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Dem mit Blumen die morsche Zerbröckelung der Mauer verbergenden Fenster der Wohnung des Knaben, einem hohen, rundgewölbten, noch jetzt vorhandenen, gegenüber lagen stattliche Häuser. Da wohnten Bode, der Astronom, Osann, der Mediziner, Hufelands Schwiegersohn, Hufeland selbst, der Leibarzt des Königs, neben ihm der Generalstabsarzt der Armee, ein wohlwollender Herr, Dr. Göhrke (der den Knaben in seinen Zimmern duldete, falls sich dieser die über einer großen befestigten Schuhbürste geschriebene Weisung am Eingang des Hauses »Merks« gründlichst gemerkt hatte), und des Königs Zahnarzt Lautenschläger. Alle diese gelehrten Asklepiaden besaßen Gärten. Göhrke, in dem Hause, das jetzt eine Königliche Hebammenschule und Entbindungsanstalt geworden ist, besaß nur einen bescheidenen, der lediglich seinem Bedienten genügen konnte, von welchem sich der in dem Hause eingebürgerte und fragsame Knabe die Lazarettzettel der Garnison deuten ließ, die regelmäßig hieher abgeliefert werden mußten. Der Knabe fand da alle Krankheiten wieder, die zu gewissen Zeiten auch die Mutter, der Vater, die Tante haben wollten. Nur eine »lateinisch« genannte Krankheit, von welcher er nie gehört hatte, kam ihm merkwürdig vor, weil an dieser die meisten »Gemeine und Spielleute« erkrankt waren. Der Bediente war diskret. Nie hatte er den Knaben aufgeklärt, welches das Leiden gewesen, das regelmäßig auf jedem Zettel den halben Krankenbestand bildete. »Das wirst du schon noch erfahren, wenn du älter bist!« Hufelands Garten war düster, von einer hohen Mauer umgrenzt; die Beete waren zierlich abgesteckt und mit Buchsbaum eingefaßt. Die ganze Wohnung des berühmten Mannes hatte etwas Schweigsam-Feierliches und entsprach der Antwort, die er einst seinem Bedienten gegeben hatte, als ihn dieser zu seinem Befremden nicht mehr mit Guten Morgen, Herr Geheimrat! begrüßte. »Sie antworten ja nicht, Herr Geheimrat«, hatte der alte Diener erwidert. »Was!« antwortete Hufeland. »Ich antwortete nicht? Sag' Er nur immer Guten Morgen! Die Antwort denk' ich mir!«
Die Gärten der anderen Gelehrten lagen nach dem Katzenstieg (Georgenstraße) hinaus hinter Höfen, deren gepflegte, fast holländische Sauberkeit bei gewissen geschlossenen Häusern in Berlin demjenigen besonders erinnerlich sein muß, der sich damit eine pedantische Eigenheit und fast einsiedlerische Menschenfeindlichkeit der vermöglichen Bewohner verbinden kann. Es gab in Berlin kleine geschlossene, von außen gepflegte Häuser, die den Eindruck machten, als hätte nie ein menschliches Auge in sie eingeblickt außer dem Bewohner, der dann sicher zur französischen Kolonie gehörte oder »Rentier« hieß oder ein dilettierender Gelehrter war. Von jenen Katzenstieggärten war der eine besonders geheimnisvoll. Über seine hohe Mauer hinweg rankten Weinreben, ja man sah manche braune Traube an der Sohne reifen. Die Obstbäume neigten sich unter so schwerer Last, daß der Besitzer, es war der Zahnarzt des Königs, die Gaumen und Zähne der benachbart einkasernierten Ulanen fürchten mußte und die Mauer noch höher zog, als sie schon war, ja sie am obersten Rande mit zerschlagenen Flaschen verkitten ließ. Nun glitzerte die Mauer in der Sonne. Aber selbst die grüngläserne Mauerplombierung des Zahnarztes mußte sich gefallen lassen, daß nächtlich die Ulanen mit ihren Lanzen daran stocherten und stellenweise die Bahn zum Übersteigen frei machten. Wie hätte der Knabe ahnen können, daß er in diese hermetisch verschlossene Herrlichkeit je würde eintreten, an diesen Rosen, Lilien, Maiblumenbeeten, später an dieser wunderbaren Obsternte wenigstens in unmittelbarer Nähe würde den Blick erlaben können!
Dies Heil widerfuhr ihm nicht durch den Zahnarzt des Königs, sondern durch einen bei ihm einwohnenden Mieter, einen reichen, »vornehmen« Mann, der ursprünglich ein Maler war, doch die Malerei nur als Dilettant betrieb. Der Sohn des Malers wurde des Knaben Gespiele, wie des Knaben Schwester die Gespielin der Tochter. Ein neuer seltsamer Lebenskreis öffnete sich für zwei Kinder, die diese auffallende Bevorzugung keinem andern Verdienst als der über ihre Lebensverhältnisse hinaus auffallenden Ordnung und »Propreté« ihres Erscheinens verdankten. Das Haus des Malers wurde allmählich eine förmliche neue Heimat. Alle Lebensfäden verspannen sich in ein Doppeldasein. Eine Alltags-, eine Sonntagsexistenz begann. Beide kämpften miteinander. Die reine, schöne blaue Luft der letzteren stieg siegreich über die erste wie über trübe Nebel empor. Statt Blei sah das Auge Silber, die Hand faßte nicht mehr das Rauhe allein, sondern auch das Weiche, Seide und Samt, an, das Ohr hörte nicht mehr das Wiehern der Rosse und die rauhen Töne der zankenden Leidenschaften, sondern Musik, Hausmusik, auch die Musik der feineren Sitte und der anstandsvollen Selbstbeherrschung. Es war ein wunderbar neues Dasein. Konnte auch die Hülle der gewöhnlichen Existenz nicht ganz abgestreift werden, so versuchte doch selbst in ihrer Gebundenheit die Psyche das Wachsen ihrer Schwinge zu erproben.
