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Wenn einst im alten Rom und im schönen Griechenland – Doch nein, Vergebung, liebenswürdige Leserin, wir befinden uns im modernen Berlin und sogar in der Nähe von Dingen und Menschen, die dich über das Kastanienwäldchen leichter orientieren dürften als eine Vergleichung unseres Gegenstandes mit dem alten Rom und dem schönen Griechenland.
Dort an Rauchs großartigem Reiterstandbild des »alten Fritz« steht die Menge und gafft ein Spiegelfenster an der Ecke eines mit Fahnen geschmückten Palais an. Man streitet, wohnt dort »der König« oder »die Königin«? Man sucht sich über die innere Einrichtung landesväterlicher oder landesmütterlicher Wohnungen nach dem Schimmer einzelner Vasen oder Statuetten oder glänzender Gummibäume zu unterrichten. Hier drängt sich eine buntgemischte, sogar die bekannten »Bassermannschen Gestalten« nicht ausschließende Gesellschaft durch eine schmale eiserne Schranke hindurch – es sind jene Märtyrer der »Queue«, die zur heutigen Vorstellung der »Afrikanerin« Billetts zu erobern suchen. Dort drüben, von wo die weißen Statuen einiger Generale herüberschimmern – die Frauen würden kaum besonders aufmerksam bei einer Auseinandersetzung der Verdienste Bülows und Scharnhorsts verweilen –, wird die tägliche Wachtparade abgehalten, wozu die Musik irgendeines ruhmgekrönten Garderegiments einige neue Quadrillen von Bilse oder Piefke zum besten gibt oder ein Webersches Opernfinale, wo die Flötensoli in dem tobenden Wagenlärm zuweilen wie die letzten Seufzer jener »sterbenden Krieger« herauskommen, deren Köpfe nebenan im Zeughause die Meisterhand eines Schlüter so bewunderungswürdig modellierte und nur leider, meiner Meinung nach, an einen unrechten Platz verpflanzte. Zur Seite liegt die Universität, ehemals das Riesenpalais eines Bruders vom alten Fritz, desselben, der in seinen Schlachten und strategischen Bewegungen »nie einen Fehler gemacht haben« soll. Und jetzt gestattest du mir wohl, aber nur in aller Kürze, an Rom und Griechenland zu erinnern – an die Gewohnheit der Alten, die Wissenschaften nicht in dumpfen, nach Gas oder Petroleum riechenden Lehrstuben, sondern auf freien Promenaden, unter schattigen Ölbäumen, am Ufer sanft dahinplätschernder, mit Efeu und Asphodelus, einer langblätterigen Lilie, bekränzten Bäche zu lehren. Der athenische Ilissus war jener Spreekanal, an welchem dich unter anderm auch die Singakademie zu Händel und Mendelssohn und zu den wissenschaftlichen Vorträgen »zur Errichtung von Volksbibliotheken«, einem der besten Gedanken des alten Hohenstaufen-Raumer, einladet. Efeu und den Asphodelus suche dir drüben in dem kleinen »botanischen Garten« zum Universitäts-Handgebrauch, an der Ecke der Dorotheenstraße; die Ölbäume aber ersetzen dir die wilden Kastanienbäume, die der ganzen Rückengegend der Universität den Namen des »Kastanienwäldchen« gegeben haben. Auf der letzten Seite der gelesensten Berliner Zeitungen genießt diese Gegend bei romantisch gestimmten Seelen eine besondere Popularität. Man lese nur: »Diejenige Dame, welche vorgestern auf der Herkulesbrücke ihr Taschentuch verloren hatte und es von einem Herrn wieder aufgehoben erhielt, wird von diesem gebeten, zur selben Stunde morgen, Freitag, im Kastanienwäldchen zu erscheinen. Der Weg am eisernen Gitter des Kanals zwischen dem Kupfergraben und der Neuen Wache entlang . . .«
Hiermit wären wir eigentlich auf dem besten Wege zu einer spannenden Novelle. Wird wohl die junge Dame von der Herkulesbrücke mit dem Schnupftuch kommen –? Kommt vielleicht statt ihrer eine alte Tante, die bei ihr Mutterstelle vertritt, sie zu ihrer künftigen Erbin bestimmt hat und die Vossische Zeitung heute früher las als ihre Nichte, die wohl sonst die heute so pikante Beilage unterdrückt haben würde –? Vielleicht will sich die Tante erst den Finder des Taschentuchs ansehen, ehe sie ihrem Pflegling gestattet, dieser kecken Aufforderung Gehör zu geben. Warum auch gerade das Kastanienwäldchen –? Warum nicht lieber das stille, verschwiegene ägyptische »Monbijou« –? Vielleicht ist es ein Student, der das Nützliche mit dem Angenehmen, die Wissenschaft mit der Romantik, jenes Stelldichein mit seinem Kollegienbesuch vereinigen möchte, und – »Studenten«, spricht die Tante, »sind, was Heiraten anbelangt –«
Doch leider müssen wir uns das weitere Ausspinnen dieser Fäden für eine andere Gelegenheit versparen und die liebenswürdige Leserin bitten, bis dahin diesen auf anderen Wegen gehenden Artikel nur zu überblättern, wenn sie keinen Sinn dafür haben sollte, zuvörderst zu erfahren, wie es ehedem, vor etwa vierzig Jahren, in diesem »Kastanienwäldchen« aussah, welche Gestalten damals, als ihre chère maman geboren wurde, dort zu wandeln pflegten. Seitdem ich jedoch gehört habe, daß sich in Berlin um den Sessel, von welchem herab Robert Prutz die Geschichte der neueren Literatur vorträgt, Hunderte und aber Hunderte vom schönen Geschlecht aufmerksam gruppieren und mit Andacht entgegennehmen, wie Goethe den Menschen als Menschen liebte, Schiller den Menschen als Teil der Menschheit, Kant die Aufklärung, Fichte das deutsche Volk, Platen an den Aktschlüssen seiner Komödien die sogenannten Parabasen, seitdem verzweifle ich nicht an meinem Thema und denke mir, daß die Leserinnen nicht ausschließlich an Sensationsnovellen und dem neuesten Modebericht, sondern auch am »Kastanienwäldchen in Berlin«, einem Beitrag zur deutschen Kultur- und Zeitgeschichte, interessiert sein können.
Das »Kastanienwäldchen« hieß ehedem der »Kastanienwald«. Das kosende Diminutiv ist erst die Folge einer bedeutenden Lichtung seiner ehrwürdigen alten Stämme. Prinz Heinrich Königliche Hoheit unterstützte die Baulust seines königlichen Bruders. Er legte seinen kolossalen Bau, ehedem »Prinz Heinrichs Palais« genannt, in einer noch mit Wald und Wiese bestandenen Gegend an. Als der höchstselige Prinz gestorben, ein jüngerer Prinz des königlichen Hauses, der ebenfalls Heinrich hieß, Erbe dieses mit kasernenartiger Regelmäßigkeit, doch kühn und nicht ohne Geschmack angelegten Palastes geworden war, überließ der neue Besitzer, ein von allerlei Rätseln umgebener, für Preußens Geschichte mythisch gewordener Herr, der lebenslang in Rom lebte und dort gestorben ist, sein Wohnhaus dem Staate zur Anlegung der neuen Universität. Ihm selbst verblieb nur ein dunkler Winkel im rechten Flügel, dicht der Akademie der Wissenschaften benachbart, wo einige alte Diener und Pferde, die in Deutschland zurückgeblieben, bis an ihr Ende das Gnadenbrot genossen. Man hatte immer die Sorge, der geheimnisvolle römische Aufenthalt dieses Prinzen würde mit einem Übertritt zur alleinseligmachenden Kirche endigen. Doch ist letzteres nicht erfolgt. Die Entfernung von Berlin hatte nur Gründe, die in einem persönlichen Zerwürfnis mit dem damaligen Chef des königlichen Hauses gesucht wurden; sogar eine schauerliche Degengeschichte wurde erzählt, und in dem damaligen düstern Winkel des rechten Flügels seines Hauses konnte man in der Tat alles glauben, was wie nach Schillers »Geisterseher« klang. Wenn das ganze Palais und der dazugehörige Park, eben unser »Kastanienwäldchen«, von einer hohen Mauer umgeben war, so war die mehrgenannte Stelle fast so unheimlich wie der Eingang zu einer Freimaurerloge.
Oder liegt für mich das Unheimliche dieser Erinnerungen nur in den Schwierigkeiten, unter denen, unmittelbar nach dem Übergang dieser Räume vom Hufe gewöhnlicher Wagen- und Reitpferde an den flügelbeschwingten Huf des Pegasus, gerade dasjenige Tor, das hier in die Mauer einließ, von dem zurückgebliebenen Dienstpersonal des grollenden Prinzen bewacht wurde –? Der Erzähler, geboren im dicht nebenanliegenden Akademiegebäude, kletterte nämlich lieber von der Seite des »Bauhofes« aus über die Mauer, als daß er die immer im bedenklichen Tänzeln begriffenen Peitschen der Prinz-Heinrichschen Leibkutscher und Vorreiter durch Beschreiten des ihnen gehörenden Terrains herausgefordert hätte. Außerdem gab es noch eine andere drohende Gewalt im Bereich des alten »Kastanienwaldes«. Ein mächtiger Rohrstock, den die eiserne Faust des Universitätspedells, eines alten Kriegers noch aus den Zeiten der »geworbenen Regimenter«, schwang. Dermaßen gefahrvoll sah es damals aus auf einem Boden, den jetzt mit dem verdeckten Marktkorb die leichtgeschürzte Grisette durchhüpft, die Bassermannsche Gestalt zum Ausruhen auf einer der daselbst zur behaglichen Siesta einladenden Bänke zu nehmen würdigt, der »Schutzmann« eher auf den zwitschernden Vogel in den Bäumen als auf die Signalpfeife eines Kollegen hört, die Bonnen den Kindersegen des Dorotheenstadtviertels laufen lehren und die Studenten, künftige Vaterfreuden ahnend, an der zuweilen schon stark schwammigen Baumrinde der alten Bäume sogar die Asche ihrer Zigarren abstreifen oder – Rendezvous geben. Man bestreite noch den Fortschritt der Zeit.
Der gegenwärtige botanische Duodezgarten war ein gleichfalls durch die hohe Mauer eingefriedigter, von frischgeschälten und gehauenen Bäumen hellschimmernder Zimmerhof. Hier wurden für alle Bauten der nächsten Nachbarschaft die ersten Zimmermannsarbeiten geliefert. Ein köstlicher Harzduft lag auf dieser unruhigen und geräuschvollen Nachbarschaft der Musen, die niemanden mehr stören mußte als den unmittelbar gegenüber in der Dorotheenstraße wohnenden Leibarzt des Königs, den vielaufgelegten Verfasser der »Kunst, das menschliche Leben zu verlängern«, Hufeland, der unter einem mächtigen Quäkerhut, den er zu tragen pflegte, jedesmal verdrießlich sein Haupt nach diesen Schützlingen einer Toleranz am unrechten Platze richtete. Die Genossen des heiligsten aller Handwerke, des Zimmermannshandwerks, mußten mit der Zeit weichen. Aber die hohe Mauer, die sich bis zu dem jetzt mit einem Kai versehenen, eng eingedämmten, damals aber völlig frei und naturwüchsig bequem dahinfließenden Spreearm erstreckte, blieb ringsum stehen, und von einem »Durchgang« aus der Dorotheenstraße zum Zeughause war noch lange keine Rede. Der Park gehörte allerdings schon damals der Universität, aber außer dieser nur dem Wagemut der umwohnenden Jugend. Die Spatzen zwitscherten hier nicht im Frühling solche Konzerte wie die letztere, wenn sie die Mauer, mit Hilfe einiger näher stehenden Bäume und eines gegenseitigen turnerischen Hinaufhebens auf die Schultern, überklettert hatte und im »Kastanienwald« »Räuber, Wanderer und Stadtsoldaten« spielte. Achtung vor dem glorreichen Kriegsheer war schon früh in diese Jugend gedrungen. Bei jenem Spiel kam es nur auf die Verhöhnung (die »Räuber« mußten natürlich immer siegen) solcher Soldaten an, wie sie »am Spittelmarkt« des Abends »aufzogen«, sogenannte Bürgerschützen, die auf dem »Schützenplatz« nach dem Vogel schossen. Man nannte sie wohl auch in militärischen Kreisen die »Rauhbeinigen«. Und im Herbst, wenn ein wahres Laubmeer zu Füßen der kahl gewordenen Bäume rauschte, wurden aus diesem Material Schinkelsche Paläste gebaut und Palästen von Eskimos nur darin ähnlich, daß ihr Material ein urwüchsiges war. Aber sie dienten darum doch einige Tage lang zur gemütlichen Unterhaltung, zu Einladungen auf »Vater-, Mutter- und Kindspielen«, zu Schulehalten und Kaffeevisiten aus leeren, ausgehöhlten Kastanien, bis dann freilich, besonders wenn sich dabei häusliche Szenen, etwa Abstrafungen ungeratener Söhne oder Schüler, Polterabendscherze bei bevorstehenden Vermählungen mit Rieke Müller oder Jette Schulze ergeben hatten, die Zerstörungssucht des wütend dahergerannt kommenden Kastellans dem in diesen Laubhütten getriebenen Mormonentum ein Ende bereitete. Wie die Katzen so behend schossen wir über die Mauer, und unsere Pfahl- und Laubbauten sanken in Trümmer.
In einem kleinen Buch »Aus der Knabenzeit« hab' ich schon einige berühmte Männer geschildert, die damals hier im Kastanienwald dem Kinde auffielen oder ihm mit Ehrfurcht genannt wurden, wenn sie zur Universität und in die Vorlesungen gingen. Ich will jetzt von den Tagen sprechen, wo ich den Stock des Kastellans nicht mehr zu fürchten brauchte, sondern den Kastanienwald als berechtigter Student besuchen durfte, ein Terrain, dem ohnehin der Fortschritt der Zeit zwar noch nicht ganz damals die Mauer genommen, aber doch schon einige weitere Ein- und Ausgänge bewilligt hatte. Also nichts von jener Zeit, wo das Zufrieren des mehrgenannten Spreearms möglich machte, daß wir uns unter der Neuen Wache, unter Scharnhorsts und Bülows Unsterblichkeit hinweg, hinweg auch unter allen Karossen, die gerade zu Hofe fuhren, oder gar hinweg unter einem Regiment Soldaten, das gerade mit klingendem Spiel über uns hermarschierte, wie durch einen unterirdischen finstern Eistunnel hindurch wagten mit dem noch unsicher behandelten »Schrittschuh« und »bei Fürstin Liegnitz« (die Gemahlin des Königs wohnte an der Stelle, wo der Kanal ausmündet) wieder aus kimmerischer Nacht ans Tageslicht kamen, sondern von jener Zeit, wo dem Rektor der Universität, dem Professor des römischen Rechts, Klenze, und dem Dekan der Philosophen, dem Naturhistoriker Lichtenstein, feierlich »an Eides Statt« gelobt werden mußte, »in keine Verbindung zu treten«, und gerade doch der Lebenslauf eines richtigen Studenten damit anfing, daß er schon an demselben Abend in eine Verbindung trat. Wen traf bei solchem Meineid die größere Schuld, den achtzehnjährigen Jüngling, den heißblütigen, von Schwärmerei erfüllten Kopf, der kein Spandau und kein Köpenick fürchtete? Oder jene Männer, welche, die »Gewissen verwirrend«, »Eide« oder »Ehrenworte« abnahmen, von denen sie doch wußten, daß die ganze Richtung der Zeit, die einmal eingerissene Gewohnheit der akademischen Jugend, das Halten eines solchen Versprechens in der Regel unmöglich machte?
