Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es gibt auch ein geistiges »Hinter die Schule gehen«. Ohne die Wirkungen desselben stellt sich keine wahre Freiheit im Gebrauch der von den Lehrern aufgenommenen Bildung ein. Kenntnisse, Anschauungen, die dem nächsten Schulleben fremd geblieben, muß man gewonnen haben, um die wahre »Reife«, nicht für die Universität, sondern fürs Leben zu gewinnen.
Es gibt Lehrer, die auch für dies »Außerhalb der Schule« höchst liebevoll anzuregen, auch da, auf einem allerdings dunkeln, an Irrwegen und Klippen reichen Gebiete, Führer zu sein verstehen. In großen zerstreuenden Städten allerdings wird einem Schüler diese Wohltat selten zuteil. An unserm Gymnasium fehlte sie gänzlich.
Aber erst noch sei von einem wirklichen, frevelhaften »Hinter die Schule gehen« berichtet und eingestanden, daß dem Erzähler das Jahr 1823 verhängnisvoll wurde. Die Sonne zur Hundstagszeit brannte in diesem Jahre so heiß! Die Poesie des »Schafgrabens«, der jetzt unter den Neubauten am Tempelhofer und Hallischen Ufer, höher hinauf an den Gasanstalten begraben liegt, lockte so verführerisch ins dunkelblaue, hier und da schlammige und nur nabeltiefe, aber wonnig-kühle Gewässer! Dem »Wassernix« wurde noch gründlicher gehuldigt jenseits der Linden. Zum Oranienburger Tor hinaus war die Panke nicht überall zur »Bassermannschen Gestalt« geworden, wie sie etwa an der Nachtkonditorei der Karlstraße, einer nächtlichen Eimerfrau nicht unähnlich, ans Tageslicht schießt – nein, bei den »Invaliden« war sie noch ein klarer, unter jungen und alten Weiden munter dahinhüpfender und seine »Ikleie« treibender Bach, militärblau wie alles märkische Gewässer und des Preises würdig, den ihr Schmidt von Werneuchen gewidmet. In der Nähe des Invalidenhauses lag ein wie im hohen Schilf begrabener Pfuhl, wir nannten ihn Teich. Wie mit Polypenfangarmen griff eine unheimliche Vegetation, die auf seinem Grunde wucherte, nach unsern Lenden und Waden, wenn wir dort, ohne Schwimmhosen, hinter die Schule gegangene Jünglinge, badeten. Jetzt rauchen hier Schornsteine und erheben sich Siegesdenkmäler und neue Kasernen, wo sich so träumerisch beobachten ließ, wie die Distel ihr wolliges Blütenhaupt auf die Schultern höchst gefährlicher Brennesseln legte und die »Kalitte« von einer Kartoffelblüte auf die andere flog. Infandum scelus infanda poena piandum – und »Fordre niemand, mein Schicksal zu hören –!« Unter den Frevlern, die für ihren Schulstreik, den großartigsten, der vielleicht je durchgeführt wurde, von beinahe einem Vierteljahre, zu büßen hatten, befand sich auch der Sänger des »Neuen Reineke Fuchs«, der schon auf der Schule durch eine immer flügge Lebendigkeit im Rätselaufgeben und Scharadenlösen ausgezeichnete Adolf Glaßbrenner.
Das geistige »Hinter die Schule gehen« ist beim Kinde zuerst ein neugieriges Aufschlagen alles dessen, was der Zufall an Büchern in die Hand gibt. Sinnend, wie in ein fernes Eden verloren, steht der durch Kameradenbeispiel verführte, aber reuevoll jetzt wieder von den besten Vorsätzen erfüllte Quartaner an einem Buchladen und spinnt sich Märchen aus und lange Zukunftsahnungen von diesem und von jenem Werke, während die Wagen um ihn her rasseln, der Verkehr der Straße donnert – er könnte am Niagarafall stehen, und in seinem Grübeln über diesen oder jenen Titel stört ihn nichts.
