz des »patriarchalischen Despotismus«, Berlin, zurück. Die einzige Frage, die grade das große Publikum auf geistigem Gebiete dort beschäftigte, war die, ob Hegels Nachfolger, Professor Gabler, seiner Berufung gewachsen sein würde. Hegel hatte diesen empfohlen und ganz im Stil seiner Kategorien. Das Sein war schon wieder in demselben Augenblick das Nichtsein. »Er hat mich am besten verstanden und doch wieder mißverstanden –!« Also hatte der Spruch des verstorbenen Begriffs-Bosko gelautet. Gabler war ein ehemaliger Schulamtskollege aus seiner Baireuth-Nürnberger Zeit. Auch Schleiermacher zu ersetzen war eine schwierige Aufgabe, die das damalige Berlin mehr beschäftigte, als wenn es sich heute oder morgen um einen Ersatz für Bismarck handelte. Noch immer reizten die »Briefe eines Verstorbenen« die Neugier des Publikums, ohne diese zu befriedigen. Denn man hatte geglaubt, vom Fürsten Pückler, dem Verfasser, Pikanteres erwarten zu dürfen als Schilderungen des englischen Volkslebens. Diese Briefe wurden gelesen, um zwischen den Zeilen etwas zu suchen, Anspielungen, Indiskretionen. Immer mehr wurden die Neugier und die Skandalsucht das einzige Reizmittel zum Lesen. Selbst die Briefe aus der klassischen Zeit wirkten vorzugsweise nach dieser Richtung hin. Varnhagen begann den Reigen mit seinen Enthüllungen. Seltsam war auch der Effekt, den jedes Hereinragen einer Fürstlichkeit in die Sphäre der Kunst oder Literatur machte. Daß Fürst Radziwill komponierte, daß Herzog Karl von Mecklenburg-Strelitz Komödie spielte oder wohl gar, wie man glaubte, unter dem Namen Karl Weishaupt Lustspiele schrieb, wurde mit einem Behagen empfunden und herumgetragen, als ob man damit etwas ganz Besonderes wüßte und beinahe selbst zum Kreise der Exklusiven gehörte . . .

Die Welt außerhalb Preußens war nicht so still wie der Berliner »Lustgarten« mit seinen Pappeln und dem »alten Dessauer«. In Frankreich versuchte die Herzogin von Berry einen Aufstand in der Vendée. Sie verlor darüber die Freiheit; man schloß sie im Schloß zu Blaye ein. Die Republikaner suchten durch den Juniaufstand in Paris die Julirevolution, wie sie nach ihrer Meinung hätte ausfallen sollen, zu berichtigen. Das gab blutige Szenen und Strafgerichte. In England donnerte O'Connell für die Rechte Irlands, die damals noch keinen Verdacht erweckten, als würden sie nur begehrt zugunsten der katholischen Kirche. In Italien wagten die Karbonari das Abenteuerlichste an Insurrektionen. In Portugal drohte vollständiger Bürgerkrieg. Und darin lag das Traurige, alle Niederlagen des revolutionären Geistes dienten für Deutschland nur dazu, die Einhelligkeit am Bundestage zur Unterdrückung der erhofften Preßfreiheit und der Erweiterung ständischer Befugnisse zu befördern. Metternich hielt über jeden der kleinen Staaten, selbst über Preußen, die eiserne Hand. Überall fehlte die Neigung, etwas anderes zu wollen als Österreich. Aber auch überall ein förmliches Ruere in servitium! Jede Begegnung mit einem Offizier, mit einem Beamten, ja mit einem alten Schul- und Universitätsfreunde hinterließ schmerzliche Stimmungen. Die Welt, in der ich die Eltern und die endlich sich zum Jawort überwindende Geliebte wiederfand, alles gehörte dem banalen System an, das mich überall verfolgte und nur ab und zu einmal von einem Besucher des Stehelyschen Kaffeehauses geheimnisvoll abgelehnt und belächelt wurde. Dabei saß die Polizei, das wußte man ja, gemütlich wie andre ihre »Baisers« verzehrend, ihren Curaçao schlürfend, dicht neben den Besuchern Stehelys, und die Spionage, auch die freiwillige, tauschte Konversation mit uns aus. Meine Bewunderung erregten einige französische Sprachmeister, die vom Signor Stoppani, dem Geschäftsführer bei Stehely, laut den neuesten »Temps« begehrten und sich unbekümmert in medias res ihrer heimischen Interessen warfen. Einige Gäste griffen manchmal die lauten Äußerungen des Anteils derselben auf. Auf die Länge schienen mir im Sommer 1832 bei Stehely zwei Namen unverfänglich zu sein, zum engern Anschluß geeignete Nichtverräter und Nichtspione. Der eine war Doktor Sobernheim, der andre ein Doktor Kottenkamp. Jener ein Mediziner, dieser Philologe. Beide saßen täglich um dieselbe Zeit an derselben Stelle des benannten Kaffeehauses und schlürften ihren Mokka, damals ohne Zigarre. Jener las den »Temps« oder das »Journal des Débats« (der »National« war verboten), dieser die »Times«. Beide betrieben, ohne sich zu kennen, dieselbe Spezialität. Sie waren Konkurrenten, ohne es zu wissen! Sie verfaßten Dissertationen für medizinische Doktoranden. Sobernheim war ein Enthusiast für den berühmten Peter Frank, dessen Werke er herausgegeben hat. Mit Gewandtheit schrieb er Latein, handhabte auch mit Geschick den Gradus ad Parnassum. Dieser, ein geborner Friese, Landsmann seines Lehrers, des Historikers Schlosser in Heidelberg, hatte seltne Kenntnisse in der Geschichte und sprach ein vortreffliches Englisch, das er sich in England selbst angeeignet hatte. Mit diesen beiden eigentümlichen Menschen, von denen Sobernheim ab und zu auch den Schöngeist machte, war ein Austausch von Ansichten in jenem Geiste Süddeutschlands möglich, dem entrückt zu sein ich nach allen Richtungen hin peinlich zu fühlen begann. Was Berlin an literarischer Chronik in seinem »Gesellschafter«, im »Freimüthigen«, im »Conversationsblatt« bot, was Leipzig an jedem Samstag herüberschickte in seinem »Kometen«, »Planeten«, der »Zeitung für die elegante Welt«, Altenburg in seinem »Eremiten«, Dresden in seiner »Abendzeitung«, das lag zwar offen und frei auf, brachte aber nur Zensurgemäßes, überwiegend Berichte über die Theater, denen mich zuzuwenden mir jede Neigung fehlte. Mein Sinnen galt nur dem Kampf für die Ideen der Zeit, und diesem lebte in Berlin noch so gut wie niemand.

In den Berliner Blättern, in denen zumeist Goethe-Vergötterung getrieben wurde, literarische Gesellschaften die Produkte ihrer gemeinschaftlichen Abendessen, Dilettantenware, ablagerten, die Bilder der Kunstausstellungen langatmig besprochen wurden, Reisebriefe, nicht endende Novellen von Willibald Alexis, Daniel Leßmann, von Nummer zu Nummer sich hinschlichen, fielen mir zuweilen Artikel auf, die mit Theodor Mundt unterzeichnet waren. Die Überschriften berührten in der Regel Themata, die sich den modernen Gedankengängen näherten. Sie vermieden den Charakter der landläufigen Belletristik. Ich besuchte diesen jungen Autor, von dem ich wußte, daß er ein Jahr früher als ich vom »Joachimsthalschen Gymnasium« abgegangen war. Er wohnte in der Münzstraße, dem jetzigen Viktoriatheater gegenüber, einer damals grabesstillen, jetzt zum Wohnen vor Lärm unerträglichen Gegend. Ich fand eine angenehme Persönlichkeit, frisches Kolorit der Wangen, langes dunkles Haar, braune Augen voll Ruhe, während im Ton der Rede und im Benehmen eine Befangenheit lag, die fast auf eine kühle Art zu empfinden hinauskam. Ein eigentümlich meckerndes Lachen, das jeden seiner ausgesprochenen Sätze begleitete, störte mich. Der Gegenstände des gemeinschaftlichen Gedankenaustausches gab es genug, Politik ausgenommen, worin der junge, sich zum Privatdozenten vorbereitende Mann ganz dem »innern Gendarmen« folgte, mit welchem nach einem witzigen Ausspruche Glaßbrenners jeder damalige Preuße zur Welt gekommen sein sollte. Ein engerer Bund war mit dem jungen Doktrinär nicht zu schließen. Die ihm eröffnete Aussicht einer Anlehnung an Varnhagen von Ense erschien ihm wie der Eintritt in die Vorhallen des Elysiums.

 

Heidelberg

König Wilhelm von Württemberg hatte bis aufs äußerste gezögert, die Stände seines Königreichs zu berufen. Jahre hindurch hatte er laviert, um den Augenblick hinauszuschieben, wo auch in Stuttgart, wie schon in Karlsruhe, die Stimmungen der Zeit zu einem nicht mehr zu hindernden gesetzlichen Ausdruck gelangen konnten. Sein Ernst Münch arbeitete in der Hofzeitung mit dem ihm eignen Zynismus gegen die Richtungen und Gedanken der Zeit. Es half jedoch nichts, endlich, im Winter 1833, mußte sich der König entschließen, die Stände um sich zu versammeln.

Auch Wolfgang Menzel wurde für einen der Männer gehalten, auf welche die Opposition rechnen zu können glaubte. Hausbesitz hatte ihn für Schwaben nationalisiert. Er wünschte die Aufgabe der Redaktion des »Literaturblattes« teilweise auf meine Schultern zu legen, und ich verließ Berlin gerne, so sehr mich die endlich erfolgte Erklärung in dem früher geschilderten Verhältnisse hätte zum Bleiben überreden sollen. Um jedoch von dieser längern Entfernung mehr Gewinn zu ziehen, als mir Stuttgart gewährt haben würde, faßte ich das schöne Heidelberg ins Auge und ließ mich, obschon auf Grund meiner Preisschrift in Jena bereits Doktor geworden, doch noch einmal als Quasi-Student einer Universität einschreiben. Ich wählte die juristische Fakultät und hörte auch bei Zachariä, Roßhirt, Morstadt. Letzterer, ein Bruder der berühmten Schauspielerin Haizinger, war eines der Originale der Heidelberger Universität, wie denn auch damals die Universitäten mehr eigentümlich hervortretende Persönlichkeiten aufwiesen als jetzt. Die Zeit war noch nicht angebrochen, wo das ewige Hinundherversetzen der Professoren, das Berufen und Berufenwerden fast an die Sphäre der Schauspieler erinnert. Es muß wohl am Übergang so vieler Professoren in Zivilämter, an andre gutdotierte Unterrichtsanstalten, Real- und polytechnische Schulen, an Österreichs gesteigerter Beziehung zum Gesamtleben der deutschen Wissenschaft liegen, daß die Nachfrage auf dem akademischen Markte mit dem Angebot in keinem Verhältnis steht. Die damaligen Zierden der Carolo-Rupertina waren auf ihren Lehrstühlen alt und grau geworden und fast alle mit Haus und Hof im Orte eingebürgert.

Morstadt war ein komisches Original. Man sagte von ihm, er liebte das Glas. Sein Vortrag über Völkerrecht (nach Klüber) bot ihm unablässig Gelegenheit, den Bann des Servilismus zu durchbrechen, der bei den Professoren für ihre Vorträge vorausgesetzt wurde. Denn Denunzianten gab es ja genug und unter den Kollegen selbst. Mit markigen Zügen wußte Morstadt bei alledem die Nichtswürdigkeiten im Gebaren der Kabinette, die Umtriebe der Diplomatie, den wahren Ursprung so vieler folgenreich gewesenen großen Staatsaktionen, auch zugleich manche der erlaubten Schlauheiten im Verkehr der gegeneinander arbeitenden Potenzen darzustellen. Eine gewöhnliche Steigerung seines Vortrags (manchmal stieg dieser bis zu vereinzelt herausgeschleuderten Empfindungs- und Urteilsinterjektionen) war die: »Das, meine Herren, diese Eigenheit mancher Kabinette, ist nun geradezu wieder haar« – sträubend ließ er weg – »nieder« – trächtig ließ er weg, »spitz« – bubenhaft ließ er weg und endete dann ganz gemütlich mit: »interessant«. Die Worte der Kennzeichnung wurden immer nur angedeutet, leise gemurmelt oder hinter den Zähnen behalten. Von den Jesuiten konnte er sich etwa so ausdrücken: »Aber die Gesellschaft Jesu, diese« – jetzt folgte eine Pause, ein grimmiges Mienenspiel, ein Ausdruck förmlicher Wut, auch wohl ein leises »canailleuse« – oder »gottverfluchte« oder sonst eine Vorbereitung auf die allerschärfste Charakterzeichnung und endlich ganz harmlos: – »einflußreiche religiöse Genossenschaft.« Zuweilen platzte das zurückbehaltene Wort auch heraus wie in dem oft erzählten: Diese »ohnsinnige« (Morstadt schwäbelte, wie seine berühmte Schwester), »grondverkehrte«, »domme, wollt' ich sagen nicht zu beweisende Ansicht« wird von dem Verfasser – vertreten, ich will ihn nur mit seinem Anfangsbuchstaben nennen: Mittermaier. Als ich sein Kolleg belegte, hielt mir Morstadt sofort, als ich eben auf sein Herein! in sein Zimmer getreten war, einen Folianten entgegen und zeigte auf ein Titelkupfer. »Das ist er!« sagte er, als sollte ich wissen, womit er sich eben beschäftigt hatte. Es bedurfte einiger Zeit, bis ich mich orientierte. Bald sah ich, daß es sich um das Konzil von Trient handelte und das Bild den Verfasser der Geschichte desselben, Paul Sarpi, vorstellte. Sein Lachen und sein Redenwollen schien anzudeuten, als wollte er sagen: Das ist das berühmte Buch und dessen Verfasser, den bekanntlich der Haß der römischen Inquisition zweimal hat umbringen lassen wollen! Er sagte das nicht, sondern schrieb mir nur die Nummer zum Auditorium auf und sprach dabei langsam in Intervallen: »Cognosco – stylum – (Sie haben Nr. 4) – curiae Romanae! Am 28sten fange ich an.« Glücklicherweise war ich geschichtsbeschlagen genug, um zu wissen, daß er jenen lateinischen Wortwitz (stylus, Dolch oder Schreibweise) des freimütigen Gegners der päpstlichen Anmaßungen meinte, als dieser unter den Dolchstichen der gedungenen Mörder, glücklicherweise nicht zum Tod getroffen, zusammenbrach.

Roßhirt las Institutionen und hatte eine elegante, weltmännische Manier, die für junge Juristen aus Norddeutschland sympathisch sein mußte. Die märkischen Junker konnten auf keinen geeigneteren Kriminalrechtslehrer stoßen. Roßhirt, in seinen letzten Lebensjahren ultramontan, sagte den Juristen schon durch seine äußere Erscheinung: Seid liebenswürdig, zeigt Tournüre, elegante Formen, denkt immer daran, wenn ihr einmal heiratet, daß eure Frau in die Lage kommen kann, die Honneurs einer Ministerin zu machen! Ich fand den Mann, der außer den Honores des Justinian auch die Opes des Galen zu lieben und zu besitzen schien, besonders zuvorkommend gegen mich und hörte auch seinem Vortrage mit reichlichem Gewinne zu.

Zachariä, der »berühmte« Verfasser der »Vierzig Bücher vom Staat«, war das absolute Gegenteil des weltmännischen Roßhirt, ein Zyniker und berüchtigt seines Geizes wegen. Seinem Vortrag über »Naturrecht« konnte ich nicht mit besonderer Anregung folgen. Ein geborner Sachse, früher zur Universität Wittenberg gehörig, knüpfte er an gewisse Stellen seiner Erläuterung der »Vierzig Bücher vom Staat« elegische Reminiszenzen an die schönen Ufer der Elbe an. Gewiß hätte er auch besser in die Leipziger Welt der Krug und Pölitz gepaßt. Große und freimütige Ideen konnten nicht von einem Manne kommen, der mit den Bauern um den Zins seiner Äcker stritt und seine Reisen nach Mannheim nur mit einem Geldsack zur Seite zu machen pflegte, der für seinen Bankier bestimmt war. Es kam vor, daß der lange dürre Mann zum Jubel der Studenten von seinem Sohne erzählte, »der ihm ein Heidengeld kostete«.

