Karl Gutzkow
Unter dem schwarzen Bären
Karl Gutzkow

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Abschluß

Es wurde nun mit der Zeit fast unmöglich, die Welt der Schule und des gesteigerten inneren Lebens mit der des Hauses, mit der Welt der täglichen Umgebungen, der herabziehenden Gewöhnlichkeit im Einklang zu erhalten. Die klassischen Ideale im Kopfe, die endlich gewonnene sichere Gewißheit, daß es eine Welt des Schönen, Hochherrlichen, über diesen gemeinen Erdenbedingungen Erhabenen gibt, an welcher die Sterblichen hienieden mitzugenießen, für das Hereinragen derselben ins Erdenleben mitzuleiden und mitzuschaffen berufen sind – und dem dann gegenüber die immer anspruchsvollere, wilde, ja trotzige Durchkreuzung durch eine von Armut, Unwissenheit und fanatischem Wahn bedingte Lebensexistenz – es wurde zuletzt eine Qual, unerträglich, obschon – sie ertragen werden mußte. Sie hatte den immer mehr sich entwickelnden Bruch mit allem im damaligen Berlin Gegebenen im Gefolge.

Die Mittel fehlten, Berlin zu verlassen und etwa dem Beispiel mancher Kameraden zu folgen, die auf die Gymnasien kleinerer Städte gehen durften, wo sie eine beneidenswerte Freiheit gewannen. Konnten doch selbst die Hilfsquellen, die ein Fortwandern auf dem Wege zu dem noch hochliegenden Tempel Minervas ermöglichten, nur dadurch erworben werden, daß zu einigen Stiftungsvergünstigungen, deren Verleihung dem Gemüt des bald wieder mit dem ausgearteten Quartaner versöhnten Zimmermann zu danken war, sich die Erträgnisse einer schon zu lehren anfangenden Laufbahn gesellten.

»Stundengeben –«! Du inhaltschweres, Bilder der Mühe, der in die Ewigkeit hinein erneuerten Sisyphusarbeit weckendes Wort! Prüfungsreicher Kurrendedienst! In sommerlicher Nachmittagshitze die lange Friedrichsstraße von ihrem einen Ende bis ans andre keuchen, im Wintersturm, abends, wenn der Schnee alle Straßen unwegsam machte oder der Frost die Fenster der Häuser undurchsichtig, pünktlich an Ort und Stelle eintreffen, um einen faulen, hinter seinen Mitschülern zurückgebliebenen Untertertianer vorwärts zu bringen – gewiß zum »europäischen Sklavenleben« eine Vorstufe, wenn man die geringe Entgeltung hinzunimmt und die gewaltige Fülle von Pflichten, die sich der junge Lehrer aufbürdet, der doch noch selbst ein Schüler ist und seinen Vorgesetzten gegenüber in der Klasse seinen Mann zu stehen hat. Nach diesen Lektionen begannen erst die eigenen Arbeiten, Präparationen, Übersetzungen, Ausarbeitungen, und die mit gesteigertem Eifer betriebenen eigenen philologischen Studien.

Zum Glück gefällt sich der Rigorismus der Jugend in solchen Kraftproben. Noch ist man Anachoret in der Kunst des Abschließens und der Entbehrungen. Am Wintermorgen schon um sechs Uhr, erwärmt nur durch die nachhaltende Bettwärme, noch lange vor dem Frühstück schon in einer Kammer ohne Ofen hinter dem grünen Blechlampenschirm zu sitzen und Meierotto über Roms Sitten und Gebräuche zu exzerpieren, den alten Niewport über die Feste der Römer, die Gedichte der Sappho, die Fragmente des Alcäus zu übersetzen, das war ein selbstauferlegtes Martyrium, nie mit Klage und Mißmut erfüllend. Abends aber kam so manche Störung. Zum Lernen sollten sich sogar Musikübungen gesellen. Die Übungen im Flötenspiel – »unglückselige« Erinnerung – erschienen den Eltern wichtiger als die Lektüre von Raumers »Vorlesungen über die alte Geschichte«. Der Unterricht im Fingergriff und Mundansatz der Flöte war die Folge des sonderbaren Schauspiels, daß sich eine Zeitlang regelmäßig drei Bewerber um die Gunst der Schwester, Rivalen, die sich bitter haßten und auszustechen suchten, einfanden. Einer derselben, Militär mit silbernem Portepee, eine nicht gewöhnliche Natur, die es später bis zum Rechnungsrat beim Steuerwesen brachte, war zugleich musikalischer Dilettant. Der abendliche Unterricht im Flötenspiel, den er gab, machte ihn zum umgekehrten Pendant für Schillers Major Walter. Dieser nahm nur Flötenstunde, um seiner Liebe nahe zu sein, jener gab welche. Herb löste sich auch hier der Konflikt. Der Flötenspieler hatte Gelegenheit, wöchentlich zweimal zu kommen, und sein Schüler blies schon Berbiguier und Fürstenau mit ihm, aber die Schwester wählte einen andern. Bei ihrer Hochzeit wurde getanzt, ohne daß, wie auf der Hochzeit des Bruders geschehen, der Hauswirt auf die nächste Wache lief und Beistand gegen einen von ihm behaupteten Einbruch der Decke begehrte. Der Berliner ist, wie schon oben gesagt, von Natur nörgelnd und mißgünstig.

