Karl Gutzkow
Unter dem schwarzen Bären
Karl Gutzkow

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Ersatz und Aufschwung

Von manchen Menschen könnte man sagen, sie seien zum Geheimratwerden geboren. Schon auf der Schule unterscheiden sie sich von den andern. Sie schließen keine Freundschaften, sie geraten nicht in die Lage, zu den Exzessen ihrer Mitschüler gute Miene machen zu müssen, sie legen den Lehrern, was hinter dem Rücken derselben geschehen ist, sofort offen und klar zutage. Nicht gerade, daß sie angeben oder aus mißgünstigem, heimliche Schliche und Tücke liebendem Gemüte heraus liebedienerische Gesinnung zeigen; nein, ihre Haltung ist eine ihnen angeborene, in der Regel durch die Erziehung vervollkommnete. Sie besitzen von Hause aus das Talent für eine soziale Tugend, die man das »korrekte Denken« nennt.

Der »korrekte Denker« tritt nur alle Jubeljahre einmal, wenn die Dinge und Personen etwa auch allzu arg werden sollten, in die Opposition. Seine Wahl ist bei jedem Dilemma bald getroffen. Wo die gebieterische Macht der Umstände steht, dahin tritt der »korrekte Denker«. Werden Hypothesen erörtert, Meinungen durchgesprochen, selbst solche, die noch keineswegs im Parteienstreit aufs Tapet gebracht worden sind, die also noch links und rechts offen lassen, immer wissen diese glücklichen Naturen des »korrekten Denkens« die Auffassung zu finden und zu wahren, die, wenn die Frage parlamentarisch werden sollte, die Ansicht der Ministerbank ist.

Das Musterbild eines »korrekten Denkers« im Gegensatz zur fahrigen Leidenschaftlichkeit, zur Verkennung des geziemenden Bewußtseins seiner Lebensstellung, zur Geltendmachung seiner subjektiven Begriffe vom Zukömmlichen ist der Staatssekretär Antonio in Goethes »Tasso«. Da ist der Hofton nicht etwa verkörpert als die tyrannische Regel des Zeremoniells, als die gedankenlose Gesetzgebung einer willkürlichen Anordnung der Standesunterschiede, sondern als die reine Urweisheit und Goethes eigenstes Erfassen von Welt und Zeit überhaupt. Der Minister des Herzogs von Ferrara hat die gleich respektvollen Worte über den Papst, über die Nepoten, über Ariost, ohne sich für den einen oder den anderen dieser Namen ganz zu verbürgen. Er würde auch Tasso von einer gewissen Seite anerkannt und ihm das Seinige gelassen haben, wenn dieser die Schranke seines Standes innegehalten hätte. Der »korrekte Denker« weiß jeden unterzubringen, wohin er gehört. Nicht, daß im innern Mechanismus seines Urteils nicht Pro und Contra zu einem momentanen Anprall gekommen sein könnten, ein kurzer Kampf wird gekämpft, und servil erscheint an ihm nichts. Bald aber hat er sich gefunden, und dann wird die durchgängige Begleiterin seines Wesens, wie bei Antonio Montecatino, die immer triumphierende Ironie sein. Die »korrekten Denker« sind Ironiker. Ständig haben sie in ihren Mienen ein sardonisches Lächeln. Bei ihrem Zustimmen zur Macht der Verhältnisse, das manche Menschen so gewöhnlich erscheinen läßt, wissen sie immer die Grazie zu wahren. Wilibald Pirkheimer und Erasmus von Rotterdam waren solche »korrekte Denker« der Reformationszeit, während Hutten und Luther mit der Tür ins Haus fielen.