Ein Empfehlungsbrief Menzels an Friedrich Creuzer, den »berühmten Symboliker«, zeigte mir in seiner gänzlichen Erfolglosigkeit die vertrocknete Natur einer Geheimen-Hofratsseele von damals. Menzel hatte doch bei Creuzers Streit mit J. H. Voß für die Symbolik Partei genommen, hatte eine besondere Broschüre »Voß und Creuzer« erscheinen lassen, und was geschah? Mit der Miene völliger Stupidität guckte der mit einer großen roten aufgetürmten Perücke ausgestattete Professor den Neuling an und wußte ihn weder jetzt noch später unterzubringen. Als bald darauf Bettinas »Briefwechsel mit einem Kinde« die Geschichte der Stiftsdame von Günderode erzählte, die sich aus Verzweiflung, von diesem Manne da im Schlafrock und der roten Perücke verlassen zu sein, in den Rhein stürzte und den Tod gab, habe ich den Zauber nicht begreifen können, den ein solcher Adept der romantischen Schule einst auf ein weibliches Wesen hatte hervorbringen können. Man klärte mich über den kühlen Empfang in dem alten Eckhause, dem Geologen von Leonhard und der Peterskirche gegenüber, auf. Ich hatte nicht wissen können, daß ich in einem französischen Lustspiel beschäftigt war. Dieser alte Herr mit seinem roten Titus war immer noch so romantischer Komplexion, daß er sich eben mit einem bildschönen Mädchen vom Lande, das seine Enkelin hätte sein können, verheiratet hatte. Da war sein Haus für junge Männer vorläufig nicht geöffnet.

Reichlichen Ersatz für die Professorenwelt, in welcher der Bewohner eines Zimmers in der Mittelbadgasse zu sieben Gulden monatlich keinen Eindruck hatte hervorbringen können, bot die herrliche Umgebung der Musenstadt, die in den Herbsttagen von 1832 und im Frühjahr des folgenden Jahres, ja selbst bei Wintersturm, Frost und Schneewehen, im Wanderschritt reichlich genossen wurde. Fast täglich wurde zeitweise der Wolfsbrunnen besucht, bald der obere, bald der untere Weg zum Hin oder Zurück gewählt; in anderer Periode kam der Philosophenweg an die Reihe, und wenn ihm recht die Arbeiten im stillen Stübchen gedeihen sollten, so lockte den Einsiedler die beruhigendere Ebene auf die Wege nach Wieblingen oder Schwetzingen. Studentenverkehr zu suchen, konnte mir nicht mehr beikommen. Norddeutsche Korpsbursche, Adlige mit rüden Manieren, Gestalten, frech, wie man sie jetzt nicht mehr kennt, überwogen. Auch mußte ich mich damals in den einsamen Spaziergängen, auf moosbewachsenen Steinen, unter herbstlichgelben, ihr Laub festhaltenden Zwergeichen ausruhen, um dem Schmerz Linderung zu geben über die von Berlin ausbleibenden Briefe. Es war die Veranstaltung jener Mutter, die ihr Kind nie einem Manne zu geben geschworen hatte, der nicht seinen Wohnsitz in Berlin aufschlug. Und meine Oberlehrerträume hatte ich doch aufgegeben – – –

»Denken Sie sich die Schwierigkeit meiner Stellung«, sagte mir eines Abends Menzel, als ich zu seinem Weihnachtsbaum 1832 von Heidelberg nach Stuttgart gekommen war und seine Kinder, von den Weihnachtsfreuden übermannt, zur Ruhe gegangen waren und seine für einen Holbein zum Modell passende kernfrische Gattin den Abendtisch ordnen ließ, »ich trete unter fatalen Umständen jetzt in die Kammer. Sie wissen, wie wenig Sympathie die Schwaben überhaupt für Fremde haben! Auch ist mein Verhältnis zur Opposition, zum Kreise des ›Hochwächters‹, nur ein loses! Tafel, der in England die Parlamentsreden studierte, wie sie im schwäbischen Dialekt nachzuahmen, ist mir lächerlich. Aber ich muß doch mit ihnen allen, mit Pfizer, Schott und den andern gehen. Da ist eine kleine Schrift erschienen: ›Divination auf den württembergischen Landtag‹, worin auf meinen Eintritt in die Kammer ein solcher Wert gelegt wird, als wenn ich wunder welche großen Dinge leisten würde. Man rät hin und her auf den Verfasser. Jetzt sagen alle, es müßte wohl Wangenheim sein, der das Ding geschrieben hat. Allerdings stehe ich mit Wangenheim auf gutem Fuß.«

Der ehemalige Minister von Wangenheim hatte als späterer Bundestagsgesandter seinen Abschied genommen. Der freisinnige Staatsmann hatte die von ihm in Frankfurt gegebenen Vota nicht mehr mit den Anschauungen Preußens und Österreichs in Übereinstimmung bringen können. Seitdem außerhalb Württembergs lebend, nahm er doch den regsten Anteil an dem politischen Leben seiner Heimat, ja er war sogar, obschon bei Hofe mißliebig, in die bevorstehende Kammer gewählt worden. In jener »Divination« sah man den Versuch des neuen Abgeordneten, sich eine eigne Partei zu bilden.

Nach längerm Schweigen und Anhören von einzelnen Stellen jener Broschüre sagte ich mit Ruhe: »Wie schade, daß das Ding nicht von einem Bedeutendern kommt! Der Verfasser dieser ›Divination‹ bin ich.« Ich erzählte dem Erstaunten, daß mir in einer Heidelberger Abendstunde der Gedanke gekommen, auf die neue, für Deutschlands Hoffnungen so bedeutungsvolle Kammerperiode hinzuweisen und ihm bei dieser Gelegenheit ein politisches Piedestal zu geben. Buchhändler König in Hanau hätte die wenigen Bogen bereitwillig gedruckt und sogar mit 33 Gulden honoriert. Hoffentlich, schloß ich, würde mein Lob dem Gepriesenen, der sich erstaunt vom Stuhle erhoben hatte, nicht schaden. »Ja, nun erst recht!« mußte freilich die Antwort lauten. »Nun wird man vollends glauben, ich hätte mir die Empfehlung bei Ihnen bestellt.« Ich gelobte zu schweigen, er selbst schwieg, und die Sache geriet in Vergessenheit.

Die Bücher, die ich, nach Heidelberg wieder zurückgekehrt, erledigte, wurden nicht etwa nur durchblättert, sondern wirklich gelesen. Denn sie dienten mir zu eigner Förderung, da sie größtenteils dem wissenschaftlichen Gebiet angehörten. Zur Erholung diente ab und zu eine Gedichtsammlung oder ein Roman, H. Königs »Hohe Braut« oder »Scipio Cicala« von einem damals ungenannten Verfasser, dessen sich erst später enthüllende einflußreiche Stellung mich also nicht hatte bestimmen können, das auf so gründlichen italienischen Studien und einer so warmen idealen Lebensauffassung beruhende Werk zu loben. Inzwischen steigerte sich die Erhitzung der Gemüter in den politischen Bestrebungen. Die württembergische Kammer leistete, was die Patrioten von ihr erwartet hatten. Sie wurde dafür aufgelöst. Kurz nach Ablauf des Winters brach in Frankfurt (in den ersten Apriltagen 1833) ein förmlicher Aufstandsversuch von Studenten und Landbewohnern aus. Die Zornschalen des Bundestags, die »Protokolle«, ergossen sich über die Nation mit Repressivmaßregeln aller Art. Österreich errichtete in Mainz ein eignes Bureau zur Überwachung des Geistes der Rhein- und Maingegenden.

 

München

Als ich mich zur Fortsetzung meiner juristischen Studien und zum Mitgenuß der von König Ludwig I. entfalteten Kunstherrlichkeit nach München begab, mußte ich dort erst den Beweis führen, daß ich am Tage des Frankfurter Attentats irgendwo anders gewesen sei als in Frankfurt. Es dauerte lange, bis die Immatrikulation erfolgte. Auf den deutschen Thronen gab es keinen eifrigeren Verfolger der neuen Freiheits- und Einheitsbestrebungen als denselben Fürsten, der seine Residenz, die reizende Stadt an der Isar, so künstlerisch auszuschmücken begonnen hatte. »Abbitte vor dem Bilde des Königs –!« Man fühlte sich wie in die Zeiten jener Kaiseranbetung zurückversetzt bei den ersten Christenverfolgungen. Soviel Fürstendünkel, soviel förmlich persönlicher Haß des Souveräns gegen die Vertreter der neuzeitlichen Forderungen, und doch ermöglichte dieser Monarch die beglückende Wanderung durch die damals noch nicht so wie jetzt verblichenen Fresken der Arkaden, in die Bonifatiuskapelle, in die Glypto-, die Pinakothek! Mich ergriff Trauer, wie sich so viel hochherziger Mediceersinn mit einer so leidenschaftlichen Verblendung über die ersten Aufgaben des Staates verbinden konnte. Denn König Ludwig faßte die Erlebnisse des Hambacher Festes, die geringen Vergehen des Bürgermeisters Behr, des Doktor Eisenmann wie etwas ihm zum persönlichen Tort Gewagtes und Geplantes auf. »Ist das so ein Säbel, wie ihr Frankfurter dem Doktor Wirth einen für Hambach geschenkt habt?« fragte er auf der Frankfurter Messe einen Spielwarenhändler vor dessen Bude. Vollends machten die Gedichte des Königs das Urteil stutzig. Waren diese auch barock in der Form, so war doch ihr Inhalt meist hochgemut und immer dem Schönen und der Kunst schwärmerisch zugewandt. Das psychologische Problem blieb ungelöst. Daß die Musik nicht veredle, stand mir schon lange fest. Die Ausübung derselben, wenn diese gelingen soll, erfordert Anstrengungen, die eine Menge anderer geistiger und selbst der einfachsten Seelentätigkeiten vollständig in Ruhestand versetzen. Werden dann jene Anstrengungen gar belohnt, so steht der Virtuose, der Künstler, der theoretische Tonverständige gleichsam als ein geschlossener, fertiger Mensch da und selten, daß man noch erfreut wird durch die Entdeckung, dieser Automat habe auch Leben, Bildung, Empfindung, Herzensgüte. In der Regel hat man nur Anmaßung und Gemütsleere. Spontinis Herrschsucht in Berlin, die Unmöglichkeit, die dieser das Gastrecht mißbrauchende Maestro für sein Ohr in Anspruch nahm, sich an Klänge, die nicht von ihm gekommen, zu gewöhnen, war allbekannt. Spätere Beispiele der Inkongruenz zwischen dem musikalischen Wissen oder Können und den Gesetzen der Selbstbeschränkung hat die Epoche der Zukunftsmusik in Fülle gebracht. Aus alledem ergab sich mir, daß Nero, der Citharöde, der Schauspieler und Sänger zugleich, ein schlagendes Beispiel für die ungleiche Verteilung der Gaben des Genius in demselben Menschen war. Auch bei Nero traf in grauenhafter Weise das Wort des Ovidius nicht zu: »Emollit mores didicisse fideliter artes« . . .

Die Konversation Münchens bewegte sich nicht bloß im gastfreien Hause der jungen Frau Birch-Pfeiffer, sondern überall um die Vorkommnisse des Theaters. Damals war demselben gerade in Karl Theodor von Küstner ein neuer Intendant »gewonnen«. Um die Bühne, um die Münchener Schönheiten, die König Ludwig malen ließ, um andere weibliche Existenzen, die mit den Prinzen zusammen genannt wurden, gab es eine fortlaufende Chronik, wie sie München noch jetzt zu lieben scheint. Da war ein Streit zwischen den Kulissen vorgekommen, ein bekannter reicher Hagestolz hatte sich mit einem blutjungen Bürgermädchen (in der Riegelhaube) verlobt, eine baronisierte Schauspielerin war für ihr drittes Kind mit einem Landgut beschenkt worden – kurz, München hatte vollauf seine Chronik und brauchte die der ganzen Welt nicht . . .

 

Doch schien mir der Nimbus dieser Sphäre in München noch trüber als in Stuttgart. Wer in unserem Kreise etwas vom Theater wußte (und im Birchschen Hause war die Chronik desselben die Tagesordnung), hatte nur Intrigen, Schwindel, Hintertreppen- und Schürzenwirtschaft zu erzählen. Bald hatte sich ein Darsteller eine Rolle erschlichen, die ihm nicht gebührte; bald wurde wieder ein anderer wegen Schulden verhaftet. Die Schauspielerinnen und Sängerinnen nannte man selten ohne ihre Protektoren. Die Namen der Prinzen, des Königs liefen mit den Boudoirgeheimnissen der Theaterschönen parallel. Der Säbel des Militärs war in die Strickknäuel verwickelt; und von Ehemännern, denen Überraschungen bereitet wurden, lief eine lustige Anekdote nach der andern um. Es war hergebracht, daß jeder, der dem Intendanten von Poißl gegenüber etwas hatte durchsetzen wollen, sich nur zu einem Repräsentanten des hohen Adels zu begeben brauchte, um Fürsprache zu gewinnen. Der König besuchte diese und jene neue Erscheinung der Bühne, während er seines schweren Gehörs wegen an den Vorstellungen selbst kein Interesse nahm. Nirgends existiert wohl ein Hof, den die Gemütlichkeit des Publikums so herabzuziehen versteht und so in Anspruch zu nehmen wagt für seine eigenen Lebensbedürfnisse wie der Münchener. Andererseits aber auch hat kein Hof so viel Neigung, sich seiner exklusiven Stellung zu begeben. Eine Schauspielerin, die durch die fast täglichen Besuche des Königs in den Ruf gekommen war, als müßte sie Schätze gesammelt haben, versicherte mich: »Ich schwöre Ihnen, nichts habe ich von ihm als einmal einen alten Auerhahn aus dem Wildbretamt und ein andermal eine große Rolle Papier. Ich hielt diese für die Verschreibung eines Landguts. Was war es? Sein lithographiertes Porträt!« Vollends abschreckend war die endliche Ankunft des neuberufenen, durch einen Orden geadelten Küstner. Der Musendienst hat seltsame Priester. Wie sich dieser ehemalige sächsische Advokat, der ein Deutsch wie ein Chaisenträger Dresdens sprach, so lange Jahre in den Hallen Thaliens und Melpomenes, sogar wie ein Mann der Weisheit, hat umtreiben können, ist unbegreiflich. Oder man müßte etwa sagen, es wurde möglich, weil die Intelligenz und die persönliche Würde der damals üblichen Hoftheaterintendanten noch tiefer stand . . .

 

Abermals in Berlin

Berlin wurde meinerseits durch einen Umweg durch die Lausitz, durch das Sandmeer des Spreewaldes, über Frankfurt an der Oder erreicht. Wie man sich in den Prärien unter den hohen Grashalmen, in der Wüste unter den Sandwellen verirren kann, so kann man das, glaub' ich, im märkisch-lausitzer Spreewald unter den Tannen. Daß sich der Postwagen in den Wegen, die nur Wagenspuren im Sande erschienen, zurechtfand, nahm mich wunder. In einem Städtchen, das endlich in freundlicherer Gegend, ja schon den Grüneberger Weingeländen nahe auftauchte, Forst, wohnte von mir ein Bruder. Auf dem Schützenhause, hinter dem gerippten Glase mit Dünnbier, auf der Kegelbahn konnte man glauben, hier noch am Anfang des vorigen Jahrhunderts zu stehen, in jener Zeit, wo ein Kronprinz von Preußen nicht länger in der Mark Brandenburg aushalten zu können erklärte und durchgehen wollte. Jetzt mag sich dies kleine Tuchmacherstädtchen, wie überall die Provinz, weit bewußter und mit der Zeit zusammenhängender fühlen gelernt haben.

Ich war denn wieder im »Bann von Mekkas Toren!« Die lange Frankfurter Lindenallee, das »Schlößchen«, die »Neue Welt«, die vom Postwagen aus zuerst begrüßt wurden, gaben mir den Vorschmack der Erinnerungen voll Schmerz und Herbigkeit, an die ich wieder anzuknüpfen hatte. An jedes Haus knüpfte sich mir ein Gedanke der Erinnerung meist trüber Art. Wie die Dinge lagen und die Personen unverändert standen, war an eine Erhebung aus dem aschgrauen Einerlei in Berlin nicht zu denken. Berlin gehörte dem Militär, den Beamten, den Geistlichen. Es ist kaum zu begreifen, wie aus diesem steifen, zugeknöpften, monotonen, ganz den Sonntagspredigten der Geistlichen hingegebenen damaligen Berlin das jetzige anarchische, wilde, zuchtlose, das mit 25 Theatern gesegnete Berlin hat entstehen können. Die Frage kann den Kulturhistoriker beschäftigen. Doch müßte seine Arbeit, wenn sie richtig ausfallen soll, auf die Entdeckung zurückkommen, daß jenes pedantische, engherzige, penible, philisterhafte Berlin von damals nicht nur mitten in seiner jetzigen Frivolität und demokratischen Wildheit annoch lebt, sondern daß es sogar, nur in anderer Form und unter anderer Maske, den Ton angibt.

