Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Dankmar zwar in aller Frühe aber doch wiederum wahrnahm, daß Niemand sich nach ihm erkundigte, der Prinz und Hackert wirklich verschwunden waren, wollte er noch einmal zur Schmiede gehen und vor seiner Abreise von dem alten und jungen Zeck, die ihm doch ein gar sonderbares Paar schienen, prüfenden Abschied nehmen.
Bello begleitete ihn. Das kranke und sonst so schweigsame Thier wurde an der Schmiede sogleich wieder unruhig und gerieth in sein schon bezeichnetes, dem alten Schmied so widerwärtiges Kläffen und Bellen.
Es schien ihm schon von Ferne ziemlich lebendig unter und vor dem Dache der Schmiede. Da standen Wagen und Pferde, die die Hülfe dieser Dorfvulkaniden in Anspruch nahmen. Bauernbursche, herrschaftliche Stallknechte, auch einer von Lasally's Jokeys, der die »quihnende Laura« eben wieder in die Ställe des Schlosses zurückführte. Näher gekommen, merkte er, daß die meisten der hier Haltenden ungeduldig waren, lärmten und abgefertigt sein wollten. Aber nur der junge Zeck war zugegen und nahm in Ruhe, da er die Flüche nicht hörte, eine Arbeit nach der andern vor. Die Lärmenden mußten sich gedulden und zerstreuten sich durch Possen, die, seit sie Dankmar hörte, nur ausgelassener wurden; denn die Menschen sind geborene Schauspieler und werden, beobachtet, im Guten und Schlimmen nur rührsamer.
Bello sprang zwischen diesen Tumult mitten hinein und stöberte einen Flüchtling auf, dem seine Lebhaftigkeit doch bedenklich vorkam. Es war dies der junge Ackermann, der an der Schmiede unter ihrem von zwei Holzsäulen getragenen Vorbau dem Hufbeschlag zugeschaut hatte. Als die Reden der Bauernbursche zu derb wurden – sie kamen meist aus dem Ullagrunde, besonders vom reichen Bauer Sandrart – wandte er sich schon dem grünen Rasen zu, der rechts vom Hause lag und mit Obstbäumen bepflanzt war. Dort witterte ihn Bello und beängstigte ihn.
Dankmar sah schon längere Zeit, wie der Knabe, der ihm denselben gefälligen Eindruck wie gestern machte, auch einer alten Magd zuschaute, die zwischen den Obstbäumen eine Leine zog, um auf ihr Wäsche zu trocknen, und ihr allerhand Antworten abzugewinnen suchte. Doch ein weichliches Ding! sagte er sich. Was nimmt er an der Wäsche für einen unmännlichen Antheil! Wie er die Sacktücher mustert! Ich will glauben, er ist nur neugierig und will die Buchstaben lesen, mit denen sie gezeichnet sind.
Bello hatte es vielleicht eigentlich nur auf die Alte abgesehen und erschreckte nur zufällig auch den Knaben. Dankmar bedeutete ihm Ruhe, trat dem Rasen und den Obstbäumen näher und knüpfte mit dem jungen erröthenden Amerikaner ein Gespräch an.
Wo ist dein Vater, Kleiner? fragte Dankmar mit einer Stimme, die ihm selber komisch vorkam, denn er suchte ihr den Ausdruck des Holden zu geben, weil sie Holdes anredete...
Oben bei dem Schmied! war die schüchterne, verlegene Antwort; ich erwarte ihn hier.
In der That war das Feuer in der Esse am Verglimmen. Ein Eisen auf dem Ambos verglühte. Die Geräthschaften lagen alle so durcheinander, als wenn sie eben Einer im Nu weggeworfen hätte. Der junge Zeck konnte die Arbeit kaum allein zwingen...
Wie gefiel es dir gestern auf dem Schlosse oben? sagte Dankmar, um sein Gespräch nicht sogleich wieder abzubrechen.
Mir weit besser als dem Vater! sagte der Knabe.
Der hat freilich wol schon Vieles gesehen, was schöner ist, entgegnete Dankmar. Ihr kommt ja weit her?
Von Amerika, sagte der Knabe, und setzte nach einigem Besinnen hinzu: Aus Missouri.
Aus Missouri! Ja, ja! Man erzählte mir's schon in der Krone, bemerkte Dankmar. Da seid ihr wol nur zum Besuche hier und werdet gewiß wieder übers Meer zurückwollen?