Beim Stundengeben eröffneten sich wieder allerlei interessante Fernsichten in die Verschiedenheiten der Existenzen. Mit unbefangenem, reinem Sinn wurde in eine wunderlich geartete Welt geblickt, wo die Nähe einer Fürstlichkeit waltete, des freilich schon verstorbenen Staatskanzlers Hardenberg. Bekannt ist des weichlichen und in allem die Signatur des 18. Jahrhunderts tragenden Staatsmannes zerrüttete Häuslichkeit. Hier geriet der junge Stundengeber in die Existenz eines der Schwiegersöhne des Fürsten. Es war ein Witwer, der sich fast im Geiste des Herrn Cleanth gab, nur daß die Veranlassungen zum Podagra, das im Leben des Herrn Legationsrates eine Hauptrolle spielte, bei Cleanth zurücktraten. Die Freimaurerei jedoch, das enge Zusammenhalten geheimnisvoll verbundener Brüder, dabei in Mittagsgesprächen, denen der Primaner nicht selten als à la fortune du pot Geladener anwohnen durfte, die ganze Zeit der Haugwitz in den Auffassungen der Politik, Friedrich Nicolais in Sachen der schönen Literatur und Kunst, das war die nämliche Welt wie auf dem Leipziger Platz. Nach Tisch vereinigten sich die maurerischen Freunde zum Quartettspiel. So lernte ich früh jene unverwüstlichen Haydn- und Mozartschwelger kennen, mit welchen im Bunde die Zelter und die Begründer der Liedertafeln, auch einige Orgelspieler in den Kirchen Berlins, in Tonsachen ein Regiment führten, das sich noch jetzt bei einem kleinen, doch kräftigen Häuflein regt, sooft es gilt, die Anmutungen unsrer musikalischen »Zukunft« abzuwehren. Einer der Hausfreunde war ein Original. In alten Tagen Militär, dann zum Zivilfach übergegangen, hatte er sich auf abstrakte Philosophie geworfen. Auf eigene Kosten ließ er mehr als ein Dutzend kleiner blaubroschierter Hefte drucken, in denen er nach Kantischen Prinzipien der damals in allen Köpfen rumorenden Hegelschen Philosophie eine andere Metaphysik, Logik, Anthropologie usw. gegenüberstellte. Schon wagte der Primaner mit dem immer freundlichen und sich wegen seiner kostspieligen Torheit zuweilen selbst ironisierenden Mann zu streiten. Wenn er dann seinen Gegner nicht zu überzeugen vermochte, so zog er wieder ein paar neue Hefte einer Onto- oder Teleologie aus der Tasche und empfahl sie zu gelegentlichem Studium. Der Sohn des wackern Mannes war der später bekannt gewordene Schulrat Bormann.

Ein Sohn des damals berühmten Kartographen Engelhardt war ebenfalls mein Schüler und lohnte mir, wie die Enkel Hardenbergs, nicht nur durch treue Folgsamkeit, sondern auch durch den Zauber weiblicher Nachbarschaft beim Dozieren. Holde Schwestern, in der Leipziger Straße (jetzt »Leipziger Garten«) eine braune, in der Friedrichsstraße (jetzt »Konzertgarten« – allerwärts verwandelt sich Berlin in Wirtshäuser!) eine hochblonde, kredenzten Früchte, Wein, Kaffee. Schon zitterte die Hand, die dargereichte Tasse zu empfangen, die Wange glühte. Der Anrede folgte mit Verlegenheit die Antwort. Nach dem Verschwinden der ach! so flüchtig gewesenen Erscheinungen wurde erst die Toilette geordnet. Xenophons Rückzug der 10 000 Griechen, der eben traktiert wurde, konnte als Sinnbild dienen für den schwierigen Rückzug des siebzehnjährigen Lehrers selbst in die wirkliche Welt. Die Russen sollen ein Wort für die ersten Liebesschauer der Jugend haben, Sasnoba. Gewiß ist damit beim Anblick seiner Schönen Gesichtskrampf, Stocken der Redewerkzeuge und das Gefühl urplötzlicher Verdummung verbunden. Schneide doch nicht so schreckliche Gesichter! hatte die Hofratstochter von früher, die halb und halb vergessene, gesagt, als ich eines Tages einen Rückfall in Sasnoba bekam, weil ich sie auf der Hochzeit der Schwester mit entblößten Armen erscheinen sah. Bei jenem Hardenbergschwiegersohn trat unter unbestimmter Angabe ihrer Familienstellung eine junge Dame nicht nur von blendender Schönheit auf, sondern auch in einem Kostüm, wie dem Jüngling dergleichen nur vom Theater her bekannt war. Das langflutende Kleid war gelber Atlas, Rot und Schwarz bildete den Besatz, das in Locken frisierte schwarze Haar war mit Perlen geschmückt, die Ohrringe blitzten. Aus einem Garten unter ein Rebendach schlüpfend (die Jetztzeit hat diese Gärten eingerissen bis auf einige Bäume, um den Biertrinkern noch einigen Schatten zu lassen), einen Korb voll Äpfel, Birnen und Trauben unter dem halbnackten bräunlichen Arm erschien mir die ausnehmend wohlwollende Dame, die nur zu bald im Hause wieder verschwand wie eine vom Fest des Dionysos verirrte Bacchantin.