Der Entschluß, mich ganz auf meine Feder zu stellen, war nach dieser Reise gefaßt. Mein Schreiben war an sich nur Tatendrang, nur verhaltene Rede zum Volk. Ganz Europa war in Bewegung, nur Deutschland schnarchte. Da die Glocke des Aufruhrs, der Sturm die Schläfer nicht wecken konnte, was blieb übrig, als die Sprache der Literatur zu wählen? Den Formen, die dem Leben gegeben werden sollten, mußte der bildende Geist vorangehen. Wo lagen die Ringe in den Felsen eingemauert, die unsere Ketten festhielten? Die Schule, die Universität, die Kirche hießen diese starren Felsen – selbst Wissenschaft und Kunst hatten sich aufgetürmt, um den freien Geist an seiner Bewegung zu hindern. Zertrümmern läßt sich nichts, was wie von Granit geworden, zerstampfen mit Simsonsstärke kein Damm, kein Wall – was war der unglückliche Versuch jener Handvoll Menschen, der in Frankfurt einige Tote, Verwundete und zwanzig-, ja dreißigjährige Gefangenschaften in Mainz eingebracht hatte? Was hatte er genutzt? Die Lehre Mazzinis: Kleine Emeuten, auch wenn sie unterliegen, beweisen den Mut, der immer noch vorhanden sei, für eine Sache der Überzeugung einzustehen! wurzelt nicht im deutschen Gemüt. Da mußte sich die Einsicht sagen: Es ist das All, der Äther, die uns umgebende Luft, die dem aufgehenden Saatkorn mit milder Anfächelung die Kraft geben muß, daß es sich hält, streckt, wächst; dieser Sphäre allein mußt du deine Kraft widmen! Es geschah dies nicht auf dem belletristischen Gebiet allein, auch auf dem politischen. Regelmäßig schrieb ich Berichte an die neuentstandene »Stuttgarter Allgemeine Zeitung«, an den badischen »Freisinnigen«, der in Freiburg erschien, an die »Augsburger Allgemeine Zeitung«. Doch was war aus Berlin zu melden? Der Monarch behandelte den Staat wie eine Ausstellung, wo man überall die Warnungstafel liest: Nichts anfassen! Reformen – ein schreckenerregendes Wort für einen Charakter, dem die Gewohnheit so lieb geworden war, daß er sich selbst von Hardenberg nicht trennen konnte, trotzdem daß die Schwächen dieses Ministers nicht bloß in seinem Privatcharakter lagen. Außer meinen alten Begegnungen Sobernheim und Kottenkamp fand ich niemand, dem die Zeitbewegung ähnliche Impulse gab wie mir. Selbst ein so harmloses, dem Scharadenscherz und der Theaterchronik gewidmetes Blatt wie der »Don Quichotte« meines Schulfreundes Glaßbrenner wurde verboten . . .

 

Sommerreise nach Hamburg

Nach Berlin gegen Ostern zurückgekehrt, ersah ich trotz der beiden Lorbeerkränze, daß ich in meinem »Maha Guru« die Töne nicht gepfiffen hatte, wonach die Welt zu tanzen liebt. Clauren, Spindler, van der Velde waren bei der Masse, Tieck, Bulwer bei den Anspruchsvolleren zu tief eingedrungen. Die wärmste Empfänglichkeit kam mir von den Mitgliedern des alten Münchener Kreises. Ja einer darunter, jener Student der Rechte, Löning, eine ideale Natur, mochte, obschon durch umfassende Bildung ausgezeichnet, seine Studien nicht fortsetzen und verfolgte den Plan, Buchhändler zu werden, zu welchem Behufe ihm der Anschluß an den Erzähler so zum Bedürfnis wurde, daß er um meinetwillen nach Berlin kam und mich überredete, mit ihm für die Sommerzeit nach dem erfrischenden, wasserreichen, nicht mit dem Sand und Staube kämpfenden Hamburg zu gehen.

Schöne Sommermonate, in einem Häuschen an der Alster, das später der Brand verzehrte, wurden dort mit gemeinschaftlichem Zusammenwohnen, Studien, Arbeiten, Träumereien, Genuß der Natur und des Lebens zugebracht. Selbst die Beziehungen zu dem nur von Heine und Börne erfüllten Buchhändler Julius Campe traten zurück gegen den Reiz, den die glückliche Lage der Stadt, die malerischen Ufer der Elbe, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Fülle und Üppigkeit des materiellen Lebens gewährten. Neue Charaktere, wenn auch wenige von der Bedeutung eines Gabriel Riesser, traten uns da und dort entgegen. Der berühmte Vorkämpfer für die Emanzipation der Juden hatte das Haar eines Negers. Zwar blond, aber so kurz gelockt, daß man es für Wolle hätte halten können. Riessers Art sich zu geben war die spezifisch hamburgische. Alles kam naiv, kindlich, fast schämig heraus, und doch konnte er plötzlich Schneid zeigen. Ist diese Hamburger Art eine Folge des gleichsam erst aus dem Plattdeutschen übersetzten Hochdeutsch? Auch das Plattdeutschsprechen läßt so sonderbar niedlich erscheinen und in der Tat nicht männlich.

Ein Empfehlungsbrief führte mich in das Haus des alten Salomon Heine, der mich zu einem sonntäglichen Familiendiner einlud. Da hatte ich denn die ganze Verwandtschaft Heinrich Heines beisammen. Die Begegnung war nur flüchtig; nur seine Schwester, eine verheiratete Frau Embden, wurde und blieb mir noch in späteren Jahren gewogen. Die Versammlung fand in jenem kleinen, aber innerlich komfortabel eingerichteten Hause am Jungfernstiege statt, das nicht mehr existiert. Schon brannten die Lampen; in Hamburg bleibt man nach dem Fünfuhr-Diner beisammen bis zur Teestunde. Der alte lebhafte Herr, der das Theater mit Leidenschaft, das schöne Geschlecht ebenso, doch mit Maß liebte, gönnte mir den Ehrenplatz an seiner Seite und trug mir, wahrscheinlich zum Leidwesen der nächsten Hörer, seine von diesen wohl schon unzähligemal gehörte Selbstbiographie vor. Der reiche Mann war aus Pyrmont gebürtig, war mit einigen Schillingen in der Tasche in Hamburg eingewandert und konnte nur mit den gewöhnlichen Geschäften angefangen haben, die man noch jetzt die Hamburger Juden auf dem Neuen Steinweg betreiben sieht. Bald aber hatte die Kontinentalsperre seine Erfindungsgabe angespornt, jene Zeit, wo Napoleon die Engländer durch den Einfuhrtarif des Kontinents schlagen wollte und die Insel Helgoland der Stützpunkt des Schmuggels wurde, den seine eigenen Beamten leiteten. Der Schmuggel machte in dem großen Netz, das der Tyrann über den Kontinent gespannt sehen wollte, so viel Löcher, daß Handel und Wandel blühten und sich die vielen, später in die Höhe gekommenen Kommerzienräte die erste Grundlage ihrer Millionärschaft zurechtlegten. Die Kriegslieferungen taten dann das übrige. Bei Salomon Heine waren noch die russischen, dänischen, schwedischen Anleihen der Restaurationszeit hinzugekommen. »Über Literatur kann ich nicht sprechen«, pflegte er zu sagen, »ich kenne keine anderen Aufsätze als die, welche vom Konditor kommen.« Über den Neffen in Paris, dessen noch lebende und in Hamburg wohnende Mutter, die nicht anwesend war, wich der Chef der Familie einer Erklärung aus. Was er über den Dichter sprach, hielt sich im Ton des bekannten Diktums aus seinem Munde: »Hätte mein Neffe etwas gelernt, brauchte er nicht zu schreiben Bücher.« Das sprechendste Beispiel für die Richtigkeit dieser Äußerung war in der Person des Doktors Juris und späteren Handelsgerichtspräsidenten Halle zugegen, der Stolz der Familie, der Schwiegersohn des Wirtes, ein schöner, stattlicher Mann mit funkelnden Augen, krausem, dunklem Haar, kräftigem Backenbart. Sein Gespräch offenbarte Geist und eine weit über sein Fach hinausgehende Belesenheit. Keine der Fragen, die in den dreißiger Jahren die Welt bewegten, keine der engern, die nur die Literatur berührten, war ihm fremd. Seine Rede war wohllautend und trug jenes schöne Gepräge, wo sich Wohlwollen mit vornehmer Haltung verbindet. Das triumphierende Gefühl sämtlicher Tischgenossen über den Besitz eines so ausgezeichneten Mannes verriet sich nicht in seiner eigenen Haltung, die nur würdig und maßvoll, nicht eitel war. Und wer hätte da die tragische Veränderung ahnen sollen, die mit diesem Manne vorging! Als ich zwanzig Jahre später in den Laubgängen der sogenannten »Bürgerwiese« zu Dresden, über die mich mein täglicher Ausgang führte, täglich einem langsam schleichenden, asthmatisch aufgetriebenen, korpulenten Herrn mit grauem Haar und Bart begegnete und zuletzt in Gesellschaften die Bekanntschaft des inzwischen so auffallend Verwandelten erneuerte, erfuhr ich, der ehemalige »Präses Halle« von Hamburg hatte in Dresden eine prachtvolle Wohnung bezogen, gab Gesellschaften von einem Glanz, wie man dergleichen von einem inzwischen durch den Tod seines Schwiegervaters zum Millionär Gewordenen erwarten konnte, galt aber als ein vom Schlage getroffener, zu schonender und nicht nach den üblichen Lebensbedingungen zu beurteilender Mann. Immer noch erlaubte ihm sein umflorter Geist manche Äußerung, die in treffender Weise Vergangenheit oder Gegenwart berührte. Nur fiel mir, ehe ich ganz seinen Zustand kannte, die übermäßige Gereiztheit auf, als ich den reichen Mann um ein Geschenk für die neubegründete Schillerstiftung bat. Ich hatte dabei auf seinen eigenen Verwandten Heinrich Heine hingewiesen, der ja auch in seiner »Matratzengruft«, ich fügte ausdrücklich hinzu, ohne den Beistand seiner reichen Verwandten, schwerlich vom Ertrage seiner Schriften würde haben leben können. Noch ehe ich diesen Satz vollendet hatte, unterbrach mich der Kranke ohne jede Veranlassung mit den Zeichen des äußersten Unwillens. Als wenn eine Anklage bestünde des Inhalts, daß die reichen Verwandten nichts für Heinrich Heine getan, ihn dauernd so gering geschätzt hätten, wie dies in den Zeiten der Konfiskation seiner Bücher allerdings geschehen war, redete er sich teils in eine exzessive Bewunderung seines Verwandten hinein, die ihm wenigstens vor Jahren vollständig fremd gewesen, teils in die durch den Reichtum und die Liebe seiner Verwandten verbürgte unbedingte Widerlegung einer Möglichkeit, die ich ihm doch nur beispielsweise ausgesprochen hatte. Kurz: dies maßlose, fast übermütige Selbstgefühl des Mannes hinderte nicht, daß derselbe gleichzeitig in die trübe Vorstellung versunken war, mit seinem Reichtum könnte es zu Ende gehen, ja er sei schon nahe daran, nichts mehr zu haben. In der Tat traf man ihn in denselben Anlagen um Dresden zuweilen im Begriff, Vorübergehende, einem Bettler gleich, um einige Schillinge anzusprechen . . .

 

Frankfurt am Main

Seit vierzig Jahren haben sich infolge der Eisenbahnen und unserer Einheitsbestrebungen die Eigenarten der Städte verwischt. Wie sind sie sich alle so ähnlich und gleich geworden! Dies Frankfurt am Main, das jedem, der sich etwa einmal zu sagen erlaubte: Wer wird wohl einmal diesen Bissen verschlucken, Österreich oder Preußen? entrüstet antwortete: Der Bissen wird euch im Halse stecken bleiben! Frankfurt verschlucken wollen heißt einen europäischen Krieg veranlassen! wie verriet es Selbstgefühl im Guten und im Schlimmen, in Vorzügen und in verrotteten alten Fehlern! Damals hatte die altberühmte Stadt noch Wallgräben und Türme, Toresschluß und die strengste Kontrolle über jeden Fremdling. Wer sich nach acht Tagen nicht empfahl, war dem »Rat« unbequem, verdächtig. Willfährigkeit, jemand die Ansiedlung zu erleichtern oder wohl gar einen Gewerbebetrieb zu errichten, scheiterte an zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen. Dreierlei Herren regierten die Stadt, Schöffen, eine Art Pairs, Senatoren, die studiert haben mußten, und Männer »des Rats«, die aus dem Bürgerstande gewählt wurden. Zwei Bürgermeister herrschten und nur auf ein Jahr, wie im alten Rom. Sie herrschten mit allem Glanz. Beim Antritt ihres Regiments durften Freudenschüsse erschallen, und alle Welt bewunderte die Kutsche, in welcher sie ihre erste »Römer«fahrt machten. Einer der Schöffen hatte zuweilen eine Kurialstimme am Bundestage, und der emsigsten einer war dann, wenn wieder die Ehre auf Frankfurt fiel, der sogenannte Bibel-Meyer – er hatte die Bibel übersetzt, ein geistvoller, aber schroffer Parteimann. Galt es auf der Eschenheimer Gasse eine neue Maßregel nach den Auffassungen Österreichs durchzusetzen, so war die Frankfurter Stimme sofort gewonnen. Österreich für immer! war Frankfurts Devise, schon seiner damaligen 9000 Katholiken und der Metalliques wegen. Wer über die Zukunft seines Sohnes in Verlegenheit war, brachte ihn im österreichischen Militär unter. Bei alledem empfand man das Verlegen österreichischer Truppen in die teuere Vaterstadt als ein schweres, nicht genug zu beklagendes Unglück. Mit dem Aprilattentat von 1833 waren Bedrohungen der Gefängnisse verbunden gewesen; die von der Stadt selbst mit schweren Kosten gestellte Militärmacht hatte Metternich für keine hinreichende Bürgschaft für die Ruhe Frankfurts, dieser für Süddeutschland so maßgebenden Stadt, erklärt. So war denn nicht zu helfen, das Schmerzlichste geschah trotz der österreichischen Sympathien. »Ei, ei, wo kommst du denn her?« rief ich eines Tages einem Vetter von mir entgegen, einem ehrsamen Buchdruckergehilfen, den in Frankfurt wiederzufinden gleich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft mich überraschen mußte. »Recte aus dem Loch!« antwortete er. »Habe drei Tage sitzen müssen!« – »Nicht übel! Und warum?« – Der kecke Berliner Bursche hatte im Abenddunkel, als eine österreichische Runde vorüberschritt (die Soldaten trugen ihren Proviantsack über der Armatur), zu seinem Nachbar gesagt: »Da kommen die österreichischen Kostbeutel!« Die Enge der sogenannten Schnurgasse, die Schallweite Frankfurter und Berliner Straßen hatte er nicht bedacht. Er wurde mit ein paar Handgriffen in die Mitte des Piketts geschleudert.

Nichts Behaglicheres von einem städtischen Leben kann man sich denken als das Ensemble, das damals in Frankfurt alles, was zu des Lebens Anmut, Bequemlichkeit und höherer Würde gehörte, in nächster Nähe beisammen hatte. Da lag das Theater mit mehr als mittelmäßigen, zuweilen trefflichen Leistungen. Unmittelbar daneben die Post, ringsum lagen Gasthöfe, die für die Kunst der Hotelhaltung als Akademie galten; Kaffeehäuser, gemütlich eingerichtet, noch nicht durch die Fremden aus den nahegelegenen Bädern verfranzösiert. Ein Lesezimmer ersten Ranges lag auf dem Roßmarkt. Eine Gasse voll Buchhandlungen, die Buchgasse, war im Nu zu erreichen (sie legte den Grund zu Deutschlands Einheit; denn hier begann, was sich später in Leipzig für die Kommunikationswege des geistigen Verkehrs fortsetzte); dazu die Senckenbergsche Stiftung, eine Art Akademie für die Naturwissenschaften, sogar mit einer Sternwarte und Anatomie. Nicht zu vergessen das Städelsche Museum, eine lehrreiche Gemäldegalerie mit vielem Schönen und Wertvollen älterer und neuerer Kunst. Und unmittelbar nahe sorgsam gepflegte Promenaden, die sich um die Stadt zogen und sich immer mehr vervollkommneten, mit der Zeit Staffagen immer zahlreicherer Neubauten. An Konzerten, geistigen Genüssen dabei kein Mangel. Was nur an berühmten Namen auftauchte, holte sich, wenigstens hielten die Frankfurter auf diesen Glauben, das Diplom seines ob wirklichen oder nur gemachten Wertes erst von einer Frankfurter Beweisführung für sein Talent. Der Cäcilienverein, der Liederkranz, beide waren von Dirigenten ersten Ranges geleitet. Ein geschlossener Verein, die Museumsgesellschaft, bot einen Mittelpunkt für geistige Geselligkeit. Nur die einzige Stadtbibliothek lag außerhalb dieses schönen, eng zusammengedrängten behaglichen Ensembles. Diese ans äußerste Ende der Stadt zu verpflanzen, war ein unglücklicher Gedanke. Sie hätte in dem Rundkreise um den Roßplatz gerade in der Mitte liegen sollen.