Das wissen wir selbst noch nicht, erwiderte der Knabe. Wenn es dem Vater wieder in Deutschland gefällt, bleiben wir; wo nicht, kehren wir nach Columbia am Missouri zurück, wo wir gewohnt haben.
Nach Columbia! Am Missouri!..... sagte Dankmar herzlich; so will ich wünschen, daß euch Alles hier erfreuen und befriedigen möge, damit wir nicht nur gute Menschen an Amerika verlieren, sondern deren auch welche von da wieder herübergewinnen.
Der Knabe schlug zerstreut mit seinem Stöckchen auf einige hochstehende Grashalme.....
Dankmar fühlte, daß ein längeres Gespräch mit dem schüchternen und bescheiden die Augen niederschlagenden Kinde es ängstigen würde und brach, wenn auch ungern, seine Unterredung ab. Er konnte nicht umhin, dem Knaben flüchtig die erröthenden Wangen zu streicheln, worauf dieser vollends feuerroth wurde und sich geängstigt abwandte.
Dankmar nickte noch einmal und wandte sich links zur Schmiede. Ein Wagen fuhr eben davon. Zwei Pferde, hinten angebunden, hüpften ihm, mit neuen Hufeisen beschlagen, lustig nach. Lasally's Jokey war gleichfalls verschwunden. Nur noch ein Reitknecht hielt den Huf eines Gaules, dem der junge Zeck, in Hemdärmeln, ganz schwarz berußt, die Hornhaut vom Hufe abstach. Dankmar sah eine Weile zu. Der junge Zeck grüßte flüchtig und eilte sich in der Arbeit, was er nur konnte. Der junge Ackermann hielt sich inzwischen in der Ferne auf dem Rasen und schien sich mit Bello ausgesöhnt zu haben. Kaum hatte sich Dankmar wieder nach ihm umgesehen, war auch die letzte Arbeit in der Schmiede verrichtet. Der Knecht bezahlte und eilte mit seinem Pferde davon. Der junge Zeck verschwand in dem innern kohlengeschwärzten Hause.
Dankmar beschloß, sich dem blinden Alten vor seiner Abreise doch noch einmal zu empfehlen. So folgte er in die dunkle leere Werkstatt und sah eine kleine schmale Treppe, die oben in die Wohnung des Schmieds führte. Er trat behutsam auf. Die Nachwirkung des Eindrucks, den der Knabe in seiner Sanftmuth auf ihn gemacht hatte, ließ ihn leiser auftreten, als er sonst würde gegangen sein. Man hörte ihn nicht. Wie erstaunte er daher, als er unerwartet oben, eine Thürklinke niederdrückend und in ein niedriges Gemach eintretend, den blinden Zeck eben im Begriffe fand, einen ganzen Tisch voll flimmernder, hellblitzender Goldstücke einzustreichen! Der taube Sohn stand gierig gaffend daneben und der Amerikaner wollte eben gehen....
Wer da? rief der Blinde mit Heftigkeit, als er sich so plötzlich überrascht fand. Sein sonst so feines Gehör mußte ihn bei dem Fühlen und Tasten nach den schweren Goldstücken verlassen haben, sonst würde ihm wol schwerlich das wenn noch so stille Hinaufsteigen Dankmar's entgangen sein....
Beruhigt Euch! sagte Dankmar. Ich wünsch' Euch alles Glück, wenn Ihr in der Lotterie gewonnen oder eine Erbschaft gemacht habt. Ich wollt' Euch nur sagen, daß ich aufbreche und wenn Ihr an den Fuhrmann Peters etwas zu bestellen habt –
Nichts! Nichts! Was Peters! Herr! polterte der Blinde grob und unhöflich. Seit dem plötzlichen Reichthum schien er auch schon alle Fehler der Reichen bekommen zu haben. Sein Zorn erinnerte Dankmarn an die Bosheit, mit der er heimlich gestern den vorlauten Bello hatte niedertreten wollen. Der Alte hatte sein schon halb lose hängendes Schurzfell rasch abgebunden und es wie zum Schutz auf den Tisch so geschwind gebreitet, daß einige Goldstücke auf die Erde rollten. Der Blinde tastete, der Taube kroch nach den rollenden Friedrichsd'oren mit der Gier einer Katze. Es war ein häßlicher, ängstlicher Anblick....
Dankmar hatte schon die Thür in der Hand und entfernte sich, den feinlächelnden Amerikaner flüchtig grüßend, mit den Worten:
Ich sehe, daß ich störe. Genießt Euer Glück in Frieden! Lebt wohl!