In jenen Zeiten gab es noch weit mehr antiquarische Bücherstände auf offener Straße als jetzt. Im rechten Flügel der Universität, am Schloß, in der Jägerstraße, als diese noch mit »Kolonnaden« geschmückt war, hielt man im Wandern inne, um Büchertitel zu lesen. Der alte Mann, der am Schloß einen Abhub alter Bücher feilbot, hätte in einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann figurieren können neben seinen Nußknackermenschen. Schräg dem jetzigen »Roten Schloß« gegenüber, wo oft der Sturmwind Hüte und Mäntel fortzureißen droht, hielt dieser alte, wie vom Jahre 1770 vergessene und zurückgebliebene graubärtige Mann stand. Sein nach der Mode des vorigen Jahrhunderts geschnittener Rock hatte zwei lange Seitenschöße wie der Frack des Doktors Dulcamara auf der Bühne. Zwei Uhrketten hingen über eine bis an die Lenden gehende Weste heraus. Für den Schüler bot sein Kram nichts Brauchbares, ja man fürchtete sich, den unheimlichen Automatenmenschen anzureden. Kulanter war ein kleiner, rundlicher, rotwangiger Mann, der ein Häuschen dicht an der Schleusenbrücke bewohnte und die Jugend Berlins vorzugsweise anzulocken verstand, Gsellius, der Begründer der großen, so blühenden Buchverkaufsfirma. Seine Ehehälfte, Frau Gsellius, kletterte wohl selbst auf die Leiter, um von den oberen Fächern noch einige ihr näher bekannte Xenophons und Neposse herunter zu holen. Aber die Preise bestimmte der Gatte.
Eine Quelle mancher Heimlichkeit, doch zu fruchttragender Lektüre anregend, wurde das Erscheinen zweier Übersetzungsbibliotheken der alten Klassiker, einer, die von Stuttgart, und einer konkurrierenden, die von Prenzlau in der Uckermark ausging. Die letztere, in blauem Umschlag, heimelte sich mehr an als jene in braunem, trotzdem diese als Bürgen ihrer Vortrefflichkeit die Namen Schwab, Tafel und Osiander auf dem Titel trug. Ciceros Briefe, im Prenzlauer Sammelwerk übersetzt und erläutert von einem sonst unbekannt gebliebenen Rektor Thospann, wurden eine Fundgrube für jene Tatsachenfülle, nach welcher sich der Jüngling sehnt. Das abscheuliche Wortgeklaube hörte in diesen Übersetzungen auf. Der Pragmatismus, der die Sachlagen, die Nebenumstände, die besonderen Bedingungen und nächsten Bezüge der Fakten ins Licht stellte, ergriff den Leser. Diese Sammlungen, auf welche – und auf beide zugleich – mit den größten Opfern, der Sparsamkeit und Entbehrung abonniert wurde, brachten Einleitungen in jedes Werk, die mehr enthielten, als wir in der Klasse erfuhren. Leider hatten es die Herausgeber so einzurichten gewußt, daß die Werke, die in den Schulplänen vorkamen, nicht so früh erschienen, daß sie die damals lebende junge Generation noch brauchen konnte.