Gewissensmensch oder Selbstquäler oder Mückenseiger (und doch wieder Elefantenverschlucker!), wie ich von je gewesen, hatte ich die beste Absicht, meinen Eid so lange als möglich zu halten. Ich hatte ihn einem System geschworen, das sich damals immer noch mit unerbittlicher Strenge geltend machte. Der Karbonarismus Italiens sollte noch immer nicht erstickt genug sein, so schrieben wenigstens Gentz und Pilat in Wien, Grund genug für die preußische Politik, die damals und noch lange nur das vollzog, was ihr Wien befahl, daß sie die burschenschaftlichen Verbindungen mit aller Strenge verfolgte. Die Namen eines Schmalz, der 1829 noch lebte und Staatsrecht lehrte, eines Universitätsrichters Krause, vor allen des Ministers von Kamptz, dessen »Kodex der Gendarmerie« die Studenten auf der Wartburg verbrannt hatten, verbreiteten Furcht und Schrecken.
Und seltsam – gerade dieser letztere war mir sogar eine Einschüchterung gemütlicher Art geworden. Ein Zufall hatte mich diesem gefürchteten Präsidenten der Untersuchungskommissionen, diesem in unsern Geschichtsbüchern, ich darf mich des Ausdrucks bedienen, gebrandmarkten Staatsmann, dem vortragenden und dirigierenden Rat zweier Ministerien, des der Justiz und des für den Kultus, dem Mitgliede des Staatsrats persönlich bekannt gemacht. Für mein Teil bin ich in der Lage, von ihm ohne alle Entrüstung und ohne allen Groll sprechen zu müssen. Ich verdanke ihm Wohlwollen, die liebenswürdigste Güte und jede Förderung. Oft bin ich mit diesem Mann des Schreckens, den die Geschichte des deutschen öffentlichen Geistes seit 1815 für immer zu den Toten geworfen hat, durch die Straßen Berlins geschlendert, um ihn bis ins Schloß zu begleiten, wenn er in den Staatsrat ging. Diese Ehre wurde einem Sekundaner zuteil, der neben ihm ging mit umgeschlagenem Hemdkragen und ohne eine Spur von Handschuhen. Meine Mütze, wenn sie auch keine Farben tragen durfte, hatte immer eine kleine Schnurrpfeiferei am Deckel oder am Schirm, eine Troddel oder eine deutsche Eichel; aber Herbsts »Ideale und Irrtümer« hatte ich doch noch nicht gelesen, ein Buch, das in mir einen Revolutionssturm hervorbrachte. Bei alledem ging ich schon damals vollkommen mit gebrochenem Bewußtsein neben Sr. Exzellenz und seufzte schwer auf, wie ich sechzehnjähriger Bursch in so viel Versuchung hatte geraten müssen, den Mann, den mich alles, was ich schon vom öffentlichen Leben Deutschlands (zunächst waren Homer und Xenophon meine Welt) erfahren hatte, zu hassen aufforderte, lediglich lieben und schätzen zu sollen. Denn wenn ihr großen Gelehrten Deutschlands an den rechten Arm des Ministers Stein zum Altenstein, an den eigentlichen Kontrasignierenden jeder Anstellung, die genehmigt wurde, eure neuesten Werke in Goldschnitt und mit gepreßtem Ledereinband schicktet, alle eure Kommentare zu Cicero und Sophokles, eure Abhandlungen über die Geschichte Milets und Megaras – so kamen sie mit noch zusammenklebendem Goldschnitt mir zuhanden, durften mir auch nicht selten ganz verbleiben und machten mich schon als Gymnasiasten zum Besitzer einer Bibliothek, um die mich ein Privatdozent hätte beneiden können. Dieser grimme Kamptz, dessen Marotte die Furcht vor einer in Permanenz gesetzten Verschwörung der Studenten gegen das Leben aller Fürsten, Minister und besonders der vortragenden Räte erster Klasse war, dessen Phantasie, wie Macbeth, den Dolch, mit welchem Sand Kotzebue ermordet hatte, immer noch in der Luft gezückt vor sich schweben sah, Kamptz, der den Code Napoleon haßte, die rheinischen Geschwornengerichte verfolgte und immer bereit war, Broschüren erscheinen zu lassen, die, gedruckt in der »Deckerschen Geheimen Oberhofbuchdruckerei«, mit halbamtlichem Schein die Ereignisse der Zeit bekämpften, selbst die Vermählung einer Prinzessin seines speziellen Vaterlandes, Mecklenburgs, mit einem Sproß der neuen Usurpatorendynastie in Frankreich, der Orleans, dieser in hundert Studentenliedern verwünschte Freiherr Karl Albert Christoph Heinrich von Kamptz konnte da, wo er wollte, ein gemütvoll herablassender Mann sein und dem, dem er wohlwollte, die freundlichsten Dinge sagen oder richtiger – stottern. Denn der Gegner des konstitutionellen Systems und der parlamentarischen und advokatorischen Rednerbühne – stotterte. Kamptz war nicht groß, er war breitschultrig und behäbig. Er steht in einem blauen oder grünen Frack (darüber schwanken meine Erinnerungen) mit goldnen Knöpfen, jedenfalls mit einem weiten Überzieher, der den Stern auf dem Frack verdeckte, noch leibhaft vor mir. Es fehlten ihm nur die gelben Stulpen der Stiefel, um ihn zu einem Göttinger Professor der alten Schule zu machen. Sein geröteter Kopf saß tief in einer weißen Halsbinde und hatte angenehme Züge, einen kleinen zierlichen Mund, sogar einen Mund wie eine alte Dame der Aristokratie. Wenn ich mit ihm vom »alten Zieten« auf dem Wilhelmsplatz, wo ich wohnte, bis zu den »Werderschen Mühlen« gegangen war, wo man sein eignes Wort vor Lärm nicht mehr verstehen konnte und sich jede Diskussion von selbst abschnitt, so brauchten wir dazu fast eine Stunde. Denn Se. Exzellenz schritten höchst gemächlich, standen oft still, sahen sich um, wer in der Mohrenstraße, am Schauspielhause, in der Jägerstraße ihnen begegnete, und trugen ihre Ansichten mit einer an Widerspruch nicht gewöhnten Behaglichkeit vor, ohnedies durch seine Neigung zum »Anstoßen« sehr im Reden behindert. Natürlich waren es nicht die Schriften von Jahn und Arndt, von Görres und Steffens, die uns beschäftigten, sondern Cicero und Sallust, Racine und Corneille und die Fragen, wie man die Autoren lesen und erklären sollte, ob kursorisch oder statarisch, und welches die besten Wörterbücher wären. In dem Bibliothekzimmer meines in der Wilhelmsstraße – jetzt vis-à-vis von Bismarck – wohnenden Gönners, einem Zimmer, das vollkommen das Aussehen der Bibliothek eines Gelehrten hatte, hing an einer Fensterblende ein sonderbares Siegeszeichen, eine Untersuchungskommissionstrophäe aus der »Hausvoigtei« oder aus »Köpenick« (wohin die »Burschenschafter« ins Gefängnis kamen) in Gestalt eines »Quodlibets«. In einem Rahmen waren auf Papier bunt durcheinander Bilder von Ludwig Sand, Arndt, Jahn, Titel verbotener Schriften, Stellen von »revolutionären« Liedern usw. zusammengeklebt. Man hatte da die ganze Trauerperiode Deutschlands von den Karlsbader Beschlüssen an bis zur Mainzer Untersuchungskommission in kleinen Fragmenten beisammen. Hätte der alte Herr (das Jahr der Unglaublichkeit 1848 hat er noch miterlebt) unsre Tage gesehen, zu jenem Quodlibet würde sich ohne Zweifel auch noch die preußische Verfassungsurkunde gesellt haben.
Meinen Sekundaner- und Primanerspaziergängen mit einem Manne, den ich zugleich hassen und lieben mußte, verdanke ich vielleicht eine frühe Anlernung zum Betrachten aller Dinge von zwei Seiten und zur Würdigung der Menschen aus dem Gesetz ihrer eigenen Entwicklung. Oder hätte ich denn wirklich, wenn Se. Exzellenz mir am »alten Zieten« winkten und riefen: »Begleiten Sie mich in den Staatsrat –!« (ich war ein Schulkamerad und Freund seines Sohnes) ihm entgegnen sollen: »Mann des Verderbens, du verfolgst dein Jahrhundert! Tausende von Tränen hast du schon Vätern und Müttern um ihre Söhne entlockt, die du auf die Festungen schicktest, wo sie schmachten müssen, diese jugendlichen Seelen, die nichts begehrt, nichts verbrochen haben, als daß sie Lieder von Hermann und Thusnelden sangen und zuweilen an das Versprechen des Königs erinnerten, seinem Lande eine Verfassung zu geben –!« In der Tat ging ich voll Beklommenheit neben ihm her und wagte manche Entgegnung über – den Unterschied einer Übersetzung der alten Klassiker, die bei Metzler in Stuttgart, und einer andern, die in dem Städtchen Prenzlau erschien, über die Vorzüge Passows vor Riemer, über den alten Scheller und den neuen Lünemann. Und ein Jahr vorher, als ich erst sechzehn Jahr alt war, wenn auch schon herangewachsen, hatte ich der Exzellenz sogar einen wahren Zauberabend zu verdanken. Ein Sohn des Königs vermählte sich. Im Opernhause gab es Freiredoute. Die Karten waren nur durch besondere Gunst zu erlangen. Was geschah mir da? Der Großinquisitor Torquemada, der Herzog Alba der Studenten- und Professorenwelt, schickte mir eine solche Karte mit der hinzugefügten Weisung: »Richten Sie aber Ihre Toilette hof- und redoutenmäßig ein –!« Das war ein großes Wort, gelassen ausgesprochen – einem Sekundaner gesprochen, der zwar noch einen schönen »wie neuen« Konfirmandenfrack hatte, aber Zylinder und Handschuhe prinzipiell verabscheute. Und nun gar Domino, Schuhe und Strümpfe –! Auf welches Budget der Welt – die letzte Rechnung bei Wilhelm Logier, Buchhändler in der Friedrichsstraße, war noch nicht bezahlt – sollte ich diese Ausgaben, den Wagen, die Maske setzen? Aber Torquemada oder Herzog Alba, wie ihr wollt, hatte auch schon dafür gesorgt. Es würde meinerseits schnödester Undank sein, wenn ich hier die reine Wahrheit verschweigen wollte. Gott soll nicht für sich allein die Taten der Menschen gebucht haben. Wir sollen ihm behilflich sein in seiner großen Rechnungsführung. Und so sei es denn künftigen Geschichtschreibern, etwa Gervinus für eine neue Auflage seiner Geschichte unseres Jahrhunderts, zu beachten empfohlen: Kamptz schickte einem Gymnasiasten ein Redoutenbillett, eingewickelt in einen Fünfzigtalerschein! Und steinigt mich, ihr Katonen von sechzehn Jahren, ihr Brutusse ohne Bart, ich habe diese Banknote nicht zerrissen, habe sie nicht dem Absender vor die Füße geworfen, sondern ich kaufte mir wirklich dafür Schuhe, Strümpfe, Krawatte, Hut, Handschuhe, mietete einen Wagen und half die Hochzeit eines Prinzen mit einer Prinzessin aus dem Hause Weimar mitfeiern und verherrlichen nach Kräften. Ich genoß den ersten Zauberabend meines Lebens – trotz des »Quodlibets« in der Fensterblende –, vertilgte am Büfett, wo die Diener des Königs meinen Winken gehorchen mußten, eine Menge mir bisher unbekannt gewesener Backwerke und Getränke und sog eine solche Fülle von Licht, Glanz, Schönheit, von reizendsten Toiletten, prachtvollsten Uniformen ein, daß diese Bilder wochenlang nicht mehr vom Auge zu verbannen waren.
Als ich mich bei Lichtenstein, meinem Dekan, gemeldet hatte (er wohnte in der Universität selbst, nicht weit von seinen ausgestopften Löwen und Tigern), überraschte mich der berühmte Zoolog durch die Äußerung:
»Sie sind der Immatrikulandus, von welchem mir Se. Exzellenz Herr von Kamptz gesprochen hat?«
Unvorbereitet auf diesen Empfang, antwortete ich verblüfft:
»Herr von Kamptz bat (sic!) mich, es ihm zu sagen, wenn ich mich immatrikulieren ließe. Er wollte mir eine Empfehlung geben.«
Der Dekan horchte hoch auf, hustete seltsam und wiederholte mehrmals mit scharfem Ton, als wenn er mich nicht verstanden hätte:
»Wie? Was sagten Sie –?«
»Herr von Kamptz bat (wiederum sic!) mich«, hob ich mit Entschiedenheit, wenn auch noch mit derselben Verdutztheit hervor, »ich sollte es ihm sagen, wenn – Ja, er hat mit Ihnen sprechen wollen –«
»Wenn ein solcher Herr bittet, so tut man's denn doch«, antwortete nach einer Pause mit schneidender Schärfe der Vertraute der Skorpionen und Krokodile, von welchem jede Woche einmal in der Spenerschen Zeitung eine Mitteilung über sibirische Mammutknochen, isländische Elentiere oder eine im Plötzensee aufgefundene seltene Fischgattung zu lesen war. Damals wußte ich noch nicht, daß Lichtenstein die wilden Tiere auch durch die Musik wie Orpheus hätte bändigen können. Er selbst war ein Musiker und spezieller Freund Karl Maria von Webers.
»Ich Esel, ich Rindvieh –!« rief ich aus, als ich gegangen war, und schlug mir die Stirn rot mit beiden Händen. Erst bei genauerer Überlegung der maliziösen Replik des Professors hatte ich die begangene Sottise begriffen. Ich hatte von »Bitten« bei einem Manne gesprochen, dessen soziale Stellung nur ein »Befehlen«, höchstens ein »Ersuchen« oder »Wünschen« mit sich bringen konnte. »Bat mich –!« Hochmut aus dem Opernhause –! Auf den Treppen der Berliner Universität lernte ich zum erstenmal »Treppenwitz« kennen. Das »Kastanienwäldchen«, das sich eben belaubte (es war im April), hörte die Fortsetzung der zoologischen Studien, die ich mit mir selbst anstellte. Selbst die Merkmale eines Rhinozeros glaubt' ich an mir entdeckt zu haben.