Christ und Jude waren damals gesellschaftlich noch mannigfach getrennt. Zu jener eben gerühmten Lesegesellschaft wurde kein Jude zugelassen. Man hatte die Ansicht: Wo erst einer dieses Stammes Platz gegriffen, da folgen bald die andern, und zuletzt sind wir es, die gehen müssen! Doch gab es Gelegenheiten genug, wo ein jeder so viel galt, als sein Name, seine Bildung, sein Geist vertreten konnte. Immer mehr an Macht gewann die Börse. Börsenspiel wurde eine Kunst, die sich auf Erkenntnis der politischen Zustände gründete, eine Erkenntnis, die nicht überall anzutreffen war. Der Bundestag mochte diese vielen herumwandelnden verkörperten Barometer kaum wünschen, tat sich aber gütlich an den Folgen des immer mehr steigenden Wohlstandes, an den Gastereien, die unter den großen Häusern einen förmlichen Wettstreit erzeugten. Auch eine aristokratische Gesellschaft gab es, obschon dieser die eigentlich fesselnden Bindeglieder, geistreiche und schöne Frauen, fehlten. Nur von einigen Gefallsüchtigen wußte die Chronik grade dieser Sphäre zu erzählen. Ab und zu fuhren die umwohnenden Souveräne die stattliche »Zeil« herauf. Denn bei Rothschild gab es immer zu handeln und zu markten. Stammgast in Frankfurt war der Herzog von Nassau, der sich im Gasthof zum »Römischen Kaiser« sogar mehr als erster Weinhändler Deutschlands, denn als Fürst zu fühlen schien.

Ein so kleines und doch bedeutsames Terrain erschien wie ein Glashaus, wo das von oben hereinfallende Licht jeder Physiognomie eine schärfere Zeichnung gibt. Immer streiften hier Menschen aus den verschiedensten Gegenden oder Tätigkeitsgebieten dicht aneinander. Der Beobachter konnte in diesem Verkehr nur lernen. Das Entgegenkommen, das ich fand, war von allen Seiten das wohlwollendste. Hatte ich doch die Gunst der Stadt rasch gewonnen durch einen Vortrag in der erwähnten Museumsgesellschaft. Weit entfernt zu glauben, daß hier eine ernste Abhandlung am Platze gewesen wäre, hatte ich dem Publikum der »Museumsabende«, welchem Musik über alles zu gehen und hinter dieser jeder Vortrag über Goethe oder Schiller, über Posa oder Hamlet langweilig vorzukommen schien, eine »Naturgeschichte der deutschen Kamele« vorgelesen. War es die Rückkehr des Doktor Rüppell aus Abessinien oder worin sonst die Anregung gelegen hatte, meine Schilderung des deutschen Philisters, des »Kamels«, fand eine solche Zustimmung bei Männern sowohl wie Frauen und erregte ein solches Ausschütten der Lachlust, einen solchen Sturm von Beifall, daß ich meine Stellung in Frankfurt, den Bundestag und die mit diesem kokettierende Sphäre des Adels und der großen Bankiers ausgenommen, für mehr als leidlich begründet halten konnte . . .

»Das Leben Jesu« von Strauß war erschienen. Es erregte einen Sturm – der Entrüstung nicht nur in der theologischen, sondern in der ganzen gebildeten Welt. Und auch außerhalb Deutschlands. Die Stimmen, die für den jungen Tübinger Repetenten auftraten, waren zu zählen. Daß damals Strauß noch ein ausgesprochener Hegelianer war, schadete ihm. Aber das Buch wurde darum verschlungen und zum Sauerteig für Deutschlands geistige Gärungen. Der Mythus Christi, dargestellt aus orientalischen Parallelen und den messianischen Weissagungen der Juden überhaupt, machte eine Menge anderer Dinge in Staat und Kirche, in Wissenschaft und Leben zu Mythen. Bei alledem war selbst der Vernunftglaube in betreff der Person Christi nicht gewonnen. Der Mythen-Christus verging in Nichts, in Nebel; es hätten nur einige Stellen bei Tacitus und Josephus zu fehlen brauchen, und selbst die Kreuzigung Christi würde nach dem damaligen Strauß ein mythisches Gebilde aus orientalischen Parallelen (etwa zum Tod des Prometheus, zum Opfer Abrahams) geworden sein. Das befriedigte nicht. Man hatte selbst in den aufgeklärtesten Kreisen das Bedürfnis eines historischen Christus, eines edlen, sittenreinen, begeisterten Menschen, eines Märtyrers, der auch dem Neologen interessant und ehrwürdig blieb. Diese Stimmung ließ mich auf die »Wolfenbüttler Fragmente« zurückkommen.

Der Ursprung dieses von Lessing herausgegebenen Werks hat die Literarhistoriker vielfach beschäftigt. Ja, ich erinnere mich, daß sogar einer der Kontroversisten einen großen Aufbau von Wahrscheinlichkeiten herausgegeben hat, um zu beweisen, daß der bekannte Reformator der Ackerbaumethoden, Albert Thaer, der eigentliche Verfasser gewesen sei. Es steht fest, Reimarus, der Hamburger berühmte Arzt, war der Autor. Das weitläufige, etwas schwerfällig geschriebene Buch entzieht sich dem großem Publikum. Diesem es zugänglicher zu machen, seine Quintessenz zu geben, war die Absicht einiger Bogen, die ich ebenso herauszugeben gedachte, wie ich Schleiermachers »Vertraute Briefe über die Lucinde« gleichsam gerettet hatte. Denn die Sammler seiner Werke hatten diese ausgeschlossen. Der sonst so mutige Verleger hatte aber diesmal Furcht, und zwar – vor den Hamburger Pastoren. Metternich, Kaiser Nikolaus, nichts war imstande, ihm Vorsicht anzuraten, Börne und Heine mochten bringen, was sie wollten, aber die Nachfolger Johann Melchior Goezes zu reizen, wagte er nicht. Als Besitzer eines ansehnlichen Buchgeschäftes wollte er im eignen Weichbild Ruhe haben. So erhielt ich diesen Auszug aus den »Wolfenbüttler Fragmenten« von ihm zurück. Es war in einem Augenblick, wo ich einem Vorfall träumerisch nachhing, der mir in einer Gesellschaft bei dem Arzte Clemens begegnet war. Ein junges Mädchen, dessen heitre Laune, blühende Wangenfarbe mich schon öfters angezogen hatte, kam bei zufälliger Berührung der theologischen Streitigkeiten des Tages und der Christusfrage in eine Aufregung, die mich erschreckte. Mit beiden Händen abwehrend, die Augen weit aufgerissen, rief sie mir entgegen: »Davon reden Sie nicht! An all das nur zu denken macht wahnsinnig!« Mich hatten diese Worte um so mehr erschüttert, als ich eine Neigung in mir fühlte, mich der jungen Dame zu nähern.

Dieser letztere Schritt wurde später auch getan und wieder zurückgetan. Nur jenes Wort verhallte nicht und gestaltete sich zu einer verhängnisvollen Einheit mit Campes Mutlosigkeit. Die Probe auf Zustände, in welche die Menschheit fallen würde, auch wenn sie aufhörte zu glauben, was im Katechismus steht, wurde mein ständiges Grübeln. In unsern Tagen ist dieser Gedanke den Autoren geläufig, und niemand nimmt an einer Diskussion über die Frage »Brauchen wir überhaupt noch Religion?« besondern Anstoß. Damals war ich, der ich auch noch jetzt diese Frage eine mutwillige nenne, der Steinigung nahe.

Mein Mannheimer Freund, der junge neue Verleger, drängte um ein Buch, womit er debütieren konnte. In frühen sommerlichen Morgenstunden schrieb ich ihm eines. Um den Kern jenes Auszugs aus den »Wolfenbüttler Fragmenten« entstand »Wally, die Zweiflerin«. Lebensfroh, poetisch gestimmt, wie wir beide waren, hatte ich auf seinen Wunsch sogar einen weiblichen Charakter hereingezogen, der vollständig, die Dame verherrlichend, nach dem Leben gezeichnet war.

Bis ein Buch gedruckt ist, versandt, angezeigt wird und die Spuren kommen, daß es gelesen wird, vergeht eine geraume Zeit. Sorglos wurde eine Fahrt mit dem Verleger in einen der Taleinschnitte des Odenwaldes gemacht, wo – erst das Papier zu dem verhängnisvollen Debüt bestellt werden mußte. Inzwischen wurde ein Bekehrungsversuch zu andern Lebensanschauungen, als die ich fortgesetzt, zugleich in meinem »Literaturblatt«, vertrat, mit mir angeknüpft. Dieser sollte von dem Verfasser einer Korrespondenz in der »Allgemeinen Zeitung«, die damals Aufsehen erregte, kommen. Das Zeichen »Halle«, womit die Briefe versehen waren, ließ lange auf Heinrich Leo schließen; denn dessen Hallersche Staatstheorie, die bei dem Geschichtsschreiber des jüdischen Staates nach einem freisinnigen Anfang immer mehr hervorgetreten war, wurde in diesen Berichten als Maßstab auf die schwebenden Tagesfragen angewendet und zuweilen mit Tatsachen vermischt, die nur aus einer offiziellen Quelle geflossen sein konnten. Es begannen in jenem Jahre die nachträglichen Burschenschaftsabstrafungen. Das »Hotel Dambach«, wie die Berliner Hausvoigtei nach dem Untersuchungsrichter genannt wurde, wurde nicht leer. Auch hierauf fehlte es nicht an Anspielungen in den Briefen des Hallensers. Nur eine gewisse modern-belletristische Färbung im Stil lenkte von der Vermutung, Leo sei der Urheber, wieder ab. So war ich denn erstaunt, als sich eines Tages Joel Jacoby, mein alter mir von Berlin her befreundeter Königsberger, der immer noch nicht getauft war, als Verfasser enthüllte, mir eine Umkehr meiner Richtung aufs dringendste anriet, hohe Gönnerschaften in Aussicht stellte, die hinter seinem Rücken stünden. Alles das in eigner Person; denn er machte mir in Frankfurt seinen Besuch. Ich erstaunte über seine elegante Erscheinung. In seinem frühern Anzuge, als wir zusammen Hegels Enzyklopädie studierten, hatte er dem Diogenes in der Tonne geglichen. Eine abstruse, menschenscheue Art hatte er immer. Es wurde mir schwer, ihn mit einem Kreise von Gästen, die ich ihm zu Ehren einlud, wohltuend zu vermitteln. Wie ich gesinnt war und es bleiben wollte, zeigte eine Vorlesung, die ich den Gästen anzuhören zumutete. Am selben Tage hatte mir ein Flüchtling, ein Gießener Student, Georg Büchner, aus Straßburg ein Manuskript geschickt. Es war jenes an witzigen Einfällen und charakteristisch wiedergegebenen Momenten der französischen Revolution beachtenswerte Drama »Dantons Tod«. Der gleichfalls anwesende Buchhändler J. D. Sauerländer erbot sich sofort, es zu verlegen, und schickte dem von allen Mitteln entblößten, von seinem Vater zur Strafe für seine politische Gesinnung sich selbst überlassenen jungen Mann, der später in Zürich ein vielversprechender Physiolog wurde und allzufrühe starb, hundert Gulden als Honorar. Jacoby reiste unverrichteter Sache nach der Schweiz. Er mußte ein Abgesandter des Kabinetts Rochow gewesen sein. Denn als man kurz darauf den Studenten Lessing, einen Preußen, in einem Gehölz bei Zürich ermordet fand und es allgemein hieß, es sei an ihm die Strafe des Verräters und Denunzianten vollzogen worden, brach Jacoby seine Reisepläne ab, verließ die Schweiz und hielt sich mehrere Jahre lang vor der Öffentlichkeit ganz verborgen.

Meinen Freund Kottenkamp zog ich auf seinen Wunsch von Stehely und den für andre geschriebenen Doktordissertationen Berlins nach Frankfurt. Buchhändlerische Aufträge, die ich ihm verschaffte, fristeten seine Existenz, bis ihn in spätern Jahren die »Allgemeine Zeitung« in ihre Redaktion aufnahm. Ludolf Wienbarg kam von Bonn. Der Versuch einer Habilitation war ihm dort mißlungen. Unser Kreis vergrößerte sich. Ein Bremer Advokat Eduard Beurmann, der eine Schauspielerin geheiratet hatte und dem Impulse ihres Künstlerdranges, der Bühne treu zu bleiben, nachgegeben, begründete sich in Frankfurt, wo ihn verwandtschaftliche Bande fesselten, eine literarische Existenz. Mit lebhafter Beteiligung schloß er sich dem »Phönix« und andern Zeitungen Frankfurts an. Wienbarg, von welchem der Ausdruck »das Junge Deutschland« herrührte, suchte ein Assoziationswirken zu befördern. Der »Phönix« bot nicht Raum genug für soviel Federn. So wurde denn eine Wochenschrift geplant, die der Mannheimer Freund verlegen sollte, »Deutsche Revue«. Wöchentlich drei Bogen in Großoktav, fast ganz nach dem Muster der »Revue des deux mondes«. Mitarbeiter wurden unter den ersten Namen Deutschlands gesucht und gefunden. Fast alle sagten zu. Es war, als hätte ein solcher Vereinigungspunkt auch für die gelehrte Welt gefehlt. Die Wissenschaft fühlte den Trieb, auch einmal zu einem größern Publikum, jetzt sagt man zum Volke, zu sprechen. Die Last der Organisation, das Entwerfen des Prospektus, die Beziehungen mit dem Verleger, alles das entfiel auf mich. War doch der Mitredakteur Wienbarg einer von den Geistern, die nach Steffens' Definition, dem Volk sei seine Arbeit Genuß und dem Adel sein Genuß Arbeit, zur höchsten Aristokratie gehörten. Es gefiel ihm baß in den Gemütlichkeitshallen Frankfurts, wo am Schoppentisch manche Freundschaft mit verwandten Seelen, z. B. dem Schauspieler Julius Weidner, geschlossen wurde. Sein Unvermögen, die Feder zum schnellen Ansatz zu bringen, ersah ich aus einem Blick in seine Papiere, die mir durchzusehen sein später hinterlassener Koffer zur Pflicht machte, als er sich ohne Abschied von Frankfurt empfohlen hatte. Ich fand dreißig saubre Briefbogen. Auf jedem derselben waren drei bis vier Zeilen des Anfangs einer Erklärung über die Bestrebungen der neuern Literatur versuchsweise niedergeschrieben. Immer wieder war die Wendung, die er suchte, nicht getroffen. Immer sollte ein neuer Briefbogen den Schwung bringen, der sich denn auch endlich auf dem 31. Bogen eingefunden haben mußte, denn nach langem Drängen um diese Erklärung von meiner Seite kam sie endlich zustande. Eingeräumt muß werden, daß der »nordische Recke« im Fluß des Redestroms, im Rhythmus des Stils, in der Beherrschung der Gedankenfolge in seinen Arbeiten uns allen, Laube und Mundt nicht ausgenommen, schon durch sein Alter zuvor war. Er zählte damals dreiunddreißig Jahre.