Die Mahnung des Professors N. N., die Dichter in der Jugend zu lesen, wirkte nach. Der defekte Zustand der Schülerbibliothek zwang, die Leihbibliothek statt ihrer eintreten zu lassen. Unterm Tisch und sogar während der Klasse kam jene Mahnung den Übersetzungen Walter Scotts zugute, der Zwickauer kleinen Ausgabe mit lateinischen Lettern. Wenn je ein Dichter sein Zeitalter ergriffen hat, so war es der »große Unbekannte«, der »Verfasser des Waverley«, wie lange Jahre der bezaubernde Dichter genannt wurde. Raupachs »Schleichhändler« geben einen ungefähren Begriff von dem damals hervorgebrachten Begeisterungsgrade. Die allgemeine Reaktion der europäischen Zustände, die Rückkehr und Vertiefung in die Ideen des Mittelalters erleichterten die Aufnahme dieser Arbeiten eines sinnigen Genius, gegen dessen phantasiebeschwingten Flug der gegenwärtige Gouvernantenroman Englands nur zu ärmlich absticht. Wie wurde ein Selbstbesitzer der Zwickauer Ausgabe umschmeichelt von den leselüsternen Kameraden! Förmliche Anwartschaften nach der Anciennität der Meldungen wurden eröffnet, wer daran käme, endlich den »Quentin Durward« zu bekommen! Wie wurde geschwelgt in den Schrecken, die Ludwig XI. um sich verbreitete! Wie unheimlich beängstigend und zuletzt doch so rührend wirkte ein reicher Zwerg – wo kommt er vor? Im »Herzen von Midlothian«? Die Hexen Hochschottlands, die Norne von Faithful Head waren Gestalten, die für unser Bedürfnis nach drastischem Schauer nicht grotesker erfunden werden konnten. Im Zauberbann der Nachtseiten des Lebens, unter den Macbethhexen, wie einst bei den Geisterbeschwörungen der Hexenküche im Faust, war dem Erzähler ästhetisch am wohlsten. Die Angst der meisten Kinder vor Geschichten, die übel enden, hatte er nicht.
Es ist ein Verlust zu nennen, wenn eine seit Generationen bestehende gute Bibliothek einer großen Stadt später zerstückelt wird. Die Petrische Leihbibliothek führte ihre Kataloge bis in die Literatur des vorigen Jahrhunderts zurück. Während die Königliche Bibliothek aus dem belletristischen Gebiet entweder gar nichts anschafft oder nichts verleiht, konnte sich der Liebhaber und Forscher auf dem Kulturgebiet älterer Epochen in solchen und ähnlichen Bibliotheken, deren Bestandteile jetzt vielleicht in des Stuttgarter Scheible Kuriositätenkatalogen zu finden sind, Rats erholen. Bei Petri war die ganze Nicolaizeit vertreten, die spätere romantische, wenigstens in ihrem polemischen Zusammenprall mit Kotzebue und Merkel, die erste »Bonaparte«-Literatur, die Erniedrigungszeit, als die »Löschbrände«, »Fackeln«, »Silhouetten Berliner Charaktere«, die Werke der Firma Peter Hammer in Köln und Amsterdam erschienen, später die Restaurationszeit, wo die »Satiriker« Friedrich und Julius von Voß die Sittengeißler sein wollten – doch nur zu sehr verrieten, wie alles, was damals zu schreiben und zu drucken erlaubt wurde, von der Misere des öffentlichen Lebens, nebenbei auch von Pensionen und Subventionen, die man erbettelte, abhängig war. Für die damals modische schöne Literatur, für Clauren, van der Velde, Tromlitz und ähnliches fehlte dem Erzähler jede Neigung; nur die alte echte Romantik wurde aufgesucht, Novalis, Achim von Arnim, Brentano. Die »Hymnen an die Nacht« begeisterten den Erzähler selbst zu einer Apostrophe an die Sterne, die er schon als Primaner dem Dr. W. Häring für sein »Konversationsblatt« einschickte, der sie auch abdruckte. Schon vorher hatten Veit Webers »Sagen der Vorzeit« um so mehr auf die Phantasie gewirkt, als die Schauplätze derselben, die alten efeuumwundenen Mauerbögen und zerfallenen Türme der Rheinburgen, die sie wie im magischen Mondlicht neu erstehen, sich von Rittern und Reisigen, holden Frauen und deren Liebesleid beleben ließen, für den auf die Kiefern der Mark angewiesenen Knaben einen erhöhten Reiz ausübten. Selbstverständlich wurde Schiller gelesen, Goethe im »Faust«, »Götz« und »Wilhelm Meister«, vorzugsweise Jean Paul. Letzterer wurde ein Liebling des Jünglings, der allmählich die Zeit des sonntäglichen Kirchenbesuchs zu opfern und mit dem Verweilen auf einer Bank im stillen Tiergarten zu vertauschen anfing. Jean Paul hatte damals die gläubigsten Leser. Kanzelt ihn herab, ihr Literarhistoriker, nennt ihn mit Goethe einen »Tragelaphen« – er versetzte beim Lesen den ganzen Menschen in Mittätigkeit! Seine Bilder- und Witzsprache griff bald in dies, bald in jenes Gebiet des Wissens über, wo wir zugleich, während nur die Unterhaltung, die Befriedigung des Herzens gesucht wurde, Belehrung fanden. Brauchte der Dichter Vergleiche mit den Erfahrungen der Alltäglichkeit, die jedermann selbst macht, wie erging sich da die noch nicht blasierte Jugend im gesundesten Lachen! Wie gerne hätten wir uns so ganz in Titan – Liane – Roquairol vertieft –! Aber die Griechen und Römer ließen uns nicht los. Zum Überfluß mußte noch Hebräisch gelernt werden. Eine alte hebräische Bibel wurde an derselben Stelle am Schauspielhause erhandelt, wo später der Generalintendant der Königlichen Schauspiele sein Empfangskabinett hatte. An der Ecke der Jäger- und Charlottenstraße befand sich ein Antiquar.
