Karl Gutzkow
Unter dem schwarzen Bären
Karl Gutzkow

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Frühe Dämmerungen

Vetter Wilhelm war Musselinweber. Ob ihm pure laine oder laine coton, Musselin in Wolle oder Baumwolle, besser zuhanden war, weiß der Neffe nicht zu berichten, das aber kann er versichern, es lebte in dem kleinen vertrockneten Männlein ein seltener Geist, vor allem ein Gottvertrauen und eine spekulative Mystik, die ihn zu einer der merkwürdigsten Personen macht, deren Existenz je in ein junges Menschenleben eingetreten sein kann. Wenn wir die Kunst der Musselinweberei der Stadt Mossul in Mesopotamien verdanken, so lebte der Vetter in seinem Webstuhle wirklich auch nur wie in Mesopotamien. Paulus war ein Teppichweber. Seines ihm nachstrebenden Geistesverwandten Heimat waren die öden Steppen am Euphrat, die grünen Triften des Tigris. Von den Früchten des Ölbaumes und den Datteln der Palme, ja selbst von Heuschrecken, wie Johannes in der Wüste, hätte dieser seltne Mensch leben können. »Vetter« Wilhelm war klein, mager, dürr. Wie seine Schwester (wir hätten ihn Onkel nennen müssen, aber »Onkel« Wilhelm hieß bereits der ältere Bruder des Vaters, der Kammerdiener des Prinzen) hatte er schwarzumbuschte feurige Augen. Sein Blick war voll Geist und Leben, seine Rede scharf und sicher, doch zurückhaltend, da sich ja zuviel des Heidentums und der Weltlichkeit in üppigster, durch keine Polemik auszurottender Selbstsicherheit unter den Menschen bewegt. Vetter Wilhelm, nie verheiratet, nie, wie man glauben mußte, verliebt gewesen, war seinem innersten Wesen nach ein aufrichtiger, von jeder Heuchelei entfernter gläubiger Pietist der alten Spenerschen Schule und mit theologischem Anstrich. Er kannte Jakob Böhme. Er rühmte dessen Glauben und tadelte das Übermaß seines Witzes und das Spiel seiner Phantasie. Der Vetter hatte nicht die Spur von einem Kopfhänger. Über jeden guten Spaß konnte er lachen und seufzte nur, wenn er die reine Weltlichkeit der meisten, auch der guten Menschen gar so sicher sich ergehen sah. Keinem Unchristlichgestimmten war er etwa in offener Feindschaft gram. Er ließ die Mannigfaltigkeit des Lebens, das Durcheinander dieses Menschengewühls, die volle Hantierung und Gewerbefreiheit Satans, wie sie einmal Gott zugestanden hat, gelten und wünschte nur, daß immer mehr und mehr beiseite treten möchten, immer mehr in ihr Kämmerlein gehen und vor Christo, dem Seligmacher, die »eigene Selbstgerechtigkeit« bekennen. Die »Wiedergeburt« war jener Revolutionszustand im menschlichen Gemüt, für welchen er nicht etwa richtend und eifrig, nicht ketzermacherisch, sondern still und gelassen Proselyten warb. Er begnügte sich, wenn er ratlose Zustände, Folgen blinder Leidenschaften aus dem Winkelchen heraus, wo er seine Pfeife schmauchte, sich winden und ächzen sah, die Achseln zu zucken und mit Gelassenheit zu sagen: »So muß es kommen, wenn man Jesum Christum nicht erkennt!« Vetter Wilhelm teilte alle Menschen in drei Klassen: in solche, die wiedergeboren sind, solche, die ihren Tag von Damaskus noch erleben werden, und solche, die »dahinfahren«. Die letztere Klasse war ihm leider die große Mehrzahl der Menschen. Satan mußte ja bis zum Jüngsten Gericht fortleben. Da gehörten ihm nicht nur die Säufer, die Lügner, die Ehebrecher, sondern »Dahinfahrende« waren auch viele Vornehme, Reiche, Gewaltige, und die, denen es obendrein von allen am schlimmsten ergehen würde, waren berühmte Schriftgelehrte und bewunderte Hohepriester und Pharisäer. Der Stallturm der Akademie liegt nahe der Universität. Unter den Professoren, die da so selbstzufrieden aus ihren Kollegien kamen, waren nur wenige, die für den Vetter nicht zu den Dahinfahrenden gehörten. Hochmut auf Wissen, Pfaueneitelkeit waren ihm schon allein die Anwartschaft auf nähere Bekanntschaft mit dem Satan. Diese Verurteilung begründete sich nicht etwa auf blinde puritanische Bibelklauberei, nein, der Vetter war in seiner Art ein gelehrter Mann, der die Textkritik kannte. Er kannte die Geschichte Roms, Griechenlands, der Deutschen und der Franzosen. So arm er war und so schlecht »die Musselinweberei« ging, so hatte er sich doch die Übersetzungen der Schriften von Pascal und Bossuet zu verschaffen gewußt. Es gab auch Vereine, aus deren Bibliotheken der alte Webergesell (denn das blieb er, obschon Meister und ohne sozialistische Prätensionen) Bücher entlieh. Er kannte Schröckhs Weltgeschichte, hatte alle nur erdenklichen Erbauungsschriften von Spener, Arndt, J. V. Andreä bis zu den neuesten Werken von Neander, dem »Glockentöne-Strauß«, Lisco, Couard, besonders aber dem Konvertiten Goßner gelesen. Er kannte nicht nur Sokrates und die Allgemeinheiten der altgriechischen Philosophie, nicht nur das meiste von Jakob Böhme und einiges von Tauler und den Scholastikern, sondern sogar allgemeine Umrisse von Schelling und Hegel, bei denen er natürlich nur den sich ohnmächtig abmühenden Menschenwitz und ein gelehrtes Heidentum belächelte. Die wissenschaftlichen Ausdrücke verwelschte er auf die sonderbarste Art, sprach auch in der Regel berlinisch und würde es, wie ein echter Berliner, für Affektation gehalten haben, mich zu sagen, wo auch Blücher mir sagte, aber er ahnte, was Subjekt und Objekt, Idealität und Realität hieß. Auch in Politicis stand er weit über den damaligen Berliner Zeitungen. Doch hatte es lange gewährt, bis sich der Knabe über eine seiner stehenden Terminologien klarwerden konnte, »die Propriande«. Bei jeder Gelegenheit bezog er sich auf die Wirkungen der »Propriande«. Was Satan nicht tat, tat die »Propriande«. Doch war letztere nur die Avantgarde des erstern. Wir müssen von seiner Geschichtsphilosophie ausführlicher sprechen.

Vetter Wilhelm war Apokalyptiker. Mit ruhig lächelnder, unerschütterlich sicherer Überzeugung stellte er seinem Neffen die Weltalter nach den Gesichten der Offenbarung Johannis dar. Das große siebenköpfige Tier, mit welchem die Könige buhlten, war ihm Rom, der Papst, der Antichrist. Napoleon war ihm eines der Zeichen, die »der Wiederkunft des Herrn« vorangingen. Die »Propriande« arbeitete für die Zukunft des Gerichts dem allgemeinen Siege des Antichrists voraus. Denn der Antichrist (zuweilen wurde er auch mit dem Namen Voltaire bezeichnet) mußte ja siegen. Je mehr »Aufklärung«, desto mehr lachte der Vetter. »Nur zu! Nur zu!« Das Maß konnte in seiner fast inbrünstigen Sehnsucht nach dem Ende aller Dinge und dem Tage der Auferstehung nicht voll genug werden. Dann kam die Periode der überlaufenden »Zornschalen«. Der Vetter berechnete alles chronologisch, wie nur Bengel getan, in den er sich ebenfalls vertieft hatte. Die Propriande war die wühlende Genossenschaft der Propaganda, und zwar in dem doppelten Sinne der römisch-katholischen und der politisch-pariserischen Propaganda. Die Propriande, welche Professor Krug in Leipzig bekämpfte, und die, die der Minister von Kamptz nach Köpenick schickte, war ihm eine und dieselbe. Die Jesuiten und die Turner waren ihm Äste und Ausläufer desselben Baumes, der in Rom wurzelte; die Äste wußten es nur nicht. Vetter Wilhelm wäre Staatsrat geworden, hätte er diese loyalen Ansichten auf eine wissenschaftliche Ausbildung begründen können.

