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Als sich Dankmar auf seinem Rosse gesammelt hatte, sah er sich nach Melanie um. Er entdeckte sie nicht. Neben ihm fuhr Herr und Frau von Reichmeyer. Er erkundigte sich nach Melanie. Das reiche Ehepaar stand im Wagen auf, um rückwärts zu sehen, und zeigte ihm den Wagen der Justizräthin, der noch fern am Gelben Hirsch hielt. Er sah das leere Pferd, das Melanie geritten hatte, von einem der Jockeys geführt, ihm längst voraus. Es schien also wol, daß sie fahren wollte. Endlich entdeckte er sie, wie sie in den Wagen stieg mit veränderter Toilette. Sie hatte sich aus einer Amazone in eine Dame der neuesten Mode verwandelt und trug einen weißen Seidenhut, ein weißes Kleid und einen leichten rothen Krepp de Chine-Shawl. In dem Augenblick fuhr sie ab, wo Ackermann und Selmar anlangten.
Kommen Sie denn endlich zur Besinnung? rief sie Dankmarn entgegen, als der Wagen schnell ihm nachflog und der Staub sich so verzogen hatte, daß man im langsamern Fahren sprechen konnte.
Dankmar bat um Entschuldigung über sein langes Gespräch mit dem braven Waidmanne, den er auf dieser Reise sehr liebgewonnen hätte.
Er fügte hinzu, er könne die Zerstreuung um so weniger bereuen, als sie ihm jetzt die volle Überraschung ihrer plötzlichen Metamorphose gewähre....
Sie sollten sich zu uns setzen, sagte Melanie mit Vertraulichkeit. Bartusch rückt und ist überhaupt der bequemste Reisegesellschafter von der Welt, ein Reisenecessaire in Taschenformat....
Sie zeigte dabei auch auf die Geldbörse, die der kleine schlaulächelnde Mann in der Hand hielt, während er die Ausgaben im Hirsch verrechnete.
Prinz! Hier ist Platz! rief Bartusch, ganz in seine Rechnung verloren.
Wie Dankmar die Worte hörte und Melanie ihn über sie fixirte, übergoß es ihn purpurroth und wie mit einem Seitensprunge das Pferd vom Wagenschlage ablenkend jagte er, seine Verlegenheit zu verbergen, Lasally nach.
Hast du bemerkt, wie er erröthete? sagte Melanie zur Mutter.
Diese wandte sich, noch ganz erschrocken über Bartusch's Auffoderung zu diesem hinüber und fragte:
War Das mit Absicht, Bartusch?
Nein, sagte Bartusch, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, es kam mir zufällig...
Seither war ich im Zweifel, sagte die Mutter, und kann mir nicht denken, daß sich ein junger Mann, der uns so wenig Ursache hat befreundet zu sein, uns dermaßen vertrauensvoll anschließt. Melanie ist freilich sehr unvorsichtig...
Mutter! sagte Diese und legte, da Hannchen Schlurck recht zürnend ausschaute, den Arm um ihre Schulter, um sie zu beschwichtigen... Mutter, zanke mich nur aus!
Ich werde dir nie rathen, sagte die Mutter, daß du Lasally erhörst, aber ich bewundere die Geduld dieses treuen Menschen. Er hatte sicher gehofft, in der Einsamkeit des hohenberger Aufenthaltes würden seine Wünsche dir nicht misfallen und nun muß er erleben, daß du von dort mit einer doch im Grunde sinnlosen Leidenschaft zurückkehrst, die dich heute noch närrisch macht....
Du meinst doch meine Excellenz? fragte Melanie mit Schalkhaftigkeit.
O geh mit dieser Posse! sagte die Mutter, fast verstimmt. Immer freu' ich mich, daß deine Späße ihre Lacher finden, heute aber wundere ich mich darüber.
Mutter, sagte Melanie, du wirst bitter! Du willst meine Erfolge stören? Das ist... fast hätt' ich das vierte Gebot verletzt.
Frau Justizräthin ist trüben Humors, meinte Bartusch und spielte boshaft genug auf den Eindruck an, den der sonst so heitern und duldsamen Frau die Enthüllung einer sonderbaren nächtlichen Wanderung ihres Gemahls gemacht hatte, als Bartusch von dem gefundenen Schrein erzählte. Ein ernster Blick der nachdenklichen Frau verbot ihm weitere Erörterungen....