Das Theater befördert das geistige »Hinter die Schule gehen« in einem solchen Grade – zunächst negativ –, daß ich kaum fassen kann, wie sich die jetzige Überfülle von Theatern in Berlin zur stillen Klausur des Schullebens, zur träumerischen Brütestimmung im Gemüt des Knaben verhalten mag. Überredet die Reklame von dieser »zwerchfellerschütternden« Posse, von jenem »genußreichen« Lebensbilde, diesem »durchschlagenden« neuen Werke des Herrn N. N. auch die aufstrebende lateinische Jugend, oder hat sie noch den ästhetischen Rigorismus, der wenigstens den Erzähler in seiner Jugend geringschätzend blicken ließ auf literarische Erscheinungen, Blätter, Bücher, die den Charakter des Unmusischen, Banausischen, Unstudierten an sich trugen? In meine Gymnasialzeit fiel das erste Auftreten M. G. Saphirs und seiner Nachahmer in Berlin. Komus und Jocus, der Witz und wieder nur der Witz, sollten herrschen. Die Königliche Bühne hatte eine Rivalin bekommen, die Königstädtische am Alexanderplatz. Aber in unsere heiligen Schulhallen drang von diesem Tagesflitter wenig. Erst einigen entschieden zum Belletristischen neigenden Köpfen der Prima gelang es, die stolze Ablehnung dieser flüchtigen und leichten Musenspiele des Tages zu mildern. Da wurde dann ein kleiner Teil der Klasse (durch ein unter uns handschriftlich erscheinendes Journal und einen Sonnabendklub hervorgebracht) so für »Belletristik« gewonnen, daß meine Feder an einer Übersetzung der Oden der Sappho feilte, ja zu einem förmlichen Buche über die öffentlichen Spiele der Römer und zuletzt zu einer Novelle ansetzte für Saphirs »Schnellpost«, die dort auch abgedruckt ist.