Goethes Antonio im schwarzen Scholastergewande, Ciceros Verrinen oder ein Paket durchkorrigierter Extemporalien unterm Arm, war August Ferdinand Ribbeck, der endliche Nachfolger des schwarzen Predigers und Professors N. N. Ein Sohn des ersten Geistlichen der Stadt, des Propstes, hatte er eine Erziehung genossen, die ihn vor allen Merkmalen eines plebejischen Ursprungs bewahrte. Den Schliff des Vornehmen mehrte noch eine Beziehung zu einem Prinzensohne morganatischer Ehe, den er mit einem andern Lehrer der Anstalt, der sich sogar ein Reitpferd hielt und in die Klasse mit Sporen kam, unterrichtete. Der Eindruck dieses in seiner Art ausgezeichneten Mannes auf die Jugend kam schon damals, als derselbe an dem Trifolium teilnahm, das auf Zimmermanns Pensionierung drang (worauf er für einige Zeit die Anstalt verließ, um als Direktor wiederzukehren), den Wirkungen der Antike gleich. Man stand vor einer erhabenen, vornehm lächelnd blickenden Gottheit und suchte sich, zuerst angefröstelt, das etwaige warme Leben derselben heraus. Das erste Urteil, das in des Schülers lauschendes Ohr über diesen Mann, ehe er noch selbst bei ihm Unterricht hatte, gedrungen war, kam aus der Kollegenwelt. Ein zynisch gekleideter, nur kurze Zeit an der Anstalt verweilender, doch für grundgelehrt ausgerufener alter Hilfslehrer hatte Ribbeck vor den Schülern selbst einen »Terroristen« genannt. »Terrorist«, das Wort machte dem Untertertianer zu schaffen. Es blieb lange an seinem Vorstellungsvermögen unerklärt haften. Robespierre, lernte er endlich, war ein Terrorist. Aber jener zynische Hilfslehrer ähnelte selbst einem Robespierre. Vielleicht hatte dieser den Terrorismus der Eleganz bei den Girondisten gemeint, die triumphierenden Erfolge der honetten und wohlgekleideten Leute und der »korrekten Denker«.

Bald befuhr denn auch der höher hinaufrückende Schüler selbst Ribbecks kurzabtrumpfende, schneidige Schärfe, seinen markanten Witz, die vornehme Geringschätzung, die jedes Nichtwissen verwundete und beschämte. Aber allmählich gingen bei längerm Zusammenarbeiten dem Schüler auch die positiven Elemente dieses pädagogischen Antonio auf. Sie lagen in der Fülle und Vielseitigkeit seines Wissens, in seiner gewandten kunstvollen Rede, in seiner klaren Übersicht der Lerntätigkeit einer ganzen Klasse, in dem schnellen Aufrufen, Fragen, der wunderbarsten Anwendung aller Künste der sokratischen Methode. In seinen späteren Jahren trat auch neben Ribbecks kaustischem Witz sein Gemüt, sein herablassendes Wohlwollen und durchweg eine große Abmilderung seiner früheren Schroffheit ein.

Zumpt gesteht in der ersten Vorrede zu seiner »Lateinischen Grammatik«, daß Ribbeck sein Mitarbeiter gewesen. Das Gefühl für Sprachrichtigkeit war bei diesem Lehrer ein außerordentliches. Nicht nur beruhte es auf seinen Studien, von denen einiges Gedruckte Zeugnis gibt, sondern mehr noch auf seinem Takt- und Schicklichkeitsgefühl. Die letzten Reste berlinischen Jargons wurden den Schülern durch einen wahren Schauder ausgetrieben, der den Lehrer beim Anhören gewisser Worte, wie etwa »drängeln« und dergleichen, überfiel. Er hielt sich beide Ohren zu, wenn man etwa übersetzte: »Es war dem Julius Cäsar zu Ohren gekommen!« »Die Ohren wachsen einem ja förmlich zu Eselsohren!« rief er mit seiner schneidenden, in der Höhe durch die Nase gehenden Stimme. »Es war dem Julius Cäsar zu Ohr gekommen«, mußte man sagen. Zu figürlichem Gebrauch für »Wissenschaft«, »Kenntnis« ist der Plural unpassend.