In dem von mir allein, dem Vierundzwanzigjährigen, verfaßten Aufrufe zur Teilnahme an dieser Wochenschrift sagte ich über die Kreise, die wir gewinnen wollten: »Die Wissenschaft sehnt sich aus ihren dumpfen Sälen hinaus in die freie Natur; der Vogel Minervens ist nicht mehr die Eule, welche das Licht scheut, sondern der Adler, der mit offnem Auge in die Sonne fliegt. Welcher Gelehrte würde zaudern, aus den ihm dargebotenen Blumenkränzen der Poesie auch für sich eine Frühlingsrose zu wählen und sie an den Talar seiner Inauguration zu stecken! Wer würde seinen toten Abstraktionen nicht gern einmal jene blendenden Gewänder anziehen, welche ihnen die Dichtkunst aus tönenden Worten und lachenden Gleichnissen webt! Die ›Deutsche Revue‹ entsteht in einem Augenblicke, wo wir auf dem Antlitz der Göttin unseres Vaterlandes eine drohende und wehmütige Falte entdecken; in einem Augenblick, wo wir den Vorwurf und den Schmerz empfanden, daß so zahlreiche Kräfte, statt einen gemeinsamen Tempel des Nationalstolzes zu bauen, sich in isolierten Zwecken zersplittern. Wir lassen unsern Aufruf ergehen sowohl an den Katheder wie an die Dachstube, vor allen an die, welche lieben im Angesicht des gestirnten Himmels oder an stillen Schattenplätzen des Waldes zu dichten und zu denken. Auch nicht bloß an Renommeen knüpfen wir die Hoffnung eines glänzenden Erfolgs. Wir kennen die zahlreichen Kräfte, die in Deutschland schlummern, die schaffenden Gedanken, die sich nach einer Bühne für die Gestalten umsehen, die jungen Dichter, denen das Wort auf der Lippe verglüht, die jungen Gelehrten, die vergebens den Weg vom Katheder zur Nation suchen – allen diesen Gehemmten, Schweigenden, stolzen Unberühmten wird das Organ der ›Deutschen Revue‹so willkommen sein, als ihr Eintritt uns. Wir rechnen auf die Zeit und die Genossenschaft der Edlen . . . Was somit die ›Deutsche Revue‹ bringen wird, soll sein Poesie in allen ihren Offenbarungen; Spekulation aus allen Fakultäten; Kritik der vorzüglichsten Erscheinungen in der Literatur; Korrespondenz aus allen Ecken und Enden des Vaterlandes, wo etwas geschieht, das würdig ist, gewußt, verstanden, belobt, widerraten oder nachgeahmt zu werden. In jeder Woche ein Heft, jedes Heft von drei Bogen, wird die ›Deutsche Revue‹ den Charakter als Journal und Buch vereinigen und sowohl das Stockende der Monatsschriften wie das Verschlissene der Tagesblätter vermeiden. Im gehaltenen Strome ihres Erscheinens wird die zerstreute und eilende Zeit sich hier einigermaßen würdig gesammelt und abgespiegelt wiederfinden.«

Daß auf eine solche Ankündigung die Zusage von mehr als fünfzig der damaligen ersten Autoritäten, August Boeckh an der Spitze (»ich freue mich«, schrieb mir der würdige Altertumsforscher, wenn schon mit ironischer Wendung, »daß Sie sich in Dingen auszeichnen, die Sie nicht von mir gelernt haben«), von Namen kam, die vom Verleger bei gelegentlichen Voranzeigen genannt zu werden anfingen, worüber die Leipziger Zeitschriften, vor allen auch die Cottaschen, in Aufregung gerieten, liegt auf der Hand. Fern sei es jedoch von mir zu behaupten, daß die J. G. Cottasche Verlagshandlung, obschon derselben der Rückgang des »Morgenblattes« schon damals empfindlich zu werden anfing, irgendwie an dem heftigen Angriff, den wir von dem nun pro domo kämpfenden Menzel erfuhren, beteiligt war. Stand ich doch zu ihr durch meine »Öffentlichen Charaktere«, die in der »Allgemeinen Zeitung« die Teilnahme des Publikums und sogar Metternichs gefunden hatten, in gutem Einvernehmen. Der ehrliche ruhige Herrmann Hauff, der Redakteur des Hauptblattes, war aus seinem gewohnten Gleichmut nicht herauszubringen. Nein, nur die Gustav Schwab und Gustav Pfizer, sie, die ihre Weise, die Traditionen der Literatur fortzuführen, für die allein maßgebende hielten, im Bunde mit ihnen das »Literaturblatt« Menzels, das sich schon durch die literarischen Bulletins der »Zeitung für die elegante Welt« für gefährdet gehalten hatte, regten einen Sturm gegen das neue Unternehmen auf. Den neuen Verleger Liesching verdroß nicht minder die neue unternehmende Firma meines Freundes. Wie würde er sonst in Person die Feder ergriffen und eine Broschüre gegen die »junge Literatur« geschleudert haben! Den entscheidenden Schlag führte Menzel durch eine Kritik meiner »Wally«, die inzwischen erschienen und verbreitet war. Er forderte die Regierungen gradezu auf, hier ein Einsehen zu haben und mit Gewaltmaßregeln gegen die Neuerer einzuschreiten. Jener Roman, der sich der endlich errungenen Freiheit bedient hatte, daß Bücher über zwanzig Bogen der Verpflichtung, sich zensieren zu lassen, überhoben waren, wurde in Mannheim, dem Orte, wo derselbe erschienen war, sofort mit Beschlag belegt und hierauf überall konfisziert. Da fingen denn die gewonnenen Mitarbeiter der »Deutschen Revue« an, in der »Allgemeinen Zeitung« mit Zurücknahme ihrer Beitrittserklärungen ein wahres sauve qui peut anzustellen.

Die Menzelsche Kritik war ein Ausbruch jener Phantasie, die noch kurz zuvor in dem Buche »Geist der Geschichte« von einem Weltbrand, einem Mord der Menschheit unter sich bis auf den letzten Mann geträumt hatte. Jene Parallelen, die den ehemaligen Gönner und Freund bestimmten, von harmlosen schwäbischen Advokaten zu sagen: In dem steckt Robespierre! In dem Danton! Der zimmert schon die Guillotine! überkamen ihn auch bei seiner gegenwärtigen Arbeit, die auf meine Vernichtung abgesehen war. Da waren durch mich wieder die Greuel der Wiedertäufer von Münster im Anzuge; hatten ja auch dem Jan von Leyden exzentrische Schriftsteller vorgearbeitet, dem Umsturz von Kaiser und Reich, der Güterverteilung, der Ehe mit zwölf Frauen zu gleicher Zeit. Anacharsis Cloots in der französischen Revolution war ein ihm immer gegenwärtiger Schreckensname, Eulogius Schneider, Saint-Just nicht minder. Alle waren sie wiedererstanden. Die »Schamlosigkeit der Sitten« hatte sich mit der »Schändung der Religion«, mit dem Umsturz der Throne, mit der Ausrottung des Adels verbunden. Eine allzu sorglos empfundene und ausgeführte Szene in dem denunzierten Buche bot die Unterlage für die übertriebensten und unwahrsten Ausdeutungen, um auf alle Fälle Abscheu und Ekel zu erregen.

Die erste Wallung des mit Füßen getretenen Ehrgefühls war die, es bei einer solchen Führung des Kampfes auf Tod und Leben ankommen zu lassen. Wienbarg stellte die Duellforderung, Eduard Beurmann brachte aus Sachsenhausen die Pistolen herüber, die der dort kommandierende Oberst der Österreicher lieh, Freiherr von Cuddenhove; der Reisekoffer war gepackt. Heilbronn wurde von uns als Ort der Begegnung bezeichnet. Eine Übung in der Schußwaffe fehlte mir. Gleichviel. Es schien mir, als sollte mir am Leben nichts mehr gelegen sein.

Als wir schon zur Post gehen wollten, kam ein Stuttgarter Brief und die Erklärung des Geforderten: »Nicht hinter Hecken und Zäunen erwarte ich meinen Gegner, sondern auf dem offnen Felde der Literatur.« Eine feige, elende Ausrede, wenn man die Kampfesweise schon über alles Maß dessen, was im Literaturleben üblich und Sitte ist, hatte hinausgehen lassen. Die Verteidigung mußte sich nun auf Broschüren beschränken. Leider machten diese das Übel ärger. Da sie nichts zurücknehmen mochten, sondern dem so abscheulich klingenden Worte »Emanzipation des Fleisches« Trotz boten und in die Debatte über das, was damit gemeint sei, näher eintraten, so verschlimmerte der Angeklagte seine Lage. Manche meiner Widerlegungen des auf Vernichtung berechneten Urteils konnten kaum abgelehnt werden. So hatte auch Menzel Schleiermachern, wie Goethe, aufs Korn genommen und nicht etwa seiner Halbheit wegen, wie später Strauß und ich schon in einem Nachruf in der »Allgemeinen Zeitung« unmittelbar nach seinem Tode, sondern im Sinne von Tholuck und Hengstenberg. »Eine Religion für Gebildete!« rief Menzel aus und schilderte nach Schleiermachers bekannten Reden die Dogmatik des berühmten Theologen wie etwa ein Seitenstück der ihm so verhaßten »Stunden der Andacht«. Meine Entgegnung brachte die Stelle: »Schleiermacher hat niemals von einer Religion für Gebildete gesprochen, sondern er hat Reden herausgegeben an ›die Gebildeten unter ihren Verächtern‹. Es ist wahrlich ein großer Unterschied zwischen einer Religion, welche sich nur für die privilegierten Stände eignen soll, und zwischen religiösen Erweckungen für diejenigen unter den Indifferentisten, welche noch für etwas Höheres sich den Sinn erhalten haben.« Charakteristisch dürfte für die jetzt ganz offen gestellte Frage: Haben wir noch Religion nötig? die Stelle meiner Verteidigung sein: »Ich habe nichts im Sinne als eine Verbesserung des mißverstandenen Christentums. Eine jede Verbesserung ist in ihrer ersten Instanz kritischer Art. Alle meine Einwürfe gegen das Christentum sind kritisch. Sie gehen auf den Ursprung des Christentums zurück, dessen erste historische Erscheinung, die mir mehr der Welt- als der Religionsgeschichte anzugehören scheint. Wenn man mir den Vorwurf macht, daß diese Prüfungen alle schon einmal dagewesen sind, so antworte ich, daß sie unterbrochen wurden und deshalb neu aufgenommen werden müssen.« An einer andern Stelle: »Ich glaube an Gott, aber ich soll gesagt haben, es wäre gut, wenn es niemand täte. Das habe ich nirgends gesagt. Nur eines wagte ich, mir einen Augenblick die Möglichkeit zu denken, ob die Welt auch ohne Religion hätte existieren können. Glücklicher würde sie sein, sagte ich, wenn sie von Gott nie gewußt hätte; glücklicher, wenn keine Betrüger aufgestanden wären und die Völker an den Aberglauben geschmiedet hätten; glücklicher, wenn der Fanatismus keine Scheiterhaufen hätte anzünden können; glücklicher, wenn niemals blutige Religionskriege wären geführt worden. Aber die Menschheit sollte dies friedliche Glück entbehren.«

Schon mit Ankündigung der »Deutschen Revue« war ich vom »Phönix« zurückgetreten. Jetzt war nun auch die »Revue« zerstört. Der Vater des Verlegers verweigerte die Mittel. Ohne ein Organ mochte ich nicht sein. So forderte ich den Besitzer zweier Buchhandlungen, der Varrentrappschen und der Andreäschen, Krebs hieß er, auf, ein kleineres Blatt »Deutsche Blätter«, das ich allein schreiben wollte, zu verlegen. Man war sofort bereit dazu. Schnell wurde die erste Nummer gedruckt und versandt. Da kam plötzlich ein unbedingtes Non possumus. Von oben her, aus der Region des Bundestages, wurden die Verleger bedeutet, nicht nur, daß eine Gesamtmaßregel gegen diese neuern Schriftsteller bevorstände, sondern auch daß ihnen persönlich eine Vergünstigung würde entzogen werden, die sie bisher genossen hatten, der Druck der Protokolle des Bundestages, wenn sie den Verlag übernähmen. Da waren denn die »Deutschen Blätter« eine glühende Kohle, die nicht schnell genug aus der Hand geworfen werden konnte.

Die Verdüsterung des Horizontes mehrte sich durch eine Maxime meiner Lebensphilosophie, die ich nicht jedem anempfehle. Sie verband Leichtsinn mit Gewissenhaftigkeit. »Wie«, sagte ich oft im Übermut der Jugend zu mir, »was tut es? Du wirfst deinen Ball in die Höhe, gleichviel, wohin er fällt. Nur darauf mußt du sehen und nicht eher als braver Mann ruhen, bis du ihn wiedergefunden hast!« Diese letztere Vorschrift war Pedanterie, Gewissenhaftigkeit, Pflichtgefühl, wer weiß es – jedenfalls Nazarenertum bis zur Selbstqual. Jenes In-die-Höhe-Werfen des Balls, die Versuchung des Zufalls hätte mir alle Vorteile des Weltkindes gesichert, wäre nicht immer das Prinzip des Korrigierens und Rektifizierens hintennach gekommen. Auch die Sehnsucht nach dem eignen Herde verband sich mit dieser Maxime von dem in die Luft geworfenen Balle und der dann oft schmerzlich genug angestellten Wanderung auf – Such! Such! Verloren! Alle vernünftigen Erwägungen hätten mir anraten sollen, noch lange nicht an die Ehe zu denken. Aber der Ball wurde geworfen. Der edle Glaube und das Vertrauen eines jungen weiblichen Herzens, das ich in meine gefahrvollen Lebenswirbel und -strudel mit hineinzog, erleichterte mir die schwere Aufgabe – ihn wiederzufinden.

 

Im Mannheimer Gefängnis

Die fortgesetzte Unterdrückung eines Buches war nach badischem Gesetz nicht möglich ohne richterliche Erkenntnis. Es mußte also zum Prozesse kommen. Die Vorladung nach Mannheim traf ein. Hundert Stimmen, hörbare und innere, sagten: »Fliehe über den Rhein! Entziehe dich den Demütigungen, die deiner harren! Die Fremde ist dir lehrreicher und geistig fördernder als die dumpfe Luft, in der man sich in Deutschland bewegen muß!« Aber – es galt jetzt, den Ball wiederzusuchen. Ich war verlobt. Diese Scheidewege wiederholen sich im Menschenleben. Der Gewissensmensch ist ein ewiger Märtyrer. Selbst ein Stelldichein vermag er nicht zu versäumen, ob er es auch in einem leichtsinnigen Augenblick versprochen hatte und in einem Augenblick, den er längst bereute, längst in sich überwunden hat! Du hast der Harrenden dein Wort gegeben! So schleppt sich der Gewissensmensch manchmal wider Willen – auf die Schlachtbank der Verurteilung! Voraussetzungen zu täuschen, wozu man Berechtigung gegeben hat, in meinem Falle verlobt zu sein und Deutschland auf Jahre zu verlassen, das hätte auch hier nur einer von den immer klugen und weisen Menschen vollbracht, denen immerdar gegenwärtig ist, was dem Gedeihen ihres eignen Ich besser bekommt oder nicht.

Mückenseigerische Pflichterfüllung, das kategorische Gesetz einer angebornen Pedanterie des Herzens mag es nicht ganz gewesen sein, daß ich dann auch, als der Goliath des Philistertums die Drommete erschallen ließ und rief: »Gebt mir einen und laßt uns miteinander streiten!«, dann wirklich in die Arena hinunterstieg und es auf einen Gang gegen das gezückte Messer ankommen ließ. In zwei Flugschriften hatte ich die Sache, die verdammt werden sollte, im Grunde nur ärger gemacht. Den gerichtlichen Gang nahm ich aus Kampfeslust, ja mit Siegesvorstellungen auf. Wie mich der Minister Badens, »Vater Winter«, als ich ihn in Karlsruhe besuchte, aufnahm, wie derselbe die Beschlagnahme ausdrücklich als eine notwendige Folge der Menzelschen Kritik bezeichnete und ein mildes Verfahren in sichre Aussicht stellte, während ich doch gleich bei der ersten Begrüßung der berühmten Stadt der Quadrate arretiert wurde, steht in des Verfassers »Lebensbildern« ausführlich zu lesen. Auch die überraschende Genossenschaft, die mir in den Räumen des Gefängnisses durch den miteingesperrten Schauspieler Theodor Döring zuteil wurde, steht in meinem Buche »Die schöneren Stunden« nach dem Eindruck wiedergegeben, den eine so nahe Berührung mit dem später berühmt gewordenen Charakteristiker hervorrufen mußte. Die mir von ihm vorgegaukelten Spiele der Bühne milderten etwas den Schmerz des Erwachens von einem fortwährenden Wie-Träumen.

Das sogenannte »Kaufhaus« in Mannheim ist ein Bau, wie man ihn seiner Arkaden wegen jeder Stadt wünschen möchte. Diese erlauben bei Sommerhitze und bei Sturm und Regen gleich behaglich spazieren zu gehen. Ein einheitliches, wenigstens gleichförmiges Dach bedeckte das weitläufige Gebäude, aber im Innern unterbrechen den unmittelbaren Zusammenhang aller vier Flanken mehrere Höfe, die teils Privaten, teils der Stadt angehören. Einer dieser Höfe gehört mit seinen zunächstliegenden Gebäulichkeiten der Polizei. Aus den Gefängnissen kann man hinunterblicken in diesen Hof, der durch einen Warenschober vom Nachbarhofe getrennt ist. Damals war ein ziemlicher Teil der politischen Aufregung der Zeit durch ebendiese Lokalität hindurchgegangen. Die Frau Beschließerin wußte in drastischen Zügen die Geschichte Badens seit den letzten fünf Jahren vom Standpunkte ihres Amtes zu erzählen. Sie wußte, daß der Herausgeber des »Wächter am Rhein«, Strohmeyer, in einem Hause entdeckt worden war, wo Kinder mit Schießpulverkörnern gespielt hatten. Da hatte die Polizei seltsamerweise gleich die Lunte mit entdeckt, die den Brennstoff Deutschlands entzünden sollte. Der Zufall führte auf den steckbrieflich Verfolgten, der – mit jenen Pulverkörnern nicht in der geringsten Verbindung gestanden hatte! »Das heißt Pech haben!« sagte die Frau, dem Strohmeyer nachsprechend. Denn eben hier hatte Strohmeyer gesessen. Auch mein spätrer Freund Jakob Venedey. Dieser, lebhaften rheinischen Naturells und etwas vorwitzig, wünschte sich über seine Umgebung zu orientieren. In dem über ihm gelegenen Stockwerke hatte er Schritte auf und ab gehen hören. Wer mag über mir eingesteckt sein? sagte seine Wißbegierde. Vielleicht läßt sich ein Bund zum Entweichen schließen! Die Eisenstäbe des Fensters verhinderten die Orientierung, bis ein Stück zerbrochnen Spiegels, das sich von einem defekten Versuch zur Verschönerung des wenig einladenden Raumes ablösen ließ, zum Fenster hinausgehalten, den Bewohner des zweiten Stocks, dessen Fenster nicht vergittert waren, veranlaßten, telegraphische Zeichen in den Spiegel fallen zu lassen. Der Leidensgefährte war Studiosus Köhler aus Holstein. Als dieser die Korrespondenz, die durch den Spiegel versucht wurde, nicht länger fortsetzen konnte, da man ihn an einen andern Ort brachte, suchte Venedey, der nie Talent zum einsamen Resignieren hatte, die Flucht zu ergreifen und schlug abends dem Wärter, der ihm seinen Nachtschoppen brachte, das Licht aus der Hand, benutzte die Dunkelheit zu einem raschen Sprunge, riegelte den verdutzten Wärter ein und rannte die Stiege hinunter. Aber nun war das Haustor verschlossen. Der Wächter rief aus Leibeskräften aus dem Fenster. Noch versuchte Venedey, im Hof einen Ausgang zu finden. Er erkletterte einen Brunnen, wollte auf das Dach des Warenschuppens, aber am Rebenspalier brach eine Latte. Da fiel der Flüchtling in die schon ausgestreckten Arme der inzwischen herbeigekommenen Helfershelfer der Justiz zurück.