Der Maler und seine Gattin waren seltsamerweise ebenfalls aus Pommern. Das allein schon wurde ein Band des wohlwollendsten Zufalls für die Eltern. Der Sohn führte denselben Vornamen wie der Gespiele, die Tochter denselben wie die Gespielin. Auch das war ein so überraschender Zufall, daß nun die vier Kinder fast dem Maler zu eigen gehörten. Dieser Mann selbst war einer der eigentümlichsten Menschen und einer von denen, die bis noch in spätere Zeit die Signatur des alten Regimes trugen. Es war wieder der Vater des Knaben, noch einmal wiedergegeben, nur höher potenziert. Dieselbe Lebhaftigkeit, dieselbe ehrgeizige Unruhe, derselbe rastlose Eifer. Auch dieselben Auffassungen vom Leben, der Zeit, den Pflichten des Menschen und Staatsbürgers. Vermögend durch seine wohlwollende Gattin, die im Talent der behaglichen Lebenseinrichtung eine Meisterin war, hatte sich Herr Cleanth, wie wir ihn nennen wollen, ohne Selbstbetrug gestehen dürfen, daß die Malerkunst in ihrer höheren Bedeutung sein Beruf nicht war. Er porträtierte mit Geschick, gab jedoch nichts »auf die Ausstellung« und ergriff vielmehr vorzugsweise die untergeordneten Branchen der Malerei, besonders die eben neuentdeckte, von München gekommene Lithographie. Hier sah er unangebrochene Schätze. Die Lithographie konnte den Buchdruck ersetzen. Was hatten die Verwaltungsbehörden nicht alles an Formularen zu drucken! Cleanths schaffender Trieb ging immer auf das Nützliche beim Schönen. Reine Idealität ohne Zweck konnte ihn nicht erwärmen. Ein Nutzen aber, der durch die Kunst oder Wissenschaft für das praktische Leben gewonnen wurde, erfüllte sein Auge mit blitzendem Feuer. Cleanth war durch und durch ein Mann der Methode und des Systems. Bestünde die Malerei allein in der Anwendung der Albrecht Dürerschen Meßkunst, so wäre der Vater des Gespielen ein Meister geworden. Der Zirkel, das Richtmaß, der Zollstock waren ihm geläufiger als die Palette und der Pinsel, welchen letztern er denn auch in späteren Jahren ganz niederlegte. Immer näher kam ihm die große um sich greifende polytechnische Strömung des Zeitalters, der Fortschritt in allen seinen realistischen Offenbarungen, Dampf, Elektrizität; jeder Tag schien ihm Neues zu bringen. Die Zeitbewegung auf dem technologischen und physikalischen Gebiete riß ihn mit all seinen Bildern und Bossierversuchen so fort, daß sich aus ihm der gewandteste technische Fabrikant entwickelte. Dabei spekulierte er damals, wie man jetzt spekuliert. Er kaufte Häuser, verbesserte sie etwas und verkaufte sie wieder. Sein letztes Haus war das jetzt ein Palais gewordene Nr. 12 und 12a auf dem Leipziger Platz.
Herrn Cleanths Bildung wurzelte in der neologischen, freigeistigen Richtung des endenden vorigen Jahrhunderts. Freimaurerei trieb er mit Leidenschaft. Durch seine große Vorliebe für die Logensitzungen und die vertrauliche geheimnisvolle Freundschaft mit einem Kreise engverbundener Brüder reizte er die Neugier seiner beiden Knaben nicht wenig, die schon vor »Royal York« immer mit dem Schauer vorübergingen, sich denken zu sollen, daß sich hier in dem seltsamen Gebäude, auf der grünen, mit Kastanien und Ulmen bepflanzten schönen Wiese Menschen versammelten, deren erstes Lernprobestück darin bestünde, in einen großen ausgehöhlten, mit Spinnen und Würmern angefüllten Apfel zu beißen. So war die Neugier der Knaben befriedigt worden. Herr Cleanth unterhielt nicht die geringste Verbindung mit der Kirche und ängstigte dadurch nicht wenig die Glaubenstreue der Eltern seines halben Adoptivsohnes. Religion war bei ihm Wohlanständigkeit und das allgemeine moralische Verhalten. Diesen Mangel an Christlichkeit mußte man bei ihm hinnehmen, sich auch sonst Eigenheiten des strengen Herrn gefallen lassen. Er duldete keinen Widerspruch, war Erzieher nach Grundsätzen und gab dem neuen Gespielen seines Sohnes durch eine unvergessene Ohrfeige sogleich beim Beginn ihrer Freundschaft einen Vorschmack, wie sich nach seinem System Charaktere zu entwickeln hätten. Diese Ohrfeige erzeugte eine Art Revolution. Erst eine wilde, stürmische nach außen hin. Der passive Held derselben, der sich handgreiflich nur von den angebornen Eltern strafen lassen wollte, schrie, rannte davon und wollte von dem glänzenden Parkett, von der Welt der Teppiche, Konsolen, Bronzeleuchter, Spieluhren, Gemälde nichts wissen, wenn man dort Ohrfeigen bekäme. Solche Früchte des erschlossenen Paradieses hatte der bei aller Zerflossenheit oft »böse« und trotzige und widerhaarige Junge von außen auf den Bäumen des Gartens am »Katzenstieg« nicht blühen sehen. Der Entflohene wollte nicht wiederkommen. Erst lange Verhandlungen, Kongresse, stillangestellte Vergleiche mit den doch so reichlichen Kopfnüssen, die auch zu Hause hingenommen werden mußten, zutraulichste Anreden führten den Gedenkzettelten endlich in sein Paradies zurück. Er folgte »nicht mehr wie gern«, aber die Lehre war für beide Teile gut, für den armen »Geduldeten« und für den reichen »Duldenden«.