Zu beklagen war des Gestrengen Neigung für kursorische Lektüre. Die Alten ließ er förmlich durchjagen, ohne daß er die volle Reproduktion dessen, was man las, in unserm Vorstellungsvermögen abwartete. In den Reden des Cicero z. B., in den Verrinen, trat kein Stillstand ein. Lexikographie und Grammatik boten ihm allein die Anhaltspunkte einer Erläuterung; für Zumpt und Buttmann tat er alles. Die Vertiefung in das Gelesene selbst jedoch, Archäologie und Geschichte, die gezogene Moral des Gelesenen kamen zu kurz. Glücklicherweise ging seine Vorliebe für Etymologie und Syntax nicht so weit, uns, wie künftigen Philologen, Parallelstellen zu diktieren, wie leider einige andere Lehrer taten.

A. F. Ribbeck kam in späteren Jahren auch noch an die Direktion des Grauen Klosters, fühlte sich brustleidend und ist auf einer Reise nach Italien in Venedig gestorben. Sein »Terrorismus« war denn doch wohl überwiegend nur sein organisatorisches Talent, das jede Unvollkommenheit durchschaute, nirgends etwas Halbes duldete. Gewiß war er eine ästhetische Natur, im Stil Platens und Rückerts. Die Form ging ihm über den Inhalt. Damals war die Zeit des durch Zelter, Friedrich Förster u. a. ein- und mit einer gewissen aufdringlichen Absichtlichkeit durchgeführten Goethekultus. Es lag Methode in diesem oft überspannten Preisen eines Heroen, der den »korrekten Denkern« (»Hofräte« hat sie Börne später genannt) gegen Schiller vernachlässigt erschien. Man ließ Preisausschreibungen ergehen für das beste Gedicht auf den »Alten in Weimar«. An einem Wettkampf zwischen mehreren bekannten Namen, zu denen auch Ribbeck gehörte, wer Manzonis berühmte Ode auf den Tod Napoleons am besten übersetzte, beteiligte sich damals das ganze gelehrte Berlin. Seltsam aber, daß von diesen und ähnlichen Neigungen (auch für Germanistik) nur äußerst wenig an dem praktischen Pädagogen in der Klasse sichtbar wurde. Die größte Feinfühligkeit für dichterische Schönheit konnte von Ribbeck vorausgesetzt werden, ebenso ein verächtliches Ablehnen dessen, was seinen Neigungen und demjenigen widersprach, wofür sich sein persönlicher Geschmack gelegentlich entschieden hatte. Aber bei alledem erlebte man in seinen Lektionen nie eine Abschweifung auf die Gegenwart, nie einen Fingerzeig für ein Unterrichtsgebiet, das vielleicht einem andern gehörte. Und doch – wie würden den Primaner, der sich schon von draußen her seine innere Welt bestimmen ließ, einige Winke ergriffen haben über die Zeit und ihre Erscheinungen, und wenn es nur ein Wort über Goethes Faust gewesen wäre! Solche Offenbarungen existierten nicht. Ich gestehe, daß ich zu Ribbecks Lieblingsschülern gehörte, wenn ich auch wohl am schroffsten die guten Erwartungen täuschte, die seine Vorliebe hegte. Seine Religiosität war die Schleiermachersche, damals die maßgebende für all diese Ausläufe der Romantik, die sich noch ab und zu wieder zu erheben versuchte. Auch auf diesem Gebiet hatte man die »korrekten Gläubigen«. Was man bekannte, war selbstredend nicht das Christentum des Pastors Jänicke in der Böhmischen Kirche, aber man würde sich doch noch eher zu diesem bekannt haben, wenn man zwischen ihm und Röhr-Wegscheider hätte wählen sollen. Ich erinnere mich nicht, ob auch Strauß in seiner Schrift »Die Ganzen und die Halben« auf den Schein einer größeren geistigen und gesellschaftlichen Vornehmheit im Bekennen auf Schleiermacher Nachdruck gelegt hat.