Noch ereignisreicher war der Bericht der guten Beschließerin über einen jungen Franzosen, der festgesetzt worden war, weil er im hartnäckigen Schweigen über seine Herkunft verharrte und in einer Zeit, wo fast für jede Spazierfahrt ein Paß genommen werden mußte, ohne Legitimation nach Mannheim zu kommen gewagt hatte. Die Zelle, die ich bewohnte, hatte früher noch ein Nebengemach mit einem Kamin. Jetzt war die Verbindungstür geschlossen. Der Franzose schien Maler und bis zum Tiefsinn verliebt. Aus seinem Koffer suchte er sich ein Gemälde, rollte dasselbe auf und war stundenlang in den Anblick eines weiblichen Wesens von ausnehmender Schönheit verloren, wobei er andeutete, daß er selbst der Schöpfer dieses Porträts gewesen. Plötzlich stellte sich der junge Maler krank und verweigerte dem Wärter, sich sein Bett machen zu lassen. Er wollte Tag und Nacht in derselben Lage bleiben und nur sein Gemälde betrachten. Da das Bett für ihn selbst gemietet war und nicht zum Inventar des Hauses gehörte, so ließ sich kein Einspruch tun. Am vierten Tage war der Franzose verschwunden. Im Kamin nebenan lagen mit Ruß bedeckte Kleider, die Überzüge waren in Fetzen geschnitten und teilweise mitgenommen. Der Flüchtling mußte mit seinen zusammengebundenen Bettzeugstreifen den engen Kamin hinaufgerutscht sein bis zur Öffnung des Schornsteins. Dort mußte er die rußig gewordenen Oberkleider ausgezogen und sie in den Kamin geworfen haben. Jetzt hatte er sich ohne Zweifel im Dunkel der Nacht über die Dächer, die ihn umgaben, zu orientieren gesucht, bis er ein Dachfenster entdeckte, auf das er zukroch, die Scheiben eindrückte und in ein Haus einstieg, wo ihn der beginnende Morgen ins Freie entkommen ließ. Sein Gemälde hatte der rätselhafte Fremde mitgenommen.

Die Beschließerin hatte noch einen Schluß für ihre Erzählung. Nach einiger Zeit erschien ein ältlicher Herr in Mannheim und erkundigte sich in allen Gasthäusern nach einem jungen Manne, dessen Beschreibung auf den Flüchtling paßte. Wieder war es ein Franzose und der Vater des Entflohenen. Er kam nicht, um seinen Sohn wiederzufinden. Diesen hatte er schon durch den Tod verloren. Er wollte nur noch die letzten Fußtapfen des Unglücklichen verfolgen, der sich im Genfer See ertränkt hatte. Eine wahnsinnige Liebe hatte den jungen Maler für die Dame ergriffen, die ihm zu jenem Bilde gesessen. Die Dame war verheiratet, und es schien fast, als sei sie in ihrer ehelichen Treue eine Zeitlang schwankend gewesen. Darüber hatte der Maler eine größere Ermutigung gefaßt, die jedoch dem Gatten auffallend wurde, worüber Szenen entstanden, die ein Duell veranlaßten. Der junge Maler hatte das Unglück, seinen Gegner zu erschießen. Die Genfer Gesetze sind in der Bestrafung des Duells streng; die Gerichte können einen Schuldigen auch bis an die Grenze der Schweiz verfolgen. Der Sohn des alten Herrn war nach Deutschland entflohen. Zurückgekehrt auf den Schauplatz seines Vergehens, wagte er es, sich der noch trauernden Witwe zu nähern. Da ihn diese voll Abscheu zurückwies und es damit ernst meinte, so gab sich der Verzweifelnde den Tod.

Der neue Bewohner dieser verhängnisvollen Räume war das absolute Gegenteil eines Floßschiffers, den man noch am Tage zuvor in diese von Mäusen heimgesuchte, mit dem dürftigsten Hausrat versehene Klause eingesperrt hatte. Im Hafen am Rhein hatte der gute Schwabe den Beamten nicht Order parieren wollen. Anfangs verhielt er sich im Gefängnis ruhig, plötzlich aber steigerte sich seine Verzweiflung in solchem Grade, daß er sich auf dem Boden wälzte, unablässig tobte und schrie und durch nichts zu beruhigen war. Man fragte ihn, ob er Sorge um sein Floß hätte? Nein! das war geborgen. Ob er etwas auf seiner Fahrt versäumte? Nein, auch das nicht! Nun, hieß es, dann müßte er sich gedulden, drei Tage seien ihm unerlaßbar! Da müsse er Gesellschaft haben! schrie er. Er könne nicht mit sich allein sein. Gesellschaft war nicht vorhanden, und so fuhr er fort, auf dem Fußboden um sich zu schlagen, zu lärmen, zu toben. Sein »auf sich selbst bezogenes abstraktes Ich«, wie Hegel gesagt haben würde, war ihm ein wüstes Chaos, das ihm Schrecken verursachte.

Über mich dagegen kam die Einsamkeit wie ein kühlender Balsam auf Wunden. Wie fühlte ich mich glücklich, der Welt entrückt zu sein! So hätte Luthern auf der Wartburg und später in Koburg zumute gewesen sein können, wenn dieser von seinem hitzigen Blute und dem Merseburger Bier gefolterte Mann nicht den Teufelsglauben gehabt hätte, der ihn selbst das Heulen des Windes im Schornstein als Äußerungen des zähnefletschenden Ungetüms erscheinen ließ! Meine Teufelsoffenbarungen waren nur die Mäuse, die paarweise über mein Bett liefen. Ich hätte wetten mögen, daß es wahr ist, wenn man versichert, die Mäuse sängen. Wunderbare Melodien sangen sie mir des Nachts. Es war das zarteste Flageolett, worin sich ihr geisterhaftes Pfeifen erhielt. Eine gebundene selige Welt schien sich zu offenbaren – oder war es das Singen im eignen Ohr? Was ließ sich nicht alles überdenken in diesen Nächten! Zum ersten Male seit fünf Jahren hatte ich die Wirkung des geschriebenen und gedruckten Wortes erprobt. Nun war »Erfolg« da! Schade, daß der angeschuldigte Roman nur in einer Auflage – von 800 Exemplaren gedruckt worden war! Das Doppelte, ja Dreifache des Preises bot man, um ein Exemplar zu bekommen. Einen Neudruck heimlich zu veranstalten, wagte der gleichfalls vor Gericht gestellte Verleger nicht. Die anfängliche Grobheit des Inquirenten milderte sich allmählich zu höflicherem Tone. Ich tobte nicht und arbeitete nicht an Fluchtversuchen, sondern schrieb meine »Seraphine« zu Ende und begann einen Versuch, die konstruktive Geschichtsphilosophie Hegels zu bekämpfen, eine Arbeit, der ich anfangs den Titel: »Zur Philosophie der Geschichte«, später den andern: »Philosophie der Tat und des Ereignisses« gegeben habe. Leider fehlten mir zu letztrem Unternehmen die hinreichenden literarischen Hilfsmittel. Eine Kiste mit Büchern, die mir am Ende meiner Haft zukam, enthielt nur solche, die ich mir, größtenteils zu andern literarischen Zwecken verwendbar, aus einem mir zufällig eingesandten antiquarischen Katalog gewählt hatte. Ich erwähne diesen geringfügigen Umstand, weil mich ein Buchhändler, Heinrich Hoff, später hat beschuldigen wollen, daß meine Klage, die ich in der Vorrede des letztgenannten Buches über meinen Mangel an literarischen Hilfsmitteln ausgesprochen hatte, eine Unwahrheit gewesen sei, da ja er mir selbst eine Kiste mit Büchern (von einem Heidelberger Antiquar) hätte besorgen müssen. Es sollte die Rache für eine Rüge sein, die ich nicht hatte zurückhalten können über eine von ihm gegen den am Mannheimer Theater wirkenden Oberregisseur Jerrmann ausgeübte Bosheit. Er hatte eine bei ihm erschienene umfangreiche Schrift desselben auf sechs Kreuzer für ein Exemplar herabgesetzt.

Wollte man das Leben, wie es ist, in Maskengestalt darstellen, so müßte diese einer jener grotesken und keineswegs gutmütigen Hanswurste sein, die uns im Fieber umtanzen oder die uns, wenn wir Morphium haben nehmen müssen, statt Schlaf zu geben, das Gehirn verwirren. In die grellsten Farben gekleidet, stellen sich diese boshaften Bilder bald auf den Kopf, bald wieder auf die Beine, lachen uns vertraulichst an und wechseln ihre Stellungen, wie nur eben die Blutkügelchen zum Hirne drängen. Es war, als ich endlich frei geworden, tiefe Nacht um mich her. Der endlich Befreite hoffte aufatmen zu können. Aber die Welt – wie sah sie so trübe aus! Dumpfer Nebel lag auf den Gemütern. Herbe und schroff gegen mich war niemand. Aber die Vermittlung hielt schwer. Sogar die »Freunde« hätten Stoff geben können, manchmal mit Bitterkeit aufzulachen. So war gleich eine Szene am ersten Abend der wiedergewonnenen Freiheit eine Harlekinfratze oben beschriebener Art. Der Arzt hatte mir zur Stärkung meiner Gesundheit Burgunder verordnet. Vom köstlichsten Eremitage hatte ich nur ein halbes Glas getrunken. Einer der Freunde, den ich schon öfters nannte, war seit einiger Zeit durch mich in Mannheim zur Verwendung für literarische Arbeiten gekommen, die zufällig aufhörten. Er war mein Gast und hätte alle Ursache haben können, mich aufzurichten, meine Rückkehr ins Leben zum Anlaß wohltuender Unterhaltung zu machen, überhaupt nicht von sich allein zu sprechen. Statt dessen begann der wunderliche Kauz, der fast wie Schopenhauers Äußere nur an englische Haltung erinnerte, lediglich von sich. Jener Buchhändler, dem ich ihn empfohlen hatte, wollte eine Unternehmung nicht fortsetzen. Nun war eine momentane Verlegenheit vorhanden, und ich bekam in nächtlicher Stille, glücklicherweise in dem winterlich einsamen Hotel ohne Nachbarn, einen Erguß der kränkendsten und aufregendsten Art. Ich hätte ihn, so hieß es, von seinem stillen Wirken in Berlin erst nach Frankfurt, dann nach Mannheim gerufen und sei nun verpflichtet, ferner für ihn zu sorgen. Das Beefsteak, das ich ihm hatte geben lassen, war verzehrt. Nach jeder Pause, die der im Zimmer Aufundabrennende sich gestattete, füllte ich ihm in aller Ruhe sein Glas mit dem köstlichen Burgunder. Nach jeder Strophe seiner Litaneien, die regelmäßig mit dem Refrain schloß: »Was bleibt mir andres übrig als Prussian acid (Blausäure)!«, stürzte er sein Glas hinunter, worauf ich ruhig, während er, wie ganz beiläufig, sagte:« »Ein ganz guter Wein!«, wieder einschenkte. Als das Glas wieder gefüllt war, begannen aufs neue die Vorwürfe, daß ich ihn an den Rand des Abgrundes gebracht hätte, daß er Gift nehmen müßte. Hierauf wieder das Glas geleert, wieder mit sanfter naiver und aufrichtiger Stimme: »Vortrefflicher Wein!« Wieder eingeschenkt und ein neues Pelotonfeuer auf meine Person, bis die Flasche von ihm ganz allein geleert war und der vertrocknete Egoist, die Wirkung des starken Inhalts verspürend, kleinlaut sagte: »Du wirst mir doch nichts übelgenommen haben und mir noch die Treppe hinunterleuchten?«

Die Undankbarkeit, die ich in meinem Leben systematisch erprobt habe, glaubt sich überall entschuldigt, wo sie an jemand ausgeübt wird, der im Unglück ist. Sowie der Parasit merkt, daß die Bundesgenossenschaft unfruchtbar geworden, bricht er ab, und oft in den brüskesten Formen. Mein Leben bietet eine Kabinettssammlung von unglaublichen Vorkommnissen dieser Art. Die Gedächtnisschwäche in diesem Punkte, die man bei den Menschen antrifft, steigert sich, wenn der, der dem andern Wohltaten erwies, zu ringen, zu kämpfen hat. Zu jener Undankbarkeit gehört auch literarisch die Loslösung von dem Stamm, um den man sich nicht nur äußerlich früher rankte, sondern von dem man ein organischer Zweig war. Das Trennende war keine gesteigerte bessere Erkenntnis, wie wohl vorgeschützt wird, sondern lediglich die Abnahme an Gewinn, Gewinn im Renommee, in der literarischen Parteistellung.

 

Wieder in Frankfurt

Bald nach der Rückkehr in den Frankfurter Kreis, der sich durch den geschlossenen Ehebund in wohltuender Weise verengte, ohne darum an anregenden Elementen zu verlieren, erhielt ich ein Manuskript aus dem fernen Königsberg, »Briefe über die deutsche Literatur« von Alexander Jung. Ich sollte dafür einen Verleger suchen. Dieser wurde auch später in Julius Campe gefunden. Ein sinniges, vielseitig gebildetes Gemüt hatte sich hier in meine Autorschaft vertieft und die Pulsschläge des Herzens, die oft noch verworrenen Gedankenfäden in meinen Schriften so aufmerksam verfolgt, daß mich ein so gemütvolles Verständnis wahrhaft beglücken mußte. Nur mischte sich in den Labewein der bittre Tropfen, daß mich der neue Freund vom Baltischen Meere nie zu nennen wagte! Durchweg hieß ich in dem Büchlein der »Ungenannte«, woraus ich recht die Schwierigkeit meiner Stellung erkennen konnte. Man fürchtete sich, sich mit meiner literarischen Existenz in offenes Einvernehmen zu versetzen. Schule, Kirche, Staat, Gesellschaft, alles hatte gegen mich protestiert. Es wurden nicht nur meine früheren, auch die zukünftigen Schriften vom »Ministerium des Innern und der Polizei«, wie diese Behörde damals genannt wurde, in Berlin verboten. Die oben erwähnte Börsenzeitung, ein Versuch, der sich nur kurze Zeit halten konnte, erschien unter Verantwortlichkeit von Eduard Beurmann.

Damals hatte es die Lesewelt mit Eduard Lytton Bulwer. Seine Weise war mir nicht sympathisch. Aber die genrebildliche Zeichnung, der Versuch, moderne La Bruyèresche Charaktere zu zeichnen, gehörte damals beiden Literaturen, der englischen und französischen, an. Auch in der deutschen versuchte sich manche Feder mit Artikeln im Charakter der Beiträge zum »Livre des Cent et un«, kurzen abgerissenen Skizzen über Dinge und Personen, Berufsstände, Sitten und Gebräuche. Eine Verbindung solcher Charaktertypen mit dem Vorsatz, die Eigentümlichkeiten und Richtungen des Jahrhunderts in bestimmte Gruppen zu bringen, brachten die von mir unter Bulwers Namen (Stuttgart, Verlag der Klassiker) herausgegebenen »Zeitgenossen« (jetzt »Säkularbilder« genannt). Die Täuschung war eine unschuldige, da sie sogleich erkannt und ohne Schwindel durchgeführt wurde. Es war dieselbe Arbeit, zu welcher mich schon Liesching, als ich nur 23 Jahre zählte, aufgefordert hatte. Sie bildet jetzt den achten Band meiner gesammelten Werke (Jena, Costenoble). Ich habe dort in der Vorrede offen gestanden, daß ich von diesem Buche nicht gering denke.