Damit kletterte er getrost die Hühnersteige wieder hinunter zu Bello und dem Knaben, der inzwischen draußen im Vorbau der Schmiede auf einen dreibeinigen Schemel sich niedergesetzt hatte und dem Hund, der sich ihm jetzt nach Entfernung der garstigen Magd, die hinten an einem Ziehbrunnen wusch, traulicher anschmiegte, nach seinem traurigen Schaden sahe....
Wetter! sagte Dankmar aufgeregt zu dem Knaben, wenn ich gewußt hätte, daß dein Vater oben Geldgeschäfte mit dem impertinenten alten Schmied hat, würde ich mich wol gehütet haben, ihn zu stören....
Es ist eine Erbschaft, sagte der Knabe, die ihm der Vater aus Amerika mitbringt.
Eine Erbschaft! Und das so aus freier Hand, ohne gerichtliche Vermittlung? Erbschaften sollen nur durch die Behörden gehen. Verstehst du etwas vom Recht?
Der Knabe schüttelte den Kopf.
Dankmar bemerkte mit Wohlgefallen die langen seidnen Wimpern des braunen Auges, die der kleine Amerikaner niederschlug, ohne eine gewisse Pfiffigkeit und Schlauheit verbergen zu können, die hinter seiner Scheu verborgen lag.
Ihr wißt von unserm Amtswesen und unsrer Federfuchserei nicht viel? sagte Dankmar, um sich von dem unangenehmen Eindruck, den ihm der oben erlebte Augenblick hinterlassen, zu zerstreuen.
Doch, Herr, antwortete der Knabe und stemmte den einen Fuß wie spielend rückwärts an ein zerbrochenes Rad; doch! doch! Der Vater hat sich freilich gestern nach dem Schmied und seiner Schwester erkundigt und sich nachschlagen lassen, was man auf dem Amt von ihnen weiß und da er fand, daß es die Richtigen sind, denen er das Geld zu bringen hat, so hat er's ihnen nun wol oben gegeben. Es war uns schwer genug. Um den Leuten Freude zu machen, wechselte er das Papier in pures blankes Gold.
Die Schwester des Schmieds? wiederholte Dankmar, erfreut durch die ermuthigte und gesammelte Antwort und den gutmüthigen Zug des Vaters. Also eine Schwester hat der Schmied? Er ist blind, sein Sohn taub, was muß da wol die Schwester für ein Gebrechen haben?
Das Alter, hör' ich; sagte der Knabe lächelnd.
Das Alter!.... wiederholte Dankmar.
Die Antwort gefiel ihm. Er schaute ganz betroffen auf, vergrößerte die Augen und hätte fast Brav, mein Junge! gesagt.
Der Knabe aber, seine angenehme Erregung übersehend, fuhr harmlos fort:
Sie sollte erst in die Schmiede kommen, daß wir ihr hier ihren Antheil auch auszahlten und das schwere Geld loswürden. Aber sie soll seit Jahren ein Gelübde gethan haben, nicht weit vor die Thür zu gehen und so müssen wir ihr's nun wol selbst bringen.....
In diesem Augenblick rief vom Innern der Schmiede her eine starke sonore Stimme:
Selmar!
Dem nun aufspringenden Knaben trat sein Vater entgegen. Wie dieser Dankmarn erblickte, sagte er freundlich:
Sie waren sehr rücksichtsvoll, mein Herr! Wie rasch Sie sich entfernten! Ja, ja! Der Blinde oben ist außer sich, daß Sie uns da so plötzlich überrascht haben. Diese Leute wollen um jeden Preis etwas besitzen, es aber um's Himmelswillen Niemanden sehen lassen.
Er kann schon sicher sein, sagte Dankmar, daß ich weder, was ich sah, noch was mir mein kleiner Freund Selmar erzählte, ausplaudern werde.....
Dankmar benutzte die Gelegenheit, zu bemerken, daß er endlich den Namen des jungen Ackermann erobert hätte.
»Freund Selmar!« »Ausplaudern!« Diese Worte schienen einen Eindruck auf den Vater zu machen. Er warf einen eigenen verlegenen Blick auf sein Kind.
Selmar faßte ihn unterm Arm. Beide schickten sich an die Schmiede zu verlassen.
Sie kommen aus Amerika! sagte Dankmar, sich anschließend und die fortdauernde Verlegenheit des Vaters nicht bemerkend. Sind die Amerikaner denn auch so wunderlich in Geiz, Habsucht und Verstellung und unsern andern versteckten europäischen Lastern?