Die Romantik hatte sich überlebt. Im Verse durch ihr Auslaufen in langatmige Epen, wie Schulzes »bezauberte Rose«, in der Prosa durch ihr Auslaufen in Tiecks Novellen, meist kapriziöse Einfälle, die mit dem Aufgebot seines gewandten Dialogs und manches erheiternden, aus dem Leben gegriffenen Charakters auf Augenblicke eine gefällige Wirkung zurückließen. Neue Schößlinge trieben aus dem alten Stamm des poetisch-nationalen Dranges zur Poesie, vor dem ja alle »Schule« zur Nebensache werden muß. Uhland war seines Ursprungs Romantiker. Mit seinem Freunde Justinus Kerner wurzelte er tief in den Anschauungen von Kunst und Leben, die sich, den Paragraphen der Lehrbücher unserer Literaturgeschichte zufolge, damals schon als überlebt hätten bekennen sollen. Zum Glück war die Triebkraft seines an Goethes bestes Teil wieder anknüpfenden Talentes eine freie, individuell gestaltende. So brach denn ein neues Zeitalter an, ein positiv schaffendes, dessen Kundgebungen vorzugsweise in der Lyrik und lokal in der Sphäre des Stuttgarter »Morgenblatts« auftraten. Unvergeßlich ist mir das erste Hereinfallen des Namens Uhland in unsere lateinische Welt. Es war ein Eindruck auf uns Sekundaner, wie wenn sich ein Schmetterling in ein Zimmer voll werkeltägiger Arbeit verirrt hätte, ein Sonnenstrahl in eine düstere Kammer, eine Blume geworfen worden wäre auf unsern von schweinsledernen Büchern beschwerten Schreibtisch. Die Nennung war nur vorübergehend, beinahe sogar scheu, als hätte der Name Heinrich Heine gelautet. Und mit der Empfehlung war zugleich eine Warnung verbunden, die so seltsam klang, als wäre sie aus dem Schall des Namens hergeleitet gewesen. »Ein Dichter«, hieß es, »der die Sage meisterlich zu behandeln versteht, ist jetzt Uhland. Er hat nur den Fehler, nicht immer das Düstere und Unheimliche zu vermeiden.« Oder waren das trauernde Königspaar, des Sängers Fluch gemeint? Die Zeit reifte, wo die Düsseldorfer einen Dichter illustrieren sollten, der immer mehr anfing, Liebling der Nation zu werden.

Der kühne Neuerer, der in die abgelesene Franz Hornsche Literaturgeschichtenweisheit, in dies ewige Einerlei von Bodmer und Gottsched, Klopstock, Voß, Lessing, Schiller und Goethe den Namen Uhland warf, war ein schlanker, magerer junger Lehrer, der noch etwas vom Studenten hatte, ein Angehöriger der vielverzweigten Schulfamilie Passow, Karl Passow. Sein Vortrag fesselte so lange durch eine frische Anregung, die den Reiz eines wie eingeschmuggelten geistigen Lebens von draußen her für uns hatte, bis die scharfe Beobachtung der Jugend auch ihm seine Schwächen abgesehen hatte. Seine Einleitungen der ersten Lektionen im neuen Lehrkursus waren überaus fesselnd. Sie versprachen alle Herrlichkeiten des »Fortsetzung folgt«. Plötzlich trat aber auch bei ihm Erschlaffung, Zerstreutheit, Mangel an Präparation ein. Die Stunde bekam den Charakter eines Stegreifvortrags. Erst da, als sich die Ursachen dieses Nichtworthaltens nach so vielverheißendem Anfang zu lichten anfingen, ging das Schifflein wieder mit vollem Segeln. Es war die Aufgabe des jungen Philologenehrgeizes gewesen, die Episteln und Satiren des Horaz ins Deutsche zu übertragen. Nun wurde der bald zum Joachimsthal versetzte Lehrer fast wieder zu voll des Stoffes, so daß wir uns in der Lektüre des Horaz nur schneckenartig fortbewegten und für eine einzige Epistel fast ein Vierteljahr brauchten.