Die Liebesflammen der Schulbank erlöschen glücklicherweise nur zu bald. Amor und Passows Griechisches Lexikon reimen sich nicht zusammen. Und doch wurden die Intervalle vom Erlöschen einer Flamme zum Entzünden einer andern immer länger, die Triebe demnach stärker, nachhaltiger. An Erhörung war nirgends zu denken. Vor der »Einsegnung« trug die Hofratstochter kein Bedenken, ihre Auszeichnungen, ihre Neckereien fortzusetzen. Aber vom Konfirmandenfrack an trat Reserve ein und sogar Grobheit auf die Kundgebungen des Sasnoba. Eine sehr unglückliche Liebeswahl traf eine blasse schlanke Morgenbegleiterin beim Schulbesuch, die regelmäßig um denselben Glockenschlag irgendwo aus einem der Häuser der Mohrenstraße schlüpfte, sofort vor den stechenden Augen des Sekundaners die andre Seite der Straße suchte, mittags aber doch auf dem Heimwege wieder dieselbe Parallele mit ihm machen mußte. Ihr jedesmaliges Erröten beim Begegnen war ohne Zweifel Indignation. Der ganze Himmel auf Erden, den ein Sekundaner in seiner Brust zum Angebot auf Lager hält, blieb unabgegeben. Eines Tages ließ sich die blasse Spröde »unter den Palmen nicht mehr sehen«.

Ja, unter den Palmen! Im damaligen »Schulgarten«, dem jetzigen Dreistraßendreieck (Lenne-, Bellevue-, Königgrätzer Straße), grünten zwar keine Palmen, aber Holunderbüsche, Akazien und Äpfelbäume. Militärische Konzerte führten fast immer dieselben Familien mit ihren Angehörigen an dieselben Kaffeetische. Man machte hier Bekanntschaften durch einen Fehltritt auf ein fremdes Hühnerauge und die Bitte um Entschuldigung oder durch die wacklige Lehne eines Stuhls, für welchen man sich einen weniger defekten und »vielleicht vakanten« vom Nachbartisch ausbat. Hier war es sogar eine Jüdin aus der Spandauer Straße geworden, die jene ganze verzehrende Kraft des Mondes zu besitzen schien, die Attraktion, die einen abends ohnehin präparationsmüden Primaner rein zum leblosen Schatten machte. Es waren doch etwa sechzig Kaffeetische zugegen, und überall saß jugendlicher Nachwuchs, und gerade diese sechzehnjährige schlanke Brünette aus der Spandauer Straße mußte es sein, diese unter Onkeln und Tanten mit dem Bewußtsein, als die erste im Aufgehen begriffene Blüte ihres Familienstammes zu gelten, diese prangende blaßrote Rose, der schon bis zur Kurfürstenbrücke entgegengegangen und nach stummem Gruß ein toggenburgartiges Geleit bis zum »Schulgarten« gegeben wurde! Ach, wohl sah das Auge, himmeltrunken, die abendliche Heimbegleitung der Familie aus dem Konzert durch eine Kohorte von Referendaren, Auskultatoren, Assessoren und Leutnants. Aber hatte man denn nicht schon Fälle erlebt von Brautständen, die zehn Jahre gedauert? War nicht jede Kandidatenbraut selbstredend auf sieben gefaßt? Die gesunde Vernunft schwand dahin vor diesem schlanken Wuchs, diesen schönen Augen, dieser sich bald spöttisch, bald im englischen languish ergehenden Koketterie. Verse und die damalige Neuerung der Stadtpost wurden gewagt, Verse, die von einem Tal sangen und von einem einsamen Wandrer darin und von einem Murmelquell, der des Wandrers Geständnis hörte und davon dem Monde Mitteilung machte, aber unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Diese Verse wurden erneuert, bis ein an die Schwester des leichterratenen Dichters gelangter Entrüstungsschrei der Mutter, der sich in die Form einer ästhetischen Kritik kleidete, dem Schwindel des an jedem Dienstag und Freitag, wo die Sommerkonzerte im »Schulgarten« stattfanden, unzurechnungsfähigen Primaners ein jähes Ende bereitete. Eine Dusche auf die erste schriftstellerische Eitelkeit verfehlte ihre Wirkung nicht.