Herr Cleanth behauptete, in seiner Wohnung kein gutes Malerlicht zu haben – er malte eine geraume Zeit auf dem Königlichen Schlosse an einer Kopie eines Krügerschen Königsbildes in Lebensgröße –, und kaufte sich in der Behrenstraße (Nr. 54) ein eigenes Haus. Diese Trennung von der »Stallstraße« störte keineswegs den Verkehr der Kinder. In der Behrenstraße wurde mit dem beginnenden Frühjahr ein Versuch gemacht, dem Hofraum einen Garten abzugewinnen; Spaten, Rechen, Egge waren dafür bereits zu Weihnachten erobert worden. Kaum ließen sich aber auf der frischumzäunten Erdfläche die ersten grünen Halme der ausgestreuten Sämereien blicken, so wurde bereits das Haus mit Gewinn verkauft. An das verlassene knüpfte sich dem Knaben eine romantische Erinnerung. Im unteren Stockwerk starb einem Offizier – dem späteren Kommandeur der »Reichsarmee« von 1848, General von Peucker – seine junge Frau. Der Witwer war so erschüttert, daß er sich zum Andenken an seine teure Geschiedene ein Zimmer mit schwarzem Flor ausschlagen ließ. Auf einer Art von Katafalk und vor dem Bilde seiner schönen jungen Gattin, das von Wachskerzen erhellt wurde, sprach er, so sagte man, täglich kniend seinen Schmerz aus. Diese Situation eines betenden jungen Offiziers, die Draperie des Zimmers mit schwarzem Flor, die Erleuchtung des Bildes mit Kerzen, alles das lebte noch lange in der aufgeregten Einbildungskraft des Knaben und lebte selbst da noch, als der poetisch gestimmte Witwer längst wieder eine neue Gattin genommen hatte.
Herrn Cleanths neues Haus war ein Palast, es konnte die Wohnung eines Fürsten sein. Eine große Freitreppe mit eisernem Geländer führte von zwei Seiten zu einem damals zwar nur zweistöckigen, aber in der Länge imposanten und einen ganzen Schenkel des »Achtecks« am Potsdam-Leipziger Tore einnehmenden Gebäude. Ein geräumiger Hof mit Stallungen trennte es von einem Garten, der sich bis an die Parkgärten der Wilhelmsstraße zog. Hier ließ sich in Glückseligkeit schwelgen. Trotz der weiten Entfernung von der Universität über die Linden, den Wilhelmsplatz, die Leipziger Straße hinweg wurde doch in der doppelten Existenz fortgelebt und die trübselige Hülle der Armut für Stunden, ja Tage abgestreift. Der reiche Gespiele erhielt seinen Unterricht daheim. Herr Cleanth übte sich selbst im Lehren, im Anwenden pädagogischer Systeme. Vieles, was der Sohn lernte, kam auch dem Genossen zugute. Kinder tauschen gern ihr erstes Wissen aus. Erst der vom Ehrgeiz gestachelte ältere Jüngling behält sein Wissen egoistisch für sich, ja ist zum Verheimlichen seiner Fortschritte geneigt. Sonntags wurden nun die Frühstunden seltener in den Kirchen und fast immer im sonnigen Zimmer des Gönners zugebracht, wo von diesem die beiden Freunde unter Blumen und Gemälden im Zeichnen unterrichtet wurden. Die Methode, die Herr Cleanth befolgte, war streng. Jedes Aufblicken von der Arbeit wurde gerügt, jedes Versehen bestraft. Während die Knaben Augen, Nasen, Lippen, Ohren, Köpfe, später auch Tiere zeichneten, schritt Herr Cleanth mit knarrenden Hausschuhen durchs Zimmer, las polytechnische Journale und beaufsichtigte die Zöglinge zwei Stunden lang mit einer Strenge, die der endlichen Erlösung und dem Sichtummelndürfen im Garten einen doppelten Reiz verlieh. Kinder der Armen wachsen natürlicher und freier auf als die der Reichen. Diese sollen um jeden Preis eine vorzügliche Bildung erhalten und sind darum das stündliche Augenmerk ihrer Eltern und Erzieher. Jene, den Eltern oft eine Last, müssen für sich selbst sorgen und lernen dabei leichter, sich ihr Leben frei bestimmen. Fürstensöhne vollends werden auf ihre künftige Würde wie Sklaven vorbereitet.