Die Protektion meines hohen Gönners hörte noch längere Zeit nicht auf und begründete sich auf ein Verhalten von meiner Seite, das eine gewisse Berechtigung zum Befördertwerden hatte. Nicht nur, daß ich mich mit Eifer auf die Philologie warf, den nächsten Herbst und Winter regelmäßig um 5 oder 6 Uhr morgens aufstand und an der Lösung einer von der Fakultät gegebenen Preisaufgabe arbeitete, ich trieb auch mit Eifer Theologie und gab zugleich in den disparatesten Stadtvierteln Stunden an hoffnungsvolle, einer Nachhilfe bedürftige Scholaren. Was die Lösung der Preisaufgabe anbelangte, so hätte, wäre es nach meinem hohen, durch meinen Siegeserfolg freudig überraschten Gönner gegangen, Ferdinand Dümmler, par excellence damals der Verleger der Gelehrsamkeit, meine lateinischen Autor-Erstlinge: De Diis fatalibus, die im Jahr 1830 wirklich gekrönte Abhandlung über die Schicksalsgottheiten des Altertums, gedruckt in die Welt gesendet. Nur schien damals die Julirevolution alles aus Rand und Band gebracht zu haben, auch den Mut der Verleger. Mein Verhältnis zu Kamptz, der nun auch bald ausschließlich zur Justiz überging, lockerte sich allmählich.
Und zu tief war ich nun auch in Herbsts »Ideale und Irrtümer«, in Jahn, Arndt und Görres hineingeraten –! Ein alter Schulkamerad hatte sein erstes Semester in Halle zugebracht und kam der burschenschaftlichen Ideen so voll in den Kreis zurück, den einige zwanzig meiner Genossen zu einem regelmäßigen »Kneipen« gebildet hatten (mit steter Sorge, die Denunziation wachzurufen und die Schergen des Universitätsrichters uns auf den Hals zu laden), daß ich bekenne, aus Schmerz über unser deutsches Vaterland, über das Versenken der Kaiserkrone im grünen Rhein, über den unerledigten dreizehnten Artikel der Bundesakte zuweilen durch die Wälder (hinter Treptow oder Charlottenburg) mit dem Freunde gerannt zu sein und über alles Doppeltuch, über Blau mit rotem Kragen, Wehe über Wehe gerufen zu haben. Im Grase bei den Wällen Spandaus konnten wir lagern und ausforschen, von welcher Seite wohl Zwing-Berlin hätte überrumpelt und die preußische Monarchie von Spandau aus in Schach gehalten werden können. Ich glaubte die Stelle entdeckt zu haben, wo fünfzig entschlossene Studenten hätten die Mauer ersteigen und das schwarzrotgoldene Banner aufpflanzen können. Vorläufig fehlten nur noch die fünfzig Mann. Mein Hallenser versicherte aber, daß sich »an der Saale kühlem Strande« das zur Verwirklichung unserer strategischen Träume notwendige Material überzählig finden würde.
Ehe jedoch durch Politik, Lektüre und ein reiferes Nachdenken gleichsam ein Bruch in mein Gemüt kam, hatte ich den eifrigsten Willen, die Welt und die Wissenschaft so zu nehmen, wie sie als Hilfsmittel zur Erkenntnis der ewigen Wahrheit und zur Erlangung einer Anstellung im Palais vorm Kastanienwäldchen geboten wurde. Schleiermacher war mir eine von frühester Kindheit an vertraute Erscheinung. Ich hörte seine Predigten schon als Knabe und bewunderte den kleinen, etwas verwachsenen Mann mit dem weißen langen Haar und dem strengen Blick, dem blassen Antlitz, den kalt und scharf fixierenden Augen, wenn er von der Wilhelmsstraße daherkam, wo er in einem fürstlichen Hause wohnte, das seinem Verleger gehörte, Georg Reimer, der ebenfalls wie Schleiermacher im Demagogengeruch stand. Man sagte, von der Wilhelmsstraße an bis in die Dreifaltigkeitskirche meditierte erst Schleiermacher über das, was er in der nächsten halben Stunde predigen sollte. An den Kirchtüren wurden die Gesangbuchlieder, die gesungen werden sollten, auf Zetteln verkauft, wie die Textbücher am Opernhause. Man hatte da die revidierten Gesänge vor sich, die eine zur Modernisierung, jedoch nicht Verflachung des »Porstschen Gesangbuchs« niedergesetzte Kommission zu verantworten hatte. Ich pflegte mir eine abgeschlossene Fensternische zu erobern, eine kleine Loge zweiten Ranges gleichsam, wo ich, selbst bei »überfülltem Hause«, allein sein und dem milden Gesäusel des berühmten Mannes, der nach Ansicht meiner Eltern das rechte Christentum nicht hatte, lauschen und – zuträumeln konnte. Denn vom Verstehen seines Gedankenganges konnte keine Rede sein. Ich muß sogar bekennen, daß ich noch später in jenem Saal, der zum Kastanienwäldchen hinausliegt ebener Erde (im Sommer immer kühl und schattig und des Morgens von 7 Uhr an, wo der rastlose Mann schon las, fast frostig), seinen Vorträgen nur wie einer Musik zuhören konnte, die uns zuweilen fesselt, zuweilen aber auch nur als Unterlage eines weit, weit woanders hinaus sich spinnenden eignen Träumens dient. Schleiermacher war berühmt als Redner. Er trat schnell in sein gewöhnlich von 80–90 Zuhörern besetztes Auditorium, erklomm seinen Katheder, stützte sein Haupt in die linke Hand und sprach ohne Buch, ohne Heft, frei vor sich hin, ohne zu stocken. Ich habe bei ihm vielerlei gehört, Synoptik, Dogmatik, Evangelienerklärung. Wenn ich nicht auch Philosophie bei ihm hörte, so geschah es um deswillen, weil Schleiermacher hier im Hintertreffen stand gegen Hegel, der damals die hohe See befuhr und der Mann des Tages war. Aber es ging mir mit Schleiermacher in einem Semester wie im andern. Aus der ersten Vorlesung brachte ich mehrere vollgeschriebene Seiten mit, von der zweiten schon eine Seite weniger, von der dritten kaum noch eine Seite. Nach der fünften oder sechsten Vorlesung hörte ich nachzuschreiben ganz auf und hörte nur noch. Mir ist es geradezu ein Wunder, wie es so treue Seelen hat geben können wie Vatke, Hävernick, Rütenick und wie sie heißen, die Schleiermachers Vorlesungen vollständig haben nachschreiben und herausgeben können. Eine volle Strömung Wassers, die aus einem Brunnen fließt, vermag ich aufzufangen, aber eine aufspritzende Fontäne, die sich wieder niederläßt in Millionen Tropfen, wer sollte die aufzufangen nicht verzweifeln –! Die Methode Schleiermachers war eine dialektische. Er hielt gleichsam mit sich selbst platonische Dialoge. Die Einwände, die bei Plato Krito, Parmenides, Euagoras usw. machen, machte er sich selbst. Der Begriff, der zu bestimmen war, die Tatsache, die begründet werden sollte, die Schlußfolgerung, deren Berechtigung auf eine Kritik ihrer Prämissen zurückzuführen war, alles das wurde hypothetisch aufgefaßt. Der Vortrag einer vollen Stunde, an sich bewunderungswürdig als die Leistung genialer Virtuosität, schwebte an dem seidenen Faden eines »Wenn«. »Wenn die Apostel nach dem Tode Jesu dies oder das getan hätten – so würde –«, folgte dann ein Kaleidoskop von Möglichkeiten, die zuletzt alle in nichts verschwanden und eben auch im Gemüt und namentlich im so notwendig mit Tatsachen zu erfüllenden Gedächtnis des jungen Studierenden – vom Beleben der Gesinnungs- und Willenskraft eines jungen Geistlichen zu schweigen – wenig zurückließ. Die Grundlage der Schleiermacherschen Glaubenslehre hatte allerdings den Schein einer Gemütsrückwirkung; denn sie stellt den Satz auf, daß sich die Glaubenslehren in uns selbst vollziehen, ihre Wahrheiten in uns selbst erproben müßten. Doch nichtsdestoweniger war es die unbestimmteste Dämmerung, in welcher man verweilte und in welche sich zuletzt der ermüdete Verstand nur zurückzog, um sich auszuruhen. Die Rührung, das Gefühl, das ich dem berühmten Denker, Redner und Lehrer nicht absprechen will, ergriff ihn zuletzt – über sich selbst über die Anstrengung des endlich ausruhenden Verstandes. Der Künstler, der sich göttergleich strecken muß, um einen Blitz des Gedankens festzuhalten, ihn zu verkörpern – auch er kann über sein endlich vollendetes Werk in Rührung ausbrechen. Tantae molis erat –! Solcher Anstrengung bedarf die Menschenhand, um mit den Göttern zu wetteifern –! Ich frage: Fördert eine solche Glaubenslehre die Demut oder den Hochmut? Setzt sie nicht alles in die Individualität und verlangt eine Beschaffenheit der Bildung, die sich so nur aus der glücklichsten Zufälligkeit ergeben kann? Die Schleiermachersche Glaubenslehre liegt anfangs gleichsam außerhalb des Christentums. Sie führt sich mit der Voraussetzung eines »schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls« im Menschen ein und nimmt dann Dogma für Dogma durch, um es mit den einzelnen Erscheinungen jenes Abhängigkeitsgefühls in Einklang zu bringen. Das zu dieser Vereinigung nötige Material muß eine aus unbekannten Quellen hinzuströmende Wärme, ein sich entbindendes Gemütsbedürfnis sein, das uns plötzlich mitten in einer scheinbar philosophisch sein sollenden Verstandesbeweisführung, deren Dialektik bis zur Haarspaltung gegangen ist, zwingen soll, innezuhalten und uns allen möglichen Postulaten, etwa selbst dem: Christus gleich Gott, blindlings gefangen zu geben. Die seltsamste Mystik absoluter Beliebigkeit! Sie hat jene »Halbheit« hervorgebracht, gegen die sich vor einigen Jahren David Strauß so entschieden erklärte.
Vornehme Kälte wehte von Schleiermacher aus und eine fast zu gewöhnliche Gemütswärme von August Neander. Die Satelliten, die beide fanden, charakterisierten die Art dieser Lehrer selbst. Zu Schleiermacher hielten scharfsinnige, ehrgeizige Köpfe, die sich mit dem akademischen sonstigen Leben nicht befaßten, darunter Duckmäuser, wenig rechte Studenten, »Kümmeltürken« oder »Mistfinken«, wie man sie in Halle genannt haben würde. Zu Neander hielt das ganze Gros jener Theologen, die auf einer langen Wanderung erst durch die Kneipe, dann Kandidatentum und Hauslehrerei endlich in das gelobte Land einer möglichst guten Pfarre anzugelangen gerüstet waren. Eine kindliche Seele, dieser Rabbi Neander, der ursprünglich ein Jude gewesen und zur blühendsten Zeit unserer Romantik und Mystik Christ geworden war. Noch bis an sein Ende hat er die Dinge dieser Welt, die gewöhnlichen, als da sind Essen, Trinken, Sich-Waschen, genommen ganz dem Spruch der Apostel gemäß, als wären sie nicht. Er lebte nur im Reich des himmlischen Vaters und sah, wenn er »Unter den Linden« spazieren ging, begleitet auf der einen Seite von einer liebenden Schwester, auf der andern von einem gerade bei ihm Dienst tuenden Kammerherrn, einem jener jungen Theologen, die seine Bücher ordneten, seine Hefte abschrieben, mit aufgerichteten Augen den Himmel offen. Dabei konnte der milde Mann manchmal recht streng sein, konnte aufwallen im Überzeugungseifer, ja sogar reizbar und peinlich werden und streng unterscheiden, bis wie weit seine Toleranz gehen durfte. Er hatte einen seltsamen, halbsingenden Vortrag in einem überfüllten, von mehren Hunderten von Hörern besuchten Auditorium, wo man in die vollen Kronen des »Kastanienwäldchens« hinaussehen konnte. Ach! oft blickte ich hinüber auf die mit weißen Pyramidenblüten prangenden oder mit Schnee bedeckten zackigen Zweige – nicht aus Träumerei, sondern – weil es nicht besonders angenehm war, den berühmten Kirchenhistoriker bei seinem Vortrag zu fixieren. Er hatte die üble Gewohnheit, nach jedem längern Salz, den er gesprochen, seinen Mund zu – entwässern und eine allen sichtbare Stelle des Katheders in einen kleinen See zu verwandeln. Verließ er die Rednerbühne, so mußte die Scheuerfrau kommen. Diese Gewohnheit hinderte nicht, daß sich an einem bestimmten Wochentage einige fünfzig Studenten bei ihm zum Tee einfanden. Zwei mächtige Körbe voll Zwieback wurden in der Regel schon früher geleert, ehe noch jeder seine erste Tasse Tee bekommen hatte. Es war ein förmliches Sturmgreifen, wenn die Körbe aus dem Nebenzimmer, wo die liebende Schwester waltete, herausgereicht wurden. Hier war es auch, wo ich bei dem würdigen Mann fast mein Glück gemacht hätte, hätte ich nur überhaupt die Neigung gehabt, in den Kreis seiner Bevorzugten einzutreten, etwa wie jener Heinrich oder Karl Julius, der in den Märztagen als erster Begründer eines freimütigen Zeitungsorgans eine so denkwürdige Rolle spielte, der jedoch vorher ein überaus »frommer Jüngling«, ein Konvertit wie Neander selbst gewesen und eine Zeitlang Predigten zur Bekehrung der Juden hielt. Neander saß im Schatten seiner Bücherschränke, die Körbe gingen in die Runde, die leeren Teetassen schwebten in den Händen der Studenten, die selten wußten, wohin damit, und noch weniger, woher die neue Füllung kommen sollte. Das Gespräch hatte sich dem Mohammedanismus zugewandt. Der damalige Günstling hieß Pieper, derselbe, der sich zu einer berühmten Spezialität im Fach der kirchlichen Archäologie, der alten Grabmäler, christlichen Bilder und Katakomben aufgeschwungen hat. Plötzlich stockte des gütigen Lehrers Vortrag. Er wollte die Frage eines der Teetrinker: ob sich auch im Mohammedanismus ein gleichsam protestantisches Element gebildet hätte? beantworten und suchte den Namen einer Sekte, die sogar mit bewaffneter Hand gegen die Dogmatik des Ober-Mufti aufgetreten wäre. Als niemand Auskunft zu geben vermochte und der freundliche Wirt vergebens seine Stirn rieb, rief ich: »Die Wechabiten!« – und siehe da! ich erntete die höchste Anerkennung. Neander schärfte sein schwaches Auge. Er mochte den Jüngling kennen lernen wollen, der zehn Stühle weiter saß und türkische Namen und Tatsachen so aus dem Ärmel schütteln konnte. Aber der Eintritt in die innere Gemeinde stand mir vergebens offen. Mir fehlte der Glaube, jener Glaube, den die Rheinwald, die Julius, die Pieper usw. so reich auf Lager liegen hatten, diese so intime persönliche Bekanntschaft mit jenem Heiland, den auch ich liebte, auch ich mein nannte, aber doch noch nicht ganz so zu meinem speziellen Vertrauten und Stubengenossen hatte machen können wie jene bewunderungswürdigen jungen Glaubenskünstler. Überdies waren mit dieser Gunst des edlen christlichen Gamaliel schwere Werke »Innerer Mission« verbunden. Nicht nur, daß er eine Handschrift schrieb, die unmittelbar an die Hieroglyphen streifte und für seinen Verleger, Friedrich Perthes in Gotha, ein höchst schwieriges Mundieren seiner Manuskripte notwendig machte – das Erscheinen seiner Kirchengeschichte war damals im vollen Gange –, auch das Begleiten ins Auditorium, das Tragenmüssen seiner Bücher und Hefte hatte zwei Seiten – eine, daß man allerdings von allen Seiten als ein sichtbarer Günstling des so gottselig, ja gotttrunken dahinschreitenden Mannes bewundert wurde, eine andere, daß es eine unsägliche Plackerei und Mühsal allerart war, die sich erst nach einigen Jahren durch eine außerordentliche Professur in Rostock oder Greifswald lohnte. Doch hab' ich einen dieser Dienste, der darin bestand, daß sich ein gesinnungsvoller Neandrianer in den allgemeinen akademischen Krankenverein aufnehmen lassen mußte, geleistet, seitdem ich zum erstenmal in meinem Leben einen Sterbenden gesehen hatte, einen Studenten, den die Pflege seiner Kommilitonen nicht eher verließ, bis er in die Grube gesenkt war.