Aus diesen Träumereien für Idole, mit denen niemals auch nur eine Silbe gewechselt wurde, weckte immer noch die strenge Schulordnung und das Übermaß häuslicher Arbeiten und die Revolution, die jedes neugelesene tiefer gehende Buch hervorbrachte. Besonders erkräftigend war der Stolz, der im Staat und den Zuständen ringsum nur die Gegenstände burschenschaftlich vorgeschriebener Verachtung sah. Hatte schon die Hinrichtung Ludwig Sands den Grund zu einer Lebensanschauung gelegt, die mit wohlgemuter Ergebung auf eine Laufbahn der Märtyrerschaft hinausgehen wollte, hatte der Knabe in seiner Kammer – wie oft! – die Situation nachgeahmt, sich auf einen Stuhl zu setzen, den Hals zu entblößen und den tödlichen Streich gerade wie auf dem Wiesenrain bei Mannheim zu empfangen, so wurden, wie wohl auch junge katholische Kleriker im Seminar mit Versen, Exaltationen, Nachahmungen der Märtyrerleiden ihre Laufbahn zu beginnen pflegen, durch die glühendste Freundschaft für jenen Hermann Böttcher und einige Gleichgestimmte (mit denen die »korrekten« Gemüter der Beamten-, reichen Kaufmanns- und Bürgersöhne in diametralem Gegensatz standen) die Wirrsale des Kopfes immer heißer und bedenklicher. Der einzige Dämpfer, der die Anschauungen nicht über das Maß gehen ließ, war die Rücksicht auf die Eltern. Und hier entschied mehr die Pietät als die Furcht. Das Unvermögen ihrer Bildung, sich zu den Gesichtspunkten des Sohnes, der ihrer Sphäre immer mehr entrückte, aufzuschwingen, entwaffnete diesen, rührte ihn. Manche Unterwerfung kam nach stürmischen Szenen mit dem schmerzlich nachgesprochenen Worte: »Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!«

Der Leseeifer ging vorzugsweise auf das Romantische. Nicht etwa auf Romane; seit Walter Scotts farbenreichen Gemälden sprach nichts mehr an. Die Periode Cooper-Irving, der sich wiederum einige Mitschüler unter den Klassenpulten während der Stunde mit Leidenschaft hingaben, ging an dem Erzähler vorüber, wie fast alles, was in gleicher Art die Abendzeitungsnovellisten schrieben, van der Velde, Tromlitz, Wachsmann u. a. Selbst Tiecks Novellen standen noch zurück gegen dessen »Octavian«, »Blaubart«, »Gestiefelten Kater«. Achim von Arnim wurde in allem, was an ihm faustisch, mittelalterlich, abstrus polemisch war, insoweit genossen, als wenigstens einiger Sinn und Verstand aus seiner forcierten Weise heraus zu erkennen war. Und E. T. A. Hoffmann, der Matador des Tages, der Gefeierte bei allen Hofräten, allen Stammgästen bei Sala Tarone, war dem Jüngling zu mitternächtlich blasiert. Nur das »Fräulein von Scudery« fesselte durch Grauen. Jean Pauls Charaktere waren es, denen die ganze Hingebung eines gläubigen, noch unkritischen Gemüts gehörte, ein Lesen voll Liebe und Bewunderung. An Jean Paul war so wohltuend, daß der Umgang mit ihm auch die Verbindung mit jener vornehm geistigen Welt erhielt, in der sich der erste wissenschaftliche Eifer der Jugend und so hochmütig bewegt. Jean Paul war gelehrt; er vergaß nie über seinen Helden, und wenn sie den untersten Lebensstufen angehörten, die Quellen seiner eigenen Bildung. Bald gibt er ein Zitat aus den Alten, bald eine Vergleichung mit einem kürzlich erst entdeckten Vorkommnis des chemischen Laboratoriums. Dann wieder bringt er nichtsdestoweniger wieder das der Jugend so wohlbekannte Platteste aus der Werkstatt des Schusters und Schneiders, des Schmieds und des Schlossers und bringt es in eine Beziehung zu den Äonen der Geisterwelt. Den Jugendsinn reizt nichts so sehr als der Kontrast. Er wird immer lachen über die Unterbrechung alles Steifen, Feierlichen und Eingelernten durch die Bedingungen der Natur. Jean Paul wies auf Herder hin, und auch dessen Werke wurden erworben, zum Buchbinder gegeben und wenigstens teilweise von der Verklebung des Blätterschnittes durch Lektüre befreit, schon um Fühlung mit der Theologie zu behalten. Denn die Theologie sollte und mußte es werden. Ein geringes Stipendium stand (unter der »Gerichtslaube« des Rathauses, wo sich die Kasse der Stiftungen befand) in Aussicht, aber nur für einen Theologen.