Immer unsichrer wurde die Brücke der Rückkehr zur Existenz der Eltern. Die häusliche Lage wurde dem Knaben gegenständlich. Er urteilte darüber, seitdem er vergleichen konnte. Von dem Naturgeheimnis der Liebe und kindlichen Anhänglichkeit an das Vaterhaus ging nichts verloren, aber der grelle Reiz der Eindrücke dämpfte sich ab. Nicht mehr wurde so aufmerksam gelauscht, wenn Vetter Wilhelm von der Selbstgerechtigkeit und der Gnadenwahl, Vetter Christian von Ungarn, seinem Ehewirrsal und den neuen Seidenhüten sprach. Man lachte nicht mehr über einen lustigen Verwandten, der zu Hause ein kranker Hypochonder, in Gesellschaft ein ausgelassener Schnurrenreißer war und nichts lieber tat, als sich einen Besen kommen zu lassen, diesen verkehrt zwischen die Beine zu klemmen, ihn als Spinnrocken gleichsam abzuspinnen und dazu ausgelassene Lieder zu singen. Die neue Lebenssphäre stand unter anderen Bedingungen. Hier im Cleanthschen Hause kamen nur die Besuche von Hofräten, Hofrätinnen, Geheimratstöchtern, Professoren, Künstlern, Offizieren, jungen Studierenden, die aus Stettin ihre Empfehlungsbriefe brachten und wöchentlich an einem bestimmten Tage zu Tisch erscheinen durften. Herr Cleanth übersah schnell seine Leute. Romantik und Altdeutschtum waren ihm in demselben Grade verhaßt wie dem Vater. Chimärische Träumerei erschien dem Mann der praktischen Nützlichkeit als verderblicher Meltau für jede Jugendentwicklung. Die Lektüre von Märchen duldete er nicht. Raffs Naturgeschichte und die Kupfer zum Büffon standen ihm höher als Tausendundeine Nacht. Die einzige Beschäftigung der Phantasie, die Herr Cleanth zuließ, war die mit der Geschichte, zu welcher seine Knaben durch Beckers Weltgeschichte in zehn Bänden und dessen Erzählungen aus der alten Welt angeleitet wurden. Herr Cleanth verwarf die gewöhnliche Methode der Schulen und bildete seinen Sohn nur durch Privatunterricht, dem er meist selbst beiwohnte. Wehe dem Lehrer, der seinen Erwartungen nicht entsprach. In der Musik mußte ihm die damals neue Logiersche, von Stöpel angewandte Methode ganz besonders erwünscht kommen. Doch war Herr Cleanth wie Äolus. Rauhe und sanfte Winde hatte er zugleich. In so furchtbar dunkle Gewitterwolken er sich hüllen konnte, ebensooft konnte er sanft und milde wie eitel Sonnenschein sein.
In der traulichen Geselligkeit eines gebildeten Hauses liegt ein unendlicher Reiz. Kein Patschuli ist dafür nötig, kein strahlender Lüster. Duft und Glanz liegen schon allein in der ganzen Weise eines solchen Hauses selbst. Die Ordnung und die Pflege verbreiten eine Behaglichkeit, die ebenso das Gemüt wie die äußeren Sinne ergreift. Die kleinen Arbeitstische der Frauen am Fenster, die Nähkörbchen mit den Zwirnrollen, mit den blauen englischen Nadelpapieren, mit den buntlackierten Sternchen zum Aufwickeln der Seide, die Fingerhüte, die Scheren, das aufgeschlagene Nähkissen des Tischchens, nebenan das Piano mit den Noten, Hyazinthen in Treibgläsern am Fenster, der gelbe Vogel in schönem Messingbauer, ein Teppich im Zimmer, der jedes Auftreten mildert, an den Wänden Kupferstiche, das Verweisen alles nur vorübergehend Notwendigen auf entfernte Räume, die Begegnungen der Familie unter sich voll Maß und Ehrerbietung, kein Schreien, kein Rennen und Laufen, die Besuche mit Sammlung empfangen, abends der runde, von der Lampe erhellte Tisch, das siedende Teewasser, die Ordnung des Gebens und Nehmens, das Bedürfnis der geistigen Mitteilung – in dem Zusammenklang aller dieser einzelnen Akkorde liegt eine Harmonie, ein Etwas, das jeden Menschen sittlich ergreift, bildet und veredelt.
Die Gartenlust wurde wie von Bienen genossen. Aber bei der Freude am Laufen und Rennen in den symmetrisch angelegten Wegen, unter hohen Rosenbüschen, Stachelbeer- und Himbeerhecken durfte durch die Knabenhand auch die wirkliche Pflege der Blumen nicht vernachlässigt werden. Da pflanzte und säete man, man führte die Gießkanne, wenn sich die Sonne senkte, man half ohne Naschhaftigkeit den Erntesegen einbringen und arbeitete immer nach bestimmten, vom mathematischen Herrn Cleanth gestellten Aufgaben. Da war an einem Salatbeet Unkraut auszujäten, Stöcke waren für die Nelken zu schneiden, die zerstreuten Blätter der aufgeblühten Zentifolien zu sammeln, eine Arbeit, die sich den Knaben dadurch belohnen durfte, daß sie die Rosenblätter dem Apotheker am Zietenplatz korbweis verkauften. Lange Weinspaliere wurden nach der neuen Kechtschen Grundregel der häufigen Entfernung der Blätter gezogen. Ein Gärtner führte die Oberaufsicht, die jungen Freunde mußten helfen. Herr Cleanth duldete keine Spiele, höchstens solche, bei denen etwas gelernt, irgendeine geistige Tätigkeit oder mechanische Fertigkeit zugleich gebildet wurde. Wie frucht- und blumenreich war dieser Garten! Malerische Sträuße von weißen und roten Lilien, Rosen und Nelken wurden im Sommer, von Holunder und Maiblumen in erster Frühlingszeit zusammengestellt. Der Tau haftete noch an ihnen um Mittag. Was gibt es in einem Garten für Tatsachen, die Kindern merkwürdig sind! Frösche verbargen sich in einem Tümpel, Maikäfer wurden je nach der Farbe der Halsschienen und der Fühlfäden in mehr Gattungen eingeteilt, als vielleicht Büffon nennt, Goldkäfer, die träge und duftberauscht in der Mittagssonnenhitze auf Blumenkelchen in allen Regenbogenfarben schillerten, wurden aufgescheucht. Kinder horchen auf alles, was da wispert und knuspert und raschelt. Sie sind auf einer ewigen Schleichjagd nach allem, was sich im Grase und auf und unter der Erde regt. Ausgerüstet mit einem scharfstechenden Spaten ist ein Knabe König der Natur. Den Spaten über die Schulter gelegt, verläßt er den Garten, ißt nach der Arbeit sein Obst, sein Butterbrot, trinkt sein Glas Wasser mit einer Zufriedenheit, als hätte er seinen Lohn um die Ordnung der Welt verdient.