Die lateinische Welt vergißt sich am ehesten im Kaffeehause. Berlin hat noch bis zum heutigen Tage keine eigentlichen Kaffeehäuser wie Paris, München, Wien. Die ungemeine Teuerung des baulichen Terrains hat eine Menge kleiner Lokale geschaffen, wo man den oft unausstehlichen Geruch altgewordener Backwaren mit einatmen muß, um mit knapper Not an einer Tischkante seine Tasse Kaffee zu trinken. Zum Bleiben wird man durch die Fülle der vorhandenen Journale und den Mangel an andern Lesekabinetten genötigt. Wurden nun die Blätter oder die »Baisers« der Konditoreien das Anziehendere –? Eines ging mit dem andern. Doch der Sonnabend gehörte ganz der Literatur. Sonnabend nachmittag hatten sich alle Wochenjournale eingefunden; der »Gesellschafter«, der »Freimütige«, die aus Leipzig gekommenen »Kometen« und »Planeten«, vor allen das damals tonangebende Stuttgarter »Morgenblatt«. Es währte nicht lange, so war der Primaner in alle schwebenden Streitfragen, in die Personalverhältnisse der zeitgenössischen Literatur, die Produktion des Büchermarkts eingeweiht. In Berlins belletristischer Sphäre tobte damals der helle Krieg. Saphir forderte alle Welt zum Kampf heraus. Eine Zeitlang schützte ihn der Beifall des mittleren Publikums, sogar des Königs, der Ministerien, ja des damals alles vermögenden Hegel. Man glaubte eine Macht gewonnen zu haben, die dem für unbestechlich geltenden Kritiker Rellstab gewachsen war. Diesem verbündeten sich jedoch die alten literarischen Kräfte Berlins. Die Zahl derer, die darunter für die Bühne geschrieben hatten, stieg auf dreizehn. Saphir sagte: »Ich bin dem Taschenspieler Bosko ähnlich, lasse von dreizehn auf mich schießen und ziehe dreizehn Kugeln aus der Rocktasche!« Er schien unverwundbar. Eine Broschüre folgte auf die andre. Die Offizin des auf der Straße durch seinen schlanken hohen Wuchs und die abschreckendste Häßlichkeit seiner Gesichtszüge aller Welt auffallenden Mannes war die gegenwärtige der Litfaßsäulen. Aus jenem kleinen Winkel, wo einst Berlins alte Kalandsbrüder gehaust haben, kamen seine »Schnellpost«, sein »Kurier«, »Staffette« und manche spätere Nachahmung.
Das Königliche Theater bot damals in Oper und Schauspiel denkwürdige Leistungen. Die erhabenen Rollen Glucks und Spontinis gab Frau Milder-Hauptmann, in dem jetzigen Fach Lucca glänzte die liebenswürdige Seidler-Wranitzki. Bader, Blume waren auf ihrer Höhe. Die Theaterzettel wechselten nur mit »Olympia«, »Nurmahal«, »Vestalin«, »Alcidor«, »Iphigenie«, bis der »Freischütz« die Alleinherrschaft Spontinis brach. Im Schauspiel herrschte die durch P. A. Wolf eingeführte weimarische Schule, die später durch die jüngeren Brüder Devrient nach Dresden übersiedelte, während in Berlin der Naturalismus zurückblieb. Frau Stich war die weibliche Zugkraft. Die schöne Frau alarmierte damals die Welt durch ihren Liebeshandel mit dem jungen Grafen Blücher, der ihrem Manne in einem Hause der Mohrenstraße, dem jetzigen Hotel Magdeburg gegenüber, einen Dolchstich versetzte. Damals begann Raupach, während noch Albini, Frau von Weißenthurn, Houwald, Clauren, Karl Blum die Lieblingsstücke des Königs lieferten. Eine allzu scharfe Beurteilung derselben in den zensurierten Blättern veranlaßte »Kabinettsorders« mit weithintreffender Wirkung. Einmal wurde sogar befohlen, daß jedes neue Stück erst nach der dritten Vorstellung rezensiert werden durfte. Für den Erzähler dieser Erinnerungen existierte leider diese Kunstsphäre nicht. Sein pietistischer Vater sprach die Verdammungsurteile über Theater in immer heftiger gewordenen Ausdrücken aus, so daß die Frage, ob die Mittel zum Besuch vorhanden gewesen wären, nicht erst nötig hatte aufgeworfen zu werden. »Nur der Satan hat seine Freude an diesen Possen! Unser Heiland hat nichts vom Theater gelehrt! Sie werden's wohl einst am Jüngsten Tage spüren, ob sie lieber ins Komödienhaus oder in die Kirche gegangen sind!