In die Nähe berühmter Männer der Wissenschaft gelangen ist gewiß ehrenvoll und fördernd, es hat aber auch sein Bedenkliches, wenn man z. B. im »Kastanienwäldchen« eine Zwischenpause von zehn Minuten genießen will, die Mappe unterm Arm für seinen leeren Tintenstecher bei einem Kommilitonen eine Anleihe von Galläpfeldekokt macht und plötzlich von einem Professor in freundlichster Miene angerufen wird, ob man ihn nicht besuchen und von ihm einen Wunsch entgegennehmen wollte. Ich hörte bei Friedrich Heinrich von der Hagen »Nordische Mythologie« und »Tristan und Isolde«. Für diesen gebräunten, schwarzhaarigen, mehr einem Romanisten als Germanisten ähnlichen Forscher hatte ich eine besondere Vorliebe. Seine Erscheinung war poetisch. Die Farbe seines Antlitzes glänzte zigeunerhaft, die Haare hingen ihm lang über die Schultern, das braune Auge war von einem lebhaften Feuer. Ich hatte die Nibelungen zuerst aus seiner Übertragung kennen gelernt und wußte, daß er für die Minnesänger eine große Ausgabe vorbereitete und daß sein Schriftstellern mit einer Welt, in welche ich immer weiter hinein geriet, mit der Romantik eines Clemens Brentano, Tieck, Arnim aufs engste zusammenhing. Die Überraschung, die mir in der engen Bücherei meines Gönners, der sich beim »Belegen« seiner Vorlesung lebhaft mit mir unterhalten hatte, zuteil wurde, war die Aufforderung, ihm den Titurel Wolframs von Eschenbach aus einer ihm von Heidelberg mitgeteilten Handschrift abzuschreiben. Ich durfte mich durch diese Zumutung, für welche ich eine klingende Entgeltung voraussetzte, geehrt fühlen. Wie man arbeiten lernt –! Des Morgens in aller Frühe, winters in einem noch ungeheizten Zimmer, beschäftigten mich die antiken Schicksalsgottheiten, die bösen Parzen, die mir im Leben noch so vieles verhängen sollten; hierauf folgten die Kollegien, nachmittags und abends die Lektionen, die ich selbst gab (quaerenda pecunia primum erat), und nun noch – wie singt der Page in Wagners Tannhäuser – (beiläufig bemerkt, die hübscheste Stelle im Tannhäuser –)? »Wolfram von Eschenbach, beginne!« Zum Glück war die Heidelberger Handschrift nicht vollständig. Dieser Kummer der Philologen wurde mein Trost. Dennoch gab es einen kleinen Folianten, den ich von der Hagen endlich ablieferte. Ei, der lachte wohlgemut mit seinen verschmitzten Brentano-Augen, wahren Zigeuneraugen aus dem »Ponce de Leon«, und bedankte sich jedesmal, wenn ich zehn Bogen in Folio ablieferte. Er murmelte auch etwas von zukünftigen Dingen, die ich mir als Zahlung deutete. Ich dachte mir jedesmal, seine Gemahlin (die eine Berühmtheit in ihrer Art gewesen sein soll, eine jener Koketten, wie sie öfters in Universitätsstädten durch ein mehr als emanzipiertes Gebaren das Leben und Wirken ihrer braven Männer an den Pranger stellen) ist in der Nähe und verhindert wohl die Auseinandersetzung über die Methode, wie man billigerweise seine Bücher allein vermehren soll! Die Folgezeit lehrte, ich erhielt keinen Groschen. Erst vor einem Jahr hat O. T. Weigel in Leipzig die Auktion der bei von der Hagen nach seinem Tode vorgefundenen Handschriften angekündigt. Auch meine Abschrift der Palatina vom Titurel befand sich darunter. Fast hätte ich sie jetzt für mein eigen Geld wieder zurückerstanden. Sollte sie in den Besitz so gelehrter Herren wie Zarncke oder Moritz Haupt gekommen sein, so bitte ich, in Erwägung meiner geprellten Hoffnungen und meines damals noch nicht beendigten Trienniums, um Nachsicht für die vielen Fehler, die ich werde gemacht haben.
Ich wäre noch tiefer in die altdeutsche Literatur eingedrungen, hätten mich nicht die eigentümlichen Lichter, die auf den Zügen des berühmten Karl Lachmann zu hüpfen pflegten, zu sehr davon abgeschreckt. Ein seltsamer Herr, dieser semmelblonde Alleswisser und Alleskönner mit dem stereotypen Ausdruck von – wie soll ich sagen? – Malice auf seinen selbst im Alter noch jugendlich gebliebenen Garçon-Zügen –! Er schritt auf seinen Füßen, von denen ihm ach! den einen meine Parzen, mit deren Tücken ich mich so emsig beschäftigte, abnehmen zu müssen verhängten (bald nach der Operation starb der Bedauernswerte), eigentümlich kritisch und diplomatisch immer wie auf Filzsocken einher und ging in der Regel mit Schleiermacher, dessen windschnelle Gangart in diesem Falle zum Retardieren genötigt wurde. Zu den vielen Experimenten, die sich Lachmann zutrauen durfte (wer hätte wohl damals von ihm die Edition Lessings erwartet!), gehörte auch die Herausgabe des Neuen Testaments. Es fehlte nur noch das Hebräische und Sanskrit. Was von der Hagen, den die neuere germanistische Schule nicht achtete, im Brünetten war, war Lachmann im Blonden. Jener konnte bei den Basken in Spanien geboren sein, dieser am Geiser auf Island. Lachmann zog sich sein blondes Haar bis lang über die Schultern. Das mußte denn doch Kamptz ertragen –! Seine Exzellenz durfte daran erkennen, daß seine Professoren »inwendig räsonierten« –! Diese verpönte Schonung der Friseure –! Die langen Haare hatten einige Jahre früher jeden, der sie trug, für Köpenick verdächtig gemacht. Auch Georg Reimer, der Buchhändler, trug sie und sogar einen entblößten Hals wie Jahn, der Turnvater. Wenn ich mit Kamptz bis an den Staatsrat, das Allerheiligste des preußischen Staates, schlenderte, so hielt er regelmäßig in seinen Vorträgen inne, wenn uns ein erwachsener Mensch ohne Krawatte begegnete – und welche Krawatten trug man damals –! Fischbeingestelle, ausgeschweift an den Wangen, hochragend bis zu den Ohren; wahre Paukbinden, wie sie auf der Mensur üblich sind! Die Altdeutschhörer waren schon an sich sämtlich verdächtig, obschon Lachmann für »Liberalismus« zu geisteshochmütig war. Sein Schüler, Wilhelm Wackernagel, trug ebenfalls sehr lange, germanischblonde Haare. Karl Simrock war schwarz und mehr aus dem Baskischen oder Provenzalischen des von der Hagen. Beide, Lachmanns talentvollste Schüler damals, sah man öfters in jener Stehelyschen Konditorei, dem Revolutionsherd der vormärzlichen Zeit, wo Baisers, Pasteten, Spritzkuchen und Journale den Geist der Neuerung befördern halfen. Wackernagel war ein Zögling desselben Gymnasiums, das ich besucht hatte. Seine Armut machte ihn den Studenten sprichwörtlich und zum Gegenstand der Sage. Denn es mag doch nur Sage gewesen sein, daß er auf einer Kegelbahn wohnte. Sein Freund Simrock, der, beiläufig, eine Baßstimme von einem Volumen hatte, um ihm, glaub' ich, den Gebrauch derselben förmlich unbequem zu machen – daher seine vielen Bücher –, verlor durch ein Gedicht: »Die drei Farben«, seine Anwartschaft auf eine preußische Anstellung. Beide hatten sich mit einem gewissen Coppenhagen die seltsame Aufgabe gestellt, den Einfluß zu brechen, den auf Berliner Kunst- und Literaturzustände damals Saphir gewonnen hatte. Diese zu so hoher Ehrwürdigkeit heranreifenden Geister schrieben ein Morgenblättchen in Oktav, das die Luft des Parnaß vom Geruch der immer mehr um sich greifenden Schaletwitze rein erhalten sollte, wenigstens innerhalb der Sphäre der Theaterrezensionen, lyrischen Gedichte, Rätsel, Logogryphen und Scharaden –! Hermann Ulrici, der Shakespeareerklärer, ebenfalls einer Generation desselben Gymnasiums angehörend, gab damals eine rühmlichst begonnene juristische Karriere auf, um seinen späteren so gelehrten Büchern kleine Plänkler vorauszusenden in Gestalt von Novellen, Gedichten und Epigrammen, die Vater Gubitz von ihm im »Gesellschafter« unter dem Namen eines »Ulrich Reimann« veröffentlichte.
Doch wir sind von Karl Lachmanns stereotypem Ausdruck der Malice im sonnenlichten Antlitz abgekommen. Dieser deutsche Bentley war gewiß ein Gelehrter von außerordentlichem Wissen und noch größerem Scharfsinn. Seine Textkritik überraschte durch Schlußfolgerungen und Verknüpfungen. Sein Geschmack ließ die römischen Sänger der Liebe in ihrer vollen Natürlichkeit gelten, ohne daß die Hand des Pedanten vom Schmetterling, den er aufzuspießen gedenkt, täppisch erst den Farbenreiz abstreift. Dem Nibelungenlied hatte Lachmann die Wolfsche Hypothese vom Homer zugute kommen lassen und ihm die Grundlage einer Anzahl alter Volkslieder gegeben, die sogar sein Scharfsinn aus dem jetzt vorliegenden Text einer Überdichtung aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in ihren Grenzen sowohl, wo sie angefangen, wie da, wo sie geendet hätten, nachweisen wollte. Die Anregung aber, die sein Vortrag gab, konnte nur ihm verwandte Gemüter treffen. Es entwickeln sich schon früh solche unsterbliche Geheimratscharaktere, von einer Eiseskruste der Unnahbarkeit überzogen, die Nase überall so hoch tragend, daß man ordentlich vor den dunklen Höhlen ihrer Löcher erschrickt, dabei der Stimme und dem Vortrag eine säuselnde, leise schwirrende Nachlässigkeit gebend, eine Betonung, als wenn jedes gesprochene Wort Gold wäre. Dieser Mangel an Liebe, den wenigstens meine Wenigkeit aus den blassen, nur zuweilen leise geröteten Zügen des scharfen Kritikers herausempfand, beruhte vielleicht auf radikaler Täuschung. In späteren Tagen, namentlich als das genannte traurige Leiden das Leben des großen Gelehrten zu frühe beendigen sollte, hat das Auftauen jener Eiseskruste schwerlich gefehlt. Mir jedoch erschien seine Weise, da ihm ohnehin die Funktionen eines Examinators zustanden, so urablehnend, so urabschreckend, daß ich trotz meiner »gekrönten« Abhandlung immer weiter vom Zentrum der Philologie abkam. Lachmanns philologische Übungen besuchte ich ab und zu. Sie wurden im äußersten, nach den »Linden« zu gelegenen Flügel der Universität, ganz von aller Berührung mit dem Kastanienwäldchen ausgeschlossen, gehalten. Hier zeigte sich die attische Feinheit seines Wesens und auch manche liebenswürdige Milderung seiner sarkastischen Haltung. Man unterhielt sich mit ihm und durfte ordentlich fragen. Unter den wenigen Teilnehmern (zuletzt mochten nicht mehr als zwölf oder vierzehn standhalten) befand sich eine Befähigung, für die zuletzt diese Übungen nur noch allein stattzufinden schienen. Das war ein fast Schleiermacherisch gewachsener junger Mann, unserer Studentenschaft bereits entrückt, mit kurzgeschorenem rötlichem Haar. Seine Anregungen, seine Einwürfe wurden durch die gründlichsten Kenntnisse, deren er sich vollkommen Herr zu wissen schien, unterstützt. Sein Scharfsinn bei der schwankenden Lesart kam dem des Vortragenden fast gleich. Zuweilen begegneten sich beide auf gleichen Fährten, Fährten der Vermutung und der bald erkannten Täuschung, wo dann zuweilen ihr Streit in helles Lachen ausbrach. Man hätte erwarten sollen, daß dieser geistvolle junge Mann später irgendwo als ein genannter Altertumsforscher auftauchen würde. Dem war nicht so. Der Gemeinte wurde vielmehr eine Kraft im preußischen Staatsorganismus, die dem Grafen Bismarck nahe und, fast möchte man vermuten, Sr. Majestät dem König Wilhelm selbst noch näher steht. In der Flucht der wechselnden Erscheinungen am Ruder des preußischen »auswärtigen Ministeriums« gehört Lachmanns Opponent, Heinrich Abeken, der den selbstgenügsamsten aller Dozenten liebenswürdig zu machen verstand, zum ruhenden Pol der vortragenden Räte desselben, nachdem ihn allerdings Bunsen erst als Prediger seiner Gesandtschaft in Rom hatte zu sich kommen lassen und Lepsius mit sich nach Ägypten zur Entzifferung der Pyramiden nahm. Diese Bekanntschaft mit dem Orient hat den gelehrten jungen Properz- und Katull-Respondenten später gereizt, ein Wort mitzureden, als Gräfin Hahn-Hahn »von Babylon nach Jerusalem« gekommen sein wollte. Die von ihm verfaßte Gegenschrift zeigt ihn uns als einen jener berufenen und auserwählten Geister, deren Vielseitigkeit auf einem immensen Wissen beruht und deren Wissen hinwiederum nur die Unterlage ihrer Bildung, nicht ihre Bildung allein ist. Letztere gipfelt vielmehr in den leitenden Ideen einer philosophischen Weltbetrachtung und in unserm Fall vielleicht noch insbesondere in den Traditionen einer Familie, die, aus Justus Mösers Heimat stammend, einer mannigfachen und unmittelbaren Begegnung mit unsern deutschklassischen Literaturkreisen sich zu erfreuen hatte.