Nach einem Gewitter in einen Garten zu treten, wenn die sandigen Wege rasch die herabgestürzten Güsse aufgesaugt haben und die Rosen und Nelken und Levkoien alle wie gebadet stehen, das ist ein besonders fesselnder Genuß. Die Blumen sind dann wie neugeboren und durchwürzen die gereinigte Luft. Jetzt erst haben sie Kraft, gleichsam durch alle Räume in Farbe und Duft ihren Unterschied zu zeigen. Tritt dann die Sonne hervor, so kommt nichts den nassen Blumen gleich. Am Jasmin hängen die Tropfen wie gebannt. Sie müssen lange ihre Kraft sammeln, bis sie schwer genug sind, auf die grünen Blätter zu rollen. Je ölhaltiger die Blume, desto länger glitzert das Naß in solchen Einzeltropfen auf ihrem Kelch. Eine hundertblättrige Rose, sich eben entfaltend aus der stachlichten grünen Hülle, besäet von kleinen Regentropfen, die nicht weichen wollen und in der wolkenfrei wieder heraustretenden Sonne blitzen, ist wohl das lieblichste Bild der Blumenwelt, das kein Mignon, kein Redoute vollkommen treffend wiedergeben würde.
Die herrliche schnee- und frostpoetische Winterzeit bewegt sich zumeist um die Weihnachtsfreude. Das Hoffen geht vorher, und das Genießen folgt. Die Weisheit des Herrn Cleanth duldete um Weihnacht kein gieriges Tilgen des Genusses. Reichlich wurde gegeben, aber seine Gaben waren nicht für flüchtige Zerstreuung, wovon die Kinder so bald ermüdet sind. Die Spielmaterialien, die angeschafft wurden, waren solche, die entweder das Nachdenken oder den Fleiß anregten. Kirchen zum Auseinandernehmen, Tonsteine zum Bauen wurden geschenkt. Soldatenspiele erschienen leer und nichtssagend. Alles Schreien, Toben, Lärmen um nichts war ihm verhaßt. Theaterspiel gestattete er allerdings, das war eine Konzession der Liebe, da seine Gattin die Bühne liebte. Aber die Figuren hatten sich die Knaben selbst zu kolorieren, aufzukleben, mit Drähten zu versehen. Zeitweilig wurde ein chinesisches Schattenspiel hinter einem ölgetränkten Rahmen aufgeführt. Der »König von Kinderland« hieß das barocke Drama, wozu die Knaben Text und sogar die Figuren geliefert erhielten und im Komödienspielen das Mögliche leisteten. Bei diesen ästhetischen Spielen ließ der Freund die Initiative seinem Genossen, dem Erzähler, während dieser, wenn Häuser oder Kirchen gebaut werden sollten oder sogenannte Geduldspiele zusammengesetzt, dem andern die Vorhand gab. Kartenspiel und Damenbrett gestattete Herr Cleanth als Übung des Verstandes und Anreizung zur Behauptung – seiner persönlichen Vorteile. Er ging in allen seinen Theorien von dem Gedanken aus, daß das Leben zum Fortkommen die Notwehr bedingt. Sein Lieblingsspruch war von den Tauben, die keinem gebraten in den Mund flögen. Grade damals war ein Ringen und Regen für die materiellen Interessen erwacht; Erfindungen, die gewerblichen Künste, die vielen Bauten der Regierung, die neuen Anlehen, die Hoffnungen eines dauernd befestigten Friedens, alles zeigte ihm Gewinne und Vorteile, die man durch Fleiß, Eifer und vorzugsweise rasches Zugreifen erobern könnte. Beispiele von großen Erfolgen, die eine kluge Berechnung der Umstände, scharfes Aufpassen auf Konstellationen erzielt hätte, wurden mit fast schlauer, eulenspiegelhafter Behaglichkeit erzählt und als Triumphe der Klugheit dargestellt. Dem Gespielen des Sohnes ging meistens die Erzählung davon ins eine Ohr hinein und zum andern hinaus. War ihm doch selbst die Existenz in diesem Hause ein Märchen, wie sollte er nicht an noch höherliegende Märchen denken! Ihm waren diese großen Tischtafeln mit den blendenden Servietten, den silbernen Löffeln, den gestickten Serviettenbändern, den mehrfachen Gängen der Speisen und Desserttorten, die hellen Lampen mit Gazeschirmen, die Klingelzüge, die Kristallkaraffen, die Teppiche, die Gemälde, das Pianoforte, die Besuche, die Konversationen vollkommen genug, wie sollte ihm dies verzauberte Haus ein weiteres Tummle dich! und noch dazu auf dem Gebiet des Realismus predigen? Alle Lehren des Herrn Cleanth gingen ihm nur in die Phantasie. Ein Beweis, wie in der Erziehung jede Theorie von den Grundlagen abhängt, auf die man baut. Es gibt keine absoluten Methoden, sondern nur solche, die auf die Umstände anzupassen sind.