Der Knabe staunte der seltsamen Weisheit. Jede Tatsache seiner geliebten Beckerschen Weltgeschichte hatte beim Vetter ihre apokalyptische Zahl. Gregor, Innozenz, Friedrich der Hohenstaufe, Papst Leo, Wallenstein, Friedrich der Große, Voltaire, Napoleon, alle waren stigmatisiert schon vor ihrer Geburt mit irgendeinem Zeichen aus dem Buche aller Bücher. Seine eigene Schwäche nicht erkennend, klagte er Bengeln an, daß dieser aus Ungeduld, die Wiederkunft Christi zu beschleunigen, in seinen Auslegungen Sprünge gemacht hätte, die sich später, als eine so ungemein apokalyptische Zeit wie die der Französischen Revolution und Bonapartes anbrach, als übereilt erwiesen. Das Verhältnis Bonapartes zum Papst, das gegenseitige Sichselbstauffressen der Köpfe jenes Tieres, auf welchem die Babylonische Kokotte thront, interessierte ihn außerordentlich. Natürlich waren die Jesuiten die Seele der »Propriande«. Sie grade arbeiteten in ihr à deux mains, kirchlich und politisch. Jahn, Arndt, Görres und ihr Anhang waren ihm Einfaltspinsel, die im Auftrag der Jesuiten handelten, sie wußten es nicht.

Wenn Vetter Wilhelm »keine Arbeit« hatte, so schlief er bei seinem Schwager und dicht in der Nähe der Kinder. Zünftiger Meister seines Gewerbes war er in jüngeren Tagen geworden, hatte aber mit dem ersten »Stuhle«, auf dem er für eigene Rechnung Musselin zu weben begann, Unglück und konnte sich in Zukunft nur noch als Geselle zu anderen, meist fast ebenso armen Meistern halten. Wenn der Vetter zu lange arbeitslos gewesen und sein Herz im Drucke der getäuschten Erwartung auch zu lange hatte zagen müssen, so hörte der Knabe des Nachts ein so lautaufseufzendes, jammervolles Atmen neben sich, daß er davon erwachen mußte. Dann rangen sich die tiefsten Weherufe von des Vetters Herzen, und ein fast hörbares Klopfen seiner Brust steigerte sich dermaßen, daß er zuletzt laut zu beten anfing, und fast so, als wüßte er selbst von seinen Worten nichts. Der Erzähler hört ihn noch, wie er in einer Nacht, wo sein Schmerz den neben ihm Schlafenden geweckt hatte, mit auf der Brust gefalteten Händen sprach: »Du, mein Heiland, nimm mich doch zu dir, so es dein Wille ist! Laß mich doch in meines Herrn Freude eingehen, so es dein Wille ist! Laß mich doch sterben, o mein Gott, und deine Herrlichkeit schauen, so es dein Wille ist!« Zitternd rief der Neffe: »Vetter, schlafen Sie denn noch nicht?« Er schwieg. Er hatte den Anruf kaum gehört. Es war, als lebte sein Geist in fremden Welten. Diese Nacht blieb dem Knaben unvergeßlich. Doch lebte Vetter Wilhelm noch viele Jahre darnach. Er nannte solche Zwiesprache mit Gott »das Gebet im Kämmerlein.« Wie anders helfen sich jetzt die Arbeiter mit Streikmachen, Staatshilfe und Gewinnanteil! Der Vetter verlangte nichts für den Arbeiter, als hohe Zölle für die Produktion des Auslandes.

Die Schwester eines so sinnigen Bruders mußte es in ihrem Naturell haben, dem stürmischen Charakter des Vaters eine imposante Ruhe entgegenzustellen. Aber diese Ruhe war nicht Phlegma, nicht einmal Selbstbeherrschung, es war die Ruhe, die eine nicht minder lebhafte Beweglichkeit gibt, die Beweglichkeit des Gemüts, wo Verstand und Herz im glücklichsten Gleichgewicht leben. Es ist hier von armen, geringen Menschen die Rede, aber wirkt es nicht wohltuend und beruhigend, wenn wir noch in den Urquellen des Volks so viel Reinheit, Lauterkeit und ohne alle wissenschaftliche Bildung flüggen Verstand antreffen? Es darf uns nicht gegenwärtig genug bleiben, was wir im Volke (abgesehen von den meist allein geschilderten Ausnahmen von der Regel) im großen und ganzen noch so viel Grundstoff und echte Bodenkraft sittlichen Lebens antreffen. Der Autor spricht von diesen Menschen nicht, weil sie zu ihm in Beziehung gestanden haben, sondern weil er meinen muß, es kann nur Freude gewähren, so in das Gewöhnlichste und Unbelauschteste des Lebens einzublicken. Noch jetzt ist das ursprünglich Gesunde, echt Deutsche, ja man möchte zuweilen sagen, peinlich Pedantische im Charakter des Berliners nicht ganz verschwunden nach den moralischen Umwälzungen und dem sittlichen Bergab der Stadt seit 1848.

Die Mutter hatte fünf Kinder, von denen zwei früh starben. Sie war klein, von zarter Haut, sanften Gesichtsformen und einer Lebhaftigkeit der Mienen, die Freude und Schmerz, Furcht oder Liebe, Teilnahme oder Abneigung sofort widerspiegelten. Weiter als bis zum Mienenausdruck erstreckte sich die Leidenschaft dieser immer regen Natur nur dann, wenn eine Beherrschung eine Niederlage geworden wäre. Für gewöhnlich hatte sie ein strahlendes, bald dunkles, bald helles Auge, ein immer blitzendes, begleitet von einem Nicken, wo Zustimmung, von einem Zusammenziehen der Augenbrauen, wo Abneigung verraten wurde. Doch das alles verriet sich nicht so schnell. Hier ließ die gutmütigste Schlauheit einen Narren plaudern, bis er ermüdet war, und behielt sich die eigne Meinung, ohne darum eine andere, falsche herauszuhängen, vor. Die erlaubte List der Diplomatie wurde von ihr ebenso klug geübt, wie die unerlaubte verabscheut. Ruhig wurde entgegengenommen, was des andern Absicht und Begehr. Stimmte das Vernommene nicht mit den eigenen Wünschen oder Verhältnissen, so war die Abweisung kurz und bündig. Für neutrales Verhalten gab es sanfte und milde oder kurze, zum Abwarten ratende Worte. Der Befreundete wurde mit frohem Gruß empfangen, ohne Überschwall. Kam die Mutter zu anderen, so brachte sie vor allem sich selbst mit, und das galt mindestens soviel wie ein Korb voll Neuigkeiten. Trotz der langstrichigen Haube, die sie trug, trotz des kattunenen Kleides oder grobwollenen Überrockes war es eine Person, ein Ich, das sie darstellte. Bescheiden war sie gegen Vornehme und nicht unterwürfig. Nie zudringlich, nur zutraulich. Schnell dem Menschlichen nahe und für Freud und Leid gewonnen. Hilfreich nach dem Maße des Könnens, am liebsten mit der eigenen Person dienend bei Kranken und Gebrechlichen. Bei einem weinenden Kinde auf der Straße nicht nur Trost spendend, sondern auch Nachfrage haltend, Untersuchung, Strafe oder Drohung äußernd gegen die Bedränger. Immer prüfend und auf der Hut gegen alles, was von Menschen oder vom Schicksal überhaupt Schlimmes kommen könnte. Im Sommer Sorge tragend für den Winter, im Winter Sorge für den Sommer. Den Kindern und dem Gatten in gesunden, fröhlichen Zeitläuften ein scharfes Auge, oft mit schmälendem und lärmendem Munde über Törichtes, Unerlaubtes, Willkürliches, oft auch genug strafend. Strafte sie, so geschah es mit dem vollen Ausbruch des eigenen Ingrimms, nicht etwa mit jener pädagogischen Kühle oder dem grausamen sogenannten »kalten Blute«. Wiederum dafür in Krankheit, beim geringsten angewehten Übel oder auch nur bei Hilflosigkeit, und wäre der Jammer von einem fehlenden Knopf gekommen, eine überströmende Hilfe, in allen Händen dann Rat und Tat und zutunliche Liebe.

