Karl Gutzkow
Unter dem schwarzen Bären
Karl Gutzkow

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Zögling des Gymnasiums

Lehrer-Originale

Es gibt in Berlin eine Gegend, wohin vielleicht Friedrich Schiller gezogen sein würde, wenn jenes Berufungsprojekt, das ihn von den Ufern der Ilm an die der Spree entführen sollte, zustande gekommen wäre.

Eben an diesen Ufern der Spree, an jenen holländischen Grachten, die sich, ab und zu mit Bäumen besetzt, durch die innere Stadt ziehen, hätte er, des daselbst ständig verbreiteten – Äpfelgeruchs wegen, Gefallen gefunden zu wohnen. Denn man weiß (und wer es nicht wissen sollte, kann es vom Kastellan des Schillerhauses in Weimar versichert erhalten), daß Schiller, und vorzugsweise beim Arbeiten, den Duft von Äpfeln einzuatmen liebte, und zwar Äpfeln, die – um mit der Alexander Dumasschen Vergleichung zu sprechen – schon im demimondischen Zustande, dem des Übergangs, begriffen waren.

Von der Schleusen- bis zur Gertraudtenbrücke duftet es noch heute – doch lange nicht mehr so kräftig wie damals dem Kindergemüt – nach nichts als Birnen und Äpfeln. Der schmale, trübe, in der Farbe altem Kanonenerz ähnliche Spreearm war und ist noch jetzt ständig mit hochgezimmerten langen Kähnen bedeckt, die aus Potsdam, aus der Lausitz mit Obst anfahren, selten ihre Ladung vollständig löschen, sondern sich für den Winter und sogar die Zeit, wo die Äpfel- und Birnbäume schon wieder neue Blüten ansetzen, zum Detailverkauf bequem vor Anker legen. Die säuerliche Beimischung des süßen Apfelgeruchs, die Schiller wahrscheinlich deshalb so liebte, weil sie ihn an die Kelter- und Herbstfreuden seiner schwäbischen Heimat erinnerte, konnte im Laufe eines nur von den »Dreiern« und »Sechsern« der umwohnenden Schuljugend abhängigen Geschäftsverkehrs nicht ausbleiben. Verspeist wurden diese ungeheuern Vorräte sämtlich, doch langsam.

Hier nun, dicht an einer in der Mitte liegenden sogenannten »Jungfernbrücke« – der Forscher steht sinnend und fragt den Verein für die Geschichte der Mark: Wieso »Jungfern«? – erhebt sich ein jetzt etwas modernisiertes Eckhaus, das vor einem halben Jahrhundert die Lehr- und Lernkräfte des Friedrich-Werderschen Gymnasiums beherbergte. Dem Stil nach war es einer jener Bauten, die den Charakter aller Kasernen-, Lazarett-, Militärmagazins-, Garnisonkirchen-, Schulbauten der friderizianischen Zeit trugen. Die Außenseite hatte hier und da etwas Stukkaturschmuck. Die Fenster waren hoch, die Zimmer geräumig. Eine große Aufgangstreppe erlaubte die Massenentfaltung der Schuljugend. Der Hof eignete sich vorzugsweise für die Nachahmung der damals beliebten Kämpfe zwischen Türken und Hellenen. Denn Kanaris, Miaulis, Kolokotroni waren in den zwanziger Jahren die Helden des Tages, deren Abbildungen, grell mit Wasserfarben getuscht, neben Ludwig Sands Enthauptung an allen Buchbinderläden hingen.

Das Friedrich-Werdersche Gymnasium befand sich 1822 nach längerer Blütezeit ohne Zweifel schon im Verfall. Gegründet durch den Philanthropinismus der Nicolaischen Zeit, zuerst geleitet vom vielgerühmten Pädagogen Friedrich Gedike, konnte die Anstalt aus Mangel an Mitteln den Wettstreit mit den beiden älteren Gymnasien der Stadt, dem Grauen Kloster und dem Joachimsthal, nicht aushalten. Die Begründung eines neuen Gymnasiums auf der Friedrichsstadt, die Verwandlung des »Köllnischen« Gymnasiums in eine Anstalt, die sich ausdrücklich für die Aufnahme der immer mehr vom Zeitgeist empfohlenen »Realien« in ihren Plan bekannte, waren äußere Hemmnisse, zu denen sich noch innere gesellten, die durch den derzeitigen Rektor, die vorhandenen Lehrkräfte nicht überwunden werden konnten.