« Das wurde nicht so hingemurmelt und als die schüchterne Privatmeinung eines sich in der Minorität Fühlenden ausgesprochen, sondern stand als christlicher Glaubensartikel an der Haustafel und wurde auch von den überfüllten Kirchen bestätigt, wo die Strauß, Couard, Jänicke, Goßner in jenen Tagen gegen den Geist der Zeit predigten. So konnte an andere Theatereindrücke nicht gedacht werden als an solche, wofür einmal der Zufall ein Billett auf den Tisch warf. Zuweilen war dies beim Königstädter Theater der Fall. Das denn doch augenscheinlich und ersichtlich daliegende Parterrebillett schien schon dem exakten Sinne des Beamten seine Erledigung zu verlangen. Die mütterliche Liebe predigte Toleranz und berief sich auf die Tatsache, daß ja doch auch der König ins Theater ginge. So sind dem Erzähler wenigstens von den Schauspielern der jungen aufstrebenden, leider in ihrer Verwaltung aus einer Krise in die andre geschleuderten Königstädter Bühne einige Erinnerungen geblieben, darunter die besten von Schmelka und Beckmann, deren Komik mit dem jetzt üblichen, sich selbst und die Welt parodierenden Ton nichts gemein hatte. Von Paris kam damals der gesungene Refrain, den Holtei im deutschen »Liederspiel« (Vaudeville) einführen wollte, von Wien kam das schon ausgebildetere Couplet. Noch mit schwacher Wirkung, da die Mitgabe die Zauberposse war, ein Genre, das in Berlin von je nur für die Kinder existierte. Wer sich damals schon hätte hinstellen wollen und als Hausknecht oder Dienstmagd dem Publikum dummdreistaufdringlich die neuesten Zeitereignisse, die Themata der Leitartikel erörtern – die Ablehnung solcher Zumutungen würde vom Publikum selbst gekommen sein. Die Zensur wäre nicht nötig gewesen. Der Janhagel gab nicht wie jetzt den Ton an.
Eine breitspurige Wirksamkeit übten die Übersetzer Louis Angely und Kurländer in Wien. Beide sind die Begründer des »Frei nach dem Französischen«. Der erstere war auch Schauspieler und hatte eine etwas forcierte Komik. Als Ferdinand Raimund nach Berlin kam, 1832 – wo der Erzähler schon Student war –, fand sich nur ein Häuflein Zuschauer im Königstädter Theater ein. Der Beklagenswerte spielte seinen eigenen »Menschenfeind« vor leeren Banken. Man konnte annehmen, daß ihm die bitteren Verwünschungen des Schicksals, von denen Rappelkopf, der wienerisierte Timon, durch den »Alpenkönig«, der niemand anders als Kaiser Franzel im Inkognito sein sollte, geheilt wird, recht von Herzen kamen.
Theatereindrücke, denen regelmäßig, wenn der Erzähler bald nach zehn Uhr, wo die Haustür geschlossen wurde, heimkehrte, die Erklärung des Vaters, der jene erst zu öffnen hatte, folgte: »An dir wird Satan seine Freude haben! Du gehst den graden Weg zur Hölle!« konnten keine dauernde Lust daran erwecken. Die Bühne blieb mir eine Liebe aus der Ferne, die es zu keiner Erklärung kommen läßt. Mochte ich doch auch kaum voraussetzen, daß Shakespeare und Calderon, die ich für mich und mit lautem Rezitieren allein las, im Schauspielhause anders erscheinen würden, als sie vor meinen Augen standen. Oft hatte ich Regungen, selbst Schauspieler zu werden. Aber die Idealität, in deren Verklärung mir alle Kunst lebte, fehlte zu sehr dem ganzen Theatergebiet. Das Ideal der griechischen Bühne wurde uns in der Klasse täglich vorgeführt, jener unter dem offenen blauen Himmel Griechenlands geführte Kampf heroischer Gestalten mit dem großen erhabenen Schicksal – wo war davon etwas in Schinkels neugebautem »Komödienhause« zu suchen, wo man bei spärlichster Ölbeleuchtung durch ein Gewinde von kellerartigen Gängen und Treppen hindurch mußte, um endlich im zweiten Rang oder auf der Galerie fast immer – allein zu sitzen! Denn der Zuspruch zum Theater war damals in hohem Grade gering, trotzdem daß Friedrich Wilhelm III., wenn nicht gerade im Opernhause Ballett angesetzt war, jeder Schauspielvorstellung anwohnte.