Diese Mutter konnte nur lesen, nicht schreiben. Sie wußte von wissenswürdigen Dingen nichts als die nächste Sphäre ihres Lebens und einen kleinen Hausschatz von Kinderliedern, mit denen sie ihre Lieben zu wahren Paradiesesträume einzusummen verstand. Je weniger sie auf dem Wissen ausruhte, je weniger sie für ihren Verstand die Schule eintreten lassen konnte, desto ureigener mußte ihr Geist wirken. Bei begabten Naturen ist das Wissen eine Waffe, bei minderbegabten ein niedergerissener Wall. Begabte, die nichts wissen, verschanzen sich mit sich selbst. Ihr Horizont ist eng, aber klar und rundum übersehen. Diese Mutter hatte keine Vorstellung von der Größe der Welt und der Verschiedenartigkeit der Menschen und Sitten. Sie ging nie auf Fernes oder Fremdes wagsam ein und konnte in aller Gelassenheit fragen, ob in Wien auch eine Spree wäre? Das aber, was ihr scharfes Auge erreichen konnte, lag ihr um so klarer und offner vor. Sie war des Gatten unmittelbarer Gegensatz. Ein immer Schweifender, Unruhiger wie ein Strichvogel, ein Herz voll Enthusiasmus, Liebe und Zorn, je nachdem, hatte sich die Maßhaltende, Besonnene, Vernünftige, Zügelnde und Lenkende gewählt. Es fehlten die heftigsten Konflikte nicht, aber die Gutmütigkeit und die Gewöhnung entwirrten sie. Die Mutter verwaltete die Kasse und gab dem Vater sein tägliches Taschengeld.

In einer solchen Welt, umgeben von so bunten Eindrücken, konnte des Knaben Bewußtsein nur wie von einem Traumleben ins andere erwachen. Rinnen ohnehin doch Wirkliches und Unwirkliches in erster Kindheit zusammen. Eine logische Aufeinanderfolge des allmählichen Erwachens aus dem vegetativen Leben wird sich niemand gegenständlich machen können. Einzelne Lichtstreifen fahren in der Erinnerung, freilich oft bis zum Greisenalter treu bewahrt, über diese erste Nacht des schlummernden Geistes. Es sind Erinnerungen vom Zufälligsten und für die allmähliche Menschwerdung manchmal Unwesentlichsten. Oder bedingten etwa gerade diese unwesentlich scheinenden Lichtblitze die spätere Hellung? Wer in seine erste Jugend zurückgreift, Momente festhalten will, was hält stand? Nichts von dem, was z. B. andere an ihm sahen. Zu unsrer Überraschung hören wir in späterer Zeit andere erzählen von unserer jugendlichen Art oder Unart. Unsre eigne Erinnerung hascht nur kleine blaue, rote, grüne Flecken wie einer, der in die Sonne gesehen. Wie summt und singt's im Ohr von den Liedern, die man auf dem Mutterschoß vernommen! Wie gegenwärtig ist der Glaube an den »Reiter zu Pferd«, den »Hobermann«, den man »mit blanken Stiefeln« auf dem Mutterknie spielen durfte! Wie heimisch ist man in dem baum-nest-vogeleierreichen Zauberlande, das sich ankündigte: »Muhme Reelen hat 'nen Garten, hier 'en Garten, dort 'en Garten, und das war 'en runder Garten!« Manches Erlebnis hält sich nachdrücklich fest. Daß die Schwester den Knaben auf dem Nacken reiten ließ, der Reiter niederstürzte, im Blute schwamm, lebenslang davon Narben behielt, steht noch nach dem Orte, wo der Unfall geschah (vor dem jetzigen »Nationaltheater«), vor dem Auge des damals Dreijährigen. Aber sonst sind die Erinnerungen bunt durcheinandergewürfelt und knüpfen sich an Spiele, Natureindrücke, Geschenke, Überraschungen, Besuche, heftige Strafen, besonders die ungerecht erlittenen. Zwischendurch tönt fort und fort eine Art Melodie, ein einziges Klingen, wie wenn man sich eine große Meermuschel ans Ohr hält.

In stillen, wehmütigen Stunden des Alters ziehen die zitternden Klänge der ersten Jugend an uns vorüber. Es sind glückliche, traumselige Klänge und Empfindungen. Sie stammen von Dingen, für welche sich die Eindrucksfähigkeit unsrer Sinne jetzt völlig abgestumpft hat. Das Liegen im Grase! Haben unsre Geruchsnerven noch den Reiz, die Düfte nachzuempfinden, die dem Knaben die langen Blätter der Grashalme ausströmten, die gelben Butter- und Kuhblumen, die zarten Gespinste des Löwenzahns, dessen Kronen man im Alter nur noch abbläst, um seine schwindende Lungenkraft zu prüfen, in der Kindheit, um einfach zu zeigen, daß man »Lichter ausblasen« könne, und aus dessen weißsaftigen Stengeln man sich Ringelkränze windet? Hat man noch Appetit für jenes Kraut, dessen abgewirbelte Samenstengel die Kinder wie die Ziegen zerkauten, und vor allen für jene wie Salep schmeckenden abgeschälten Fruchtknoten, die der Berliner Jugendtroß, unter Schafgarbe und Kamillen suchend, »Käse« nennt? Hat unser Ohr noch einen Reiz für das Rascheln von welkem Laub, womit man sich im Oktober und November Hütten, Stuben, Kammern baute und sich traulich einnistend in ihnen lagerte, bis die Pedelle der Universität mit ihren Rohrstöcken kamen und die Vorsteller dieser Ifflandschen Familiengemälde unter den entlaubten Bäumen des Kastanienwaldes verjagten? Alle Reize unsrer späteren Sinne würden diesen Szenen keinen Genuß mehr abgewinnen. Was hört nicht alles das Ohr des Kindes mit Behagen, ja mit Wollust! Das einsame Sägen in einer Holzkammer, wie dringt es zum lauschenden Kinde so feierlich sicher und majestätisch konsequent herüber! Alle Lehrworte, zum Fleiß ermahnend, wirken nicht so viel wie ein solches stilles Beispiel von hin und her fahrender treuer Ebenmäßigkeit, wie z. B. vom Häckselschneiden auf dem Stallboden. Man erinnere sich: Das Bersten des ersten Wintereises auf den Straßen unter dem vorsichtig prüfenden Fuße –! Das Knirschen des festgefrorenen Schnees –! Das Ächzen der Lastwagen über ihm her –! Wie gewährt das Ausschütten und Rütteln von Walnüssen zur Weihnachtszeit einen so seligen Sinnenreiz –! Die Vorstellungen, die sich mit diesen Lauten verbinden, sind es nicht allein, die uns damals so wohlgetan, es waren die Laute selbst. Aber zu grelle Töne verwundeten dann auch das Ohr fast physisch. Der Knabe wurde ein Liebhaber der Musik, lernte sogar die Flöte blasen, aber die Violine konnte er nicht streichen hören, ohne vor Schmerz zu weinen, vor wirklichem physischem Schmerz. Der langgehaltene Strich der Geige schien sich eine Resonanz im Nervengeflecht des Unterleibs gesucht und dort gefunden zu haben. Die Eltern mußten ihn von jedem Tanzort entfernt halten. Die Sinne der Kinder sind im jungfräulichen, reizbarsten Zustande. Alles Blitzende, und wären es zertretene Glasscherbenatome auf dem Straßenpflaster, reizt Kinderaugen wie Diamanten. Eine Zeichnung, die dem Kind schon an sich gefällt, wird zum Überfluß illuminiert. Die bunten Bilderbücher, so grell ausgemalt, stumpfen den Farbensinn des Kindes eher ab, als sie ihn heben. Welche Phantasie weckt ein unausgetuschter Bilderbogen! Der getuschte übersättigt. Man lasse dem Auge seine Lust und gestatte dem Kinde, aus dem bunten Kasten die Farben zu wählen, die ihm die wohltuendsten sind, und malte es den Soldaten grüne Stiefel und den Rittern rote Helme. Die Welt, die der Wirklichkeit entspricht, findet sich schon. Man lasse sie, ohne pedantische Belehrung, durch diejenigen Anschauungen hindurch sich entwickeln, die dem Kinde die liebsten sind. Des Kindes Ohr findet mehr Wohllaut im Spatzenlärm als im Gesang der Nachtigall. Es liebt die rüstige, rührige Welt, die sich rüstig und rührig auslebt. Eine Wassernachtigall von Porzellan, die mit aufgegossenem Wasser beim Blasen einen schmetternden Ton gibt, war dem Knaben anfangs lieber als die wirklichen Sprosser, die sich die Nachbarn hielten, oder die eigene Lerche, die im dunkelverhangenen Käfig ihre Sehnsucht nach dem Felde auswirbelte. Für Lerche und Nachtigall kommt erst das Ohr aus dem reifenden Herzen. Das Kind wälzt sich im Heu und Stroh mit einer Lust, die nicht bloß ihre Quelle in der Ausgelassenheit hat. Es strömen ihm aus Heu und Stroh Düfte entgegen, die das wahre Doppelpatschuli und Luxusarom der Jugend sind. Das Naschen, das wir aus moralischen Gründen bestrafen, entspringt beim Kinde aus physischen. Liegen doch in Nüssen, Äpfeln, Birnen, in gedörrtem Obst so himmlisch- und höllisch-verlockende Wohlgeschmäcke, wie unsere Gaumen nicht mehr empfinden, während wir jetzt andrerseits Gefallen an Speisen haben, die dem Kinde widerstehen, besonders alles Schlüpfrige, Glatte, Gleitende, Molluskenartige, wozu gewiß bei den meisten Kindern der Kohlrabi und die in Fleischbrühe gekochten Kartoffeln gehören – Speisen, um die der in Rede stehende Knabe, weil er sie nicht essen konnte, oft genug hungern mußte.