Den Preis des anregenden Lehrvermögens erwarb sich ein Angehöriger der ebenfalls weitverzweigten Lehrerfamilie Giesebrecht. Von diesem hieß es, er wäre Rektor einer mecklenburgischen Stadtschule gewesen. Sein Erscheinen war ein vorübergehendes und hatte etwas von einer Probezeit oder Aushilfe. Bei diesem trefflichen Manne, der die Historien des Tacitus mit uns las, kam all die Anregung zur Geltung, die nur im vielseitigen Wissen eines Lehrers, in seiner eigenen Ergriffenheit vom behandelten Stoff liegen kann. Giesebrecht hatte einen nicht starken, aber eindringlichen, etwas provinziell gefärbten, doch immer männlichen Ton, den Ton einer reifen, fast hätte man sagen mögen, schmerzlich geprüften Lebenserfahrung, einen Ton, der so ganz im Einklang mit dem düsteren Kolorit in den Erzählungen des Tacitus stand, mit den elegischen Betrachtungen, dem Schmerz über Zeitenlauf und Schicksal und die Seltenheit der redlichen Charaktere. Dabei bot die Erläuterung dieses Lehrers nach einer seither gründlich bei uns vernachlässigten Seite hin, der archäologischen, eine Unterhaltung, die schon allein gefesselt haben würde ohne das Werk des großen Historikers selbst, das dann auch um so schärfer und klarer zutage trat. Wir lasen bei andern Sophokles und selbst Äschylus. Wir traten an die Tafel und gaben mit Kreide den Bau der Chöre an. Das metrische System Gottfried Herrmanns war durch die Schüler August Boeckhs noch nicht verdrängt. Schlesien schien ein Privilegium zu haben, die Zöglinge des Breslauer Seminars auf die berlinischen Schulen zu schicken. Auch den Sophokles erläuterte ein Schlesier, sogar ein damals mit Achtung genannter Editor der Tragiker. Aber das Ganze seiner Leistung verlief in Mittelmäßigkeit. Der selbstgefällige Ton des Erklärers konnte nicht fortreißen, auf die Länge nicht über die Tagelöhnerei erheben. Wann wird man endlich anfangen, in den Lehrplan der obersten Klasse eines Gymnasiums eine oder zwei Stunden für die Lektüre und Erläuterung guter Übersetzungen der Alten aufzunehmen! Der Vossische Homer gilt für verpönt in des Schülers Hand, und an welcher Quelle anders gewann er denn die Totalübersicht über den großen Sänger von Ghios? Im Urtext geht der Inhalt über dem ewigen philologischen Knaupeln am Worte dahin. War im griechischen Text einer Göttin ein Beiname gegeben, sogleich folgte ein langer Exkurs über den Ursprung desselben. Oder eine seltene Wortformation brachte wieder ein ganzes Kapitel der Grammatik in Mitleidenschaft. Das Lesen anerkannt gelungener Übersetzungen wird manche Erläuterung nicht ausschließen, aber ein Gedicht wird nur allein auf diese Art objektiv erfaßbar, die Schönheiten desselben werden nur so dem Verständnis und Genuß zugänglich. Was ein Primaner an griechischem Wortwissen schon aus Sekunda mitbringt, ist wahrlich für jeden gelehrten Lebensberuf, den philologischen mag man ausnehmen, ausreichend.