Der regelmäßig eingehaltene Sonnabendnachmittag bei Giovanoly, die dann frisch und neu angekommenen, mit unsrer gegenwärtigen Zeit verglichen, so dürftigen, sämtlich streng zensurierten Morgen-, Mittag-, Abend- und Mitternachtszeitungen brachten die laufende Chronik der zeitgenössischen Belletristik, Berichte über Schauspieler und neue Stücke, Kritiken und Antikritiken, Korrespondenzen. Der Wert der Leistungen ging weit auseinander. Von Altenburg, das den Ruhm genoß, die einzige Stadt zu sein, wo die Zensur milde geübt wurde, kamen Zeitbetrachtungen; von Leipzig verbreitete sich die dilettantische Novellenschreiberei und bei literarischen Klopffechtereien eine banausische Sprache. Die Frauennamen fingen an, eine Rolle zu spielen. Anfangs mehr in der Lyrik als im Roman. Wien vertrat ganz nur die Interessen der Bühne. Alledem, verflachend, wie es wirkte, hielt den Widerpart teils die schwäbische Lyrik, teils die im Norden immer mehr aufkommende literargeschichtliche Philologie, wie man die nicht endenden Rückblicke auf Weimar und die Dichterheroen (die hinterlassenen »Briefwechsel« fingen an, eine Rolle zu spielen) nennen möchte. Zwischendurch ertönten schon immer mehr die Zerrissenheitsakkorde, Spuren der ersten Einwirkung Lord Byrons auch auf Deutschland. Wer sich wie der Erzähler in Ludwig Uhland vertiefen, diesen geliebten Sänger der Naturschönheit und der Ritterzeit in den Park von »Bellevue« mitnehmen, ihn dort auf einer Bank oder am »Schaafgraben« auf einem Rasenfleck mit romantischer Schwelgerei genießen konnte, war unfähig, an Heinrich Heine Gefallen zu finden. Die »Reisebilder«, so manche Heinesche Mitteilung im »Gesellschafter« widerstanden. Die Empfindung, die in dem einen seiner mir viel zu »loddrig« gearbeiteten Gedichte herrschte (der Philologe hielt auf Reim und Rhythmus), wurde im andern wieder aufgehoben, ja oft am Schluß der Gedichte selbst schon. Die französelnde Spitze mit »Madame« und ähnlich erschien dem jungen Kritiker albern, nur für Commis voyageurs berechnet, denen er überließ, darüber zu lachen. Dazu wurde die ganze Haltung des Heineschen Liedes von ihm für ein Plagiat erklärt. Des »Knaben Wunderhorn« war eines der Bücher, die sich auf unsrer defekten Bibliothek aus der Bernhardizeit des Gymnasiums erhalten hatten. Darin standen ja alle diese Rosen und Lilien und blitzten alle diese Tautropfen und waren auch all diese Balladenwendungen zu lesen: »In Straßburg auf der Schanz« – und auch sonst schien das Gehabe und Getue vom Tannhäuser und von der Frau Minne usw. nur erborgt . . . Noch drei Jahre später nannte ich seine Blumen in einer meiner ersten Kritiken gemachte und sprach von Taft, aus dem sie gefertigt, und von Odeur, den sie verbreiteten aus darauf getröpfelten Essenzen. Im wesentlichen ist das meine Meinung immer geblieben, ungeachtet der Kompositionen von Schumann und Mendelssohn, deren Schönheit dem Dichter zugute gekommen. Ich zog mir freilich damit den Haß und die Verfolgung des Mannes bis an sein Ende, ja noch bis über sein Grab hinaus zu. Denn die Herren Herausgeber seines Nachlasses nahmen keinen Anstand, nur um Bücher zu machen, all die Unflätereien drucken zu lassen, die sich Heine zu gelegentlicher Einschaltung in seine Schriften notiert hatte.

Das »Morgenblatt« wurde damals in seinem poetischen Teil von dem Professor Gustav Schwab, in seinem kritischen von Dr. Wolfgang Menzel redigiert. An das letztere, dies Bekenntnis bin ich schuldig, schloß alles, was in mir nach Licht und Gestaltung rang, wie mit organischer Notwendigkeit und Zugehörigkeit an. Der Redakteur des »Tübinger« Literaturblattes, wie es genannt wurde, hatte zwar Gegner, wo man hinblickte; die von ihm Getadelten rächten sich in Prosa und Versen; die bekannte Polemik Menzels gegen Goethe, die auf einigen weiter von ihm ausgeführten Sätzen des vom Erzähler schon leidenschaftlich geliebten, oft laut rezitierten Novalis beruhte, hatte ihn vorzugsweise verhaßt gemacht in Berlin, wo gerade damals auf Zelters Betrieb der Goethekultus (halb dem großen Genius, halb dem Minister geltend) in vollster Blüte stand; aber ich stand unentwegt zu dem damals patriotisch, deutsch und natürlich urteilenden Manne.