Und du, heilige Einsamkeit! Wie wiegst du die Kinderseele in überirdische Träume – oder, richtiger, irdische; denn das Kind denkt sich gerade hier, hier auf Erden alles Himmlische noch möglich. Der Erzähler war ein Virtuose im Alleinsein. Der Bruder war Soldat geworden, die Schwester in der Nähschule, der Vater in seinem Dienst, die Mutter zu aller Nutzen auf den Markt gegangen. Was grübelt sich da nicht, eingeschlossen im Zimmer, den hohen Fenstertritt erklettert, beim Hinausblick auf die damals nicht allzu belebte »Letzte« Straße, hinter dem Käfig der Lerche, hinter Blumenstöcken und der an Fäden rankenden türkischen Kresse! Durch ein verpapptes zweites, aber in den Stall gehendes Fenster schnoberten die Rosse des Prinzen und rissen an ihren Ketten, oder in dem großen, von Säulen getragenen Stall lärmte die Trommel und gewöhnte die Tiere an kriegerische Welt. Wo ließ sich schauerlicher träumen als innerhalb der großen Gebäulichkeit der Akademie, dicht unter dem Präpariertisch der Anatomie, wo auf einer grünen kleinen Rundung die zu lüftenden Betten oder die trocknende Wäsche der einsamen Hut des Knaben tagelang überlassen blieben! Die Kürassier- oder Ulanenrosse wieherten zwar dicht in der Nähe oder tummelten sich daneben auf dem Sande im Kreise, aber mittags wurde es still, und gegen Abend traten die Sagen deutlich vor die Phantasie des Wächters von manchem dort oben noch wimmernden Selbstmörder, manchem nächtlichen Hilferuf aus den großen, jetzt vom Abendlicht durchblitzten Fenstern des Schlachtsaales und von manchem, der wieder erwacht sein sollte, sich an Stricken hinuntergelassen hatte, stürzte und nun doch den Professoren Rudolphi und Knape geopfert blieb! Dort krächzten die Raben auf Bodes Sternwarte, wo die golden blinkende Himmelskugel der Prachtliebe der diebischen Vögel eine willkommene Behausung zu bieten schien. Oder auf den jetzt mit Neubauten noch nicht ganz verdrängten großen umzäunten Wiesen der Georgenstraße – früher »Katzenstieg« genannt – und des »Bauhofs« fanden sich stille Plätze zum hingestreckten Dämmern an einem moosbewachsenen, umgestürzten und defekten, hierher verirrten Gartenamor, hinter Remisen und Schobern, unter kraut- und lattich- und brennesselumwachsenen Brettern und Balken, überall, wo es nur etwas zu kauern, bauen, spielen, den Großen nachzuahmen gab. Das Winkelleben der Jugend weckt die ersten Regungen des Bewußtseins, die ersten Regungen der Sehnsucht nach künftigen Zielen. Wer das Auge auf seine Kinder oder seine Zöglinge stets überwachend und sie immer und immer beschäftigend gerichtet hat, wird Maschinen erziehen. Die Jugend muß zwar ihre Heimat kennen, wo sie zu Hause ist, aber die kleinen Nester, die sie sich da und dort in der Stille schon selbst aufbaut, muß man ihr nicht stören. Dort brütet sie ihr selbständiges Leben, ihr Bewußtwerden, ihre Zukunft aus.

Kennt ihr die heiligen Schauer, die zuweilen urplötzlich, ihr wißt nicht wie, eure Seele durchrieseln können? Kommen euch in den Jahren der Reife solche Stimmungen des Sinkens und Vergehens, so sind es, gewiß nicht anders zu deuten, die Vorahnungen des Todes, die entschleierten Geheimnisse der übersinnlichen Welt. Kommen sie aber in den Jahren der Kindheit, so sind es die entschleierten Geheimnisse des Lebens, die Vorahnungen der Größe einer uns zu Gebote gestellten Welt. Das Kinderherz schafft sich aus Sonnenstäubchen zauberische Welten. Wie genügt ein kleines Spielzeug seiner Phantasie, wie erweitert der verschönerndste Gestaltensinn, ein bergeversetzender Glaube das Kleinste, Häßlichste, Unbedeutendste in die großartigsten Umrisse! Des Kindes Auge sieht nicht wie das Auge des Erwachsenen. Was ein Stäbchen mit einem Lappen ist und eine Fahne sein soll, ist ihm eine wirkliche Fahne, die prächtigste, wie sie je dem Heer des Propheten vorangetragen wurde. Ein ausgestopfter häßlicher Balg ist dem Kinde kein Surrogat für das Schöne, sondern selbst madonnenschön. So reich weiß es aus sich zu ergänzen, aus seiner Einbildungskraft, seinem Herzen hinzuzufügen. Unendlich weit geht von einer kleinen Warte der ersten Umsicht der Blick ins Leben, immer weiter und weiter. Redet dem Kinde von Gott, vom Himmel und all seinen Engeln; es mag nicht gern sterben. Die Furcht vor dem Tode erfüllte wenigstens unsern Knaben wie einen zur Hinrichtung abgeführten Verbrecher. Er kannte doch das himmlische Leben so gut, den Eingang des Himmels, wo Sankt Peter mit dem Schlüssel steht, im Geiste klopfte er schon so oft an das Wolkentor und dachte sich das Haupt des Apostels durch die Pforte lugend: Wer ist da? – Er wußte, wie sich das Tor öffnet, wie die Wege links und rechts verklärt, lichtumflossen aufwärtsgehen und eine wunderherrliche Musik den Kommenden begrüßt; er sah den dreieinigen Gott, wie ihn drüben die Malersäle zeigten, fühlte sich angeredet und geliebkost von dem in blauen und roten Gewändern strahlenden, aus hundert Bildern ihm geläufigen Heiland; aber bei alledem erschreckte ihn der Tod. Teils sah er so oft die Leichenwagen, die dicht in seiner Nähe, in der gespenstischen Georgenstraße, dem Katzenstieg, ihren Stand hatten, teils war ihm die Hölle, die ihm möglicherweise doch beschieden werden konnte, kein Wahn. Am meisten aber war der Reiz der Erde so groß. Diese Welt, so schön, so rauschend, so herausfordernd zur Tat, so reizend zu jeder Bewährung –! Bei jedem Krankenlager bat der im Himmel wie in den Berliner Kirchen heimische Knabe: Nur nicht sterben! Nebenbei bemerkt, er wollte auch zuvörderst erst noch »Bildhauer« werden.