Die Zentrifugalität, in welche ich nun immer mehr zur Philologie geriet, entstand daraus, daß auch Lachmann nicht den Eindruck machte, als wäre die Altertumswissenschaft eine mächtige, mit den alleinigen Interessen der Menschheit in engster Verbindung stehende Disziplin. Sein Wesen war zerbröckelnd, atomistisch. Aus Epigrammen baut sich keine Schöpfung auf, die dem Bedürfnis der Jugend Befriedigung gewährt. Und auch August Boeckh –! Es ist Stil unter seinen dankbaren Schülern, dem Meister, der vor einigen Jahren hochbetagt geschieden ist, nur die glänzendsten Eigenschaften nachzurühmen. Aber eine anregende Lehrergabe gehörte nicht zu ihnen. Gerade Boeckh hatte damals, als er mit Daub und Creuzer die »Studien« herausgab, eine so nahe Verbindung unterhalten mit dem mächtig treibenden Geist der Zeit, der im Studium der Geschichte, der Sprachen, der Religionen der Völker Erhebung aus dem Jammer der Gegenwart, Erkräftigung zum Brechen des fremden Joches suchte. Die alte Schulphilologie hatte durch ihre Berührung mit dem Studium des Orients, der nordischen und germanischen Vorzeit und vor allem durch die Beiträge zur Lösung ihrer Aufgaben, die ihr die frischbelebte Kunstgeschichte zutrug, einen neuen Aufschwung erhalten. Die Rechts- und Finanzaltertümer Athens hatte Boeckh in klassischer Weise aufgehellt. Aber schon mit der Musik der Alten, mit seinem System der Metrik, vollends mit den astrologisch-mathematischen Berechnungen über die Sternbilder, den Tierkreis, die Lehrsätze der Pythagoräer und Alexandriner, so staunenswürdigen Fleiß, Scharfsinn und Reichtum an Kenntnissen gerade diese Schriften entfaltet haben, führte Boeckh auf eine Gegend, die dürr und trocken war. Sein Vortrag trug schon damals die Merkmale der Ermüdung. Langeweile mußte ihm die jahrein, jahraus immer gleiche Wiederholung derselben Dinge machen. Er las in einem Auditorium, dessen Fenster die Aussicht nach den Remisen des Prinzen Heinrich boten und nach einigen alten Nußbäumen, deren Früchte für uns Knaben zu den verbotenen gehört hatten. In eigentümlicher Gebärde starrte der berühmte Mann, während er sprach, zu diesen Fenstern hin und verlor sich zuweilen in den Baumwipfeln in solchem Grade, daß ihn nur ein starkes Reiben der Stirn mit seiner linken Hand und ein elastischer Schneller, den er seinem Körper zu geben wußte, wieder in den Zusammenhang mit dem gerade behandelten Chor der »Antigone« oder den Liturgien von soundso viel Medimnen Getreide der athenischen Bürger zurückbrachte. Sein Antlitz hatte die Eigenheit der Kurzsichtigen, daß es viel strenger und herber aussah, als seinem Wesen entsprach. Im Gange, wenn er sich im Kastanienwald eine Erholungspause gönnte, erkannte man schon eher die humoristischen und liberalen Stimmungen, die ihm innewohnten. Sein Gehen und Schreiten war fast wie das eines Reiters. Man glaubte, er wäre eben vom Pferd gestiegen oder im Begriff, sich in den Sattel zu schwingen. Damals belebte ihn ein Gefühl neuerwachter Jugend. Er wollte eine zweite oder gar dritte Heirat schließen. Einen seiner Söhne früherer Ehe, einen Frühverstorbenen, hatte ich als lieben Gefährten, mit dem sich bis in die Nacht die damals erst leise und vorsichtig beginnenden Berliner Übergänge vom weißen zum braunen Bier gründlich ausstudieren und beim Suchen des Hausschlüssels, während oben noch sein Alter bei einem Lämpchen im Zodiakus des Manethos saß, jene Liebesbeteuerungen und Kußfinger zur Kassiopeia hinaufwerfen lassen konnten, die eine überschwengliche Jünglingsbrust zwischen elf und zwölf Uhr nachts für jeden Stern des Himmels bereithält. Der Vater, im Auffassen der Zeit freisinnig und wohlgemut, war auch mir freundlich zugetan und wohlwollend. Sogar noch später. Selbst als ich ihm vor einigen Jahren bei Gelegenheit des wunderlichen Einfalls der preußischen Regierung, alle drei Jahre das »Beste« der erschienenen neuen Dramen mit tausend Talern zu prämiieren, geschrieben hatte, ob ihm, einem der mitbestellten Preisrichter, nicht aufgefallen wäre, daß sich eine solche Einmischung in die Unbefangenheit und Freiheit einer ohnehin mit nichts als Widerwärtigkeiten und Verdruß verbundenen und doch so wünschenswerten Produktion für unsere Zeit überlebt hätte, antwortete er mir in einem Brief, der gedruckt zu werden verdient. Er gab meinen Rügen recht und – beklagte nur, daß ihm seine Stellung verböte, den Auftrag, den ihm nun einmal der Minister gegeben hätte, abzulehnen. Solange der Treffliche lebte, ließ ich über diese sonderbare Erklärung nichts verlauten.
Boeckhs Lehrweise, sein Vortrag war nicht anregend. Der große Mann war zu sehr Gelehrter der Forschung und des Weiterstrebens, als daß er den Schein einer bloßen Nebentätigkeit, die seine Vorlesungen ausfüllten, und mit ihm die Zerstreutheit und Apathie hätte überwinden können. Das ist das Bedenkliche an Universitäten in großen Städten: der Dozent durchbricht den Kreis seiner nächsten Wirksamkeit! Allerlei Ämter werden ihm zugeschoben, außerordentliche Begutachtungen zugemutet, und den Rest einer solchen kumulierten Tätigkeit verzehrt dann noch die Geselligkeit, die sich vollends in Berlin um den Besitz eines »Geheimenrats« förmlich »reißen« kann. Ich fand zu meiner Zeit als Student wenig Professoren, die uns mehr geboten hätten als ein schuldiges Pflichtteil.
Entbehrte die Philologie einer überredenden, die Jünglingsseele selbst jugendlich ergreifenden Kraft (denn Zumpt und Immanuel Bekker konnten nicht in Betracht kommen), so wollten auch die Versuche nicht gelingen, auf dem theologischen Boden festen Fuß zu fassen. Von Hengstenberg schreckten die täglichen Händel der »Evangelischen Kirchenzeitung« ab. Marheineke vertrat im Bereich der Dogmatik die Hegelsche Lehre. Ein großer, stattlicher Herr, mir schon lange vertraut durch seine Predigten auf derselben Kanzel, wo Schleiermacher stand, belauscht und – beträumelt von derselben Fensternischenloge im zweiten Chor aus, wie sein Kollege, dessen Antipode er war. Er bewegte sich mit vollen Segeln auf hoher See; denn die Hegelsche Philosophie sollte die Metaphysik des preußischen Staats, die Beweisführung für die Kulmination aller Politik im System Kamptz-Wittgenstein-Altenstein werden. »Was ist, ist vernünftig.« Wozu brauchte für Preußen der 13. Artikel der Bundesakte erfüllt zu werden! Die Anlehen, die nachgerade notwendig wurden und nach dem Gesetz ohne Bewilligung der »Landstände« nicht aufgenommen werden sollten, ließ man nicht den Staat, sondern die Bank oder die »Seehandlung« aufnehmen. Marheineke war wie ein Papst seiner Glaubenslehre. Ein schöner Mann, hätte er sich in einem Bischofsgewande wie Pio nono in dessen ersten Anfängen geben können. Seine Rede war salbungsvoll, fest und bestimmt. Seine polemischen Ausfälle klangen nach dem Herzen der Jugend. Wer streitet lieber, spottet und reißt ein als die Jugend! Noch hör' ich das Gelächter seines nicht sehr besuchten Auditoriums, als er, gegen den vulgären Rationalismus polemisierend, das Bedürfnis der Handgreiflichkeit bei dessen Glaubens- und Erklärungsmethode schilderte und dabei den bekannten Vers aus Tiecks »Rotkäppchen« anführte:
»Ich glaube nur, daß das ist mein,
Was ich fress' in meinen Leib hinein!«
Die kalte Behandlung heiliger Dinge, die Voraussetzung von Beweisführungen, die keine waren, die in Formeln gezwängten Definitionen, bei denen jedes aus Versehen ausfallende Komma die ganze Sache verschob und verrückte, die Unmöglichkeit, dies tote Gerüst von Begriffsentwicklungen, die just auch den naiven Standpunkt der Bibel decken und ganz mit ihm zusammenfallen sollten, auszufüllen mit Wärme des Herzens, mit wahrer Hingebung der Überzeugung, ließ mich nicht allzulange in der Nähe dieser praktischen Anwendung Hegels verweilen, obschon ich mich mächtig zum Meister selbst hingezogen fühlte und bekennen muß, daß Hegel bei aller Mißschaffenheit seines Vortrags doch zu den am wenigsten zerstreuten Lehrern gehörte. Er brachte seine ganze Sache, sein volles Streben, seine ungeteilte Person mit auf den Katheder.
Die Geschichtswissenschaft gehörte noch zumeist Raumern an. Es war Raumers beste Zeit. Heines Spott: »Wat jehen denn Ihnen die jrinen Beeme an –!« konnte ein Gelehrter belächeln, der allerdings zu den Lustwandlern unter den Kastanien wenig gehörte, nicht zu den Beschaulichen, Ermüdeten oder Träumern – im Gegenteil, Raumer war von einer quecksilbernen Rührigkeit –, der aber den damals noch gefeiertsten poetischen Erscheinungen, Tieck und den Vertretern der Ästhetik, zumal dem noch nicht lange verstorbenen Solger, unmittelbar nahestand. Mit der Julirevolution gehörte Raumern damals Frankreich und die ganze neue Politik. Ihm gehörte England mit seinem System der Selbstregierung, Holland mit seinen Dorfkolonien, Amerika mit seiner Strafgesetzgebung, er war der Überall des Tages und jeder Zeitfrage. Was er schrieb oder vortrug, alles hatte eine Zuspitzung auf Preußen, wie es war, sein oder nicht sein sollte. Einen seiner pragmatischen Geschichtsvorträge wollte ich mir bis zum Schluß meines Trienniums aufsparen. Bei alledem waren die liberalen Wünsche des bei Hofe angeschwärzten Demagogen so gemäßigt, die Zugeständnisse, die seine beredten Lippen dem Geist der neuen Zeit machten, an so viele Bedingungen geknüpft, daß ich bei ihm vom »Neuen« viel zuwenig fand, wie wiederum beim Professor der Rechte Eduard Gans, dem eigentlichen Vorkämpfer konstitutioneller und neuzeitlicher Ideen in Berlin, der für einige Publika, die er las, den Zulauf der ganzen Stadt, sogar der Beamten und Offiziere, hatte, vom Neuen zuviel.
Gans war eine frische, liebenswürdige Kraft. Er gehörte der jüdischen Welt an, die damals für Kunst und Wissenschaft immer mehr Apostel zu entsenden anfing. Er hatte die Einführung der Hegelschen Philosophie in die Jurisprudenz übernommen und lehrte Erbrecht »auf weltgeschichtlicher Grundlage«, wie man damals mit so großen Worten um sich zu werfen anfing. Das Erbrecht war ihm die der Geschichte immanente, absolute Persönlichkeit; es läßt den Menschen als Person nicht untergehen und vertritt außerdem noch mehrere andere wichtige Paragraphen der Hegelschen Logik. Für diese Orthodoxie ging ihm dann oben seine konstitutionelle Ketzerei, ein leichtsinniges Liebäugeln mit den Franzosen, mit Mauguin, Odillon Barrot, die schon damals genannt wurden, gnädigst hin. Machte er doch auch zur Beruhigung Kamptzens die langen Haare der Turner und Deutschtümler, die Ideen von Görres und seines »eignen Freundes« Leo in Halle lächerlich. Er wohnte an der Ecke der Behrenstraße, wo sich jetzt das Hôtel des Princes befindet. Seidene Vorhänge, elegante Möbel konnte man schon von der Straße aus im Parterre des Garçons unterscheiden. Hätte Gans eine Hausfrau gehabt, er würde den »Salon« in Berlin eingeführt haben nach dem Zuschnitt des neuen Paris. Denn der »Salon« bei den Mendelssohns, bei Frau Beer, bei Fräulein Wolmar, beim alten Hitzig, das war noch ein Begriff aus dem Zeitalter Récamier. Eduard Gans war Heinrich Heine, wenn letzterer, um mit seinem Oheim Salomon Heine zu reden, »etwas gelernt gehabt hätte«. Gans sprach ein Deutsch, das sich schon von Hause aus so einrichtete, bequem ins Französische übersetzt zu werden. Auf der Straße sah man ihn nur im eleganten schwarzen Frack, immer bereit, wie die Professoren der Sorbonne, den Katheder zu besteigen. Dabei sprach er dermaßen laut mit seinen Begleitern, daß Vorübergehende stillstanden und sogleich erfuhren, was grade die Tagesordnung war. Ob auf dem Katheder, wenn er sprach, auch bereits das Zuckerwasser stand, der Vorbote eines noch empfindlich fehlenden berechtigten konstitutionellen Lebens, kann ich nicht für bestimmt versichern. Er las an derselben Stelle, wo der Neandersche – Mäander floß. Zwei jüdische Konvertiten – wie ungleich im Äußern und Innern! Dennoch mochte ich diese bewunderten Gansschen Vorträge nicht, so sehr auch die Hörer bis auf den Korridor hinaus angesammelt standen, so daß sich der wohlbeleibte Redner anstrengen mußte, zur Tribüne zu gelangen. Zur Tribüne – es mochte ihm oft auf dem Katheder wie einem Mirabeau zumute gewesen sein. Und zuweilen unterbrach dann auch ein neuestes Zeitungsblatt, das er aus der Tasche zog, seinen Vortrag. Es war eine Zeit – man wird es kaum glauben –, wo schon in dem öffentlich vor fünfhundert Menschen ausgesprochenen Worte »Journal des Débats« für die patriarchalisch stillen Zustände und die nächste sonntägliche Kirchenparade so viel unmittelbare Bedrohung zu liegen schien, daß darüber eine Staatsratssitzung abgehalten werden konnte. Hatte sich dann Gans mit seinen Pariser Reminiszenzen zu sehr vergaloppiert und wohl gar das damals wie eine Aufforderung zum Konsignieren der Truppen in den Kasernen klingende Wort »Konstitution« mit einer von olympischer Ruhe begleiteten Sicherheit fallen lassen, so lenkte er wieder in Hegels Phänomenologie ein, gab einige Ansichs, Fürsichs, An- und Fürsichs zum besten, verspottete die deutschen Kaiserideen und Burschenschaftsträume und gelangte wieder zum ruhigen Genuß zurück von Kunst, Oper, Konzert, Schauspiel, wo ebenfalls seine laute Rede im Parkett, Büfett, zuweilen sogar in der »Staatszeitung« den Ton angab. Streiche ich achtunddreißig Jahre zwischen sonst und jetzt und das frühe, allgemein beklagte Grab des liebenswürdigen Mannes, so ist mir, als müßte ich ihn jetzt auf den Bänken des Reichstages in der Nähe auch einiger eleganten und zum sofortigen Eintritt ins Ministerium oder zu einer Hofaudienz ständig frisierten, gantierten und parfümierten Nationalliberalen suchen.