Ratlos noch über die Wahl, die in jenem Konflikt gegen oder für den Dichter des »Faust«, »Götz«, »Egmont«, »Werther« getroffen werden sollte, hielt sich der junge Literaturadept an die wenigstens für ihn bezaubernde Wirkung der W. Menzelschen Begründung seines kritisch-literarischen Urteils durch die Interessen der Nation im großen und ganzen. Deutschlands tiefster Verfall im 18. Jahrhundert, die Wiedergeburt des Vaterlandes zunächst durch die Belebung unserer geistigen Spannkraft, aber auch da noch selbst in dem Leben der Heroen der idealen Revolution, die wir durchmachten, so vielfach vorkommende Charakterlosigkeit in politischen Dingen, Kriecherei und Schmeichelei gegen Große, alles das hat W. Menzel meisterhaft geschildert. Er zeigte, wie trotz all unsrer Philosophie und Poesie das Reich in Stücke ging und die Trümmer zum Spielball der Brutalität des Korsen wurden. Er schilderte die Keime neuer Hoffnungen, die Gedanken des Tugendbundes, wie sie genährt und verbreitet wurden während des Drucks, die Taten Steins, die Aufrufe Jahns, Arndts, Görres' an ein neues Geschlecht von antiker Bürgertugend und spartanischer Sittenstrenge, den Kampf um die Erhaltung dessen, was aus dem Zusammensturz des Alten noch mit den Erkennungszeichen ehemaliger schönerer Bewährung zu retten war, die Enthüllungen und Neuverklärungen altgermanischer Gedanken und Institutionen, ohne darüber den Rechten der Gegenwart, selbst der Ironie, dem Witze, sogar dem vollsten Gepräge des Modernen, dem Wohlgefallen am Esprit selbst eines Voltaire etwas zu vergeben. Das war die damalige eigentümliche Anschauung Wolfgang Menzels, die in jener dumpfen Zeit ihre vollkommene Würdigung nur in dem politisch vorgeschritteneren Süddeutschland fand. In einem eigenen Buche »Die deutsche Literatur« (erschienen bei den Gebrüdern Franckh in Stuttgart, die damals die gesamte deutsche Buchhändlerwelt mit ihren Verlagsunternehmungen überraschten) wurde der Status quo des geistigen Schaffens der Deutschen, von der Lyrik an bis in die Naturwissenschaften, mit schlagendem Witz und dem vielseitigsten Wissen festgestellt. Erst spätere Einsicht entdeckte Lücken und Irrtümer, wie sie sich aus dem leichten desultorischen Gange der Behandlung doch nicht entschuldigen ließen. Doch der erste Eindruck war für ein Jugendgemüt überwältigend. Für jede Form der Dichtkunst, für jede Disziplin der Wissenschaft suchte Menzel die Verbindung mit den teuersten Gütern der Nation herzustellen, mit dem verlorenen und zurückzuerobernden Palladium der Nationalgröße, mit ständischer Freiheit, mit öffentlicher Jugenderziehung, mit Reform nach allen Seiten hin. Das blendende Buch wurde von dem Siebzehnjährigen sofort käuflich erworben und verschlungen.

Die »korrekte Denkerschaft« der Schulkameraden steuerte nur dem Examen zu. Selbst der geniale Hermann Böttcher hatte keinen andern Mitteilungsdrang und keine andre Empfänglichkeit für Poesie, als wenn ihm diese entgegentrat aus den patriotischen Liedern des neuen Leipziger Kommersbuches, Vossens »Luise«, Kosegartens »Jucunde«. Tiedges »Urania«, Schulzes »Bezauberte Rose« wurden genannt, Werke, die für mich schon Menzels Negation, wie die Kritiker zu tun pflegen, in ein eigenes Schubfach gelegt und »abgetan« hatte. Der Versuch, eine sich wöchentlich einmal versammelnde Gesellschaft zu gründen und aus den »Verhandlungen« derselben eine (geschriebene) Zeitschrift hervortreten zu lassen, gelang für einige Zeit. Die »Blätter für Poesie und Prosa« brachten es auf einige Nummern. Der darin am häufigsten aufgetretene Mitarbeiter war der Sohn des damals in voller Machtblüte stehenden Demagogenverfolgers von Kamptz.

Jünglingsfreundschaften sind gewiß ein erquickender Tau für eine Jugend, die zuletzt unter ihren Büchern und vollzuschreibenden Heften verschmachtet. Wie aber die stille Widerspiegelung gegebener Zustände überhaupt nicht die Art der Jugend ist, sondern ihr alles, was sie unternimmt und erlebt, einen Treffer, einen Zielpunkt haben muß, so verlangt auch jede Jugendfreundschaft eine Nahrung, ein besonderes Band des Interesses. Entweder kletten sich die jungen Herzen aneinander an zum Erproben ihrer Kraft, wo es dann zu Exzessen kommt, worüber die meisten Eltern die Jugendkameradschaften verwünschen – oder es muß eine gleiche Stimmung und Richtung im wissenschaftlichen Streben vorhanden sein, eine liebevolle gegenseitige Förderung und die Anerkennung des gegenseitig erkannten Wertes. Die letztere ist höchst selten. Der Neid, die Mißgunst stellen sich nur allzufrüh in Seelen ein, die aus ihren Familien oft in der Tat auch nichts als ein dumpfes, vegetativ-egoistisches Leben mitbringen. Kalt und gleichgültig trottet da das eine dünkelhafte, hoffnungsvolle Muttersöhnchen neben dem andern. Die große Stadt, die weiten Entfernungen, die verschiedenen Lebensweisen der Familien tun für die Isolierung noch das übrige.