Es klingt wohl noch im Alter nach, was uns Dinge bedeuteten, die uns später die gleichgültigsten wurden. Muscheln! Diese schlanken hohlen Ovale mit den blanken Perlmutterrändern! Paßten sie gar aufeinander, welche Freude über das zusammenklappende Paar! Kastanien –! Die grünen Dornenhülsen und der braunglänzende entschälte »scheckige« Kern! Schmetterlinge –! Unter den Fichten der Hasenheide, auf dem dürren, glattgetretenen Sand- und Nadelboden gab es Trauermäntel und Totenköpfe! Selbst der Fang der gemeinen, einfachen, gelbweißen »Kalitte« mit den abfärbenden Flügeln machte glücklich. Schilfrohrblätter –! Lang, scharf, schneidend durch die prüfenden Finger gezogen –! Fische, daumengroß, am Spreeufer mit freier Hand gefangen, scharfbewehrt mit zwei Stacheln, Ikleie oder Steckerlinge genannt, einen Moment in der Hand zappelnd, lustig, fast durch ihre Stacheln gefährlich, dann sogleich tot, reizlos! Ein Vogel, gefangen nach tagelanger, wochenlanger Fallenlist –! Endlich das warme, unter den Federn klopfende zarte Leben in der Hand, ein Königreich schien gewonnen! Wie elektrisch unruhig das Tier, wie wirft es den Kopf, wie zieht es die Krallen ein, wie zermartert wird es unter Beratschlagungen der Buben über des Gefangenen Zukunft, wie durch die Wärme der liebenden und doch gewalttätigen Hand abgemattet und zuletzt – nach tausend Plänen gewinnt es die Freiheit, da – »neue Kostgänger« von der Mutter verbeten werden! Ein Lamm, irgendwo durch ein Gitter blökend, eine Ziege, an Nesseln nagend, ein Kaninchen, wühlend unter Kohlstrünken in einer Küche –! Diese Welt, nur noch einmal nachempfunden in den Schicksalen Robinsons, nur noch einmal aufblitzend aus den Augen seines geliebten Lama, sie war für den Jungen Märchen und erste Weltgeschichte zugleich.

Ja, erwähnt darf auch werden der beseligte Aufblick zum Sternenhimmel. Dem Kinde glitzern die Tausende von Himmelsleuchten im weißen, zitternden Funkeln wie Tautropfen im Sonnenschein, und oft ist es ihm, als bewegten sie sich wie Lichter im Zugwinde. Daß diese Sterne ebenfalls noch Welten sind, faßt der an diese Erde gebannte Kindersinn nur mit Widerstreben. Wie kann außerhalb dieser großen Erde mit ihren Millionen Menschen, ihren Heilsveranstaltungen von Seiten der Gottheit, ihrer besonderen Auszeichnung, den Sohn Gottes gesandt bekommen zu haben, noch eine Existenz vorhanden sein, gegen welche das Erdenleben wie ein Tropfen verschwindet! Nein, dem Kinde ist die Erde der liebste Aufenthalt Gottes, der Schemel seiner Füße. Jene Strahlenpracht des Himmels ist ihm nur die äußere Zier und Herrlichkeit des im Freien schwebenden göttlichen Wolkenthrons. Unter allen Sternen sucht sich das Kindesauge dann den funkelndsten aus und nennt ihn den Stern des Morgenlandes. Das ist der Wegweiser, der die Weisen nach Bethlehem geleitete und über der Krippe mit dem Jesuskinde stand. Dies Wandeln und Stillestehn eines Sternes, Führen und Leiten, Wissen des Sterns um eine Begebenheit der Erde und des Himmels übertrug sich auf all die stillen Himmelswächter der Nacht, und nie glaubte der Knabe allein zu sein, ob er auch einsam stand, wenn nur die Sterne auf ihn niedersahen. Ja im Monde suchte er die Züge jenes Mannes, der aus ihm niederschauen sollte und von dem man früh genug Dinge hört, die glauben machen können, er hätte es auf jeden einzelnen unter den Menschen ganz besonders abgesehen. Neumond, Vollmond waren ständig in Frage. Wind und Wetter wurden danach bestimmt, das Wohlbefinden des Körpers, das Einnehmen manches Arzneimittels. Die Abwechselung von Tag und Nacht (und wie lag die Nacht so schwarz auf dem »Kastanienwald«, dem »Bauhof« und den Fronten und Flanken der Universität!) führte frühe auf die Vorstellung vom Nichts. Es war ein Schrecken für den Knaben, sich zu denken, wenn einmal die Erde nicht wäre. Wenn diese Sterne erlöschten, diese Fackel des Mondes verglimmte, die Sonne im Meere auf ewig unterginge und alles, alles verschwände und nur Gott bliebe, allein Gott, der Herr, der Schöpfer ganz für sich. Was wäre dann noch? Was bliebe? Und was ist eigentlich Gott? Der Gedanke war schwindelerregend, die Hand mußte sich aufstemmen, am nächsten halten, denn die Ahnungen des absoluten Nichts zogen den Boden unter den Füßen weg. Es war ein Gedanke, der sich wenig über einen Augenblick festhalten ließ, aber den Träumer unendlich oft beschlich.

Wie stark der Heimatstrieb des Kindes ist, ersieht man aus der behutsamen Erweiterung der Kreise, die sich um den Mittelpunkt des häuslichen Herdes ziehen. Ein größerer Umweg, den sich ein Kind erlaubt, um in seine Schule zu kommen, ist ihm schon ein Ereignis und kann es in der Tat für seine ganze Entwicklung werden. Ein solcher Umweg bringt Eindrücke und Zerstreuungen ganz neuer Art hervor. Verspätungen wecken den Lügengeist. Man lernt erfinden und bemerkt mit Behagen, daß die Erfindungen geglaubt werden. Jeder Umweg veranlaßte ein böses Gewissen.

Die allmähliche Welterweiterung des Kindes geht langsam vonstatten. Es war ein Argonautenzug, wenn einmal der Knabe wagte, in die akademischen inneren Hofräume zu treten und in die Fenster zu lugen, wo die Gipsabgüsse standen oder die Bücher der gelehrten Akademiker. Der Garten der Universität war damals eingefriedigt von einer oft erkletterten Mauer. Er galt für einen erlaubten Tummelplatz, doch nur in seinen äußersten Grenzen. Zu nahe an den Fenstern, wo die Schleiermacherschen Vorlesungen gehalten wurden und eine große Uhr die Stunden ohrenzerreißend ankündigte, fing der verbotene Hesperidengarten an. An der Stelle, wo jetzt die Singakademie steht, floß früher ein Spreearm, bedeckt mit Floßhölzern, die von den gemeinen Leuten »Karinen« genannt wurden, als hätte ihnen ein Professor den Namen aus Schellers Wörterbuch gegeben. Die herrlichen langen »Tafelbirnen« in den jetzt Magnusschen Gärten und links und rechte in denen des Finanzministers Kleewitz, dem Friedrich Wilhelm IV. einst die Scharade aufgegeben haben soll: »Raten Sie einmal! Das Erste frißt das Vieh, das Zweite haben Sie nie, und das Ganze sind Sie!« – der Finanzminister verbat sich sehr die Defizits seiner Obsternte und stellte Wachen aus. Aber dann trat die herrliche Zeit ein, die man nannte: »Die Spree ist geschützt.« Des Fischfanges und doch wohl noch mehr der Baggerung wegen wurden die Spreearme ohne Wasser gelassen. Das war dann wonnig, in dem schwarzen Schlamme zu waten. Dann waren alle Gärten zugänglich. Bis häusliche Strafgerichte der Verwilderung ein Ende machten.