Die lästige Pause, die eintrat, unterbrach Melanie mit Wiederholung der Worte, die sie von Dankmar am Gelben Hirsch gehört hatte:
»Also kommt nur zu mir und Beide gehen wir dann zum Prinzen Egon!«
Es ist deutlich genug! sagte Bartusch.
Und der Jäger, meinte die Mutter. Schien er nicht ganz erschüttert, da wir ihm die Muthmaßung mittheilten? War es nicht, als wollte er sagen: Nun gingen ihm ja plötzlich die Augen auf und er erkenne, mit wem er sich so oft und so gut unterhalten hätte?
Ich habe, sagte Melanie ernster gestimmt, ich habe diesem Fremden, ob es nun der Prinz oder nicht der Prinz ist, einen Dienst zu leisten versprochen, dessen Ausführung mir viel Überwindung kostet. Ich leugne nicht, daß er sogleich mein Herz gewann und zum Zeichen, daß ich beim Anblick dieses liebenswürdigen Mannes mehr empfinde, als ich bisher für irgend Jemand in der Welt empfunden habe, wollen wir morgen in aller Frühe, gegen sein Wissen, vom Heidekrug weiter reisen, damit wir... doch wol nicht zu weit gehen. Hab' ich dem Drange genug gethan, ihm mich so weit zu widmen, als ich sehe, daß er Liebe, Hingebung und die Aufopferung eines treuen Herzens nöthig hat, so hört mein Spiel auf und es ist dann an ihm, zu zeigen, was er für soviel Freundschaft mir Ernstes erwidern will...
Kind, rief die Mutter, denkst du so hoch?
Ich denke gar nicht, liebe Mutter, sagte Melanie ruhig. Denn wenn ich dächte, würde Das, was ich heute noch Alles ausführen soll, kaum möglich werden. Ich fühle nur. Nur ein Instinct, ein wunderbarer Reiz ist es, der mich seit dem Augenblicke leitet, daß ich diesen Fremden sah –
Nein, verbesserte die Mutter, seit der Vater schrieb, der Prinz wäre im Incognito am Fuße des Schlosses, und wir annahmen, die von ihm gegebene Beschreibung passe auf jenen Fremden, der uns vielleicht Alle täuscht –
Er täuscht uns nicht, sagte Melanie, er nennt sich Dankmar Wildungen. Ist es der Prinz nicht... so werden wir ihn um so leichter vergessen können.
Ich dagegen hoffe, sagte die Mutter, daß es wirklich der Bruder des blonden Malers ist, den du bei uns eingeführt hast. Denn ein Roman mit einem Manne, der zu hoch steht, als daß er dich heirathen könnte, wäre bei den mancherlei Sorgen, die so schon unsere Brust drücken, vollends eine Qual....
Denke nicht an die Zukunft, Mama! sagte Melanie. Das Nächste ist, daß ich bitte, mich auf dem Heidekrug rumoren zu lassen, wie ich will. Morgen früh mit Sonnenaufgang bin ich vielleicht vor Euch Allen schon auf dem Wege nach Hause und spreche den Fremden nicht mehr... vielleicht nie mehr.
Was hast du denn nur vor? fragte die Mutter, die jetzt erst die Andeutungen eines Planes verstand, mit gesteigerter Besorgniß.
Einer Antwort ward Melanie dadurch überhoben, daß Dankmar und Lasally jetzt dicht bei den Schlägen des Wagens ritten, Einer rechts, der Andere links.
Melanie knüpfte rasch ein unverfängliches Gespräch an und verlangte zu wissen, was Das für Fremde wären, denen Dankmar so freudig zugewinkt hätte?
Der Befragte theilte so viel von Beiden mit, als sie interessiren konnte, ohne Dinge zu erwähnen, die vielleicht unbekannt bleiben sollten.
Der Knabe, sagte Melanie nach einigem Nachdenken und stockte...
Nicht wahr? Ein liebes Kind? fiel Dankmar ein.
Ja, ja, der Knabe schien mir ein verkleidetes Mädchen... sagte Melanie.
Melanie! rief Dankmar sich vergessend und begriff nicht, wie ihn diese Äußerung so erregen, so in allen Adern durchbeben konnte.