Gewiß tat der junge Ehemann das Mögliche, um sich seinen in die Büsche geworfenen Ball wiederzuholen. Die häusliche Einrichtung bot bescheidenen Hausrat. Als Heinrich Laube, endlich aus Muskaus Bann (leider nicht aus dem geistigen) entlassen, mit seiner eben erheirateten Gattin unsern ersten Versuch, einen Gast zu empfangen, veranlaßte, brach Gabriel Riesser, der ebenfalls anwesend war, mit einem der zierlichen neuen Stühle, dem er bei Tisch die Probe des Schaukelns zumutete, beinahe zusammen wie Eli, der Hohepriester, unter dem Tore von Silo, von welchem auch die Schrift sagt (1. Samuelis), »denn es war ein zentnerschwerer Mann«. Die Nähe herrlicher Gegenden, das waldreiche Taunusgebirge boten Anlaß zu Auffrischungen der Stimmung. Einen der Münchner Freunde, Karl Riefstahl, hatte ich dem Theater als Konzertmeister empfohlen. Dieser brachte vom Leipziger Konservatorium den Geist seines Freundes Schumann, verwandte Richtung, gleiches, scharfes, exklusives Urteil mit. Seine meisterhaft behandelte Geige verband sich dem Piano des Hauses zu abendlichen Genüssen, die von den Freunden geteilt wurden. Ein ausgesprochener Lyriker, Ludwig Wihl, konnte bezeugen, daß wir, wenn auch keine Freunde der reflektierenden Muse Gustav Pfizers, mit welchem ich in Händel verstrickt war, doch dem reinen sangbaren Liede mit Ohr und Herzen zugetan blieben. Ja die lyrische Stimmung überkam den Erzähler bisweilen selbst. Ritzte sich doch beim Wiedersuchen meines Balles die Hand vielfach an Dornen. Abendstunden der Trauer und Erinnerung gab es genug.

Deutschland schmachtete nach politischer Freiheit. Wie diese aufzufassen war, wie zu gestalten, wie sich die nationale Einheit mit dem Erscheinen der Himmelstochter auf Germanias Fluren verbinden ließ, darüber gingen die Wünsche und Träume auseinander. Aber wie mächtig der Drang war, sich aus sich selbst heraus, nicht auf Kommando seiner Fürsten, im Bewußtsein nationaler Kraft und Einigung zu begegnen, das bewiesen immer mehr die an die Tagesordnung kommenden Anträge, den Genien des Geistes Denkmäler zu setzen, Schiller, Goethe, Herder, Wieland, Jean Paul, Lessing. Da boten denn die Enthüllungsfeierlichkeiten Anlaß zu Volksfesten, wie schon der Musikkultus angefangen hatte, am Rhein, Main, an der Elbe, am Neckar Versammlungen zu veranlassen, die wenigstens dort, wo der Männergesang allein in den Vordergrund trat, nicht ohne ein Anklingen an die versagten Wünsche der Nation stattfinden konnten. Das Turnen kam fast erst über Schweden als Heilgymnastik oder als unerläßliche Dressur für die militärische Beweglichkeit an unser Deutschland wieder zurück. Dem Könige Friedrich Wilhelm III. durfte Jahns Name nicht genannt werden. Aber siehe da! Im Jahre 1837 erhob ein Beamter, ein schlesischer Medizinalrat, Lorinser, seine mutige Stimme und zeigte auf die Verkümmerung der Generation als einen Hannibal ante portas. Gerade für Schlesien, das mit dem Hungertyphus zu kämpfen gehabt, dessen Gewerbfleiß Tausende von Kindern an die Fabriken, an die Bergwerke abliefern mußte, ließ sich das Schreckbild einer schon durch die Schule herbeigeführten Schwächung der Körperkraft im erschütternden Bilde aufstellen. So rafften sich denn wohl die Minister der Wilhelmsstraße auf und machten der »Turnsperre«, die zwanzig Jahre gedauert hatte, ein Ende. Mit den Eichenlaubkränzen der Turnfeste, wenn auch noch innerhalb enger Grenzen, kamen die Ideen zurück, die ehedem die deutsche Burschenschaft in Verbindung mit dem Turnziel fast zur souveränen Macht über Deutschlands Geschicke erhoben hatte.

Auch Gutenberg, der Erfinder der Buchdruckerkunst, bekam endlich in Mainz sein lange erwartetes Denkmal. Thorwaldsen hatte da einen einfachen Mann des Mittelalters hingestellt, keinen Grübler, sondern an dem ansetzenden Fuße erkennbar einen Mann der Tat, einen Helden der Betriebsamkeit. Die Mainzer verstehen es, Feste anzuordnen. Ihr lebensfrischer Sinn hatte noch nicht die Spaltung in Schwarze und Rote aufkommen lassen. Der ultramontane Neukatholizismus lag noch im Ei, in den Werkstätten einiger frommen oder frömmelnden Maler, in den Konventikeln einiger mystischen Gelehrten, im deutschen Kollegium zu Rom. Österreich und seine besoldeten Konvertiten gaben die Brutwärme, daß das Untier allmählich das Ei durchbrach. Und gewiß, es geschah genug, um auch dies schöne Fest vom August 1837 vor dem Scheine, es könnte möglicherweise über die gezogenen Schranken der Bundestagsprotokolle ausbrechen, im Keime zu bewahren. Heinrich König von Hanau wurde mitten in seiner Tischrede vom Präsidenten und der loyalen Majorität der Festgenossen unterbrochen.

Nicht aber mit König, sondern mit Gabriel Riesser bin ich von Frankfurt zu dem für drei Tage angesetzten Feste gepilgert. Ein mit Fahnen und Blumen geschmücktes Schiff glitt den Main hinunter und brachte die Jünger der schwarzen Kunst, Freunde der Literatur, Buchhändler, vor allem eine Klasse von glücklichen Bummlern, die man in Frankfurt am Main die »Gourmands« zu nennen pflegt und ehedem jeden winterlichen Donnerstag, wo es »Solperfleisch« und Sauerkraut gab, an der Wirtstafel des »Weißen Schwanen« antreffen konnte. Aber es fehlten auch jene unheimlichen Gestalten nicht, die in Frankfurt allbekannt herumwandelten, Zuträger von Neuigkeiten bei den Gesandten, pensionierte Beamte kleiner Staaten, betriebsame alte, weißhaarige Gesandtschaftssekretäre, auch Thurn-und-Taxissche Beamte, besonders solche, die im Ruf der Brieferbrechungskunst standen, kurz eine Art von privilegierter Lohndienerschaft, die sich um den Bundestag herumbewegte. Möglich, daß diese Zunft, wenn auch mit andern Aufgaben, noch jetzt besteht.

Ein Unwetter war den schönsten Tagen vorausgegangen. Über dem Taunus hatten sich die Gewitter wie ein einziges Feuermeer gelagert. Von allen Seiten kamen Berichte über entwurzelte Bäume, Blitze, die gezündet hatten, Häuser, die eingestürzt, waren. Aber nun war es um so sonnenheller, himmelblauer geworden, und bei der Ankunft in Castell, beim Rundblick über ein unvergleichliches Panorama, dessen Wiedersehen später die Seele noch oft von Kümmernissen befreite, mußte sich jeder, der sich als Festteilnehmer bekannte, ebenfalls in die Farben des Himmels kleiden, wenigstens eine Schleife anheften und somit eine Verbrüderung mit den vielen unbekannten Männern herstellen helfen, die nun durch ein vertrautes Anlächeln, ein stummes Begrüßen wie durch eine Art Magie verbunden waren. Heute, morgen und noch den dritten Tag gehörte die Welt dem überwundenen Mönchtum, dem Anbruch der neuen Zeit, dem Siegesgefühl der Presse. Selbst Zensoren waren erschienen und suchten sich in den Bund der Glücklichen zu stehlen. Ach, die Nasen zu verbergen, die sie schon alle von ihren Vorgesetzten bekommen hatten, machte sie ja mehr zu Gegenständen des Mitleids als der Verachtung! Die Nase eines Frankfurter Zensors, der vor dem Schöffen und Bürgermeister Thomas zitterte, konnte einem wie ein Kaktusstamm vorkommen, ein dorniges Blatt wächst da aus dem andern! Der Gedanke an schrankenlose Preßfreiheit war mir persönlich noch ein erwägenswerter, seitdem ich erlebte, daß sich die jungen Autoren, die sich um Theodor Mundt scharten, und andere abmühten, die gemeinsten zynischen Witze gegen mich auszuspielen. Ich sagte mir, daß Preßfreiheit allein, ohne ein großes, freies, staatliches Leben, ein Messer sei, bei dessen Gebrauch sich der Eigner nur selbst verwunden würde. Schwimmen sollte man dürfen und versperrt dazu das offene Wasser? Welchen Gebrauch würde man denn in Preußen, ohne eine Konstitution, ohne Stände, ohne Diskussion über die Verwaltung, von Preßfreiheit gemacht haben? Nur den, daß sich die immer vogelfreien Personen, die Künstler und Schriftsteller, wie die Gladiatoren im alten Rom zum Vergnügen der zuschauenden Menge niedergemetzelt hätten. Nur um große Gegenstände ist der Gebrauch der freien Sprache da. In kleinen persönlichen Dingen legt sich der Mann von Bildung Fesseln an. Die Hetzer, die hinter allem Hallo! schrien, das von mir ausging (weil ich die Werke ihrer Führer mit unbefangenem Sinn beurteilte), machten mir eine Zeitlang den Ruf, ich sei ein Feind der Preßfreiheit. Noch lange ließ ich mich in meiner Überzeugung, daß es in Preußen erst auf Verfassung und Stände und dann erst auf – »Karikaturenfreiheit« ankäme, nicht irremachen. Hatte man doch in Berlin die tolle Idee, von König Friedrich Wilhelm IV. nicht die Preß-, sondern die »Karikaturenfreiheit« einzufordern. Und er gab auch die Freiheit der Fratze, nahm sie aber als einen Nonsens innerhalb eines absolutistischen Staates wieder zurück.

An jenem schönen Augusttage war es ein erhabener Moment, als im Angesicht des ehrwürdigen Doms, vor mehr als dreißigtausend Menschen, unter ringsum wehenden Fahnen, sich schaukelnden Blumengewinden endlich die Hülle von dem Denkmal fiel und es nun Mainz war, nicht Straßburg, nicht Harlem, wo jemand zuerst die Idee, die alten Tafeln, womit man schon lange druckte, zu zerschneiden, in Ausführung brachte. Wie das geschichtlich so recht der Reihe nach gekommen, hatte mir drei Jahre zuvor Charlotte Birch-Pfeiffer in Schwalbach vorgelesen, und da stand's nun auch hinter der menschenüberfüllten Estrade an dem rundgebogten roten Theaterbau zu lesen: »Heute zum ersten Male Johannes Gutenberg.« Inzwischen war der Tribut der Musik tausendstimmig. Ein greiser Maestro, Neukomm, hatte die Festhymne komponiert, deren Text man verteilte. Man sagt, die Richard Wagnerschen Extravaganzen seien neu? Überall, wo in diesem Enthüllungsgesang die große Trommel und die Paukenwirbel nicht mehr ausreichten, ließ »Ritter Neukomm« auf einen Wink seiner Hand Kanonenschüsse krachen. Die Kartaunen dazu hatte der Gouverneur geliefert, der auf dem Theaterbalkon stand, der Vater jener Königin, die vor kurzem den Glauben ihrer Väter abgeschworen. Ein englischer Prinz, der Herzog von Cambridge, stand ihm zur Seite . . .

 

Sogar ein Ball im Theatersaale wurde besucht. Stille Plätze, wo man nicht von walzenden Paaren niedergesichelt wurde, fanden sich in Fensternischen und auf dem geräumigen Balkon. Der Mond schien feierlich auf den Jubel und das blinkende neue Erz der Statue hernieder. Der Dom stand verklärt mit seinem roten Gestein, seinen grauen Schieferdächern. Lichtumflossen ragte das Denkmal der des Drucks unkundigen Zeiten mit majestätischer Würde. Gespräche mit gleichgesinnten Freunden hätten den damals noch nicht existierenden Bischof Ketteler nicht wenig aufgeregt. Ein Pfarrer, allerdings evangelisch, aus dem Nassauischen, Robert Haas, konnte damals als der vorgeschrittenste unter den praktischen Theologen Deutschlands gelten. Seine Polemik gegen den Symbolglauben würde ihn zwanzig Jahre später um seine Stelle gebracht haben. Aber sogar seine etwas ungeistliche Lebensweise, die sich in einem häufigen Hin und Her zwischen seiner Pfarre und Frankfurt gefiel, fand meines Wissens keine Rüge. Heinrich König liebte die theologischen Gespräche. Beim Nachhausewandeln, in den stiller gewordenen Straßen, an den mit schwerem Gang vorüberschreitenden österreichischen und preußischen Patrouillen vorbei, trat uns recht das Leid der Zeit entgegen, deren Ungunst ein Blick auf die Festung noch besonders zu Gemüt führen mußte. Da saßen noch so manche Opfer der Zeit, Friedrich Funck, Gustav Oehler u. a., gefangen.

Diese mondverklärten Nächte und dann wieder hellen sonnigen Tage hoben sich für mich von einem düstern Hintergrunde ab. Meine physische Kraft drohte sich zu erschöpfen. Die Voraussetzung, eine Frau mit Vermögen zu heiraten, traf nicht zu. Unablässig mußte ich arbeiten. In jenen Bulwerschen »Zeitgenossen«, später Säkularbilder genannt, hatte ich fast meinen ganzen Vorrat von Anschauungen, besondern Meinungen, Charakterzeichnungen, Studien niedergelegt. Noch jetzt, ich bekenne es offen, lese ich diese Schrift in den meisten Partien mit Befriedigung. Wäre sie in englischer Sprache erschienen und wirklich eine Übersetzung gewesen, man hätte ihr eine Stellung gegeben. Was fehlte ihr? Die kurze, schneidende, apodiktische Sprache, die immer mehr im Stil bei uns Mode wurde. Die »Hallischen Jahrbücher« brachten zuerst diese Sicherheit der Behauptung auf. Ihnen folgte die soziale Publizistik von Düsseldorf und Köln. Jetzt möchte man schon glauben, alles, was schreibt, sei bei den Offiziösen in die Schule gegangen . . .

 

Nach dem Scheitern meiner »Börsenzeitung« war mir Frankfurt unheimlich geworden. Späher und Angeber drangen bis ins Innere der Familien. Nur dem Erprobten durfte man noch trauen. Ein Onkel meiner Gattin, Vater meiner zweiten Frau, wurde nächtlicherweile aufgehoben und nach Darmstadt geführt. Er sollte – als Buchhändler – verbotene Broschüren verbreitet haben. In Gießen und Darmstadt wüteten kleine Albas. Der Untersuchungsrichter Georgi, der am Säuferwahnsinn starb, brachte den Pfarrer Weidig aus Verzweiflung zum Selbstmord. Der Kampf mit der Zensur verleidete jede unbefangene freie Tätigkeit. Da nun zwanzig Bogen starke Bücher einige Tage lang zensurfrei blieben (das Verbot konnte sofort nach dem Erscheinen erfolgen), so drängte sich der Reiz auf, die Publikationen bis auf diesen Umfang zu treiben – vielleicht ohne innere Notwendigkeit. Einmal suchte ich sogar den Feind in seinem Lager auf. Einen kleinen »Versuch«: »Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte« ließ ich in Berlin bei Plahn drucken, erlitt keinen Zensurstrich und hieß nun wenigstens in Preußen nicht mehr »der Ungenannte«.