Über die »Karinen« hinweg ging die Sonne auf. Und wenn sich der Regenbogen über dem Zeughause, dem neuerbauten Dom und den Pappeln des »Lustgartens« dehnte, mußte an seinen beiden sich zur Erde neigenden Enden Gold zu finden sein. Das war der Kinderglaube. Warum da nicht streben, hinauszukommen über die so enge Grenze der »Letzten« und der »Mittelstraße«! Aber jenseits der Dorotheenstädtischen Kirche, wo die neun Paten im Kometenjahr Gevatter gestanden hatten, wurde die Orientierung abenteuerlich. Eine Freimaurerloge lag dieser Kirche gegenüber. Der große Garten dieses von Schlüter im idealsten Kommodenstil gebauten Hauses zog sich wie ein Mysterium bis zur Spree und an den unheimlichen Katzenstieg hin. Hier war alles unangebaut. Nichts sah man als lange einsame Strecken von Holzhöfen, nichts als Wiesen zum Bleichen und Trocknen der Wäsche. Die äußerste bekannte Grenze seines Horizontes nach Norden wurde dem Knaben die Artilleriekaserne, wo der Bruder in Hoffnung auf eine bald wieder ausbrechende Kampagne kanonierte, bombardierte, feuerwerkerte. Dies Kasernenleben war dem Knaben das erste selbständig sich regende »Anderssein« außerhalb der Prinzenställe.

Die Kaserne der Gardeartillerie zu Fuß bildet ein Viereck, von welchem zwei Schenkel nach der Georgenstraße und dem Kupfergraben zu liegen. Hier eintreten zu dürfen an der Hand eines schützenden »Freiwilligen« konnte mit Stolz erfüllen. Eindruck machte hier alles. Die langen dunklen Gänge mit den numerierten Türen, in der Küche unten die Soldaten in Kitteln, Rüben schabend, Kartoffeln schälend; der Pommer, der Polack, der Schlesier, der Westfale durcheinander – denn die Garde rekrutierte sich überall. In den nicht allzu großen Zimmern befand sich immer ein Unteroffizier mit acht bis zehn Gemeinen, deren Betten am Tage übereinander aufgetürmt bis an die Decke reichten. An den Wänden entlang hatte jeder Gemeine ein Plätzchen für Uniform, Gewehr (damals trug die Artillerie noch Gewehre), Riemzeug, Schuhwerk und ein Schränkchen für seine nächsten Habseligkeiten, die Löhnung, sein Kommißbrot. Am Fenster befand sich für alles das ein freundlicherer Platz für den Unteroffizier. Unten im Hofe, meist abgeprotzt, standen die Kanonen. Stundenlanges Bewundern des »Man so Tuns« im Richten, Auswischen, Laden, Zünden. Bewundern der Donnerwetter, die dabei mit Stentorstimme von den Unteroffizieren geschnarrt wurden und desto lauter ertönten, je näher die Offiziere standen. Dies Kasernenleben erzeugt in seinen Teilnehmern eine Gemeinschaftlichkeit der Stimmung, die auf den Geist schließen läßt, dessen Offenbarungen wir in unsrer Prätorianerzeit kennen gelernt haben. Der Gemeine blickt auf den Sergeanten, der Sergeant auf den Leutnant, der Leutnant auf den Hauptmann, der Hauptmann auf den Major. Die laufende Chronik des Appells, der Wache, des Exerzierens, der Parade, des Kirchenbesuchs, des Manövers, der Revision der Armatur und Kleidungsstücke, die Ankunft von Rekruten, das Avancement erfüllen hunderttausend Seelen wie die alleinigen Fragen der Welt und des ganzen Lebens. Bewundrer unsres wieder eisern gewordenen Zeitalters finden darin ein großes Erziehungsmoment unsres Volkes, eine Rückwirkung solcher Regelmäßigkeit auf die Sitten des Lebens. Andere wollen dagegen finden, daß sich mit diesem Formalismus die Liebe zum Müßiggang einstellt und das Verlernen der Handgriffe und Fertigkeiten, die wieder zum späteren Erwerb dienen sollen. Die nachgerade für die Gesellschaft bis zum Unerträglichen gesteigerte »Arbeiterfrage« hängt mit der allgemeinen Militärpflicht mehr zusammen, als man bisher dargestellt hat.

Durch den Bruder erschloß sich manches Kasernenzimmer, wo Familien ihren Herd aufgeschlagen hatten. Ein Unteroffizier hatte in Mußestunden wieder die Nähnadel ergriffen und war für das Wohl seiner Kameraden, zunächst seines Weibes und seiner Kinder, in aller Stille auch ein Schneider. Eine Heldengestalt, die vor der Haubitze mit kräftiger Stimme kommandierte, saß er mit untergeschlagenen Beinen und wichste den Zwirn und stichelte an einer feinen Interimsuniform für irgendeinen mit Mutterpfennigen gesegneten Fähnrich. Wie hatte der Treffliche den Schneiderziegenbock noch kurz zuvor verwünscht und sich verschworen, ihn je wieder zu besteigen! Da zwingt ihn das weinende Geständnis einer ehrlichen Nähterin, die er liebte, sie Hals über Kopf zum Weibe zu nehmen. Um sie und seinen gesegneten Nachwuchs zu erhalten, mußte er wieder auf seinen Bock. Sein Leben wechselte zwischen Kartätschen und Nähnadeln, zwischen Bomben und besponnenen Knöpfen. Das war wirklich Prometheus an den Felsen geschmiedet! Zum Unglück wurde dem Armen, er hieß Richter, die geliebte Mutter seiner Kinder obenein krank. Eine Entzündung der Brust bekam eine gefährliche Wendung. Schon setzten die Chirurgen ihre Messer an, um die edelsten Werkstätten der Natur auf Tod und Leben wegzuschneiden. Da meldete sich ein »Wunderdoktor«, ein ehemaliger Schäfer, der in der Vorstadt die Armen kurierte und die Brust zu heilen versprach. Die Chirurgen entfernten sich spöttisch. Glück schon genug, daß sie nicht die Sanitätspolizei von dem Nebenbuhler in Kenntnis setzten. Der Schäfer beginnt sein Werk, er heilt die Brust. Womit? Mit dem Balsam der Geduld. Wohl strich er auch Salben auf die eiternden Wunden, aber sein wirksamstes Kraut war treues Kommen, Gehen, Wiederkommen, Abwarten, Pflegen, Sorgen, Mühen, und das ein ganzes Jahr hindurch. Die Chirurgie ist nur zu oft jene Heilkunde, der die Geduld gebricht. Sie schneidet weg, was zu heilen sie sich keine Zeit nimmt. Richter konnte zum Dank nicht mehr tun, als diesem »treuen Schäfer« für eine Pflege, die über ein Jahr gedauert hatte, zwanzig Taler geben. Aber zwanzig Taler! Ein Krösuskapital für einen Unteroffizier – selbst bei der Gardeartillerie! Ein unerschwingliches, wenn nicht der arme Held ein Doppeltuchschneider geblieben wäre! Seinen frohen Sinn, seinen witzigen Verstand, seinen aufstrebenden glühenden Ehrgeiz, alles mußte er hingeben und Westen und Uniformen nähen und Buch führen über seine schlimmen Kunden, die sich von der Löhnung nur wenig abziehen lassen konnten. Diese Doppelexistenz trieb Richter lange Jahre, bis er Gendarm wurde – ein Belohnungs-, ein »Ruheposten«! Das sind so Lebensläufe in ab- und aufsteigender Linie, wie deren ringsum von dem kleinen Helden dieser Geschichte genug beobachtet und damals für ganz normal gehalten wurden.