Einen wie andern Blick gab, statt auf den Theaterzettel mit: »Der Galeerensklave«, »Preziosa«, »Künstlers Erdenwallen«, die Welt des Geistes und der Forschung! Die Nachtstunde mit »unnützerweise verbrauchtem Öl« ließ schönere Gebilde aufsteigen, als sie der an sich nicht mehr gefürchtete Satan im Theater zauberte! Die Prolegomena F. A. Wolfs, von dessen Geist die ganze damalige Altertumswissenschaft durchdrungen war, blieben unserm Kreise nicht fremd und wurden zu häuslichem privatem Studium erworben. Die kühne Hypothese, daß es keinen Homer gegeben hätte, sondern nur ein homeridisches Zeitalter, eine Alluvion von Dichtungen, die sich durch die Zeiten, durch eine Schule gebildet hätten, und daß zuletzt in Athen, teilweise auf Staatsbefehl, dies große Material geordnet, überarbeitet, ergänzt worden wäre – sie warf – mit Begeisterungsschwingen – den Zweifel in die Brust als Führer fürs ganze Leben. Die gläubige Natur, die angeborene oder anerzogene Verehrung der Tradition, war dahin. Alles in dem jungen Mann stockte und staunte ob dieser Enthüllung eines verführerischen Scharfsinns. Hier gab es keinen Glauben an die Unmöglichkeit, daß eine Dichtung wie durch generatio aequivoqua ins Leben gerufen werden konnte. Die Bahn war gebrochen, sich gegenüber allen Anfängen der Geschichte, jedem mythischen, über das Maß der Gegenwart hinausragenden Begriffe, am meisten der Bibel selbst, nur prüfend zu verhalten und alles Ungeheuerliche, Unverhältnismäßige, Wunderbare natürlich zu erklären. Die Teufel kamen immer näher – aber von einer andern Seite! Von der Studierlampe! Diese wandernden Homeriden waren es. Diese tanzten nicht im Ballett vor dem frommen Agendenkönig. Im Geiste sah ich's: Erzogen und gebildet auf einer Sängerschule (vielleicht lag sie in Chios), hinauswandernd, erst zu Schiff und wie Arion die Geister der See beschwörend mit dem Saitenklang goldner Harfen, dann das feste Land betretend in Kleinasien, auf Trojas Trümmern oder in Argolis, wo sie die Löwenburg der Atriden aufnahm! Alle zerstreut, jeder singend, jeder allein bildend an seinem besondern Stoff, der geschult auf diese Mythe, der auf jene und dann alle vier Jahre zu Olympia sich vereinigend, dort nichts begehrend, nichts sich mühend zu erringen als den Kranz vom wilden Ölbaum auf das lockenumwallte Haupt –! Die Gegenwart hat die Hypothese der Prolegomenen und ihre spätere Anwendung auch auf die Nibelungen verworfen, sie hat wieder für einen wirklich dagewesenen großen Dichter Homer plädiert. Ich kann an diesen nicht glauben. Wer die Schwierigkeiten des Schreibens in den alten grauen Tagen erwägt, wer an die Unmöglichkeit denkt, das Material für weitschichtige Aufzeichnungen aufzutreiben, wer da weiß, daß nur eine Staats- oder Kultushilfe, ein gleichsam gesetzgeberischer Akt die Mittel bot, um lange Bücherrollen zu führen, der wird sich das Bild eines sich schon damals à la Goethe mit ruhiger Federführung hinsetzenden und seine »Iliade« und »Odyssee« dichtenden Homer niemals vorstellen können.