Schlesier und kein Ende! Eine Zeitlang war auch der Physiker ein Schlesier. Diesmal nicht nur in seinem Fache der Sattelfestesten einer, sondern auch ein mit Lehrgabe und liebenswürdiger Bonhomie ausgestatteter Dozent. Niemand anders als der berühmte Dove. Obschon in diesem Fach verhältnismäßig selbst einer der ungenügendsten Schüler, begriff ich doch die Klarheit der Demonstration, die Leichtigkeit im Herbeiführen des gelungenen Experiments, des Lehrers Schöpfen aus einem beinahe für uns zu reichen Wissen. Denn hemmend war den Zurückgebliebenen allerwege die leichte Handhabung von Begriffen, die für sie noch auf der Liste des Unerklärten standen. Mit »Kali« und »Natron« warf der Lehrer um sich wie mit selbstverständlichen, mit uns auf die Welt gekommenen Begriffen. Oft hätte ich den anmutig Plaudernden, der die Hörer wie mit Sirenenton zu fesseln verstand und schon damals auf seinen Ehrensitz in der Akademie der Wissenschaften loszusteuern schien, unterbrechen mögen mit der Bitte, über unsere Sphäre nicht hinauszufliegen und uns gefälligst erst an – Sauerstickstoff, Oxyd und ähnliches Abc seines Wissens gewöhnen zu wollen –! Aber ein junger Dozent umfängt seine Wissenschaft wie der Jüngling seine Braut. Er möchte ihr alle Schätze zu Füßen legen, alle Herzen gewinnen, jedes Ohr zum Vertrauten seines beneidenswerten Glückes machen.

Als flüchtige Erscheinung tauchte schon früher ein anderes, spätres »Mitglied der Akademie der Wissenschaften« auf, der Mathematiker Steiner, seines Ursprungs ein Schweizer Hirtenknabe, der von seiner Herde zu Pestalozzi nach Iferten gelaufen kam und unterrichtet sein wollte. Dem Ärmsten machte sein Schweizerdialekt zur vollständigen pädagogischen Unmöglichkeit für Norddeutschland. Einen Kommilitonen namens Isleib nannte er zum Jubel der Klasse regelmäßig »Iselebbe«, welcher Name ihm denn selbst verblieb. Der Versuch mit ihm währte kaum länger als ein halbes Jahr.

Das Chaos der Anstalt hatte sich durch Ribbecks Direktorat etwas gelichtet. Ganz beseitigen ließen sich die alten Elemente nicht. Professor N. N., der Bewunderer Franz Horns, behielt den deutschen Unterricht bis in die obersten Klassen und ging in seinen Vorträgen nur rückwärts, vom Göttinger Dichterbund und übersprungenen Wieland auf die Schlesische Dichterschule, die frommen Liedersänger Dach, Weckherlin, Paul Fleming, deren Lieder uns vorgelesen, deren Lebensumstände breit und umständlich erzählt wurden. Es ist die größte Torheit, unsere Jugend mit Perioden unserer Literaturgeschichte zu unterhalten, die nur noch höchstens durch das Gesangbuch mit unserm Jahrhundert und der Bewährung unsrer Bildung im Zusammenhang stehen. Nur die »philosophische Propädeutik« eignete sich der neue Direktor selbst an. Das war denn allerdings eine wahre Luftreinigung der alten Atmosphäre der Anstalt, ein Bad, ein Strudelbad, Dusche und Sturzwelle zugleich für uns. Ein Lehrsystem zu geben, schien dem Dozenten mit Recht nicht am Orte; uns historisch von Kants Ding an sich und Fichtes Ich gleich Ich zu unterhalten, wohl nicht minder. Ribbecks Methode war die, einige Begriffe, meist synonymische, zu wählen und diese von allen Seiten mit Schnellfragen zu vorausgesetzten Schnellantworten zu betrachten. Die ganze Klasse schien in die Denkoperation eines einzigen verwandelt. Einer dachte mit dem andern dasselbe, sollte es wenigstens denken, Pausen und Stockungen wurden nicht zugelassen; wer nicht unmittelbar antwortete, wurde durch den Aufruf derer beschämt, die zumeist sicher am Platze waren. Der Eindruck am Schluß dieser katechetischen Stunde war regelmäßig der, daß sich Lehrer und Schüler wie nach einer gelungenen Kunstleistung gegenseitig hätten Glück wünschen können. Drei der Primaner wurden damals von den anderen ehrenvoll als eine »Selekta« abgesondert. Ein späterer, schon verstorbener Pfarrer Hermann Böttcher, der jetzige Professor der Philosophie in Greifswald, George, und meine Wenigkeit.