Sie erschrecken? Was? Eine neue Rivalin? Eine Rivalin der Gräfin d'Azimont wollt' ich sagen. Kommt das Alles von Paris?
Dankmar mußte lächeln, weil ihm die Misverständnisse des gestrigen Abends einfielen. Doch wünschte er sie abzubrechen und sagte:
Wer die Gräfin d'Azimont ist, wissen wir; lieber möcht' ich Herrn Lasally veranlassen uns zu erzählen, welches die schönsten und gewandtesten Amazonen der Residenz sind....
Man blickte zu Lasally hinüber, der nachdenklich schien.
Hören Sie denn nicht, Lasally, sagte Melanie, wer reitet von den Damen besser als Melanie mit dem abscheulichen Namen Schlurck?
Die Frau Major von Werdeck reitet besser! sagte Dieser kurz und bestimmt.
Man lachte über seine Offenheit.
Sie sind kurz angebunden! Wie können Sie eine Polin mit mir vergleichen... eine wilde Demokratin!
Demokratin? fragte Dankmar.
Eine Sarmatin, die auf einem Pferde zur Welt gekommen scheint... sagte Lasally, um sich zu entschuldigen.
Stille! Stille! Es wird immer besser! rief Melanie und wollte von der Frau Major von Werdeck nichts mehr wissen.
Auch die Damen von Wachendorf, die Baronin Spitz und Frau von Landskrona sind in der Zügelführung anzuerkennen, sagte Lasally.
Die Erwähnung so vieler Damen führte auf die Chronik der großen Welt. Man zeigte sich über alle hervorragenden Persönlichkeiten derselben ziemlich unterrichtet. Dankmar hörte Namen, die er mit Siegbert in Verbindung wußte, andere, die ihm ganz fremd waren. Er hörte, da sich auch Reichmeyer's in diese Erörterungen mischten, kaum zu und verlor sich in Erinnerungen an Egon und die so schnell gewonnene Freundschaft jenes Gefangenen im Thurm, der nur der junge Fürst sein konnte. Als er von seinen Grübeleien erwachte und man noch von den Damen der Residenz sprach, benutzte er die Gelegenheit, sich über Egon's Vorsicht in Betreff der Harder'schen Familie zu unterrichten und fragte:
Wir haben Herrn von Harder kennen gelernt. Nicht wahr? Es gibt mehre Damen von Harder... was weiß man von ihnen?
Melanie begann sogleich:
Mit den Harder's bitt' ich vorsichtig umzugehen. Jede Äußerung, die einen Verwandten meiner Excellenz betrifft und für seinen geliebten Namen ungünstig ausfiele, könnte mein Herz verwunden...
Melanie! rief die Mutter...
Laßt mich, sagte sie. Spottet nicht! Sie am wenigsten, Lasally! Ich habe euch eitle und schwankende Männer lange studirt und mir wol die Fähigkeiten erworben, das Echte vom Unechten zu unterscheiden. Meine Excellenz gehört zu den Bessern ihres Geschlechtes. Ich will nicht in Abrede stellen, daß auch Harder von Harderstein Schwächen besitzt, allein wenn er nun auch eitel wäre, darf er es nicht sein? Hat er nicht die kleinsten Ohren, die ich je am Kopfe eines Mannes erblickt habe? Ist er nicht schlank gewachsen wie eine Pappel und hält er sich nicht ganz so gerade, wie es seiner Stellung am Hofe angemessen ist? Nein, nein, ihr Männer wißt nicht, worin eigentlich der Zauber liegt, den gewisse Blüten eures Geschlechtes auf uns ausüben. Scheltet mir meinen Geheimenrath nicht!
Nach der Heiterkeit, die diese muthwilligen Scherzreden hervorbrachten, bemerkte die Mutter, ohne Zweifel hätte die Frage ihres Herrn Begleiters den Damen gegolten, die den Namen von Harder führten.
Von Pauline von Harder, sagte Melanie, red' ich nicht. Ich hasse sie. Sie ist die Gemahlin meines Ideals. Aber Anna von Harder kenn' ich. Dieser Dame verdanke ich mehr, als man für glaublich halten möchte. Ihr Schwager, der Intendant, lehrte mich fühlen, sie selbst, Anna von Harder, lehrte mich Etwas, was man mir ebenfalls allgemein absprechen will, nämlich... rathen Sie?