Ein junger Pflegling hoher Gnaden war Leopold Ranke. Diesen damals noch jugendlichen Mann, klein von Gestalt und von noch mäßigem Anklang in seinem dem Raumerschen gerade gegenübergelegenen Auditorium, hatte man von einem Gymnasium herübergenommen. Sein Buch »Südeuropäische Staaten und Völker« hatte durch staatsmännische Geschichtsauffassung, Sinn für Zitate aus Archiven und Gesandtschaftsberichten und eine Vorliebe für die Welt des grünen Tisches überrascht. Man hatte es merkwürdig gefunden, wie ein junger Oberlehrer in Frankfurt an der Oder von Herzog Alba sprechen konnte, ohne ihn sogleich ein Ungeheuer zu nennen. Das gefiel in der Behrenstraße, wo Fürst Wittgenstein, und in der Wilhelmsstraße, wo Kamptz wohnte. Niemals hat es Varnhagen von Ense Ranken vergeben können, daß dieser dem Verdienst so wenig Rechnung getragen hätte, welches sich jener in bezug auf Empfehlung eines so merkwürdigen Buches an die maßgebenden Mächte erworben haben wollte. Varnhagen war damals noch nicht auf dem Standpunkt seines Briefwechsels mit Humboldt. Er brannte vor Sehnsucht, wieder zum aktiven Dienst zurückberufen zu werden, drängte noch seine grollenden Stimmungen in den Hintergrund und teilte durchaus die Sympathie, die er auch andern einflößen wollte, für einen jungen Autor, der in Alba kein Ungeheuer sah. So oft ich Varnhagen in späteren Jahren gesprochen habe, immer kam er auf seine Verdienste um Ranke zurück. »Ich bin die Ursache seines Glücks; ich habe Wittgen- und Altenstein auf ihn aufmerksam gemacht; durch mich ist er von den Schulbänken in Frankfurt an der Oder erlöst worden –!« Ranke schien ihm nicht dafür die nötige Dankbarkeit gezollt zu haben. Ob Ranke dann geneigt war, den Voraussetzungen seiner Gönner dadurch zu entsprechen, daß er die mit dem Jahr 1830 immer mehr um sich greifende freimütige Geschichtsauffassung bekämpfte – scheint zweifelhaft. Es wurde aber zu ähnlichem Zweck eine Zeitschrift begründet, die Ranke fast allein schrieb, ohne in den Ton der Ultras, der Jarcke und Philipps, zu verfallen. Indessen dieser allein schien den maßgebenden Mächten, den königlichen und prinzlichen Flügeladjutanten willkommener zu sein als die maßvolle Zurückhaltung eines Historikers, der sich bei aller Vermeidung dessen, was die Gegenwart wünscht und betreibt, doch zu jenen Entstellungen der Geschichte nicht hergegeben hat, die damals eine unverbesserliche, machtbegabte Inquisitorenclique wünschte. Einem Tzschoppe, dieser spätern rechten Hand des Ministers Fürsten von Wittgenstein und eines Herzog Karls von Mecklenburg, Chefs des Staatsrats, würde es durchaus genehm gewesen sein, wenn Ranke in seinem Buch über die deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation Luthern als Urheber des Geistes der Neuerungen und der politischen Anzweiflungen hätte fallen lassen.
Nachgerade fing ausschließlich nur noch die Philosophie an, mich an die Universität zu fesseln. Die ganze Nachbarschaft des Kastanienwäldchens förderte die ideale Richtung. Das Treiben der Stadt, das Gewühl der Königs-, die Lebhaftigkeit der Friedrichsstraße verhallte hier. Wohin man blickte vom Gitter aus, das den Vorgarten des mächtigen Gebäudes vom Opernplatz trennt, überall nahm das Auge Eindrücke des Schönen wahr, die Linden, die Akademie, die Bibliothek mit ihrem Nutrimentum spiritus, der Apollotempel des Opernhauses, zur Linken das ehrwürdige Schloß, das ruhmgekrönte Zeughaus und so vieles andere, das damals erst im Werden begriffen war. Diesen Platz findet man in der Welt nicht wieder, selbst in Paris und Rom nicht. Der Blick vom Kapitol erhebt keineswegs, beleidigt vielmehr. Die Zeiten damals, die Jugend wurde ideal gestimmt. Polen erhob sich und führte einen Heldenkampf durch. In Deutschland war die politische Bewegung zwar bald unterdrückt, aber die Philosophie wurde die Wissenschaft des Tages. Das Alter suchte in ihr Vergessenheit und Sammlung, die Jugend Befreiung vom Schul- und Lebenszwang. Die sinnigsten Köpfe bewährten sich im Ergründen der alten Philosophie, im Anwenden der neuen Auffassungen auf die noch ungelösten Probleme der meisten Disziplinen. Daß sich, um mit Goethe zu reden, da, wo Begriffe fehlten, Worte eingestellt hatten, wurde von den Gegnern des Real-Idealismus in Leipzig, Jena, Göttingen scharf genug hervorgehoben. Es entzündete sich darüber ein Streit, der in die Herzen der Jugend begeisternde Flammen warf. Die »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik« machten Epoche. Selbst die schöne Literatur, die sich allerorten mit neuen Trieben zu regen angefangen hatte, knüpfte an Hegels Philosophie an. Karl Werder sang die Hegelschen Kategorien, übersetzt in die Sprache der Brahminen. Weder die nordische Tanne noch den Palmenbaum und die Lotosblume hatte damals Heinrich Heine allein entdeckt. Die letztere gehörte weit früher den Naturphilosophen an, die am Ganges die Vorahnungen des Jordan gefunden haben wollten. Als ich die Materialien meiner Konkurrenzschrift über die Schicksalsgottheiten beisammen hatte und an Sichtung und Gruppierung derselben ging, erlebte ich für mich selbst eine Art Damaskuswunder, eine mystische Verzückung. Es war ein schöner Wintertag. Der Tiergarten lag hart gefroren. Durch die kahlen Bäume schimmerte ein malerisches Abendrot. Um zu meditieren, streifte ich durch die Alleen über alle »Rondells« hinweg, an allen »Floraplätzen« und »Rousseauinseln« vorüber. Ein Lichtglanz umgab mich. Ich sah durch die prismatische Beleuchtung des Satzes: »Was ist, ist vernünftig«, die Zeiten. Ich grübelte: Was heißt heidnisches Altertum –? Gewiß, den einigen Gott kannte das Altertum nicht, den dreieinigen noch weniger. Wer aber darf den Stab brechen über die einzelnen Erscheinungen jener ewigen Triebkraft der Geschichte, die zum Lichte drängt –? Hat nicht Zeus Kronion, den die Hellenen, als ihn Phidias schuf, nicht mit Marmor, nicht mit Elfenbein, sondern nur mit Gold, mit ausgerollten massiven Dareiken bekleidet sehen wollten, wirklich gelebt? Er hat gelebt, so gut wie Jehova, er hat beseligt, so gut wie der Gott der Christen, der ja auch nur eine höhere Stufe zum Gott Spinozas ist. Laßt doch nicht die Mythen, die nur wie Opferblumen den Namen des Zeus umgeben, nur wie Spenden der Huldigung und Verehrung, den hehren Begriff des Zeus entgelten –! Diese antike Welt, durch die Theologie so verurteilt, mußte ja so sein, wie sie war. Sie war keine Abirrung vom Gottesbegriff, sondern eine Entwickelung innerhalb desselben, ein notwendiges Stadium seiner irdischen Darstellung. Gott darzustellen, Gott hervorzubringen, ihn, den Schöpfer, als das Resultat der Geschichte der Schöpfung sozusagen sichtbar hervorzulocken, das schien mir der Zweck alles Lebens, der Zweck aller Geschichte. Jeder Schritt vorwärts auf der Bahn des Lichtes und der Tugend, jeder Sieg der heiligen Sache der Vernunft und Aufklärung erschien mir ein Schritt näher zum allmählichen Offenbarwerden der Gottheit – Gott wird einst sichtbar werden aus uns selbst und aus der Welt heraus. Die Zeit bis dahin ist lang, aber, also dachte ich, der Tag wird kommen, wo Faust vor dem Erdgeist nicht mehr erschrickt und ausruft: Wehe mir! Mein Aug' vermag dich nicht anzuschauen, schreckliches Gesicht –! Nein, der Anblick der Gottheit wird uns beglücken, unsere Wimper wird vor dem Bilde der Größe, zu dem wir selbst gehören, nicht mehr zucken. Und in diesem Augenblick, wo mir die alten Götter nicht im mindesten unvernünftig, sondern vollberechtigt, und die Mythologie, zumal in ihren Lehren über ein ewiges, selbst die Götter beherrschendes Fatum, tief und gedankenreich erschien, hatte ich eine geistige und zugleich wunderbare physische Kraft gewonnen. Ich hätte mich anheischig machen können junge Eichen auszureißen und forstzufreveln.
Wie man dann die Wahl hat, durch das »Brandenburger Tor« durch mehrere Säulengruppen, ein Geh-, ein Fahr-, ein Reittor, in die rauschende Stadt wieder zurückzugelangen, so boten sich mir auch für die Philosophie mehrere Eingänge dar, die ich aber alle zugleich beschritt. Schon damals las Schopenhauer, d. h., er war in Italien und ließ mit konsequenter Hartnäckigkeit jahrelang im Lektionskatalog ankündigen: ex itinere redux lectiones indicabit. Sonst lasen außer Hegel und seinen Schülern auch noch Heinrich Ritter, der Historiker der Philosophie, und jener unglückliche Beneke, den man einige zwanzig Jahre später in einem Kanal ertränkt fand. Ich hörte auch diese Gegner Hegels und gleich im Beginn meiner Studienzeit. Heinrich Ritter war eine kräftige, untersetzte, mehr kleine Gestalt mit eindringlicher, klarverständlicher Rede. Man bekam aus seinen Vorträgen wirklich ein Heft. Wesentliches vom Unwesentlichen unterscheidend, hob er dasjenige hervor, worauf man allenfalls examiniert werden konnte. Er würde ganz ein Mann nach dem Herzen der akademischen Jugend gewesen sein, wenn nicht die damalige Zeit mehr als die jetzige vorzugsweise das Glänzende, Poetische, Interessante gesucht hätte. Eine gewisse Nüchternheit schied den ausgezeichneten Forscher vom Geist jener Tage. Er ging nach Göttingen. Beneke war ein geborener Berliner, Schwager jenes Pfarrers Wilmsen, aus dessen »Brandenburgischem Kinderfreund« die damalige preußische Jugend buchstabieren, lesen, denken und empfinden gelernt hatte. »Dies – ist – ein – Buch –, und – dieses Buch ist mein –«, so begann seine Kinderfibel. Beneke war eine Zeitlang Dozent in Göttingen. Er hatte dort etwas Englisches in seinem Wesen angenommen, das von Göttingen auch Schopenhauer mitbrachte. Ohnehin begründete sich Benekes Philosophie auf ein gründliches Studium der Engländer. So arm der Bewohner einer Dachstube im Pfarrhause seines Schwagers war, man sah Beneke immer à quatre épingles, in Frack und weißer Halsbinde. Letztere stach grell von seinem Haupt ab, dessen Färbung fast zu urgermanisch erschien. Sein kurzgeschornes Haar war ziegelrot. Die »Parochialkirche«, in deren Pfarrhause er wohnte, hat ein holländisches Glockenspiel. Jede Viertelstunde quälte ihn da ein: »Allein Gott in der Höh' sei Ehr' –!« von zusammenklappenden Eisenstäben. Dazu gehörte Geduld, und in dieser übte sich denn auch wie ein Märtyrer der ewige Privatdozent, den zuerst die Hegelsche Richtung des Ministeriums Altenstein, dann die frömmelnde seiner Nachfolger elend untergehen ließ. Beneke trug Psychologie, Logik und Metaphysik vor, mit hartnäckig festgehaltenem altkantischem Standpunkt, der über die »Kritik der reinen Vernunft« nicht hinausgehen und nichts vom Idealismus der späteren Schulen zulassen wollte. Benekes patent sein wollende, doch nur pedantische Haltung – sein Wuchs war schmächtig, mager, mehr groß als klein – untersagte ihm jede auffallende Polemik. Er ging mit Locke, Hume, Jeremy Bentham. Letzterer vertrat die Anwendung der Philosophie auf praktische Fragen der Neuzeit. Einem Mann wie Gans fehlte es für diese Richtung nicht an dem ablehnenden Schlagwort: »Amerikanismus.« Das sollte die »Sackgasse« sein, in welcher sich die Erneuerung der alten Theorie des Zweifels und der Nuranerkennung dessen, was in den Sinnen liegt, »verrannt« hätte. Wie dem sei, die Richtung dieser Schule auf die Psychologie war ersprießlich. Völker- und Sittenkunde, Seelenlehre, die Lehre von den Geistesstörungen, die Erziehung wurden die Gebiete, in welche Beneke sein Häuflein Zuhörer mit einem unerschöpflichen Zitaten- und Beispielsreichtum einführte. Seine »Angelegtheiten«, wie er die Abdrücke der Erfahrung auf der Silberplatte der Seele (die »Daguerreotypie« war damals noch nicht erfunden) nannte, das latente Fortleben dieser Ansammlungen, das Hervorbrechen derselben durch irgendeine zur »stillen Musik« der Seele einen wohllautenden Akkord gebende Zufälligkeit – die Erklärung dieser Vorgänge trug etwas vom Gepräge der späteren Demonstrationen aus der Lehre von »Kraft und Stoff«, war jedoch überzeugend und mehrte die Neigung für Erfahrungswahrheiten und gewissenhafte Prüfung.
Völlig entgegengesetzt zur Vortragsweise aller dieser berühmten Männer, die wir bisher geschildert haben, war diejenige Hegels, der noch in voller Kraft stand und nicht ahnte, daß eine noch damals in Asien weilende Seuche, die Cholera, und einige nach einem Souper verzehrte Melonenschnitte seinem Leben so bald ein Ende machen sollten. Die einzige Weise Schleiermachers kam dem Charakter nach dem Vortrag Hegels gleich, falls man nicht sofort eine Ungehörigkeit darin finden will, die große Virtuosität im Vortrage Schleiermachers mit dem lahmen, schleppenden, von ewigen Wiederholungen und zur Sache nicht gehörenden Flickwörtern unterbrochenen Vortrage Hegels verglichen zu sehen. Die Gleichartigkeit liegt darin, daß bei beiden die Redeweise den Charakter der Improvisation trug, beide gleichsam ein Herausspinnen des Vortrags aus einer erst im Moment vor den Augen der Hörer tätigen Denkoperation gaben. Die andern gaben fertige Ergebnisse vorangegangener Meditation. Schleiermacher sowohl wie Hegel erneuerten, um dies oder jenes Resultat zu gewinnen, den Denkprozeß, Hegel vollends wie eine Spinne, die in der Ecke ihres Netzes verborgen liegt und ihre Fäden, nach außen immer weiter hinaus, nach innen immer enger zusammenzuziehen sucht. Die Weise, wie in einem meiner Jugendversuche, »Nero«, der dritte unter den daselbst auftretenden Sophisten seinen Schülern Sein und Denken parallelisiert, ist wörtlich die Kopie der Hegelschen Vortragsweise mit ihren mehrmaligen Wiederholungen des eben Gesprochenen und einem stereotypen »also« nach jedem dritten Wort. Der Gedankengang schiebt sich da langsam vorwärts, geht immer wieder einen halben Schritt zurück nach einem ganzen Schritte vor. Dabei lag der Kopf der proportionierten, männlich gereiften Erscheinung dicht auf dem Pult des Katheders und ließ die Augen, die sich gleichsam von innen mit Flören bedeckten, unsicher und ausdruckslos im Kreise seiner etwa achtzig bis hundert zählenden Zuhörer umherirren. Es waren die scheinbar ausdruckslosen Denkeraugen, die nach innen leuchten.