Die frühe Neigung für die Bühne fand in diesem Hause Nahrung. Sonst hatte sich der Knabe mit den Puppenspielen begnügt, die in einer »Tabagie« der Mittelstraße auf einem mannshohen Theater aufgeführt wurden. Diesen »gottlosen« Spielen, die noch dazu zwei Groschen Eintrittsgeld kosteten, beiwohnen zu dürfen, war erst die Folge langen Bittens und Bettelns bei den Eltern. Sicher war der Knabe immer der erste, der im noch dunkeln Saale erschien und sich dicht an die Brüstung des noch stillen geheimnisvollen Gerüstes setzte. Allmählich gesellten sich dann andere Freunde des Puppenspiels hinzu, darunter viele, die nicht der Jugend angehörten. Man hatte die ersten Symptome eines mit Bier und Tabak verbundenen Kunstgenusses, wie diesen jetzt die Berliner Nebentheater ausbeuten. Ehrbare Alte, Männer und Frauen, erwarteten mit ernsthafter Spannung Kaspers heutige gute Laune. Der Saal wurde allmählich durch einige Blendlampen erhellt, man hörte ein Klopfen und Hämmern auf der Bühne, zuweilen plumpste irgendein schwerer Gegenstand auf. Das war dann gewöhnlich einer der Akteurs, der seine Garderobe vervollständigt bekam. Ein lautes Sprechen hinter dem Vorhange störte keineswegs, sondern reizte nur die Spannung. Ringsum wurde es immer regsamer und heitrer, in der Ferne begann eine Musik, der ganze Saal füllte sich mit Publikum, und durch die Ritzen des Vorhangs schimmerten schon die Lichter. Der Vorhang rauschte auf, zuweilen nicht ohne Verwickelung der Gardine, der dann von innen eine Hand nachhelfen mußte. Und die Szene begann. Meist mit dem Exordium Kaspers, der mit einem Jodler und He! Holla Wirtshaus! hereinbrach und ins Publikum Stimmung, vielleicht auch in die Darsteller selbst bringen mußte. Dann kamen die herrlichen Trau-, Schau- und durch den überall eingeschmuggelten Kasper halben Lustspiele vom bayrischen Hiesel, von den Kreuzfahrern, Abällino, besonders aber das Zug- und Modestück des Tages, der »Freischütz«, dieser sogar mit Gesang und niemals ohne Feuerwerk, was sich der Wolfsschlucht wegen ja von selbst verstand. Besonders war dem Knaben der bayrische Hiesel sympathisch. Ein sanfter, lieber, mit Not zum Räuber gepreßter Knabe, das Anderle, nahm darin nur mit Tränen im Auge an Mord, Raub, Brand und Überfall teil, sang Schnaderhüpferln von seiner Feder auf dem Hut, seiner Büchse zum Schießen, seinem Straußring zum Schlagen, seiner jugendfrohen Weidmannslust. Dies Lied wurde die Lieblingsarie des Knaben und oft dem Anderle nachgejodelt. Der Brand der Mühle, wo endlich die Soldaten den Hiesel einfangen, wurde auf dem Theater im Cleanthschen Hause nicht ohne Blicke auf die Feuerversicherungspolice nachgeahmt. Auch Faust kehrte im Puppenspiel wieder, ohne Meerkatzen zwar, aber mit den handgreiflichen Geistern Vitzliputzli und Auerhahn, die auf ein Halippe! ebenso rasch aus der Luft geflogen kamen, wie sie auf ein Haluppe! wieder verschwanden. Kasper, Faustens ins Bayrische übersetzter Wagner, hatte diese Zauberformel seinem Herrn abgelauscht und wendet sie einigemal, wo ihn hungert und dürstet, mit glücklichem Erfolge an. Das Erscheinen und Verschwinden der ihn sofort mit Speise, Trank und allen Bequemlichkeiten erfreuenden Geister macht ihm dann so viel Spaß, daß er die Teufel auf Halippe und Haluppe in atemlose Bewegung setzt, sie bald kommen, bald verschwinden läßt, sie aber dadurch auch dermaßen erzürnt, daß sie sich zuletzt grimmig auf ihn selbst werfen und ihn unter Hilfeschreien massakrieren, währenddessen der Vorhang fällt. Ein gewiß wirksamer Aktschluß. Melancholisch war das Ende des Faust. Faust hatte alle Wunder verrichtet, wobei ihn der Teufel unterstützte. Endlich aber rückt seine Stunde heran. Gespenstisch hört man die Uhr schlagen. Kasper hat einen Ruheposten als Nachtwächter gefunden und singt im Mondenschein auf nächtlichstiller Straße sein Hört ihr Herren! Da begegnet er dem seufzenden und wehklagenden Faust. Es entspinnt sich ein Dialog, der etwas mit dem des Valentin und Flottwell im letzten Akt des »Verschwenders« Ähnlichkeit hat. Aber hier helfen alle guten Grundsätze, alle reuigen Entschließungen nichts mehr. Die Uhr wiederholt ihre Schläge, halb, dreiviertel. Es liegt eine dem Knaben unvergeßliche, herzzerreißende Öde auf den Straßen. So einsam ist es zwischen dieser gemalten Leinwand, die einen Marktplatz, etwa den Spittelmarkt um Mitternacht, bedeutet. Ach, so still, so unglücklich, so schauerlich alles! Man glaubt die Brunnen nächtlich rieseln zu hören; nur die Sterne leben, Kasper, Faust und die Strafe des Himmels. Endlich schlägt es zwölf, und die Hölle öffnet sich. Ein Feuerregen verschlingt den weltstürmenden wundertätigen Doktor. Kasper kann von Glück sagen, daß er mit ein paar versengten Haaren davonkommt und für den nächsten Dienstag noch das Repertoire ankündigen kann, ohne welche Rückkehr in die Welt der Alltäglichkeit keine Vorstellung abläuft. Gerade wie sonst im Theater Schröders und der ersten Zeit Ifflands auch am Schluß die Regie das am folgenden Tage zu gebende Stück ankündigte.