Die Mutter sagte lachend:
Singen, mein Kind!
Das ist wirklich das Unmöglichste, was Sie zu leisten gelernt haben, Melanie! fiel Lasally spottend ein.
Sollte Ihnen, mein Herr, wandte sich Melanie zu Dankmar, diese boshafte Äußerung Lasally's unverständlich sein, so müssen Sie nämlich wissen, daß ich, wie man allgemein behauptet, keine Stimme habe. Ich spiele Klavier, Harfe und Guitarre. Aber dennoch fand ich immer, daß wirklich zur Musik nur Mittelmäßigkeiten Talent haben, was ich Ihnen durch Lasally's Beispiel beweisen könnte, der ein ganz vorzüglicher Bläser auf dem Cornet à piston, dem Postillonshorne ist. Ich selbst strebte immer nach dem Ruhme, in meiner Art das Beste zu leisten und da mir eine gewöhnliche mittelmäßige Fähigkeit im Singen nicht genügt, so zog ich es vor, zum Davonlaufen schlecht zu singen. Das hinderte aber doch nicht, daß ich einige Zeitlang die Akademieen der guten Anna von Harder auf Tempelheide unterstützt habe.
Bis sie dich ersuchte, fiel die Mutter lachend ein, lieber deine andern Talente zu pflegen, als die zweifelhafte Gabe des Gesanges, wie sie dir einmal selbst schrieb.
Mit Gänsefüßen! Zweifelhaft mit Gänsefüßen, liebe Mutter! rief Melanie. Die zweifelhafte Gabe des Gesanges waren meine eigenen Worte, mit denen ich mich von Frau von Trompetta und der neuen Jungfrau von Orleans, der Flottwitz, bei ihr einführen ließ. Die falschen Noten, die ich sang, waren nicht Schuld, daß ich wegblieb, eher noch die vielen heiligen und langweiligen Sachen, die wir aufführten...
Heilige, langweilige Sachen? fragte Dankmar, der das Gespräch von den Nachforschungen über seine Person und dem Drucke des zunehmenden Misverständnisses ablenken wollte.
Melanie erklärte ihre Äußerung.
Sie wissen vielleicht nicht, sagte sie, daß Anna von Harder während des Winters in der Stadt und im Sommer auf dem Gute des alten Obertribunalpräsidenten in Tempelheide von jungen Dilettanten und Dilettantinnen geistliche Musiken aufführen läßt? Sie ist nicht fromm, Anna von Harder, aber sie liebt alles Das, was zur Frömmigkeit gehört. Diese Akademieen...
Bitte! bitte! unterbrach Dankmar die Mittheilung des schönen neckenden Mädchens, das sich, wie wir hören, auch nöthigenfalls selbst persifliren konnte. Sie sagen da ein Wort, das wiederholt zu werden verdient. Nicht selbst fromm sein, aber Alles lieben, was zur Frömmigkeit gehört?
Ich weiß es kaum anders auszudrücken...
Sie bezeichnen damit eine Geistesrichtung, die ziemlich allgemein verbreitet ist und mir sehr gefährlich erscheint...
Es ist die der Schwanenjungfrauen und Diakonissen, sagte Melanie. Allein spotten wir nicht! Anna von Harder ist keine Mäuseburg, keine Trompetta...
Sie hat in ihrer Jugend die tiefsten Herzensprüfungen bestanden... ergänzte die Mutter.
Und weiß noch jetzt, was ein Herz ist! fiel Melanie ein, sich vielleicht irgend einer vergangenen Scene mit ihr entsinnend.
Aber die Musiken in Tempelheide sind darum doch lächerlich! meinte Lasally.
Wer sagt Das? fragte Melanie.
Hauptmann Thielo sagt's, Rittmeister Konnewitz... fragen Sie, wen Sie wollen.
Diese competenten Richter! Sie sind komisch, diese Musiken, aber Thielo und Konnewitz sind die ernsthaften Menschen nicht, die sie komisch finden dürfen.
Fräulein, Sie überbieten sich in geistreichen Aperçus, fiel Dankmar ein. Sie sagten eben wieder ein Wort, das ich bewundere. Es kann Etwas lächerlich sein, aber nicht Jeder hat das Recht, es lächerlich zu finden. Wie erscheinen denn Ihnen diese Musiken?