Soweit sich eine reifere Erfahrung die Eindrücke des Knaben- und des ersten Jünglingsalters zurechtlegen und ordnen kann, litt die Anstalt an unvermittelten Gegensätzen. Sie war mehr als ihre altern Schwestern jenseits der Spree vom Geiste der Zeit berührt gewesen. Während jene den gemessenen Schritt des alten gelehrten Wesens und Wissens innehielten, war das Friedrich-Werdersche Gymnasium aus dem Geist seiner ersten Begründung, dem Geist Nicolais und seiner Umgebungen, zu jähe in die Romantik der Jahre 1800–1812 übergesprungen. Der letzte Rektor war Tiecks Schwager gewesen, Bernhardi, der erste Gatte jener mit dem Lebenslauf der beiden Schlegel vielfach verwickelten Sophia Tieck, die nach mancherlei Abenteuern »freier Liebe« noch einmal in Rom wieder in den Ehehafen als eine Frau von Knorring einlief. Bernhardis einnehmende Persönlichkeit, sein Talent, sich durch die Rede geltend zu machen, der spätere Charakter seiner vorzugsweise auf die modisch gewordene Sprachwissenschaft und Grammatik gerichteten Studien, seine Beziehung zu Schleiermacher und anderen Parteigängern der bekehrten romantischen Schule hatten vergessen lassen, daß der gestrenge Gymnasiarch ehemals Theaterrezensionen und leichte »Bambocciaden« geschrieben. Trotzdem die Anstalt unter ihm blühte, blieb in den Traditionen derselben ein unvermittelter Zwiespalt, der nach seinem Abgang und baldigen Tode zum Ausbruch kommen sollte.

Man sah diesen Zwiespalt der Tendenz recht an der Bibliothek, die dem Schülergebrauch geöffnet war. Die Primaner wechselten im Amt, die Bücher zu verleihen. Manches Buch wurde dem Quintaner von dem später berühmten Wilhelm Wackernagel verabfolgt. Auch Hermann Ulrici, der fromme Shakespeare-Kultuspriester, verwaltete, glaube ich, eine Zeitlang das Amt des Bibliothekars. Vorzugsweise gewandt schien die Verwaltung eines späteren Breslauer Professors der Philologie, Ambrosch. Als ich später dann selbst dies Ehrenamt bekleidete, fand ich die schöne Ansammlung im trostlosesten Zustand der Verwüstung. Sie war spoliiert wie eine deutsche Bibliothek im Dreißigjährigen Kriege durch die Schweden. Kein mehrbändiges Werk war noch vollständig vorhanden. Die Reisen des jungen Anacharsis hatten bandweise bei allen Antiquaren der Königsstraße Station gemacht. Die reichste Literatur aus den Zeiten der Aufklärungsperiode, die Schriften Iselins, Zöllners, Übersetzungen Addisons, Raynals, die Literatur der Erfahrungsseelenkunde, Garve und andere wurden dezimiert, wie der unmittelbare Gegensatz derselben, die Schriften der Romantiker, Achim von Arnims, Tiecks (der ehebevor selbst ein Schüler der Anstalt gewesen), Brentanos. Daß aber Zweifel und Glaube, Tatsachensinn und Schwärmerei, Reisebeschreibung und bunte phantastische Ideenwelt in dieser Bibliothek so dicht nebeneinanderstehen konnten, eben das war charakteristisch. Im Lehrerpersonal, in den Stimmungen und Richtungen des Unterrichts scheint mir die gleiche Dissonanz geherrscht zu haben.