Im wesentlichen war Hegels Äußeres immer noch nach der Weise eines schwäbischen Magisters. Ottilie Wildermuth würde ihn für ihre schwäbischen »Pfarrhäuser« haben brauchen können. Oft erzählte mir in spätem Jahren eine Schwester Wilhelm Hauffs, des schwäbischen Dichters, daß sie im Kloster Schönthal vor »des Hegel« Zynismus, seinem Verschmähen aller Sauberkeit, Ordnung und Seife ein »Horreur« gehabt hätte. Gleiches berichtete man aus Frankfurt über den Kaufmann Gogelschen Hauslehrer am Eck des Roßmarkts und der Weißadlergasse, wo Hegel in die elegante Sphäre des Romans seines Landsmannes Hölderlin eintrat. Und daheim, in seiner am Kupfergraben belegenen Wohnung, den damals noch nicht existierenden Museen gegenüber, trug er eine runde, breitrandige Sammetmütze wie ein »Mayster der freien Künste« aus den Tagen des Mittelalters. Er behielt im Sprechen immer eine gleich mürrische, abgespannte Miene. Ich höre ihn noch, wie er mich beim Testierenlassen einer bei ihm gehörten Vorlesung mit den Worten schwäbischen Akzents anredete:
»Ich glaube, Ihren Namen schon da und dort gelesen zu haben – Sie schriftstellern schon –?«
Allerdings hatte ich schon damals diesen Becher voll Nektar und Gift an die Lippen gesetzt. Ich hatte zwei Autoren gefunden, die mir unter allen Namen und Richtungen, die sich damals als Träger des Zeitgeistes zu erkennen geben wollten, unter den reinen Belletristen, wie Tieck, Hoffmann, unter den Romantikern und Doktrinärs, wie Steffens, Görres, Johannes Weitzel (ein zuwenig gewürdigter Publizist jener Tage), vollends unter dem Schwarm der Almanachspoeten, Abendzeitungsnovellisten, Leipziger Korrespondenten für die »elegante Welt« usw., die meiste Befriedigung und Erhebung gewährten, Wolfgang Menzel und Ludwig Börne. Bei diesen beiden hatte ich die Beibehaltung desjenigen vom Alten gefunden, was mir wohltat, bei Menzel die romantische Schule, bei Börne Jean Paul, und doch bei beiden die volle Zutat vom Neuen. Ich hatte bei beiden die Literatur unter dem Gesichtspunkt des Zeit- und Volksgeistes, vollends die Poesie in ihrem Zusammenhang mit dem Bedürfnis der Erneuerung auf dem Gebiet aller Disziplinen, jedenfalls mit den Bedürfnissen des nationalen Lebens, unserer Erziehung und Geselligkeit. Mächtig ergriff mich der Drang zur Anteilnahme am Kampf für die gute Sache der Schönheit, Freiheit und Wahrheit. Das Nächste in dem, was mich umgab, war mir verdächtig geworden. Nicht einen Offizier, nicht einen Geistlichen, keinen mit dem Ordensband im Knopfloch Geschmückten konnte ich sehen, ohne mich im Bruch zu fühlen mit allem, woran sich die gegebene Welt lehnte. Überall nur sah ich freiwillige Knechtschaft, Entäußerung besserer Erkenntnis, Heuchelei im Festhalten von Institutionen, die sich überlebt hatten. Auf dem literarischen Gebiet erschien mir alles Unselbständigkeit, Nachahmung, affektierte, in Berlin durch besondere Gesellschaften geförderte Vergötterung unsrer klassischen Periode. Dort aber, wo noch neue Blüten getrieben erschienen, wo noch etwas wie frische Farbe und Duft herauskam, sah ich die innerlich leere Vegetation des Sumpfes, grünschillernde Decken stehender Gewässer. Zeitungslektüre muß man in Berlin in den Konditoreien suchen. Die Ausbeute jedes Besuchs derselben war eine Ansammlung grimmigen Zorns und polemischer Gelüste. Noch Student, wollte ich schon eine Zeitschrift herausgeben, vierteljährlich ein Heft, »Forum der Journalliteratur« wollte ich sie nennen. Die Konzession dafür zu erlangen konnte eine Sache der reinen Unmöglichkeit erscheinen, wie damals die Dinge standen. Und siehe –! Auf meine desfallsige Vernehmung bei einem Rat des Polizeiministeriums nach einem Examen, wer ich wäre, was ich wollte, woher ich die Mittel zur Bestreitung der Kosten meines Unternehmens zu erlangen hoffte –? empfing ich ein für jene Zeit märchenhaftes Privilegium. Mein »Forum« durfte sich, natürlich unter Zensur (des Kammergerichtsrats Bardua), auf alles und jedes erstrecken, sogar auf Politik. Hätte ich gewollt, so stand mir frei, die Herren vom Politischen Wochenblatt oder die historisch-politische Zeitschrift Rankes an guter Gesinnung zu übertreffen. Eine glühende Kohle, die ich nicht anzufassen wagte. Die blaue Tinte meines Zensors strich bereits genug in den Ergüssen meiner Feder über die neuesten Almanache. Ich merkte die noch nicht ganz erkaltete Gunst des Großinquisitors, der ohne Zweifel für mich gutgesagt hatte, obschon ich ihn seit lange nicht mehr in den Staatsrat begleitete oder unter seinen Auspizien auf die Freiredouten ging.
In bezug auf diese Tätigkeit, die sich eines Anklangs von etwas über siebzig Abonnenten im deutschen Vaterlande zu erfreuen hatte und meine Finanzen ruinierte, äußerte Hegel in seiner mürrischen Weise:
»Wie kann man sich an diesen Wolfgang Menzel anschließen –!«
»Meine Überzeugung das –!« erwiderte ich ebenso brummig.
Es hätte mich allerdings mehr gefördert, wäre ich trotz meiner neunzehn Jahre als Enthusiast für den Real-Idealismus aufgetreten.
Doch der Wahrheit gemäß bekenne ich, daß sich mir in Hegels Vorträgen jenes Damaskuswunder (ich möchte es ein umgekehrtes nennen, die Bekehrung vom theologischen Paulus zum philosophierenden Saulus), das mir im winterlichen Tiergarten begegnet war, stündlich wiederholte. Jede der Hegelschen Beweisführungen hatte eine praktische Perspektive. Am Ende einer langen, allerdings höchst monotonen und langweiligen Allee von Begriffsspaltungen sah man immer einen Erfahrungssatz, der bestätigt, oder einen Traditionssatz, der umgestoßen werden sollte. Der logische Prozeß, das Sein und Werden, das Ansich und Fürsich, war allerdings ein Becherspiel unter der Hand eines Jongleurs, der sein Spielzeug so lange betreibt, bis er uns das Auge verwirrt und durch Aufdeckung eines der blanken Gefäße erst wieder zur Besinnung bringt. Hob Hegel den Becher auf, so lag gewöhnlich ein Unerwartetes da, ein Wort von Goethe oder Spinoza, eine mystische Stelle Taulers oder Jakob Böhmes, eine Etymologie von Grimm, ein politisches Wort Montesquieus, ein Vorkommnis der Geschichte. Man mußte staunen und bewundern. Die schärfste Polemik nach links und rechts, die absolute Verachtung der »abstrakten«, »endlichen«, »flachrationalistischen« »Wahrnehmungen« begleitete durchweg den Vortrag und erkräftigte den Geist. Allerdings erfüllte er ihn auch mit Hochmut. Man sah nur Denk-Parias um sich, während man sich selbst, mit seiner Mappe unterm Arm, ein Brahmine erschien beim Heraustreten aus dem Hörsaal – war es nicht Nr. 6? Die Hegelsche Philosophie der Geschichte, deren Gefahren ich erst später erkennen lernte, war in der Tat jenes Webermeisterstück, wovon Mephisto im »Faust« spricht. Die Fäden gingen auf und nieder, jeder Tritt war sicher und berechnet, die Welt wurde dem Schöpfer nachkonstruiert, das Geheimnis der Parzen, ihr System, wonach sie die Verhängnisse bestimmten, schien enträtselt. Die Art, wie aus jedem Volk gleichsam die Wurzel seines Seins gezogen wurde, von jedem Zeitabschnitt die Blüte gepflückt seiner gesamten Tendenzen und Strebungen, erfüllte den jugendlichen Hörer mit andächtigen Schauern.
Und dennoch konnte ich über die eine Klippe nicht hinweg, daß das Denken gleich sein sollte dem realen Sein! Ich bewunderte einige leidenschaftliche Adepten der neuen Lehre, denen diese Fähigkeit vollkommen innezuwohnen schien. Sie konnten das Nichts ordentlich festhalten, das Sein und Werden wie mit Fingern greifen. Sie konnten sich die Welt, das Stein- und Mineralreich, die preußische Wachtparade mit den himmelhohen Haarbüscheln an den damaligen »Tschakos« der Garde, die lange Friedrichsstraße ebenso wie die Milchstraße am Himmel alles auch aus puren Ideen gebildet denken. Ich gehörte nicht zu ihnen. War ich doch sonst keiner von den Massiv- und Grobkörnigen, die nur das begriffen, was sie, wie Marheineke gesagt hatte, »in ihren Leib hineinfraßen« – ich bekämpfte im Gegenteil eifrigst mein Behagen an der Erscheinungswelt – aber diesen Augenblick begriff ich nicht, wo plötzlich der Logos das Wort war und das Wort die sichtbare Welt. Um mich dann zum abstrakten Denken, zu einer mehr süd- als norddeutschen Ekstase und Idealität reifer zu machen, besuchte ich ab und zu einige der wenigen damals auftauchenden Lokale für – »fremdes Bier«. Aus mächtigen Pokalgläsern sprach ich lediglich dem Erlanger und Nürnberger zu, das, amalgamiert mit den gepfeffertsten und gezwiebeltsten Beefsteaks (die damals ebenfalls noch eine Neuerung für Berlin), dem Menschen eine himmelstürmende Elastizität zu geben vermag und aus dem Vaterlande Hegels, dem poesievollen Süden, kam – aber alles umsonst! Die verbesserte Nahrung wirkte lediglich auf die Vermehrung der Tatkraft und brachte wiederum die Wälle von Spandau in Gefahr. Entbehrung hätte für die Ideen Platos gewiß besser gewirkt. Aber die Ideen Platos kannte ich schon als Schattenbilder, als bloße Abdrücke der Wesenheiten in einem sonnenverklärten Jenseits. Ich suchte das Denken gleich Sein. Um mich von meinem Unvermögen, dies zu finden, zu heilen, besuchte ich noch die Vorträge zweier Schüler Hegels, Michelets, der sich aus Hegels Logik eine liberale Weltanschauung zu konstruieren im Begriff war, und des äußerlich kulanten und gefälligen Herrn Leopold von Henning, dem dieselbe Logik das Material zur Unterstützung Jarckes und Phillips' bot, jener Ultrakonservativen, die bald ihre Konfession wechseln, katholisch werden und nach Österreich auswandern sollten. Aber ich kam über den Moment, wo auch diesen braven Männern das Denken gleich Sein war, nicht hinweg. Ich sah nur Betrachtende und Betrachtetes in der Welt. Meine Röcke und Stiefel kosteten ein »reelles« Geld – eine schwarze Pikesche mit kunstvollen Schnüren und zierlich übersponnenen Knöpfen machte mich auf ein halbes Jahr zum Schuldner meines Schneiders – wie ich aber eine so kostspielige, materielle Welt rein aus meinen Gedanken heraus ableiten und Gläubiger mit Ideen zufriedenstellen sollte, ich habe es nicht begriffen, so lebhaften Teil ich auch an einem Disputatorium nahm, das Leopold von Henning, ein ehemaliger Offizier und auch noch damals Lehrer an der Kriegsschule, förmlich als eine Art Hegelschen Exerzierplatzes errichtet hatte. Der große, hagere Baron konnte für unsern Flügelmann gelten. Wir waren einige zwanzig und machten Rechts schwenkt! Augen links! In Zügen! In Kolonnen! alles mit ihm durch, legten Hinterhalt mit Trugschlüssen, schossen Beweisführungen, avancierten und retirierten, alles nach den Regeln der Dialektik. Mein Denken aber und – das alte, zerschnittene Pult vor mir mit den eingekerbten Namen und schwarzen Tintenflecken erhob sich nicht zur absoluten Identität, so sehr ich geneigt war, anzunehmen, daß allerdings alles anfangs Gott und Gottes war, daß sich Gott in seinem Bestreben, einmal aus dem Ansich herausspazieren zu gehen, einer sozusagen elektrischen Strömung im All bedient haben konnte, woraus die Materie entstand. Hatte man doch Beispiele, so stärkte ich meinen Glauben, daß aus einem Gewitter, also aus reinen Luftphänomenen, helle, schwere Steine gefallen waren. Mit Meteorsteinen und aus gewissen rätselhaften Vorgängen, namentlich der generatio aequivoqua, suchte ich mir die Möglichkeit des Nichts = Etwas zu erklären. Ich Unglücklicher, wenn ich schon damals hätte erfahren müssen, daß auch die generatio aequivoqua nur auf Täuschung beruht und daß alles, was entsteht, die Virchowschen Eier voraussetzt!
In diesem Kampf zwischen Glauben und Zweifel war ich eines Tages aus Hennings Disputatorium unter die herbstlich gefärbten Kastanienwipfel getreten, um frische Luft zu schöpfen und mich an einem mir sympathischeren Sein und Wesen der Dinge, am blauen Himmel, an den Kastanien, die von den Bäumen fielen, am Rascheln des Laubes zu erfreuen, als mich einer der Mitdisputanten, unverkennbar ein Israelit (am Jordan selbst konnte er geboren sein, so gelb war seine Haut, so orientalisch gezeichnet seine Physiognomie), einholte und mit den Worten anredete:
»Ja, werden Sie denn auch noch länger diesen Hegelschen Unsinn aushalten können?«
Ich sah den Sprecher, den ich schon öfters bemerkt hatte, groß an. Diese Kritik der Hegelschen Philosophie schien ihm vom Herzen gekommen. Sein Auge verriet eine förmliche Zornesglut. Die blassen Lippen waren trotzig aufgeworfen. Der gebückt getragene Kopf machte eine Seitenbewegung der absolutesten Verachtung auf das im Schatten liegende graue Universitätsgebäude.
Mit der scharfen, namentlich den Diphthong »ei« so schneidend hervorhebenden Sprechweise, die in Königsberg, Kants Geburts- und Wirkensstätte, heimisch ist, griff er zunächst Henning als einen bloßen Nachbeter an, die Disputanten, die sich mit ihm in allerlei Wortklaubereien ergingen, nannte er eitle Bursche, die sich nur einen Namen machen wollten; die ganze Philosophie Hegels war ihm ein Wortgefecht.