Am Soldatenleben wurde das Poetische mehr verstanden als die Prosa. Der Wachtdienst, die Ablösung, das geheimnisvolle Mitteilen einer Parole oder der betreffenden Dienstanweisung für das zu bewachende Lokal, das weiß- und schwarzgestreifte Schilderhaus mit dem Nachtmantel, der darin aufbewahrt wurde, das ewige Forschen und Umblicken des Postens nach militärischen Honoratioren, die durch Geradestehen oder Präsentieren geehrt werden mußten, alles das war Gegenstand still andächtiger Forschung. Von manchen Wachtlokalen oder Schilderhäusern erfuhr der Knabe, daß es auf ihnen spuke oder »spieke«, wie man im Volk sagt. Das »Spieken« in den Berliner Schloßgängen ist historisch geworden und noch jetzt traditionell bei allen Schloßschildwachen. Aber es spukte noch an vielen anderen Orten, wo Schilderhäuser einsam standen und die Wachen mitten in Novembernächten, unter sausendem Sturm und stürzendem Regen, von ihren Bretterhäuschen aus in »pechdunkle« Nacht hinauslugen mußten. So waren fast alle Wachen in der einsamen Gegend an der unteren Spree, wo jetzt der Hamburger Bahnhof liegt, spukhaft. Am Artillerielaboratorium, der Pulvermühle, den Pulvermagazinen, den Train- und Wagenhäusem, die alle um den jetzigen Humboldthafen lagen, lauerte nicht nur der Tod, dem ein einziger glimmender Funke hier eine furchtbare Feuerhochzeit hätte bereiten können, sondern auch der Begleiter des Todes, das Gespenst. Mancher junge Rekrut schnürte gern aus seinem Beutelchen einen Mutterpfennig und bezahlte ältere, beherztere Kameraden, um nur nicht auf einem der äußersten Posten am Laboratorium Wache zu stehen. Die Posten hatten Nummern und wurden von der Hauptwache aus nach den Nummern besetzt. Auf Nummer sieben und Nummer dreizehn »spukte« es gewiß. Auf Nummer dreizehn »schilderte« einst der Bruder. Für sieben einen halben Silbergroschen erbot sich ein älterer Kamerad, ihm diesen Dienst, der grade auf die Geisterstunde fiel, abzunehmen. »Meine Mittel erlauben mir das nicht!« sagte der junge Rekrut und ging entschlossen auf Nummer dreizehn. Er stammte aus der rationalistischen Zeit Berlins und wollte es mit den Geistern wagen. Ringsum lag tiefe Stille. Der junge Artillerist stützt sich auf sein Gewehr; die Nacht ist stichdunkel. Fern herüber rauschen zuweilen die Tannen. Birken schimmern geisterhaft. Ein Erdwall umgibt das pulvergefüllte Magazin. Einige Rundgänge auf ihm hin und her und das Auge immer auf etwaige glimmende Funken gerichtet. Wehe dem Wandrer, der hier etwa mit einer brennenden »Tobaks«-Pfeife oder »einem Zigaro« (so sagte man früher – Betonung wie »Figaro«) gekommen wäre. Der rationalistische Zweifler sieht, hört nichts, geht in sein Schilderhaus, schläft ein. Ein Schlaf im Stehen währt nicht lange. Eben summen von den Kirchtürmen der Stadt zwölf Glockenschläge. Die Angst des Dienstvergehens (auf Posten schlafen!) vergrößert die Vorstellung möglicher Gefahr. Der Zweifler sieht, erwachend, ein langes riesiges Gespenst. Wer da! ruft donnernd die Furcht, die bekanntlich immer lauter schreit als der Mut. Alles ist still. Die lange schmale Gestalt bleibt unbeweglich. Mit gefälltem Bajonett rückt der Zweifler aus dem Schilderhause vorwärts. Einige beherzte Schritte, und das Gespenst ist verschwunden. Es war nicht etwa jener mit einem Laken verhüllte Kamerad, der seine sieben einen halben Silbergroschen zu Ehren bringen wollte, sondern ein schmaler, langer sandiger Fußsteig, der sich zwischen dem grünen Rasen dahinzog und vom Schilderhause aus, zumal mit schlaftrunkenen Augen betrachtet, eine perspektivische Täuschung veranlassen konnte.

Im Soldatenleben scheint, von außen aus betrachtet, alles wie über einen Kamm geschoren. Aber nach innen gibt es die bunteste Mannigfaltigkeit der Charaktere, Sitten, Lebensweisen. Man hält diese gewaffneten, buntgeschmückten Menschen für mechanisch abgerichtete willenlose Wesen zum Verwechseln. In der Kaserne aber, im geheimen Getriebe des Dienstes treten alle Temperamente, alle moralischen Systeme in lebendigst nuancierten Exemplaren zum Vorschein. Geizhälse, Verschwender, Stoiker, Epikureer, Lustigmacher, Melancholiker, alles durcheinander. Früh machte es dem Knaben einen eigenen Eindruck, zu wissen, daß dieser dort so steif und mechanisch marschierende Soldat gestern erst von einem Arrest aus der Lindenstraße gekommen war, jener hübsche Junge mit dem silbernen Portepee »keine Eltern hatte«, weil »sein Vater ein Prinz« sein sollte; jener Leutnant, der so heiter seinen Degen schwang, »voller Schulden steckte«; jener Kapitän, der so martialisch kommandierte, zu Hause »unter dem Pantoffel seiner Frau« stand; und jener Oberst zu Pferde gar, der den runden blitzenden Hut mit Federn trug, daheim ein Liebhaber der Hühnerzucht war, der türkischen Enten, der Tauben und der Pfauen. Das Negligé aller dieser so kerzengrad zusammenhaltenden Menschen gab von jedem ein anderes Bild als das, wie er jetzt exerzierte oder mit klingendem Spiel vorüberzog an seinem König, hinter dem man, an den Pfeilern des Opernhauses sich anklammernd und wie zur »Suite« gehörig, die Parade mit vorüberdefilieren ließ.

Das alte Opernhaus Unter den Linden mit der Opernbrücke

Das alte Opernhaus Unter den Linden mit der Opernbrücke

Das da ist der verhaßte, weil so gehässige Fähnrich von Haase! Das der treffliche, liebenswürdige, dem gemeinen Soldaten gegen die kleinen Offiziere immer beistehende Major! Wißt ihr alle, die ihr herum »drängelt« auf den Stiegen des Opernhauses, hier unter den Larven und Bildsäulen der Musen, ihr, die ihr hier Skizzen aufnehmt zu den damals beliebten Paradebildern, die den Malern mit Gold, Roten Adlerorden und Wladimirs bezahlt wurden, wißt ihr so, wie der kleine Bursche hier, daß vor drei Tagen beim Manöver zu jener goldgelbglänzenden Kanone hinter Rixdorf die jungen Prinzen, die Söhne des Königs, herangeritten kamen und den Fähnrich von Haase arg ins Gebet nahmen? »Was bedeuten«, sprach zu ihm der spätere Kaiser Wilhelm I. von Deutschland, »was bedeuten da vorn am Mundstück Ihres Kanons die Buchstaben C. F.?« Fähnrich von Haase, über und über errötend, erwiderte nach längerem Besinnen: »Ich weiß nicht, Königliche Hoheit!« Prinz Wilhelm will mit seinen Brüdern, den Fähnrich bemitleidend, weiter, da sagt der Bruder des Knaben: »C. F., Königliche Hoheit, bedeutet Canon Français. Dies Geschütz war erst preußisch, dann eine Zeitlang in französischer Gewalt und ist jetzt wieder unser.« Die Prinzen lobten die Antwort. Aber wer ringsum kennt nun des dort marschierenden Herrn von Haases Rache? Das Manöver ist vorüber. Jene selben dahinreitenden Pferde, des Bruders treuer Rinaldo an der Spitze (die Unteroffiziere der Fußartillerie waren damals beritten), sollen den Staub abspülen und in die Schwemme reiten, sich auch erquicken am klarrinnenden Wasser des damals in jener Gegend noch appetitlicher dahinflutenden, schilfumrandeten Schafgrabens. Der Fähnrich von Haase kommandiert vom Ufer aus: »Da! Dort! Zum Himmeldonnerwetter, reiten Sie da, wo ich sage!« Aber der Schafgraben war auch damals schon nicht überall besser als sein Ruf. Auf jene Stelle paßte Rückerts Wort vom Berliner Unterbaum – die Spree käme zum Oberbaum herein wie ein Schwan und ginge zum Unterbaum hinaus wie ein –. Rückert war aus Schweinfurt, ein gewisses Wort war ihm geläufiger. Der Bruder will weder sein Geschütz noch sein Gespann, noch seinen eigenen treuen Rinaldo in den Morast führen, biegt von der kommandierten Stelle ab, sucht jenes klare Schwanenwasser Rückerts, findet's und ruft allen Kameraden, ihm zu folgen. Aber wehe dem aus dem Wasser mit den triefenden, erquickten Pferden Zurückkehrenden! »Für diese Ihre Insubordination werden Sie Arrest besehen!« Haase meldete den Vorfall, nicht aber das Examen des künftigen Deutschen Kaisers dem Kapitän. Der Fall kommt an den Major. Jener brave, dort den Degen zum Präsentieren schwenkende Herr auf dem Apfelschimmel sagt: »Herr von Haase, woher kommandierten denn Sie?« – »Woher?« antwortete der schon wieder Examinierte. »Vom Ufer aus, Herr Major!« – »Ach so, Sie waren also nicht mit im Wasser? Künftig, wenn wir wieder manövrieren werden, soll jeder Kapitän seine Batterie vom Kirchtum aus kommandieren!«