Der Direktor, ein anerkannter Mathematiker, Lehrer seiner Wissenschaft auch an der Artillerieschule, war ein Mann in mittleren Jahren, eine kurze, gedrungene, mehr durch Emphysem als durch wirkliche Fettfülle beleibte Gestalt, immer im blauen Frack mit goldenen Knöpfen, immer mit einem zum Strafen bereiten Rohrstock in den hochschäftigen Stiefeln. Es scheint eine Folge seines längeren Hauslehrerns in Rußland gewesen zu sein, wenn der sonst so weiche und milde Mann unablässig eigenhändig gegen die Abschaffung der Prügelstrafe protestierte. Die noch höhere Instanz der körperlichen Züchtigung, das »Übergelegtwerden«, war eine regelmäßig wiederkehrende, an bestimmte Revisionswochentage geknüpfte Erfahrung selbst bei hoffnungsvolleren Jünglingen. In solchen Fällen trat die muskulöse Hand des Kalfaktors in Mitaktion, einer stämmigen Unteroffiziersfigur, die selbst die besten Kunden beim Ankauf seiner »Schinkenbrote« vor dem Direktor, dem pädagogischen Peter Arbues, der dem Züchtigungsakte zusah, nicht schonen durfte. Der wunderliche, unter vier Augen liebevolle Direktor Zimmermann wurde gefürchtet, wie die Mäuse die Katze fürchten. Das hinderte nicht, dem immer wie zum Empfang von Besuch gekleideten, mit einem sauber ausgelegten sogenannten »gebrannten« Jabot erscheinenden Schulmonarchen alle seine Schwächen abzulauschen. Der spöttsüchtigen Jugend entging nicht des Direktors ständige Zerstreutheit. Anekdoten liefen über ihn um. »Ich sehe viele, die – nicht da sind!« hatte er beim Überblick einer Klasse gerufen. Oder er redete wohl jemand mit der Frage an: »Schmidt, wie heißen Sie?«

Einem Lehrer der Mathesis, der es oft hervorhob, daß von den Griechen diese Wissenschaft die erste genannt worden wäre, einem Vertreter derselben festen Gesinnung, die seinen wackern Sohn, den parlamentszeitberühmten »Bürgermeister von Spandau« in eine mehr als zwölfjährige Verbannung führte, hätten sich, sollte man glauben, die mehr realistisch tätigen, in den untern Klassen wirkenden Kräfte vorzugsweise anschließen sollen. Dem schien aber nicht so. Selbst die Reallehrer, die Lehrer des Griechischen und Lateinischen ohnehin, gingen dem dirigierenden Sonderling aus dem Wege, ja es drang bis ans Ohr der Schüler die Kunde von einem Kriegszustand, der in der Lehrerwelt selbst waltete. Eine Verschwörung organisierte sich, vorzugsweise geleitet durch einen Gesangslehrer, der neben seinem Hauptamt, die Singübungen zu leiten, auch in anderen Fächern, Geschichte und im Deutschen, unterrichten wollte. Die Energie, welche dieser Professor anwandte, um aus uns allen hervorragende Opern- oder wenigstens Kirchensänger zu machen, war anerkennenswert. Der immer wie eben vom fröhlichen Mahle kommende Herr, ein Junggesell mit schon ergrautem Backenbart und Kopfhaar, Thüringer, gebürtig aus Bernburg, seine Vaterstadt in sächsischer Weise mit zwei harten B aussprechend, gehörte zu den Teilnehmern der damals durch Zelter, Rungenhagen, Reichardt schwunghaft betriebenen Liedertafeln, spielte eine hervorragende Rolle in der Freimaurerloge »Zu den drei Weltkugeln« und wußte im Leben der Anstalt den Chorgesang in einer Weise als obligatorisch geltend zu machen, wie nur die Kreisersatzkommissionen die allgemeine Wehrpflicht. Man wurde geprüft, nochmals geprüft, heute zugelassen, ein andermal zurückgestellt, wieder hervorgerufen – aller halben Jahre wie bei einer Rekrutenaushebung. Als Diskantist wurde auch ich aufgenommen und als Basso primo entlassen. Doch begnügte sich Professor X. nicht mit seinem Ruhm als Gesangslehrer, sondern machte es wie Liszt und Wagner, die auch ihren Taktierstock gern über die Köpfe ihrer Sänger und Instrumentisten hinweg über andere Lebensgruppen und Zustände hinausragen lassen. Unser Professor war ehrgeizig. Er gab sich das Ansehen, die Anstalt auf seinen Schultern zu tragen. Im Konferenzzimmer der Lehrer, auf den Korridoren und Treppen war er der lauteste. Und wie gering war seine Berechtigung, weiter als im Musiksaal vorlaut zu sein! Selbst die schwache Einsicht eines Untersekundaners durchschaute des Mannes hohles Wissen. Sein Geschichtsunterricht, der sofort aufhörte, wenn sich seine Zettel in den Notenblättern verloren hatten, Zettel, die nur Auszüge aus den Geschichtswerken von Rühs und Luden enthielten (welche Quellen er denn auch im letzten Drittel der Stunde ganz offen vorlas), war nur mit unserem eigenen Wissen zu vergleichen, wenn wir uns – die Jahreszahlen auf die Nägel der Finger geschrieben hatten.