Das entschiedenste geistige »Hinter die Schule gehen« wurde mit den Büchern getrieben, die sich einige stimmungsverwandte Schüler zusteckten, mit verbotenen. Sie betrafen die damalige Lebensfrage der akademischen Jugend, ob Landsmannschaft, ob Burschenschaft. Von Schulgenossen, die ihre Eltern am Orte hatten, konnte solche eingeschmuggelte Lektüre nicht kommen, obschon die sich zuweilen in die Klassen verlierenden Spoliationen der väterlichen Bibliotheken, ja selbst der Kupferstichsammlungen merkwürdige Untersuchungen hätten bringen können. Ein Kommilitone »schenkte« mir z. B. mit voller Treuherzigkeit einen Müllerschen Stich des Evangelisten Johannes, der später zu hohen Preisen gesucht wurde. Haupts »Burschenschaften und Landsmannschaften« und Herbsts »Ideale und Irrtümer« brachte der schon genannte spätere Pfarrer Böttcher in unsern Kreis. Selbst der Sohn eines Landpfarrers bei Züllichau, wohnte er selbständig. Eine Zeitlang da, wo vielleicht gegenwärtig in der Jägerstraße bei Beyer einer der Leser dieser Zeilen nach dem Theater sein Beefsteak zu verzehren pflegt. Welche Umkehr durch die Zeit! Dieser jetzige Restaurationsgarten war pedantisch gepflegt, an den Beeten rings mit Buchsbaum umfriedigt, die Gänge waren mit gelbem Kieselsand beschüttet; das Haus war eines jener wenigen alten »vornehmen« Berliner Häuser, die ständig geschlossen blieben. Alles ringsum war klösterlich. Bei jedem lautgesprochenen Worte guckten alte Demoisellen mit langen Locken (aus Seide, wie sie damals üblich) entrüstet zum Fenster heraus. An den unheimlichen, schwarzgeräucherten Brandmauern, die in ganzer Länge das Gärtchen einschlossen, schlichen die den Damen wahrscheinlich einzig sympathischen Katzen dahin. Man sollte am Berliner, wenn man seinen Urtypus schildert, seine Pedanterie, eine gewisse mißgünstige Peinlichkeit, die Wahrung des Kleinlichen und die nur langsam kommende Regung zum Leichtnehmen, Generosen und Kulanten nicht verschweigen. Die meisten Physiologen unserer sozialen Zustände, Skizzen- und Bildermaler über Berlin und die Berliner vergreifen sich, wenn sie nicht von einer gewissen hypochondrischen, griesgrämlichen, kalt ablehnenden Neigung im Charakter des Märkers überhaupt ausgehen, woraus auch andrerseits die eigentümlichen Tugenden dieses Stammes, das feste Beharren, Mut und Entschlossenheit, herzuleiten sind.
»Haupt« und »Herbst« hatten einen kleinen Kreis, der sich schon durch Studenten rekrutierte, auf dem Gewissen, wenn wir beim »Heil dir im Siegerkranz« uns schon lange das Ohr zuhielten und nur über Barbarossas Erwachen im Kyffhäuser, über die wiederherzustellende Kaiserkrone träumten. Die alten spitznasigen Demoisellen, bei welchen Böttcher von seinem Vater einquartiert worden war, kündigten ihm sogleich nach einem unsrer Nachmittagskaffees, bei denen »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los« entsprechend intoniert wurde. Trotzig zog der Ausgewiesene in die Scharrn-, die Kur-, die Französische Straße. Überall vertrieb ihn unser Lärm. Der Ärmste war krank am Fuß und hinkte. Oft, wenn ich die wilden Ausbrüche seines Zornes sah, mußte ich denken: Wie der Schöpfer so weise voraussorgt! Jedem, der in seiner Art für andere gefährlich werden könnte, legt er einen Dämpfer auf –! Wir folgten diesem Rattenfänger, einer idealen, schwunghaften Natur, mit seiner feurigen Rede, seinen langen, hellblonden, ungelockt auf die Schultern fallenden Haaren, seinen sprühenden Augen von Hausnummer zu Hausnummer seiner Wohnungen, bis er nach seinem rühmlichst bestandenen Abiturientenexamen auf ein halbes Jahr nach Halle ging, dann zurückkehrte und unsem inzwischen umgestalteten Bund mit seinen »Haupt«- und »Herbst«-Ideen beinahe nach – Köpenick geführt hätte. Denn wir hatten trotz unsres »an Eides Statt« gegebenen Gelöbnisses und der drohenden Gefahren durch Pedell, Universitätsrichter und Minister von Kamptz in gewissen Formen eine Burschenschaft errichtet.