Die Parade ist aber noch nicht zu Ende. Dort beim vierten Geschütz reitet der Bruder! Heute scheint dem Knaben beim herrlichsten Sonnenschein ein Regenschirm über ihm ausgespannt. Denn es war soeben folgende Geschichte passiert: Der Quälgeist der Kompanie, Fähnrich von Haase, läßt sich einfallen, eine Revision der Kasernenzimmer vorzunehmen. Er kommt in des Bruders Zimmer und findet unter dessen Gerätschaften einen Regenschirm. »Wem gehört dies niederträchtige Zivilmobiliar?« – »Vorläufig mir«, sagt der Bruder etwas patzig. Von Haase öffnet das Fenster, will einen Akt im Stile Blüchers von Wahlstatt ausführen und den Regenschirm zum Fenster hinauswerfen. »Halt da!« ruft der Bruder. »Der Schirm gehört meiner Braut!« Von Haase, durch die kräftig zugreifende Hand des Unteroffiziers an der Ausführung eines »genialen« Einfalls verhindert, dessen Erzählung bei Josty unter der Stechbahn unterhalten haben würde, beschließt, den Bruder zu strafen. Er ergreift die Gewehre einiger Gemeinen ringsum, untersucht sie und findet die Reste der letzten Schüsse noch nicht getilgt. Von Haase stürmt, als wenn er eine Fahne erbeutet hätte, hinunter in den Kasernenhof; dem grade anwesenden Major wird die Meldung gemacht. Der Bruder mußte folgen. Aber wiederum unser herrlicher, trefflicher Major, der dort eben auf seinem Apfelschimmel zur Sonnenseite der Linden abbiegt! »Wie lange ist es her, Herr von Haase, daß die Leute geschossen haben?« – »Vierzehn Tage, Herr Oberstwachtmeister«, antwortet ein Nahestehender statt von Haases. Haase erblaßt schon. »Und seit diesem Zeitraum haben Sie die Gewehre nicht revidiert?« fragte der Major. »Da werden Sie – Ja so«, unterbrach er sich, »wenn ich Sie jetzt mit drei Tagen Stubenarrest belegte, könnte das die französische Komödie stören, in der Sie bei Perponchers mitspielen. Morgen früh um acht Uhr ist die ganze Kompanie hier zur Stelle! Dann werde ich selbst die Gewehre revidieren!«

O du von Haase! Schreite nicht so kühn, dilettierender Bühnenkünstler! Stolpre ja nicht! Deine Taten sind aufgeschrieben noch in anderen als nur in den Parolebüchern! Den braven Bruder wolltest du für das trotz der französischen Komödie bei Perponchers nicht erklärte Canon français verderben! Es geschah folgendes: Einem Schneider Unter den Linden, dem du, wahrscheinlich beim Prinzen von Preußen ewig Verlorner, schuldetest, schuldete auch der freiwillige, auf bescheidenes Avancement dienende Bruder, als er nur noch »Bombardier« war. »Herr«, sagtest du zu dem Verfertiger deiner eigenen reizenden Taille, »Herr, wozu haben Sie die Langmut mit solchem Bürgerpack, das es wagt, bei einem Schneider für den hohen Adel ebenfalls arbeiten zu lassen? Ehrgeizig ist der Hund, der Sohn eines prinzlichen Bereiters! Machen Sie ihm irgendwo unter seinen Kameraden eine eklatante Szene, dann ist er beschämt, sie ziehen ihn auf, ob er wohl auch von Adel wäre, dann wird er Sie bezahlen.« Der vornehme Schneider bildet sich ein, eine Szene würde nirgends auffallender wirken als auf der Wache. Der Bruder hatte die Wache am Oranienburger Tor mit acht Mann, und das dicht in der Nähe der »reitenden Artilleriekaserne«. Der elegante Adelsschneider von Unter den Linden tritt in die Wache, dem jetzigen Borsig-Etablissement gegenüber (sie ist abgerissen), beginnt seine Rechnung vorzulegen, mahnt. Der Bruder tut, als wär' er taub. Der Schneider erhitzt sich, lärmt. Der Bombardier trommelt auf die Fensterscheiben. Der Schneider kennt keine Grenzen, sein Zorn wächst, er schlägt auf die hölzernen Tische. Der Bombardier gibt den Kanonieren einen Wink. Der Schneider flucht. Er hatte Eile. Er wollte noch in feinster Toilette ins Opernhaus, um die Milder und die Seidler im Wettkampf singen zu hören. »Ich muß in ›Olympia‹ Herr, wann bezahlen Sie mich oder hier diese Uniform . . .« Was? Um Gottes willen – eine Königliche Uniform wird hier angetastet –? Ein preußischer Soldat unziemlich berührt? Und noch dazu auf der Wache? Der Bruder ergreift den Attentäter, öffnet eine Tür, öffnet eine zweite, drückt den Schneider in ein dunkles Loch und bedeutet ihn, dort so lange zu warten, bis die diensttuende Ronde käme, die den Störer eines öffentlichen Wachtlokals mit auf die Hauptwache nehmen würde. Der Schneider wehrt sich, kratzt, donnert an die Tür, ruft, droht; vergebens. Es schlägt sechs Uhr. Spontinis »Olympia« hat begonnen. Bader hat seine erste Arie. Der erste Adels- und Militärschneider Berlins sitzt in der dunklen Wachtstube des Oranienburger Tores und zerknittert vor Verzweiflung sein Sperrsitzbillett. Um acht Uhr kommt die Ronde, unglücklicherweise ohne Leutnant. Neue Verzweiflung. Der »Hofkleidermacher für Zivil und Militär« hat nur die Wahl, zu warten oder sich zu entschließen, mit diesen Leuten über die Straße zu gehen. Zu letzterem ist er nicht fähig. Man reicht ihm als Nahrung, was man selbst hat, Wasser und Kommißbrot. All sein Bitten erlöst ihn nicht. Erst um zehn Uhr rettet ihn der Rondenoffizier, der ihm die Freiheit gibt, ohne den Bombardier für seine Selbsthilfe zu tadeln. Am folgenden Morgen kündigte aber auch der so schmerzlich um die »Olympia« Betrogene dem schlechtesten seiner Zahler, dem Fähnrich von Haase, den Kredit.

Die Kompanie ist vorüber. Das Rollen der Kanonen nimmt kein Ende. Reißen wir uns los von diesen Schwänken, deren militärische Einseitigkeit in der Darstellung dem Knaben noch nicht faßlich war. In der Jugend wiegt man im Urteil nicht ab. Die Parteilichkeit der Liebe und des Hasses steht für jedes und alles ein, was sie einmal erfaßt hat, was sie einmal bewundert oder verabscheut.

 


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