Der Zeichenunterricht war in den Händen eines alten Professors K. Auch diese Reliquie aus den Zeiten der Nützlichkeitstheorie war ohne jeden idealen Aufschwung. Sowie der alte Graubart mit seiner großen Zeichenmappe und einem Kasten voll Zeichenmaterialien eintrat, verwandelte sich die Stunde in eine jener Schülerorgien, wo man die himmlische Geduld eines Lehrers bewundern muß. Jede Ordnung schien aufgelöst. Tollheit und Bosheit gingen durcheinander; denn von Gutmütigkeit ist bei den Ostentationen der Skandalsucht der Jugend nie die Rede. Der alte K. teilte abgegriffene, schmutzige Vorzeichnungen, Handzeichnungen, Kupferstiche, Nasen, Lippen, Augen in Aquatinta, Pferde, Hunde, alles durcheinander zum Kopieren aus und sprach dabei mit den Quartanern ihren vaterstädtischen Dialekt. Rief einer: »Ach der dumme Kuhstall! Den hab' ick ja schon zweemal gezeechnet!« so antwortete K.: »Junge, det ist 'ne Landschaft nach 'm Niederländer!« »Ach wat!« lautete die Replik, »so sieht's bei Moabit ooch aus!« Jeder zankte um das ihm bestimmte Blatt. »Zerreißt mir meine Zeechnungen nicht! Verdammte Bengels! Wer sich untersteht, hier in meine Mappe zu greifen!« »Ach, Herr K., geben Sie mir da den Kopp! Der ist schön!« »Junge, der ist vor dir zu schwer!« »Nee, ick werd'n schon fertig kriegen!« Von den Köpfen war ihm besonders einer von Wert, der Kopf des Mörders Heinrichs IV. von Frankreich, Ravaillacs. Regelmäßig empfahl er gerade diese Vorzeichnung. Dauerte ihm das Suchen der ihn umlagernden Quartaner nach Vorzeichnungen in seiner Mappe zu lange, so rief er: »Na, nimm doch Ravaillac!« Worauf er oft genug mit Indignation geantwortet bekam: »Herr Jeses! Ravaillakken hab' ick ja schon dreimal gezeechnet! Lassen Sie sich doch Ihren Ravaillac sauer kochen!« Die Möglichkeit, daß dieser alte Mann eine solche Behandlung aushielt, lag in seiner Gewinnsucht. In jenem Kasten mit Zeichenmaterialien fand sich alles, was die Schüler zur Zeichenstunde nötig und nicht von Sarre am Werderschen Markte mitgebracht hatten, Papier, Lineale, Bleistifte, Reißfedern, schwarze Kreide usw. Da gab es ein Feilschen und Schachern. »Ne, Sie sind mal wieder teuer!« »Ick habe nur en Zweegroschenstück bei mir, Herr Professor!« So ging es durcheinander. Als der Alte endlich pensioniert wurde, kam ein jugendlicher Ersatz. Dieser brachte eine Mappe voll sauberer kleiner Landschaften, erste Proben der damals neuen Lithographie. Es war der Vater Eduard Tempelteys in Koburg. Die Eleganz und Würde des neuen Lehrers brachte die böse Rotte zum Schweigen.

Zum höheren Schulamtskandidatenexamen gehört eine in einer Gymnasialklasse vor den Schulräten abzuhaltende »Probelektion«, hierauf nach erlangtem Zeugnis der Anstellungsfähigkeit als Lehrer ein sogenanntes »Probejahr«, die unentgeltliche Lehrhilfe an irgendeinem zu wählenden oder zugewiesen bekommenen Gymnasium. So gab es denn zu gewissen Zeiten eine stete Abwechslung unter den Dozenten, von denen die Mehrzahl schüchtern und überhöflich, einige determiniert oder gar maliziös auftraten. Jeden suchte der Übermut und die nicht ruhende Spottsucht der Flegeljahre zu Falle zu bringen. Es mußten schon ganz außergewöhnliche Erscheinungen sein, die uns imponierten und still und gläubig machten. Der Versuch zum »Austrommeln« war immer rege. Wir hatten zwei Franzosen als Lehrer ihrer Sprache, einen Vollblutfranzosen, ehemaligen Offizier der »großen Armee« – nach dem Brande von Moskau in Berlin geblieben –, und den vollsten Gegensatz dieses schöngewachsenen, formengewandten, aber vom frühen Morgen an schon eine Atmosphäre von Kognak verbreitenden Militärs, den reformierten Prediger N. N., ein verhutzeltes Männlein, kaum vier Fuß hoch, unschön bis zum Exzeß. Warum der Schülerwitz diesen verkörperten Begriff der Theologie von Genf und Lausanne, diesen Boileauschen Rigoristen in Sachen der Poesie, diesen Schwärmer für Bossuet und Fénelon – »Fisel« nannte, ist mir unerfindlich geblieben. »Fusel« hätte der andre, der »Colonel« ** heißen können, der zuweilen in seinem gebrochenen Deutsch – nicht mit einem stentorischen, sondern weichlich singenden, durchaus unmännlichen Tone ausrief: »Ich habe ein Regiment kommandiert und sollte euch nicht zur Räson bringen?«