Im Grunde, sagte Melanie mit den Augen blinzelnd und schelmisch, im Grunde ganz ebenso wie dem Thielo und Konnewitz... aber...
Man wollte dies »Aber« nicht hören. Man wollte wissen, warum Melanie diese Musiken komisch fände.
Nun... Denken Sie sich nur die ewige alte classische Musik, sagte sie. Nie etwas Weltliches! Ewig und ewig: Heil dir Israel! und Jauchze, Juda! und so Alles durch, was die alten Maestri und die Neuern nur in diesem Stil componirt haben. Mit Trompeten und Pauken in großen Kirchenräumen macht sich Das prächtig, aber so mit dünnem Klaviergeklimper begleitet und die oft achtstimmigen, ganz labyrinthisch verwickelten Fugen von zimperlichen Chören gesungen – ich gebe Ihnen mein Wort, man wird vom Zählen allein schon confus, wie sehr erst von dem Durcheinander, wo der Eine Juda! der Andere Israel! der Dritte Jerusalem! jauchzt und das kleine quiekende Klavierchen dazwischen summt und summt und summt... Mir ist manchmal in dem Chaos das Notenblatt vor Schreck aus der Hand gefallen, aber die Andern stürmten fort wie die Makkabäer, und die gute Anna, die das Ganze am Klavier dirigirte, verlor fast die Besinnung, bis wir zuletzt am Finale ankamen und wie ankamen! Der Eine um acht Takte zu früh, der Andere um zwölf zu spät. Kurz es sind geistliche Charivaris...
Die aber doch sehr belustigend gewesen sein müssen, sagte Dankmar, über diese Schilderung lachend; warum haben Sie sie aufgegeben?
Ja! Sie waren drollig, fuhr Melanie fort. Denken Sie sich nur, wenn Sie sie kennen, die dicke kleine Trompetta; denken Sie sich diese Frau mit glühender Andacht im Chor ihre Altstimmen zusammen halten und die Flottwitz immer wie in höhern Sphären und ihre blonden Tirebouchons wie eine Löwin vom Stamme Juda schüttelnd, als wollte sie die Demokratie radical zu Grunde singen... Die Herren sind theils junge Assessoren, theils Lieutenants, drei Brüder der Flottwitz allein schon, und der Vierte, der noch in der Cadettenschule ist, würde sich auch schon angeschlossen haben, aber seine Stimme setzt sich eben...
Melanie lachte ausgelassen.
Ich habe von diesen Akademieen gehört, besann sich Dankmar. Der alte Präsident soll sie sehr lieben...
Dankmarn wurde nämlich erinnerlich, daß sich Einige seiner juristischen Collegen der besondern Protection dieses ehrwürdigen Greises erfreuten, weil sie gute Stimmen hatten...
Gewiß liebt er diese Concerte, aber nicht der Musik wegen! sagte Melanie.
Weswegen denn?
Das sollen Sie erfahren und zugleich den Grund, warum ich ausgetreten bin. Ich fühlte nämlich allerdings, daß ich weltliches Kind den anwesenden Damen nicht begeistert genug für diese Art von Musik vorkam. Ich singe herzlich schlecht, aber Das weiß ich, ich zähle gut. Und eigentlich ist Das bei diesen Motetten und Oratorien die Hauptsache. Die Flottwitz gerieth nun beim Zählen immer ins Schwanken. Sie zerstreute sich, wenn 38 oder 49 über einem Pausenzeichen stand und wir blos von Anna von Harder's Blick abhängig waren, um uns wieder bis zu unserm Anfang zurechtzufinden. Die Flottwitz sah nämlich bei einer solchen großen runden Zahl gleich auf die Achselklappen ihrer Brüder und verlor sich in Betrachtungen über die Zahlen der Regimenter, die auf den Knöpfen derselben zu lesen stehen. Wahrhaftig, sie war weit mehr beim 38sten und 49sten Linien-Infanterieregiment, als bei dem Chor der Pharisäer und Schriftgelehrten, den wir mit 38 und 49 Taktpausen als Mädchen vom Stamme Benjamin oder Ruben ablösen mußten. Nein, nein, zählen konnt' ich wirklich ganz allein, und Takt glaub' ich immer zu haben. Aufrichtig, ich sehnte mich nach frischerer, lebendigerer Musik, so gering ich sie auch unterstützen konnte. Als ich einmal die »Jahreszeiten« zu singen vorschlug, kam ich gar übel an. Man erklärte die »Jahreszeiten«, besonders von Seiten eines widerlichen alten Ausschusses, der sich um die sanfte, treffliche Anna von Harder gruppirt hatte und sie tyrannisirte, für eine im Grunde frivole Musik, die alle Kennzeichen ihres Ursprungs aus dem Wiener Prater an sich trüge. Minder leichtfertig erschien die »Schöpfung«. Als dann abgestimmt wurde, was man wählen sollte zum nächsten Winterstudium, blieb ich mit zwei Lieutenants und drei Assessoren für die »Jahreszeiten« und, in Folge eines Amendements, sogar für die »Schöpfung« in der Minorität. Der »Tod Jesu« siegte.