Der Sohn des Gärtners im Cleanthschen Hause war ein leidenschaftlicher, kunstgerechter Puppenspieler. Er hatte sich eine kleine Bühne gebaut, Figuren geschnitzelt, sie artig kostümiert. Eine hohe Vergünstigung für die Knaben und auch für ihn, wenn man seinen Vorstellungen in einem Häuschen an der jetzt abgerissenen Potsdamer Mauer, dicht in der Nähe der Bolzanischen Konditorei auf der Königgrätzer Straße, beiwohnen durfte. Das Häuschen steht ja wohl noch und gehört zu den bekannten Verschönerungen der Via triumphalis. Auch hier wurde der unvermeidlidie Faust gegeben. Die Abweichungen vom Faust Goethes und dem der Herren Linde und Freudenberg waren nicht unerheblich. Des Gärtners Sohn hatte mehr Geschmack als die gewöhnlichen Puppenspieler der Tabagien. Bei ihm kam auch die Beschwörung der Helena und anderer außerordentlicher Staatsgeister vor. Die Ausstattung mußte aus einer Menge geschenkt bekommener kleiner seidener Lappen bei den zierlichen Figuren reicher ausfallen als bei den Puppenspielern von Profession, die wie die großen Theaterintendanten in der Garderobe knauserten und lange nicht so brillante Erleuchtung boten wie der Gärtnersohn, dessen Lichter und Feuerwerke uns opernhaft erschienen sein würden, wenn wir Opern gekannt hätten. Aber ach! nur für einige Male litt Herr Cleanth die Teilnahme an den sinnigen und mit Takt arrangierten Leistungen des Gärtnerburschen »hinterm Potsdamer Tor«. Er verfuhr wieder systematisch. Er war im Begriff, der Theatersehnsucht seiner vier Kinder bald einen bedeutenderen Ausdruck zu geben. Er nahm die Knaben und Mädchen in die richtige Komödie mit, die königliche, die seit dem Abbrennen des Schauspielhauses im Opernhause gegeben wurde. Die beiden Vorgeschmäcke wirklicher »lebendiger« Bühnenkunst, die »Jungfrau von Orleans« und – die »Iphigenie« von Gluck –! wirkten so großartig und so mächtig auf den Erzähler, daß er von Stund' an Gleichgültigkeit, ja einen förmlichen Haß auf alles Puppenspielwesen bekam.
Wer erinnert sich nicht noch seines ersten Theaterabends! Des Einblicks in eine neue Welt! Und nicht die Welt des Scheines! Nein, nicht Schein, nicht Erfindung und Nachahmung sind diese Wälder und Kirchen und Städte und Festungswälle; nicht Schein, nicht Nachahmungen sind diese Harnische und Fahnen und Schwerter und Krummstäbe; es ist die wirkliche Welt, die das Kind als solche im Theater anschaut. Der Vorhang wickelt sich auf. Das alles da war, ist, wird sein und bleibt! Wer ist dieser Dunois in dem glänzenden rasselnden Harnisch? Etwa ein Schauspieler, der, wie Shakespeare sagt, »sich spreizt und ächzt, bis sein Stündlein abgelaufen«? Ein Schauspieler, der sich Rebenstein nennt? Nein, Dunois ist Dunois, die Jungfrau ist nicht Frau Stich, spätere Crelinger, sondern Jeanne d'Arc, die Jungfrau selbst! Der Krönungszug ist kein Statisten-Mummenschanz, sondern das wirkliche von Glockenklang begleitete Fest von Reims. Des Knaben am längsten gepflegte Erinnerung außer dem jedesmaligen Blechgerassel beim Auftreten und Gehen des Bastards war der Kampf der Jungfrau mit Lionel, der schwarze Ritter, vor allem die irrende Jungfrau im Walde, wo ihm der Köhlerbube noch jetzt mit seiner frischen Kinderstimme im Ohre lebt. Daß die Schlacht, die der Soldat auf dem Walle des Gefängnisses der Jungfrau beschreibt, dem Auge ganz sichtbar war wie eine wirklich geschlagene, verstand sich von selbst. Der »Wütende auf einem Berberroß« war Dunois, man sah ihn. »Am Graben ist ein fürchterlich Gedräng'.« Es wimmelte wie beim Manöver vorm Hallischen Tor. »Ein schwer Verwundeter wird dort geführt!« Man sah das Zusammenbrechen, wie manchmal bei den prinzlichen Reitknechten. Und jetzt zerreißt die Jungfrau ihre Ketten! Es sind nicht Zwirnsfäden, die diese Theaterketten zusammenhalten. Selbst das Lächeln des alten Freigeistes, des Herrn Cleanth, der neben uns sitzt, stört diesen Glauben nicht. Johanna stemmt die Arme an, zerreißt die eisernen Bande und stürzt hinaus, das Vaterland zu retten. Das alles hat ein bloßes Gebet zu Gott möglich gemacht.