In milderer Art gab sich von seiten unsres verwilderten Schülerstaates die Ironie, die eines schon bis Prima reichenden Lehrers gesamte Tätigkeit begleitete, des Inspektors ***. Schlesier von Geburt, hatte der ärmste, im Antlitz von den Blattern zerrissene Mann sein schlesisches Gemüt, nicht aber die schlesische stramme Tatkraft in die Mark mitgebracht. Sein Wissen galt für außerordentlich, seine Lehrgabe war gering. Die Gewohnheit der Lehrer, sich die Exerzitienhefte von einem der Schüler nach Hause bringen zu lassen, hatte Einblicke in die Häuslichkeit unserer Mentoren geboten. Wie schnell orientiert sich ein schlaues Knabenauge trotz seines schüchternen Klingelns und Klopfens! Der Inspektor war unverheiratet, wohnte bei einem Schlossermeister, der eine hübsche Frau und vier Kinder hatte. Sogleich wollte das nun schon des Lebens kundiger gewordene Schülerauge gesehen haben, daß die Physiognomie sämtlicher Kinder des Schlossers mit der des Inspektors die nämliche war. Die erwiesenere Schwäche des Lehrers war die Neigung zum Privatgespräch während der Stunde. Man umstand seinen Katheder und forschte ihn nach seinen Ansichten über Griechenlands Wiedergeburt aus. Die olynthischen Reden des Demosthenes sollten übersetzt werden, und wir ließen uns in die Stellung der Schiffe in der Schlacht von Navarin ein. Wir erhoben künstliche Zweifel über die Stellung des türkischen Admiralschiffes, spielten satirische »Ach nein! Nein! Die Engländer standen ja hier!« als Trumpf aus und zeichneten auf der Platte des vor dem Katheder stehenden Tisches die Stellung der Schiffe, alles nur, um die Sorglosigkeit des gutherzigen Inspektors, der auf jede Bemerkung einging, zum Skandal auszubeuten. Der Höhepunkt der Verkürzung der Lehrstunde auf manchmal kaum zwanzig Minuten wurde vollends erreicht, als die lebhafte, mit einer sprudelnden, heisern und unverständlichen Redeweise ausgestattete Phantasie unseres Erklärers des Sallust und Demosthenes auf den Gedanken geraten war, daß die Römer ursprünglich Germanen gewesen und sich die lateinische Sprache vollkommen aus den Grundformen der gotischen und des Sanskrit herleiten lassen könnte. Einem Programm über diesen Gegenstand folgte bald eine ausführliche Schrift, die bei Korn in Breslau erschien: »Der germanische Ursprung des römischen Volkes und der lateinischen Sprache.« Jetzt waren alle Schleusen geöffnet. Wir umstanden den Katheder, wir bewunderten sein Buch, das wir uns anschafften, wir jagten nach Etymologien, fragten nach Vermittelungen, wenn denn doch die Gegensätze für die nächsten Bedürfnisse: »Brot« und »panis«, »Pflug« und »aratrum« zu schroff waren. Die olynthischen Reden des Demosthenes gerieten fast in Vergessenheit.