Im ganzen hatte der demnächstige Abiturient über den Mangel an Beziehungen nicht zu klagen. Sein eignes Gefühl für Freundschaft ging bis zu Anwandlungen platonischer Leidenschaft. Ihm konnte geschehen, daß er auf den nackten Arm eines im heißen Sommer in Hemdärmeln mit ihm zugleich zu Hause übersetzenden Kommilitonen mit förmlichem Liebesschauer einen Kuß drückte. Aber volle Vertraute des Herzens und der keimenden exklusiveren Bildung gab es nicht. Abgesehen von dem politischen Schwärmen für Jahn, Sand, Herbst, Haupt mit einigen Gesinnungsverwandten, lagerte sich um den romantischen Träumer zuletzt völlige Einsamkeit. Bibliothekar des Gymnasiums geworden, hatte er nach und nach zum Lesen alles mitgenommen, was einen besonderen Reiz an sich zu tragen schien, sowohl aus der rationalistischen Zeit Nicolais, Reisebeschreibungen und die gesamte Berliner Monatsschrift Gedickes und Biesters, die treffliche belehrende Aufsätze enthielt, wie aus der romantischen Epoche alles, was noch nicht an die Antiquare der Königsstraße verhandelt war, z. B. sechs Bände »Studien« von Creuzer und Daub, eine Fundgrube für die Geschichte der wissenschaftlichen Forschung seit 1806. Die mythologische Frage, über welche der alte Voß und Creuzer in Streit gerieten, führte wieder auf Wolfgang Menzel zurück. Denn dieser hatte sich in diesen ganz Deutschland (schon des Krypto-Katholizismus wegen, den Voß in den Beschäftigungen mit Indiens Götterlehre sehen wollte) aufregenden Streit gemischt und war auf die Seite Creuzers getreten. Die jugendliche Hingebung faßte alles nach den Gesichtspunkten ihres Führers. Das Herz des Jünglings marktet und dingt nicht. Ist es für eine Frage, für einen Charakter einmal gewonnen, was kann die Liebe wankend machen! Mittelstraßen werden erst in späteren Jahren gefunden.

»Alles Wissen bläht auf.« Hochgemutet, wenn nicht hochmütig wurde die Stimmung, die sich einst bei einem abendlichen Spaziergange mit einem Kameraden, dem spätern Prediger Hache, Unter den Linden sich fast wie im Pharisäergeist an die Brust schlagend, mit dem gemeinen Mann ringsum in Vergleichung bringen und die unermeßliche Vornehmheit, Größe und schon auf Erden verbürgte Unsterblichkeit rühmen konnte, die eine musische Lebensbestimmung dem Menschen gäbe, der Umgang mit der Welt des Großen und Schönen! Glaubten wir nicht beide, wie unter den Säulen des Parthenon, auf der Akropolis zu Athen zu stehen! Wir waren den Menschen um uns her wahre Vollblutjunker des lateinischen und griechischen Selbstgefühls. Glücklicherweise ging der Hochmut auf Gutes und Schönes. Der Vetter Apokalyptiker mußte zuerst daran glauben. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Vetter!« hieß es, wenn sich dieser jeden Sonntag nach der Kirche zum bescheidenen Mittagsmahl des Hauses, dessen Regeln die alten blieben, einstellte, am Büchergestell des in einer Kammer hausenden Neffen eine Lektüre ausgesucht hatte und darin mit kritischem Kopfschütteln und jeweiligen Interjektionen bis zum »Gott sei Dank, der Tisch ist gedeckt!« sich vertiefte. Kant, Jacobi, Fichte und Schleiermacher liefen schon unter – die Bücherstände der Antiquare in den Straßen kannten den eifrigen Rückentitelleser und Käufer. Wurde der Vetter gefragt: »Nun, Vetter, wie steht's wieder?« Irrlehren! hieß es. Jedes Räsonnement, wo nicht sofort Christus ins Treffen rückte, schien ihm auf den Weg gefallen. Die liebste Lektüre blieb ihm die Beckersche Weltgeschichte, die Herr Cleanth nicht hatte mit nach Polen nehmen wollen.

Die alle Vierteljahre einmal anlangenden »Briefe aus Warschau« fielen in ein, nach den Außeneindrücken beurteilt, freudlos und völlig düster gewordenes Jugendleben wie Sonnenstrahlen in einen Regentag. Die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung mit dem fernen Freunde wurde nicht erfüllt, auch nicht mehr genährt. Die Familie wurde ostensibel russisch, im stillen polnisch.