Ist doch auch ziemlich modern! warf Dankmar ein, den diese Mittheilungen aus gewissen exclusiven Kreisen der Gesellschaft interessirten....
Würde auch nicht gesiegt haben, erzählte Melanie, wenn nicht die Flottwitz das Wort ergriffen und dem »Tod Jesu«, außer seiner größern Heiligkeit noch besonders eine militairische Ehrwürdigkeit zuerkannt hätte.
Militairische? fragte Dankmar erstaunt.
Militairische! Der »Tod Jesu«, sagte die Flottwitz, wäre ein Garnisonkirchen-Oratorium, Graun wäre Kapellmeister des großen Friedrich gewesen und hätte die Märsche für Trommel und Querpfeife componirt, die noch jetzt ein gewisses glorreiches Kriegsheer täglich spiele und kurz und gut die rein fromme Partei und die Partei der musikalischen Puristen wurde unterstützt von der jetzt so fanatisch patriotischen des Reubundes. Man machte aus dieser Wahl eine Tendenz- und Zeitfrage. Ich blieb für den österreichischen Haydn in der großdeutschen Minorität. Die beiden Lieutenants, die Brüder der Flottwitz, die mich aus Galanterie unterstützt hatten, bekamen von Friederiken Wilhelminen, ihrer Schwester, einen ihrer bekannten durchbohrenden Blicke. Sie behandelte die armen Menschen fast wie Fahnenflüchtlinge, die ihrem Könige den Eid gebrochen hätten. Großer Gott, sagt' ich, liebes Fräulein von Flottwitz, beruhigen Sie sich, Ihre beide Herren Brüder werden das Vaterland darum noch nicht verrathen, daß ihr Ohr nicht geübt genug scheint, aus dem »Tode Jesu« den alten Dessauer herauszuhören.
Wie scharf! rief Dankmar lachend.
Melanie fuhr fort:
Löste dieser Verfall fast ohnehin schon das lockere Band –
Dem Ihre Schönheit, sagte Dankmar, Ihr Vorzug vor den andern Nachtigallen, noch weniger Festigkeit wird gegeben haben –
Spotten Sie nur! erwiderte Melanie. Ich nehme das Compliment doch an. Allerdings behauptete man, besonders der Ausschuß, der so gelb war, wie das alte Notenpapier, das wir absangen, ich machte durch Coquetterie die Bässe und Tenöre im Zählen irre. Jetzt frag' ich Sie, kann ich dafür, daß ich so gut zählen kann? Kann ich dafür, daß man den Wink, den ich immer den Bässen und Tenören gab, wo sie anzufangen hätten, so misverstand, als wollt' ich ihnen etwas zublinzeln, was ganz außerhalb des Generalbasses lag? Diese Eselsköpfe brachten mich mit meinem Kunsteifer auch leider selbst in dies falsche Licht. Wenn ich nickte und damit blos sagen wollte: Jetzt kommen Sie! Aufgepaßt! so wurden die Tenöre roth und die Bässe verwirrten sich, fragten mich: Wie befehlen Sie, Fräulein? und setzten regelmäßig falsch ein, bis endlich eine der giftigsten vom Ausschuß, die Gräfin Mäuseburg, die sogenannte Chinesische-Missions-Äbtissin, rief: Fräulein Melanie, die Direction sitzt hier am Klavier und wird schon angeben, wann die Herren einzufallen haben. Schonen Sie das Feuer Ihrer Augen!