Draußen in der deutschen Welt wehte damals eine herbstlich rauhe Luft. Die Hoffnungen der Befreiungskriege, die Blütenkränze, die einst um die Denkmäler unserer großen Siege gewunden wurden, hingen verwelkt. Die Karlsbader Beschlüsse hatten den Anfang gemacht zu einer immer enger und enger die natürlichen Atmungswerkzeuge einer Nation zusammenschnürenden Bevormundung. Die wissenschaftliche Forschung, die Hebung der Universitäten, die Notwendigkeit, die den Franzosen wieder abgenommenen Lande am Rhein geistiger an uns zu fesseln, alles das bedingte zwar Schöpfungen im Dienste der Intelligenz, Schulen, Berufungen berühmter Namen – die Periode Altenstein verleugnete nicht die Verehrung von Kunst und Wissenschaft, die an allerhöchst maßgebender Stelle fehlte –, aber die Weisungen aus dem Polizei- und auswärtigen Ministerium wurden immer dringender, unduldsamer und ablehnend. Zuletzt wurde das gute Verhalten in politischer und kirchlicher Hinsicht bei Belohnungen und Bevorzugungen maßgebender als das Verdienst.

Wir Scholaren glaubten, daß die plötzliche Entfernung unseres gefürchteten Rohrstockschwingers, des Rektors, eine Folge seines Alters war. In Wahrheit hatte die Pensionierung desselben ihren Grund in einer Verschwörung, die der edle Freimaurer hauptsächlich geleitet hatte, ein Theologe gesellte sich ihm zu und der Sohn eines Theologen. Die Denunziation ging auf die Religionsgesinnung, die bei Zimmermann dem Geiste derjenigen Partie der sich immer mehr lichtenden Schülerbibliothek entsprach, die noch mit Gedike, Biester und Nicolai ging. Der strenge Lehrer der Mathesis war ein Schüler Kants. Waren ihm Äußerungen über den Religionsunterricht entschlüpft, hatte er ihn in den untern Klassen ab und zu selbst gegeben, genug, das immer mehr von oben her sich steigernde Drängen nach Kirchlichkeit war schon so erstarkt, daß einer der Angeber, der zugleich in einer der nächsten Stadtkirchen predigte, provisorisch in des Angeschuldigten Stelle einrückte und bis auf weiteres der Leiter der Anstalt wurde.

Dieser Professor und Prediger N. N. gehörte zu denjenigen unserer Lehrergestalten, die das Unglaubliche leisteten, zugleich, um gefürchtet und auf der andern Seite ein Gegenstand der Jugendsucht zu sein, alles lächerlich zu finden. Die mit einem markanten, fast südlich zu nennenden Kopf ausgestattete Gestalt war nicht verwachsen, hielt sich aber mit emporgehobener linker Schulter und niedergebeugtem, blitzende Strahlen aus den schwarz umrandeten Augen entsendenden Haupte in manchen Augenblicken wie ein Äsop und erhob sich dann wieder strafend wie Moses der Prophet. Ein Schauspieler würde etwa Richard III. so spielen können, wie dieser Professor über die große Treppe und in einem neuen Lokal, in welches später die Anstalt übersiedelte, über den Hof bald hüpfte und trippelte, bald drohend und wuchtig auftrat. Die Sprechweise des uns unheimlichen Mannes war die lauteste, immer wie auf Echo berechnet, dabei singend im Ton und zuweilen fast mit wirklicher Absicht, statt zu sprechen, zu singen. Die Töne gingen dann wie im chromatischen Lauf die Skala durch. Das Liebliche erhielt die hohen, das Ernste die tiefen Noten. Ihm bewußt mußte diese Weise sein, denn zuweilen fiel der Sonderling plötzlich aus der Rolle und sprach mit vollkommener Natürlichkeit. Vom Herzen dieses Lehrers mochten die Schüler wenig Beweise haben. Aber sein Verstand war unstreitig ebenso groß wie seine Unwissenheit. Bitter war sein Spott. Aus seinem scheuen, unheimlichen Auge, das niemandem standhielt, zuckte es irrlichterhaft unter den schwarzen Wimpern, wenn er einmal ein Urteil über allgemeine, weltliche oder geistliche Dinge fällte. Unvergeßlich ist mir ein mit Dringlichkeit und im Tone schmerzbewegter Mahnung gesprochenes Wort aus seiner bessern Stimmung: »Lesen Sie, ich beschwöre Sie, die Dichter in Ihren jetzigen jungen Jahren! Im Alter verliert sich dafür die Empfänglichkeit!« Eine Mahnung, die mich in die größte Unruhe versetzte und augenblicklich bestimmte, zum Kaufmann Nätebus in der Friedrichsstraße zu laufen und auf »Shakespeare, übersetzt von Meyer« zu subskribieren. Mit diesem Meyer, dem Begründer des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen, wollte damals der gesamte Berliner Buchhandel seiner »Miniaturbibliotbek der deutschen Klassiker« wegen nichts zu tun haben, so daß der anschlägige Kopf, dessen Etablissement eine so großartige Zukunft haben sollte, sich eines Kolonialwarenhändlers, des Kaufmanns Nätebus in der Friedrichsstraße, zum Vertreiben seiner Artikel bediente. Dieser Lehrer erklärte uns die Iliade. Er hatte ständig Vossens Übersetzung zur Seite und geriet infolgedessen noch mehr in jenen singenden Schwung der Rede, der ihn sogar in gewöhnlicher Rede hexametrisch sprechen und einen Schüler mit einem Distichon anreden ließ:

»Geiseler, merken Sie auf, man wird es Ihnen beweisen,
Wär' der Beweis schon geführt, längst schon wären Sie fort!«

Die Beantwortung einer Frage durch die Schüler verstand der Unwissende so lange hinzuhalten, bis er sich in den Noten seiner Ausgabe oder im Wörterverzeichnis orientiert hatte. Der Bruder Freimaurer K. las Rühs und Luden zumeist verstohlen ab, der neue Direktor ganz offen. Deutsche Literatur lehrte er nicht nach, sondern aus Franz Horn. Ganze Kapitel brachte er einfach zum Vortrag aus den bekannten Büchern des damals noch in Berlin für Goethe, Schiller und die klassische Zeit in den Zeitschriften und kleinen Teeabenden den Ton angebenden schönseligen Kritikers. »Schöner, geistreicher, treffender kann man diese Periode der Literaturgeschichte, den Göttinger Dichterbund, nicht erzählen, als unser Meister Franz Horn getan hat. Hören Sie!« Eines Tages war der Vortrag bis zu Wieland gekommen. Wie groß war unser Erstaunen, als wir kaum den wie gesungen vorgetragenen Namen Wieland vernommen hatten und hören mußten: »Dieser Dichter hat in solchem Grade Sitte, Anstand und Religion mit Füßen getreten, daß er für uns nicht existiert. Er wird hiermit überschlagen. Franz Horn hat es auch getan.« Das Nonplusultra von Vorträgen, die uns alle bis zu einem Niederkämpfen der Lachmuskeln, das krampfhaft zu werden drohte – denn wehe dem, der sein Lachen verraten hätte! – belustigte, war der Versuch, den die Begeisterung Altensteins und aller offiziellen Kreise für Hegels Philosophie in den Schulen mit Einführung einer Lehrstunde machte: »Philosophische Propädeutik.« Als provisorischer Direktor teilte sich der Professor diese bedeutungsvolle Lektion, die eine wahre Feierstunde des Gymnasiums hätte werden können und es unter seinem Nachfolger auch wurde, selbst zu. Wir wußten alle, daß uns von ihm Diktate aus »Matthias Propädeutik« gemacht wurden. Diese Diktate erläuterte dann die »philosophische Vorschule«. Ein Satz wie etwa der: »Die Logik ist die Anleitung zum Urteilen und Schlüsse zu ziehen –« wurde von diesem Lehrer, während sich auf jeder Bank die geweckteren Köpfe die Hand über die Oberlippe halten mußten zum Verbergen des Lachens, folgendermaßen erläutert: »Logik, λογικη, also griechisches Wort, die Logik ist, d. h. stellt vor oder auch ist die Anleitung, sagen wir die Wissenschaft oder auch je nachdem eine Kunst, ist also sagen wir die Anleitung, zu urteilen, d. h. Urteile zu fällen, auszusprechen und Schlüsse, Schlußfolgerungen, conclusiones latines, zu ziehen, d. h. herzuleiten, abzuleiten, kurz, logisch zu schließen und logisch zu denken.« Nun folgte sogleich § 2. In dieser Weise ging es die Stunde fort, bis endlich der dröhnende Schlag der Uhr im Hofe Erlösung von einem solchen Mißbrauch der Zeit brachte, einer solchen Täuschung des wahrhaft nach Geistesbefruchtung schmachtenden Jünglingsgemüts.

Das Provisorium hörte endlich auf. Die Neubesetzung des Direktorats führt die Erinnerung auf die Lichtseiten der Anstalt, die bei so vielem Schatten nicht fehlten.

 


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