Das Abiturientenexamen brachte das möglich beste Zeugnis, das gegeben werden konnte. Zum Programm der feierlichen Entlassung gehörte eine lateinische Rede über eine übliche Aktusphrase: Das Studium des Altertums in seinem wohltuenden Einfluß auf die Sitten. Wieviel Beispiele hätten dem pathetischen Redner entgegengehalten werden können vom absoluten Gegenteil, vom erbärmlichsten Charakter der größten Altertumsforscher! Nur allein der dem gefeierten Cicero fast gleichgeachtete Muretus, der Verherrlicher der Bartholomäusnacht, brauchte genannt zu werden und die vielen Schwächlinge, Abenteurer, Betrüger unter den späteren Humanisten! Aber die Suada floß, und die Perioden hatten ihr ciceronianisches esse videatur. Der Singchor unsres großen Freimaurer- und Liedertafelmeisters gab vor- und nachher Sätze, aus Cherubinis Requiem mit einer Präzision, an welcher der Engere Rat der Singakademie seine Freude gehabt haben würde. Auch einige Prämien wurden ausgeteilt. Schließlich trat die hagere Gestalt des Rektors auf und gab mit dem ihm eigenen hochliegenden Nasalton seiner Rede das Bukett des Frühlingsvormittags, wo schon draußen die an den Straßenecken ausgebotenen Veilchen dufteten und auf dem Gendarmenmarkt die Hyazinthentöpfe blühten. Der Sprecher gab Paränesen an die aus der Anstalt Scheidenden, Danksagungen an die hohen Behörden, sowohl an die der Stadt wie an die des Ministeriums, unter denen Johannes Schulze, Süvern, Nicolovius nicht fehlten.

»Frei ist der Bursch! Halle soll leben!« Ach, wie so gern hätte der junge Fuchs, der am Tage darauf seinen ersten Kommers feierte, den Vers des Rundgesanges wahrmachen mögen. Aber die Losung blieb Berlin, die Fortsetzung der Abhängigkeit von einer immer mehr gesteigerten Reizbarkeit des Hauses, die Fortsetzung jenes Wegwanderns, um lateinische und griechische Elemente zu lehren, deren immer präzise Beherrschung schon in den Hintergrund treten mußte im Gemüt des jungen Lehrers, der für den Zwiespalt seiner Stimmungen, die ihn halb zur schönen Literatur, halb zur Philologie zogen, vergebens nach Vermittlung rang. Vorläufig bot die alte Götterlehre und deren neuere wissenschaftliche Behandlung eine solche. Die Berliner philosophische Fakultät hatte eine Abhandlung über die Schicksalsgottheiten der Alten verlangt. Mit Eifer fiel der Neuling auf das nach allen Seiten hin anregende Thema, dem dann die erste akademische Sommerlust und die Wintermorgenstunden von 6–8, die Abendstunden von 9–12 geopfert wurden. In diesem Thema trafen beide Interessen, die im Gemüt lebten, der künftige Lehrberuf und die gesteigerte Leidenschaft für Dichten und Denken, wie in einem Brennpunkte zusammen. Die anregendsten Werke mußten studiert werden, Schlegels »Weisheit der Indier«, Windischmann, viele Ausläufer der Naturphilosophie. Mit Schelling war man immer wieder dem »Alarcos« und »Ion« und den Weimarer Klassikern nahe. Den Alten, Sophokles, Aeschylos, ohnehin. Das nächste war, des »unerbittlichen Schicksals« wegen, dem selbst die Götter sich zu beugen hatten, gleich den ganzen Homer mit der Feder in der Hand durchzulesen. Die Theologie schien zu kurz zu kommen. Aber der Mußtheologe belegte auch seine theologischen Kollegia. Überraschend war ihm, als ihm Schleiermacher seine Nummer für die »Einleitung ins Neue Testament« gab, die lange, brennende Tabakspfeife, fast so lang wie der kleine große Mann selbst, die er am Stehpult arbeitend rauchte. Ein näheres Fragen: Wer oder Woher? Wohin? Wie und wodurch? wurde nicht gestellt, nur die Nummer im Auditorium gegeben und der Termin angezeigt. Mehr gesprochen als: »Am 28. fange ich an!« hätte die Pfeife ausgehen lassen.

Woher und Wohin? Im Innern sah es chaotisch genug aus. Die Zeit war hochtheologisch. »Wissen und Glaube« – darüber drängte sich Buch auf Buch. Homer und die Parzen und Wolfgang Menzels Literaturblatt hinderten nicht, daß der theologische Noviz sich sogar auf die Kanzel schwang und predigte. Das geschah schon im Herbst 1829 im Dorfe Weißensee bei Berlin. Was an dieser Begebenheit komisch war – und dessen war genug –, findet sich in meinem Roman »Blasedow und seine Söhne«, Bd. I, Kapitel 8, wiedererzählt.

 


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