Diese Äbtissin! rief man scherzend und unterstützte dadurch den lustigen Humor, in dem Melanie plaudernd fortfuhr:
Auf diese fanatische Bemerkung schwieg ich und überließ meine Vertheidigung der guten Anna von Harder, die für mich das Wort ergriff, meine gute Absicht anerkannte und mein Talent im Zählen so ausnehmend rühmte, daß ich froh war, nicht die Tochter eines Kaufmannes zu sein, wie eine solche neben mir stand und sich auf die Lippen biß, aus Furcht, von meinem Lobe etwas abzubekommen. Der Friede war nun zwar hergestellt und das Misverständniß ausgeglichen, allein mein Entschluß auszutreten stand fest....
Und der wahre Grund? fragte Dankmar.
Als ich wegen der Menagerie des alten Präsidenten zum dritten male in Ohnmacht fiel –
Ja Das ist der Grund! sagte die Justizräthin; ich glaubte anfangs immer, wenn Melanie nach Hause kam, es griff sie das Singen an, wofür wirklich ihre Kehle nicht gebaut ist –
Mutter auch du? rief Melanie komisch.
Liebes Kind, Sanitätsrath Drommeldey hat dich untersucht und Alles gesagt, was dir in der Kehle...
Abscheulich! Was soll diese Anatomie!
Genug, fuhr die Mutter fort, ich glaubte immer, du strengtest dich über die Gebühr und gegen dein Vermögen an. Da kam's denn heraus, daß sie förmliche Nervenzufälle gehabt hat über das garstige Gethier, mit dem sich der alte kindische Mann, der Obertribunalpräsident, umgibt....
Nenn' ihn nicht kindisch! rief Melanie. Um Gotteswillen nicht! Ich verehre ihn wie einen Heiligen. Nein! Nein! Mutter! So denk' ich mir die Hohenpriester aus dem Alten Testament.
Und fast wie Siegbert einst zu Hackert bei Tempelheide gesagt hatte, fuhr sie fort:
Daß ein Mann, wie der, der neunzig Jahre zählt und siebzig Jahre lang die Acten der Erbärmlichkeiten aller der Menschen, die unsern großen Staat bewohnen, zu sehen bekommt, sich zuletzt den Thieren zuwendet, nimmt mich nicht Wunder. Aber noch mehr, er liebt die Thiere nicht als Thiere, sondern er beobachtet und zähmt sie und hat die erstaunlichsten Beweise, wie bildungsfähig z. B. die mir in den Tod fatalen Katzen sind...
Ist Das nicht Tollheit? sagte die Mutter.
Dankmar berichtigte gleichfalls diese rasche Auslegung und behauptete, daß man über diese Dinge wol auch eine tiefere Auffassung haben könne. Die Übergänge der Natur in den Geist wären wunderbar genug. Wer könnte die Grenze bestimmen, wo der Mensch willenlos würde und einer dämonischen Macht seiner Triebe wie ein von ihnen gefesselter Sklave anheimfalle? Dankmar erwähnte ohne Weiteres... das Nachtwandeln...
Frau von Reichmeyer, die in ihrem Wagen ganz nahe war und von dem lauten Gespräche Vortheil zog, bat, dies Thema doch ja nicht zu verlassen... Sie gehörte zu denjenigen Jüdinnen, von denen man nicht blos sagen konnte, daß sie Christinnen geworden waren, sondern daß sie, wie man es genannt hat, »christelten«. Es war längst ihr Wunsch, da sie Stimme besaß, an den berühmten geistlichen Akademieen in Tempelheide theilzunehmen, an Gesangsleistungen, für die sich sogar der Hof interessirte... diese Vorliebe für alte Musik spielte ja auch in die ganze eigenthümliche Romantik hinüber, mit der sich der Thron des Staates, in dessen Grenzen wir uns befinden, so bedeutsam umsponnen hatte...
Sie bat Melanie, den Gegenstand doch ja nicht zu verlassen und aufrichtig zu sagen, was ihr denn eigentlich in Tempelheide so Abschreckendes begegnet wäre?...
Melanie aber, weit mehr jetzt von der Erwähnung des Nachtwandelns erschreckt, antwortete nicht.