In den letzten Zeiten des höheren Schullebens tritt eine Erschlaffung, eine wahre Sehnsucht nach endlicher Erlösung vom Schulzwange ein. Immer derselbe regelmäßige Gang der Beschäftigung, immer die gleiche Verpflichtung zur Arbeit, die Abhängigkeit vom Stundenschlag bis zur Minute –! Und dabei doch so viel Reiz schon zur Freiheit, so viel Verlockung durch den Anblick des ungebundenen Studententums, das in jener blühenden Zeit der Berliner Universität und bei den noch kleinen Verhältnissen einer damals wenig über 200 000 Einwohner zählenden, geographisch auffallend isolierten Stadt weit mehr hervortrat als jetzt. Welche Anstrengung schon der täglich viermalige weite Weg zur und von der Schule! Die Anstalt wurde verlegt, doch den in der Friedrichsstadt Wohnenden nicht näher. Das sogenannte alte »Fürstenhaus« beherbergte damals in seinen vorderen Räumen das »Intelligenzkontor«, in seinen hinteren, an die Königliche Münze grenzenden, kurz vorher ein Gefängnis für »Demagogen«. Ein Zufall hatte mich vor Umwandlung in unsere Gymnasialansiedlung in diese vergitterten Korridore geführt, die von Wärtern mit schweren Schlüsselbunden durchschritten, von Soldaten bewacht wurden. Die einzelnen Kammern hatten Doppeltüren. Hinter ihnen schmachteten Jünglinge aus Thüringen, Westfalen, Pommern, Schlesien. Die schönste Jugendzeit ging ihnen dahin. Darunter mancher Name, der später gefeiert wurde. Die nahe »Hausvoigtei« war überfüllt von den Opfern der Zentraluntersuchungskommission in Mainz, den Vorläufern und Anbahnern von Ideen, die gegenwärtig Fürsten und Minister zu Vertretern haben. Später wurden die Gefangenen zumeist nach Köpenick in jenes Schloß abgeführt, an welchem wir jetzt zur Sommerlust so vergnügt vorüberfahren, um in Grünau Aale zu essen und die Müggelseewarte zu ersteigen. Als unser Gymnasium einzog, war jene Kerkerwelt höchstens noch am Karzer erkennbar. Die Kammern waren zu Sälen durchbrochen; Türen, Fensterladen, Tische, Bänke bekamen einen Anstrich von grüngrauer Ölfarbe. Wir klebten noch fest auf den frischgestrichenen Bänken.

Wie gründlich damals die Universitäten purifiziert wurden, wie nachdrücklich die Griffe gewirkt hatten, die Kamptz in die deutsche Studenten- und Professorenwelt getan, diese traurige Erfahrung, die jahrzehntelang nachhielt und selbst durch die Julirevolution von 1830 noch nicht umgestoßen wurde, ersah sich aus dem Umstand, daß von unseren sämtlichen Lehrern kaum einer, vielleicht Karl Passow ausgenommen, eine Berührung mit demjenigen Geist entweder vertrat oder allenfalls ahnen ließ, der kurz zuvor in diesen Räumen so schwer hatte büßen müssen. Das mit dem Wesen der »Burschenschaften« so nahe verbundene Turnen existierte nicht mehr. Das noch vor wenig Jahren so vielerörterte »Turnziel« war in den Augen der Staatslenker nur der Fürsten- und Ministermord. Selbst das Feuer der Befreiungskriege, das in den Schulen durch Geschichtsunterricht und deutsche Lehrstunde hätte fortlodern sollen, wurde wie ein allzu gefährlicher Brand zugeworfen und erstickt. Die Flammen brachen nur etwa in der Singstunde aus, wenn Theodor Körners »Schwert zu meiner Linken« in der Hand des Jünglings »winken« und der Tod fürs Vaterland als ein der Nacheiferung würdiges Bild in die Herzen dringen konnte. Aber Stellung zu nehmen gegen Napoleon oder Frankreich, das blieb Privatsache des Schülers. Aufklärungen über die Geschichte unsres Jahrhunderts gab es nicht, selbst nicht einmal über unsere Siege.

 


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