»Ich habe Sie schon öfters beobachtet«, fuhr er fort, »schon als Sie die Schicksalsgottheiten überwunden hatten und Ihnen Ihr ehemaliger Rektor, Ribbeck, drüben im Hofe der Universität Glück wünschte. Auch Ihr ›Forum‹ lese ich. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, wir wollen Hegels Enzyklopädie für uns selbst vornehmen und Paragraph für Paragraph durchgehen und uns überzeugen, was daran Sinn oder Unsinn ist.«
Auge, Gestalt des Mundes, die ganze mürrische Miene und nachlässige Haltung des Körpers blieben während dieser Worte dieselben. Weder daß ein Lächeln über seine Züge glitt noch eine besondere äußere Bezeugung des doch in seinen Worten liegenden Wohlwollens sichtbar wurde. Sein mürrischer Ernst, seine kurze, schneidende Redeweise änderte sich nicht, auch als ich mich bereit erklärte, auf seinen Vorschlag einzugehen und noch einige von meinen Kneipgenossen mitbringen zu wollen, falls ihm die Erweiterung unserer kritischen Lektüre zu einem regelmäßigen philosophischen »Tee« oder »Kaffee« oder sonstigem Verkehr oder aber zu einer – dann in jeder Beziehung trockenen Gesellschaft genehm wäre.
Als ich seinen Namen erfuhr, erkannte ich einen literarischen Kollegen. Auch er hatte schon die fragwürdigen Reize der Öffentlichkeit gekostet. Es war jener Joel Jacoby, der einige Jahre später eine auffallende Rolle spielen sollte, eben noch »Klagen eines Juden« geschrieben hatte, unmittelbar darauf Christ, sogar Katholik wurde, die besondere Protektion der maßgebenden politischen Kreise Berlins genoß, seltsame, aufsehenmachende Artikel mit dem Zeichen »Halle an der Saale« für die Allgemeine Zeitung schrieb, eine mysteriöse Reise nach der Schweiz unternahm, wo man damals als politischer Spion irgendwo mit drei Dolchen in der Brust in einem Busch aufgefunden werden konnte, deshalb schleunigst nach Berlin zurückkehrte, allwo er erst vor einigen Jahren als »Lektor« beim Berliner Polizeiamt und mit dem Titel eines Kanzleirats, auch nicht ohne Orden gestorben ist.
Diese in sich wahrlich zerrissene Natur, heute im Ton der Psalmen das moderne Leid der Juden singend, jenen damals mit Bendemanns »Trauernden Juden« und dem Emanzipationsbegehren aufgekommenen sogenannten »Judenschmerz«, und morgen von den Weiden am Bach Kidron direkt nach Dresden reisend, um sich in der dortigen katholischen Hofkirche statt Joel (Jehova ist Gott) Franz Maria taufen zu lassen, wußte sich den Schein völliger Einigkeit mit sich selbst zu geben. In raschem monotonem Absprechen erledigte er jede Schwierigkeit. Jenen Verehrungssinn, der seinem Stamm sonst eigen zu sein pflegt, entbehrte er durchaus. Ihm war alles menschliche Streben durchaus menschlich, höchst endlich, der größte Geist unter Umständen ein Dummkopf. Aber auch jeder Minister, jeder Fürst erschien ihm durch die allgemeinen Bedingungen alles Daseins eine leicht auszunutzende Gewöhnlichkeit. Ihm imponierten die Dinge und Menschen nur so lange, bis er ihnen eine Phrase für sein sprachlich nicht geringes Talent abgewonnen hatte. Der volle Pendant zu dem damals immer mehr die Oberhand gewinnenden Heinrich Heine. Nur daß Jacoby im Grunde seines Wesens eine Natur war, die das Verständnis der Pietät besaß aus dem gemeinschaftlichen jüdischen Ursprung her. Sinn für die Tiefen des Gemüts und die heiligen Schauer der Religion, der Sitte, des häuslichen Lebens fehlte ihm nicht. Dennoch machte er ihn nicht geltend. Über den jedenfalls vorhanden gewesenen Zwiespalt seines Innern und die nagenden Gewissensbisse soll ihm zuletzt die Wiederaufnahme von Reminiszenzen aus den Zeiten Ludwig Devrients und E. T. A. Hoffmanns bei den Weinhändlern Lutter und Wegner in Berlin, ein tägliches Desipere in loco, hinweggeholfen haben.
Wirklich wurde also ein regelmäßiger, hyperboräisch-norddeutscher Tee unter vier bis fünf Kriminalinquisitoren der Hegelschen Philosophie in Joel Jacobys Behausung, in der Nähe der Werderschen Kirche, abgehalten, an derselben Stelle, wo sich gegenwärtig das Hotel d'Angleterre erhebt. Die Paragraphen der Enzyklopädie wurden jede Woche einigemal durchgenommen und über den Sinn oder Unsinn derselben die verschiedenen Meinungen gehört. Dabei stellte sich zunächst heraus, daß Joel Jacobys mürrischer Ernst nur die Maske eines Bestrebens war, durch komische Schlagworte Lachen hervorzurufen. Sein eigenes behagliches Lächeln über etwas, das gezündet hatte, blitzte, wenn auch nur verstohlen, über den gelben ägyptischen Teint seiner eigenen Gesichtszüge verräterisch hinterher nach.
Mitten in diese philosophischen Abende hinein brach bald eine Schreckenszeit, die nicht nur uns, sondern die ganze damalige Welt an die Endschaft aller idealen Träume und Gott sich gleich und verwandt fühlenden Stimmungen erinnerte. Die Cholera, der »asiatische Gast«, wie sie hieß, die »Seuche«, wie sie auf den Kanzeln genannt wurde, besuchte zum ersten Male Europa. Sie war das Schreckbild der Menschheit. Auf einem dürren Kosakenklepper schien sie zu kommen, die sieben Plagen als siebensträhnige Knute in der Hand, diese asiatische Giftmischerin, die in alle Brunnen, alle Ströme, in jede Nahrung den Keim des Todes warf. Ein hageres, fahles Weib mit zerzaustem Haar – Schmutz an ihren Kleidern – das personifizierte – Erbrechen –! Das war wahrscheinlich ein Gegensatz zur – Idealitätsphilosophie! Die Welt des Lichtes, der Ahnung und Schönheit in unserer Brust, und nun diese Cholerapräservative, diese wollenen Leibbinden, diese mit dunklem Wachstuch überzogenen Totenkörbe, diese besonderen, der Ansteckung wehrenden Anzüge der Wärter, diese Tafeln, die an die Häuser geheftet werden sollten, diese Cholerastationen in jedem Stadtviertel! Man glaubte an Ansteckung und Einschleppung. Man hatte gewiß recht. Denn sie war ja auf der Wanderung von Indien her, über den Ural, durch die Steppen Rußlands gekommen. Rußlands Freundschaft für uns, die heilige Allianz, die soeben den polnischen Aufstand niedergeworfen hatte, schien uns ein Geschenk des Dankes damit machen zu wollen. Von dem Elend, das zu erwarten stand, hatte das Volk entsetzliche Vorstellungen. Es fürchtete die Brunnen vergiftet, glaubte die Reichen von den Krallen der Harpyie verschont und sah ein Strafgericht Gottes verhängt über die Welt für all die Sünden, die sich seit dem durch Gottes Gnade verhängten Sturz Napoleons so bedenklich gemehrt hätten, besonders für den Unglauben. Und die Denker litten nicht minder. Diese standen unter dem gefährlichen Einfluß ihrer Phantasie und – ihrer Gelehrsamkeit. Die Seuche kam aus Indien, dem Lande der freiwilligen Selbstvernichtung. Es wurden Szenen des Entsetzens, der Verzweiflung, des Aufruhrs berichtet, die ganze Städte ergriffen haben sollten, andrerseits wieder Szenen des absoluten Gleichmuts, der dumpfen Ergebung in Leben und Tod, wo sich die Bande der Freundschaft und Liebe lockerten, die Mutter die Kinder vergaß, der Gatte die Gattin. Die Bilder der Pest, des »englischen Schweißes«, des »Flagellantismus« entrollte unseren Gelehrten des Kastanienwäldchens Professor Hecker, der Historiker der Medizin. Für die Philologen, für Schleiermacher, Boeckh entrollten sich die Blätter des Thucydides, die Bilder der Pest, die einen Denker wie Anaxagoras hatte bestimmen können, den freiwilligen Hungertod, das gräßlichste Sterbenwollen, dem noch gräßlicheren Sterbenmüssen vorzuziehen, der Pest, die einen Perikles, die göttliche Gestalt, als sie selbst schon von den Pfeilen des erzürnten Helios geritzt war, noch über die Opfer des Krieges und der Seuche seine berühmte Trauerrede halten ließ, in welcher sich auch nicht ein Hauch der Hoffnung auf ein jenseitiges Wiedersehen und nur lediglich die Vertröstung durch irdische Unsterblichkeit findet –! Mit trüben Ahnungen gingen diese Männer. Schleiermacher predigte Liebe und Geduld; er beschwor seine Gemeinde um die Bewährung christlicher Tugend. Wie eben Berlin ist, so suchte es auch im Witz eine Hilfe und Zerstreuung. Man sprach damals von Boccaz, der sein Dekamerone für die Pest geschrieben hätte. Man verspottete den Chef des Medizinalwesens, Professor Rust, der eine absolut hermetische »Sperre« nach Osten angeordnet hatte, und ließ eine Karikatur erscheinen, einen Vogel mit dem Kopfe Rusts und der Unterschrift: »Passer rusticus. Gemeiner Landsperling.« Aber die Cholerastationen Thorn, Danzig, Frankfurt an der Oder kamen immer näher, und die Gebete in den Kirchen, sogar Schleiermachers Tränen (denn damals hat Schleiermacher, die kalte Natur, am Schluß jeder seiner Predigten geweint) halfen nichts. Ich sah wiederum am Kastanienwäldchen die ersten sicheren Zeichen, daß – »sie« da war. So sprach man von ihr, wie jetzt vom »Er«. Am Ende der Dorotheenstraße, im letzten Hause am kleinen Arm der Spree, die noch lange kein Eis ansetzen und eine Anti-Cholera-Temperatur einleiten wollte, lag das »Klinikum«, ein bescheidener Anfang jener großen Schmerzensstätten, die jetzt der wundärztlichen Kunst in anderen Gegenden der Stadt aufgeschlagen sind. Auch dort war eine Cholerastation. Schon wurden mit fieberhafter Eile durch das welke Kastanienlaub die langen Cholerakörbe von Männern, die an die Totenbrüderschaft Roms erinnerten, getragen. Wen die gespenstige Giftmischerin nicht mit ihrer Geißel unmittelbar berührte, den ergriff ihr moralischer Einfluß, die Furcht, die bloße Vorstellung von ihren Schrecken. Die Krankheit sprang aus der Phantasie in den Unterleib. Das war eine satanische Ironie des Denkens = Sein! Die Raben krächzten in den Wipfeln. Kein jugendlicher Nachwuchs baute noch Laubhütten unter den alten Bäumen oder sammelte ihre braunen glänzenden Früchte, um sie zu Kränzen aufzureihen, die über die Schultern geworfen wurden. Alles schoß angstvoll aneinander vorüber und stand unter dem Druck der neuesten Nachrichten, die in den morgens erscheinenden Zeitungen gestanden hatten über die Progression der Zahl der Erkrankten und Gestorbenen. Bald ging diese in die Tausende. Saphir schickte den Berlinern von München aus, wohin er gegangen war, den »Witz«: Man sage nicht mehr: »Wie geht's Ihnen?«, sondern: »Wie schwitzen Sie?«
Es war ein naßkalter Novemberabend. Am westlichen Himmel zeigte sich jenes Gelbrot, womit die untergehende Sonne nur Sturm und Regen verkündet. In einem Winkel des Kastanienwäldchens, dort, wo sich die froheste Jugendlust getummelt hatte, sprach ich einem treuen, lieben Freunde, einem Nachkommen Bürgers, trauernd die Worte:
»Was mir das graue Palais dort drüben bieten kann, das hab' ich nun leidlich hinweg! Ich halte nicht eine einzige Vorlesung mehr bis zu Ende aus, ich schreibe keine Hefte mehr nach, die Bücher, die ich zu Hause studiere, haben mich weiter gebracht als sämtliche Vorträge. Das ganze Leben in Preußen, und in Berlin zumal, wird unerträglich. Wo ich hinsehe – Vorurteil und Tyrannei! Kein Hauch der neuen Zeit darf über diese Grenzen kommen. Und sie verstehen es wirklich, diese Gendarmen und diese Männer mit dem roten Kragen am Rock und den Orden im Knopfloch, die Luft abzusperren, die geistige Luft, den Zeitgeist –! Aber überall draußen treibt und drängt eine andere Welt zum Lichte! Ich will mit den Polen ziehen, die jetzt auch ihr Vaterland verlassen. Durch Berlin dürfen sie nicht kommen. Sie folgen einer Zwangsroute, die sie an den großen Städten vorüberführt, nach Frankreich hin, wohin sie übersiedeln, die neuen Enkel des Ahasver. Ich schließe mich ihnen an. In Süddeutschland, im poetischen Schwabenland will ich Schillers Fußstapfen aufsuchen, um mich zu erheben, zu kräftigen im Kampf für Schönheit und Freiheit. Hier erliege ich. Zum examenbereiten Kandidaten der Theologie oder Philologie kann ich mich nicht mehr schulen. Die Sprache, die hier allein verstanden, gehört und belohnt wird, lerne ich nie –!«
Es war mein zweiter Versuch, Berlin zu entfliehen. Den ersten hatte ich schon einmal mit meinem Hallenser besprochen im Walde an der Spree hinter Treptow, dort, wo ich in meinen »Rittern vom Geist« Schlurck habe sterben lassen – eine Waldgegend, damals von lichtschimmernden Buchen und ehrwürdigen Eichstämmen so gut bestanden, wie nur der Landschaftsmaler eine solche an den Bergesabhängen des Südens sucht, ob auch der Name »Am Eierhäuschen« lächerlich niedlich klingt. Dieser Ausflug scheiterte damals am Mitleid um die alten Eltern. Der neue sollte von einer aus Stuttgart erwarteten Zustimmung abhängen.
Diese traf ein, und so wurde denn – ein altes Felleisen mit meinen Habseligkeiten gepackt. Meine Reiselektüre war ein eben erschienenes Buch von Karl Rosenkranz: »Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter.« Im strömenden Regen und nach Abschieden, deren Schmerz auf anderem Gebiete zu suchen war als auf dem welken Laub im Kastanienwäldchen, rasselte ich aus der Stadt der Pest hinaus zum noch cholerafreien und überhaupt in allem und jedem freieren Süden. Man bedenke das feierliche Tempo dieses gewagten ersten Schrittes in die große Welt! Ich fuhr allerdings nicht mit der »Schnell-«, sondern nur, meiner bemessenen Reisekasse wegen, mit der »Fahrpost« –! Aber zwei Nächte und einen ganzen Tag gönnte sich ein begnügteres Jahrhundert, um von Berlin aus nur allein bis nach Halle zu kommen.