 

Übersiedlung nach Hamburg

Um im freien Hamburg, das ich als künftigen Wohnort wählte, Quartier zu machen, reiste ich im Herbst 1837 allein dorthin. Den Weg nahm ich über Weimar, Jena, Halle, Magdeburg. Der Postwagen ging langsam. Wieder begrüßte ich die alten hessischen Orte der Kontumaz von 1831, wieder die hohe, damals noch durch ein langes, modernes Dach sich unschön darbietende Wartburg. In Weimar hätte die klassische Luft gesteigert sein sollen durch eine Literaturrichtung, die inzwischen begonnen hatte, durch die Beschäftigung mit den klassischen Erinnerungen. Die Briefwechsel, die Tagebücher, die Monographien, die Charakterschilderungen aus und über die klassische Zeit wollten kein Ende nehmen. Aber je mehr über die Größe der alten Epoche erschien, desto mehr schrumpfte die Gegenwart Weimars zusammen. Könnten wir doch nur einige berühmte Männer hieherziehen! war nicht nur das allgemeine Seufzen Weimars, sondern sogar das des Lohnbedienten im »Erbprinzen«. Ich schlug dem betrübten Mann vor, eine Subskribentenliste auf Erwerbung eines neuen Goethe in Deutschland zirkulieren zu lassen oder bei zwei berühmten Männern in Berlin, Raupach und Rellstab genannt, anzufragen, ob diese vielleicht kommen und die Tage von Aranjuez fortsetzen wollten. Die regierende Großherzogin, eine Zarentochter, lud, so hieß es, aller vierzehn Tage weimarsche und jenaische Elemente zum Tee ein. Aber es wollte nichts mehr von Weimar recht ausgehen, nichts mehr zünden, die Stadt war als Deutschlands delphisches Orakel in Verfall gekommen. Schon waren Frauenschriftstellerei und leichte Almanachliteratur der Anknüpfungspunkt des Interesses für Weimar. Stephan Schütze, ein kleiner verwachsner Herr, geborner Hamburger, Lebemann, gab ein »Taschenbuch für Liebe und Freundschaft« heraus. Hohe weimarische Staatsminister schmückten diesen ehemals durch E. T. A. Hoffmanns Beiträge berühmt gewesenen Kalender mit dilettantischen Beiträgen. Die eignen Gaben des vermögenden, gutherzigen, gastfreien Mannes, verbunden mit denen seiner Mitarbeiter Prätzel und Langbein, hätten nur brauchen ins Plattdeutsche übersetzt zu werden, und Deutschland würde seine Epoche Fritz Reuter schon früher gehabt haben.

Viele Schriftsteller sind geständig, daß sie gezittert hätten, als sie Goethe besuchten. Rahel stieß unartikulierte Töne aus, als er nur nahte. Bei Uhland zitterte sogar der Straßburger Münster. Ich gestehe, nur Willibald Alexis begriffen zu haben, als dieser, bereits von Goethe erwartet, vor Angst wieder umkehrte. Das Gebäude, in welchem der große Mann gewohnt hat, konnte wahrhaftig nicht beängstigen durch große Treppen, weite Vorsäle, Teppiche, glattes Parkett. Alles das fehlte. Die Verhältnisse des Goethehauses sind eher klein als auch nur mittel zu nennen. Die Decke des oberen Stockes ist auffallend niedrig, die Zimmer haben eine beschränkte Ausdehnung, der Hof ist dunkel und mit fünf Schritten durchmessen. Damals lehnte sich altes verfallenes Bauwerk daran. Alles das zeigte mir Goethes letzter Sekretär, Kreuter. Knochen und besonders Schädel, Gipsabgüsse, Münzen, Zeichnungen, Majolikateller und ‑schüsseln, Mineralien und Autographen, alles war wie in einem Museum in Glasschränken aufgestellt. Nur allein eine Siegel- und Schmetterlingssammlung schienen zu fehlen. Van Dyks Schädel stand neben dem Schädel eines Verbrechers. Der Kontrast war auffallend genug. Der Farnesische Stier zeigte sich in mehreren Exemplaren und erinnerte mich immer an Goethe selbst. Goethes Zeichnungen charakterisierten seinen Sinn für das Alltägliche, Gewöhnliche. Eine Zeichnung stellte Schillers Gartenhaus in Jena vor. Der Führer plauderte eine Goethesche Äußerung aus, die sehr im Kontrast zu dem Freundschaftston in den sechs Bänden des Goethe-Schillerschen Briefwechsels steht, Goethe hätte gesagt, der Riß zu diesem Hause sei »Schillers bestes Werk« gewesen. Der Eindruck des Hauses, das man jetzt nicht mehr zeigt, war der, daß doch von Goethes Ablehnung so vieler Dinge, die uns von Wert sind, entschuldigend zu sprechen ist. Denn hatte er nicht hier einen förmlichen Mikrokosmos vor sich, einen Spiegel der Welt, der ihm genügen konnte? Leben nicht Menschen manchmal von einem einzigen Faktum? Diese haben einmal Napoleon I. gesehen, jene haben auf einem Stuhle gesessen, der zu Luthers Hausrat gehörte. Überall und ewig wissen sie ihren Reichtum anzubringen. Goethe hatte eine Fülle solcher Anlässe zu einem »Großpapa, wie war doch die Geschichte?« Unica über Unica! Was konnte ihn nicht zum Plaudern, zum Vorzeigen, zum Dozieren verführen! Münzen gab es hier, die bei Eckhel fehlten, Gemmen, die Lippert nicht kannte, Uralsteine, von denen Alexander von Humboldt gesagt haben soll, als er sie sah, daß sich Loder, der sie Goethen geschenkt, damit »die Seele aus dem Leibe genommen hätte«. Das ist denn doch für einen Kopf und ein Herz von Goethes Richtung ein vollständiger Ersatz für das deutsche Vaterland mit oder ohne Stände, für Krieg oder Friede, Rationalismus oder Supranaturalismus, Philhellenentum oder Carbonarismus oder wie die Gegensätze und Erscheinungen seiner spätern Zeit hießen. »Nur Ruhe!« hat ja auch euer großer Buddhist Schopenhauer gerufen. Dieser vermachte sein Vermögen den Soldaten oder den Angehörigen der Soldaten, die 1848 auf den Barrikaden gegen die Störer des Nirwana verwundet oder getötet wurden.

Für Goethe waren diese Schränke eine Real-Enzyklopädie. Nichts, was da stand, war ihm tot, alles lebte. Es war ein Gewühl von Beziehungen, notwendigen Auslegungen, Anknüpfungen an Altertum, mittlere und neuere Zeit. War denn nicht auch die politische Geschichte vertreten durch die Handschriften berühmter Monarchen und Heerführer und vor allem durch die kostbaren Münzen? Goethe konnte den Regenbogen draußen in der Luft entbehren; denn ich sah einen Apparat, womit er sich selbst einen aus Pappe, einer Glaskugel und einigen von seinem Hofe hereinfallenden Sonnenstrahlen machte. Dieser Sonnenstrahlen gab es allerdings nur wenige. Daher sein letztes Wort: »Mehr Licht!« Das Arbeitszimmer, das eigentlichste Interieur des Dichters, fand ich ganz so erhalten, wie vor fünf Jahren sein Tod erfolgte. Kein Sofa stand in dem dunklen Zimmer, nur eichne, unpolierte Stühle. Alles im Grunde so, wie der Dichter, der Zauberer, der Welten schafft, wohnen soll. Nur die Feuilletonisten unsrer Zeit wollen ein mit Gold und Spiegelglanz geschmücktes Dichterzimmer und die goldene Schreibfeder auf dem silbernen Teller präsentiert. Der echte Dichter muß nackte Wände haben, um sie zu bekleiden mit pompejanischen Bildern. Wenn Goethe schrieb, schrieb er im Stehen, an einem einfachen Pulte und sonderbarerweise gegen das Licht. Aber seit Dezennien rührte er die Feder nur noch an zu seinen Unterschriften. Er diktierte alles, ausgenommen ab und zu ein Gelegenheitsgedicht. In seiner Schlaf- und Sterbekammer war es eng und finster. Ich eilte, ins Freie zu gelangen, um frische Luft zu schöpfen . . .

 

Hamburgs ewig grauen Himmel hat Heine erfunden; es gibt in Hamburg auch schöne Tage. Doch liegen sie im Sommer und Spätherbst. Jetzt war bald der gelbe Nebel in den Straßen vorherrschend, unerträglich der Schmutz in den langen Twieten, in den Durchgängen, auf den kleinen Verbindungsbrücken. An Ort und Wetter mußte sich der Körper und – der Geist gewöhnen. In einer der düstersten Gassen, der ABC-Straße, wohnend, mußte ich am Tage Licht brennen, um schreiben zu können. Aber mein »Telegraph« blühte auf. Es zeigte sich, was buchhändlerische Verwendung vermag. Trotz der noch beanstandeten Zulassung in Preußen, den Hemmungen in Österreich und Rußland stieg die Zahl der Abnehmer um – mehrere Hunderte – auf Tausende ging noch nicht die Kalkulation der Journale. Das gewährte Honorar war gering, es ermöglichte nur dem Herausgeber ein ruhigeres Arbeiten.

Richtungen oder Kräfte, die sich mir angeschlossen hätten, waren in Hamburg selbst nicht zu finden. Im Gegenteil bildete sich sofort Opposition. Es gab Blätter, die sich dort schon lange mit Kritik beschäftigten, Beiblätter der bedeutenderen Zeitungen. Diesen war ich unwillkommen. Neben ihnen gab es belletristische Revolverpresse, die sich um das damals allein besprochene Stadttheater gruppierte und einigen selbstgefälligen hämischen Skriblern als Tummelplatz diente. Eine andere, höherstehende Gesellschaft, aber ebenso negativer Art, bildeten die noch jungen praxislosen Ärzte oder in gleichem Fall befindlichen Juristen, die nicht lange erst von Kiel, Göttingen, Heidelberg gekommen waren und die öffentliche Meinung in Hamburg nach allen Richtungen hin zu bestimmen suchten und in den Kaffeehäusern sich dazu die Zeit nehmen durften. Ein günstiges Verhältnis zu dieser Sphäre konnte sich nicht begründen. Denn in der Regel wirkte in den jungen leichterhitzten Köpfen noch von der Schule her die Warnung der Lehrer nach vor allem, was sich neueste Literatur nannte. Einige hatten sich auch schon selbst ein zwischen Zynismus und Romantik in der Mitte liegendes Verhältnis zu Heines Muse erfunden, halb Dreck, halb Lotosblume, je nach Stimmung. Zuweilen hatten die jungen Herren Dichterwehen und steuerten im Strome mit den Lockungen der Lorelei und der Reue des Tannhäuser. Den elegischen Ton des Vortrags für diese Heineschen Liebesschmerzen habe ich nie in meinem Stimmenregister aufzufinden vermocht.

Auf dem Kontor von Hoffmann und Campe gab es immer Anregung. Die Zusendung von Manuskripten erfolgte von allen Seiten, besonders aus Österreich. Die namhaftesten Dichter standen mit dem Chef dieser Buchhandlung in Briefwechsel. Er hatte die Eigenheit, dem Zufall eine Rolle in seinem Leben zu gestatten. Zufällig gewann er auch das große Los in der Braunschweiger Lotterie beim kolossalsten Lotteriespiel. Sein Zufallskultus machte ihn auch zum Propheten. Als solcher hatte er aber nicht immer so glückliche Treffer. So ließ er Briefe, von denen er Unangenehmes ahnte, mehrere Tage liegen, ehe er sie öffnete. Das bekam ihm in einem Falle übel. Die »Spaziergänge eines Wiener Poeten« hatten einen glänzenden Erfolg; doch blieb eine Verstimmung gegen den Verfasser zurück, die ihn veranlaßte, einen von letzterem empfangenen Brief, worin er Vorwürfe zu lesen augurierte, nicht zu öffnen. Als er sich endlich dazu entschließen mußte, sah er, daß ihm Anastasius Grün eine neue Gedichtsammlung, »Schutt«, angetragen hatte. Der Dichter hatte umgehende Antwort gewünscht. Jetzt schrieb Campe sofort; aber der Verfasser war schon in Unterhandlung mit der Verlegerin des »Musenalmanachs«, der Weidmannschen Buchhandlung, getreten . . .

 

Im ganzen waren die Hamburger Jahre sorgenvoll. Die Abhängigkeit von einem Buchhändler, bei dem es heute Sonnenschein, morgen böses Wetter gab, war besonders drückend. Meine Frau konnte sich nicht an die veränderte Lebensweise, besonders nicht an die Ansprüche der Hamburger Dienstboten gewöhnen. Ein Glück war die Befreundung mit einigen gemütvollen Familien, die einen Anschluß erlaubten. In erster Reihe ist die Schwester Varnhagens zu nennen, eine verheiratete Assing, die Mutter der beiden Töchter, von denen die eine, Ludmilla, bis auf den heutigen Tag das Privilegium hat, das Publikum immer in irgendeiner Art literarisch zu beschäftigen. Damals sah man in einem kleinen dunklen, von Bäumen beschatteten Hause der bescheidenen Poolstraße, in niedrigen Zimmern, in einem Gärtchen, wo sich bequem nicht zwanzig Schritte tun ließen, zwei junge Mädchen von fünfzehn und sechzehn Jahren, die in überraschendster Frühreife bereits die laufende Literaturchronik des Tages kannten und mitmachten. Der Vater, ein Arzt, in jungen Jahren mit Justinus Kerner in Wien und auch später noch mit ihm befreundet, machte ab und zu ein sinniges Gedicht und war in solchem Grade sensitiver Natur, daß ich glaube, die Veranstaltung, die sein Schwager Varnhagen für seinen Tod getroffen hat, diese Veröffentlichung nicht endender Aufzeichnungen und Briefwechsel, wäre für sein Teil vollkommen unsympathisch von ihm empfunden worden. Dagegen hatte sich die Mutter ganz an den Persönlichkeitskultus ihres Bruders gewöhnt. Auch sie war wie ihr Bruder eine Meisterin in jenen Scherengebilden, die später Konewka so gefällig zu malen verstand. Sie kannte dabei die Natur. Bei unzähligen Spaziergängen und Partien, die wir familienweise machten, blieb sie bald an diesem Wegekraut, bald an jenem Baume stehen und entdeckte trotz ihrer Kurzsichtigkeit Schönes und Seltenes. Durchweg romantisch konnte man die geistige Welt dieses Kreises nennen, obschon sie selbst des Übermaßes im romantischen Wesen bei anderen spotteten. Die Familie des streng konservativ-jüdischen gelehrten Dr. Steinheim in Altona schloß sich engbefreundet an. Unzweifelhaft war noch manches vom Geist der Rahel und ihres ersten überschwenglichen Verkehrs mit Varnhagen im Leben dieser und anderer Familien zurückgeblieben, bei Rosa Maria vorzugsweise das Interesse für jede Persönlichkeit, die in irgendeiner Weise psychologisch oder sonst charakteristisch unterzubringen war. Bei den Töchtern herrschte der Genuß phantastischer Reproduktion vor, eine wahre Schwelgerei im Erlebten, im Erzählten. Fast alles mußte vor die Phantasie treten, und beiden trat dann zuweilen etwas mit gleichen Bildern und zu gleicher Zeit vor ihr Auge, wo es dann genug über die geistige Zwillingschaft zu lachen gab. Eine sagte wörtlich dasselbe wie die andere. Es handelte sich um ein ewiges Verschönern der Welt, ein stetes Wegstoßen des Häßlichen. Kein Schiff, das grade vorübersegelte, wenn wir in Flottbecks Baumschatten weilten, blieb ohne Befrachtung von Träumereien; sicher ging es nach Indien, sicher ins Land der Palmen, zu jenen blauen Seen hin, wo sich die Flamingos badeten. Alles Gemeine, alles Alltägliche verschwand hier vor Blicken, die nur das Schöne oder das Entgegengesetzte, Störende sahen und die Menschen und die Dinge in potenzierende und depotenzierende einteilten. Heute verkehrte man sich die Welt in das Zeitalter der Troubadoure, morgen stellte man sie vor den Vexierspiegel des schattenlosen Peter Schlemihl Adelbert von Chamissos, welcher letztre ebenfalls in steter Verbindung mit den Bewohnern des Hauses blieb. »Dramatische Leseabende« brachten bald bei dem einen, bald bei dem andern dieses Kreises Schiller, Goethe, Shakespeare zur Anschauung und zur Kritik. Leider trennte der Tod diese schöne Vereinigung. Rosa Maria starb noch vor dem großen Brande. An Leiden, von deren Vorhandensein ihr geselliger Sinn kaum hatte die Ahnung aufkommen lassen. Schon ein Jahr nach ihrem Tode starb auch Assing. Die Töchter gingen zum Onkel nach Berlin, dem sie Rahel, die altgewordene, ersetzen sollten. Wenn dies die eine der Schwestern, die nach Amerika gegangen ist, nicht vermochte, so möchte man wohl fragen, ob nicht Varnhagens Gesichtskreise damals enger, seine Tendenzen zugespitzter, sein ganzes Wesen gereizter war, von Haß und Unmut über seine Zurücksetzung im Staatsdienst eingegeben? Die Wirkung, die der bewegliche Mann auf meine literarischen Mitkämpfer ausübte, war nicht gut. Briefwechsel über Briefwechsel wurden herausgegeben, literarische Porträts silhouettiert, Reiseeindrücke festgehalten. Das waren die aufs Oberflächliche wirkenden Anregungen, die von einem Bett in der Berliner Behrenstraße ausgingen; selbst im gesunden Zustande brachte Varnhagen den größten Teil des Tages im Bett zu. Vom Bett aus klagte er mir einst, als ich ihn besuchte, daß die Verdienste, die er sich um Leopold Ranke erworben, von diesem selbst nicht anerkannt würden. Er sei es gewesen, der an maßgebender Stelle zuerst auf die bekannte Erstlingsschrift des Historikers aufmerksam gemacht und dadurch Rankes Versetzung von einem Gymnasium an die Universität veranlaßt hätte . . .

 


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