Um die Wirkung der vorgeführten bunten Bilder zu erhöhen, war das alte, in späteren Jahren ebenfalls abgebrannte Opernhaus mehr als die neuen Theater geeignet. Die Ölbeleuchtung ließ allerdings erkennen, daß man sich nicht im »dustern Keller«, sondern in einem großen Saale mit Stukkaturen, Karyatiden, Plafondmalereien, Goldverzierungen befand; aber verräuchert war alles, »angeblakt« von Lampenruß, die Holzsessel waren mit den Jahren glatt zersessen, die Eingänge in die Logen führten in eine ägyptische Finsternis; man mußte tasten, hilfreiche Hände mußten zugreifen, um uns zu zeigen: Hier ist noch ein Platz, da oder dort! Hatte man dann endlich seinen Sitz erobert, so währte es lange, bis sich das Auge an diese Dämmerung gewöhnte und die Logen und Sperrsitze unterschied. Eigentlich war es in diesen Nebeln, wie es sein sollte. Die Bühne allein soll der lichte Punkt sein. Der Knabe, schwachen Auges, fand sich nur mühsam zurecht. Auf dem Vorhang der Bühne wurde schon die Malerei wie ein halbes Schauspiel, eine Einleitung zum erwarteten Genuß betrachtet. Ein Altar des Apollo, mit opfernden Verehrern des Gottes, eine sinnige Szene der Mythologie in einfachen architektonischen Umrissen gehalten, weckte die Stimmung, wie sie sein sollte. Geht bei solcher Dämmerung die Gardine in die Höhe, so tritt das Bild der Bühne mit seiner nun schon helleren Beleuchtung siegreich über die Umgebung hervor. Sinkt sie nieder, so fällt das in Dunkel eingehüllte Publikum wieder in sein Nichts zurück. Wie anders damals als jetzt, wo die Szene nicht mehr weiß, wie sie gegen den Glanz, das Licht und die Pracht der Auditorien und demzufolge gegen die gesteigerte Souveränität des Publikums aufkommen soll. An manchen Abenden möchte man glauben, die Bühne sei nur noch der Toiletten des weiblichen Publikums wegen da.
Später hat Schinkel durch sein kleines, nach innen aus nichts als abscheulichem Winkelwerk bestehendes Schauspielhaus den Sinn für die große Wirkung der Tragödie in Berlin untergraben. Sein neues Schauspielhaus war für Blum, Töpfer, Raupach, nicht mehr für Schiller, Goethe und Shakespeare gebaut. Die Jungfrau von Orleans, Macbeth, Egmont, Tell, Wallenstein irrten in Berlin vor der endlich erlangten Theaterfreiheit ohne ein entsprechendes Obdach umher. Wenn einst ein neues Königliches Schauspielhaus erstehen, die Unzulänglichkeit des Schinkelschen nicht durch gänzliches Einreißen seiner inneren Wände und eine Verbindung der Räume des »Konzertsaales« mit denen des Schauspiels aufgehoben werden sollte, so möchte der Verfasser auf einen Platz aufmerksam machen, den schon Schlüter für eine Verschönerung Berlins im Auge hatte. Schlüter riet, die Häuser von der Kurfürstenbrücke bis zur Breiten Straße abzubrechen, den königlichen Marstall mit einer antiken Fassade, die linke zur Spree gehende Seite mit einem Kai verschönern zu lassen. Statt den königlichen Pferden zu huldigen, huldige man dem Pegasus und errichte da einen würdigen Musentempel.
Glucks »Iphigenie in Aulis«, zu welcher dem Knaben wohl nur durch Zufall ein Parterrebillett geschenkt wurde, war ihm leider unverständlicher als die »Jungfrau«. Ja, diese Wahl war ein Abschreckungsmittel, das dazu dienen konnte, der zu lebhaft empfundenen Neigung für die Bühne nachzugeben. Denn die »Jungfrau« ließ anfangs kaum schlafen. Sie wurde zunächst in ihrem Personal beim Buchbinder als »Bilderbogen« erstanden, ausgetuscht, aufgeklebt, ausgeschnitten und im Papptheater bei Herrn Cleanth nach Kräften nachgespielt. Auf diesen Enthusiasmus goß eine Oper und obenein eine Glucksche, mythologische, ein abkühlendes Sturzbad. Das Haus war leer. Diese Zelte der Griechen am Aulisstrand, diese nur halbe Rüstung des Achill, die Priestertoga des Kalchas weckte lange nicht die romantischen Schauer des bunten Schiller. Da sangen Helden, gurgelten, trillerten Heldinnen – was waren dem Knaben Bader, die Milder und die Seidler! –, Iphigenie sollte den Göttern geopfert werden, Agamemnon, ihr Vater, war dazu bereit, Achill nur leistete Widerstand, Kalchas drohte mit Bann und Interdikt; zuletzt legte sich aus den Wolken über dem schon entzündeten Holzstoß Diana ins Mittel. Hier fehlte es doch dem glaubensstarken Knaben an Glauben. Das waren die Ketten der Johanna nicht. Doch war der Enttäuschte froh, daß ihm die Violinen keine Unterleibsschmerzen mehr verursachten wie früher. Eine Oper, eine klassische noch dazu, eine in reiferen Jahren mit Andacht gehörte, erstickte so sehr alle Bühnenlust, daß Komödie auf Jahre wieder ganz aus des Knaben Gesichtskreis verschwand, bis die neue Königstädter Bühne eröffnet wurde und sich da Theaterkulisse, Lampenlicht, Chronik der Ankleidezimmer und die Notwendigkeit, Partei zu nehmen, fast auf die Straßen und Plätze Berlins drängte.
Herr Cleanth lenkte seine beiden Knaben an Fäden, die diese selbst nicht sahen. Wer weiß, ob Gluck nicht eine tückische Berechnung von ihm war! So strenge Grundsätze er auch fürs Lernen und für die Vorbereitung zu einem künftigen Beruf einhielt, so viel Freiheit gestattete er für das Leben selbst, für die Formen der Geselligkeit, besonders den Umgang mit dem schönen Geschlecht. Es ist Zeit, auf ein delikates Kapitel zu kommen.