Ackermann antwortete im Gehen lächelnd:
Der Amerikaner trägt gern offen zur Schau, was er besitzt, prahlt auch wol ein wenig.... aber die schnöde Furcht des Besitzes ist selten. Findet sich dies Laster, so ist es aus Europa mit hinübergebracht.
Wie bei Morton? Nicht wahr? sagte Selmar.
Dem Vater schien Selmar fast mit Dankmarn schon zu vertraut geworden. Er blickte Dankmarn wiederholt an und schien sich zu überlegen, ob sein Sohn gut gethan hätte, sich dem jungen Fremden schon so weit zu vertrauen, daß er von einem gewissen Morton sprach.....
Morton? wiederholte er und schwieg.
Die Stimmung, die durch diesen wiederholten Namen und das plötzliche Stillschweigen des Vaters zwischen allen Dreien entstand, löste der junge Zeck, den Dankmar jetzt erst hinter ihnen bemerkte.
Dahin wohnt die Tante! sagte er und zeigte dem Walde zu.
Er sah dabei Dankmarn stutzig an und schien fragen zu wollen, ob dieser zu der Partie gehören dürfe.....
Alle Vier waren aber schon auf dem Wege und der Fußsteig von hier nach dem Walde zu gehörte zuletzt Jedem.
Dankmar, der sich nicht irre machen ließ, gab wol die Frage nach dem Geizhalse Morton auf, bemerkte aber, zu Ackermann gewandt und innerhalb der Grenze erlaubter Neugier:
Sie sind in Deutschland geboren? Vielleicht schon früh ausgewandert?
Vor einigen zwanzig Jahren! sagte der Fremde und blickte sich nach Selmar um, der sich eben von ihm getrennt hatte. Diese Trennung galt Bello, auf den der Knabe sich schon soviel Einfluß zutraute, daß er diesen von dem Unmuth beruhigte, der ihn wieder beim Anblick des jungen Zeck befiel.
Ich habe mich in der Union drüben viel herumgetummelt, sagte dieser sogenannte Ackermann, bis ich endlich am Missouriflusse in dem Städtchen Columbia mich niederließ. Mein Weib, das ich aus Deutschland mitgeführt hatte, starb vor noch nicht lange und hinterließ mir da den spät gebornen Jungen. He Selmar! Selmar! Laß doch dem Thierchen seine Freude! Der Junge ängstigt sich.. Sie wissen wol, in Amerika bellen die Hunde nicht..
Der taube Zeck öffnete ein Stacket, durch das man erst zu einer Wiese und dann zum frisch sie anwehenden Walde gelangte. Er blieb, als Selmar und sein Vater passirt waren, stehen und machte eine hämische Miene, indem er in der den Tauben eigenen leisen Art, aber dummdreist, zu Dankmarn sprach:
Wir gehen auf's Jägerhaus!
Dankmar achtete nicht.
Aber auch Ackermann schien Dankmar's weitere Begleitung nicht vorauszusetzen und blieb stehen, wie wenn man sich empfehlen wollte.... Selmar aber hatte den lahmen Bello aufgegriffen und ihn mit den Worten: Armes Thierchen, das Laufen wird dir schwer; ich trage dich! an die Brust gedrückt und war ohne Rücksicht auf den Vater und den Fremden schon ein Stückchen Weges weiter gegangen.
Kinder und Thiere bringen die Menschen zusammen! dachte Dankmar und schritt über die Wiese getrost mit zum Wald hinüber.
Vater, sagte Selmar sich umwendend, so mächtig wie unser Büffelforst ist ein deutscher Wald doch nicht!
Das wollt' ich meinen, Junge! antwortete der Vater, der sich in Dankmar's Begleitung nun ergab. Hast du das Stacket bemerkt? Kein Jagdgesetz hegt unsern Urwald ein!
Wohl Vater.... aber..
Aber?
Lieblicher ist der deutsche Wald!
Was lieblicher!
Sieh, bei uns unter den riesenhohen Bäumen mit dem rothen Holze und den ellenlangen Nadeln, wer kann da lustwandeln? Überall Stämme, deren Wurzeln hoch aus der Erde herausstehen und quer über Das hinweglaufen, was ungefähr wie ein Weg aussieht und doch keiner ist! Dazwischen ganze Bäume, die während der Überschwemmung des Missouri ausgerissen wurden und hoch in den Zweigen der andern stecken blieben, wo sie jeden Augenblick niederstürzen können; der fürchterlichen Steine garnicht zu gedenken, die von uraltem Moos zerfressen überall umherliegen und die ganze Ordnung so einer friedlichen Baumgruppe stören. Sieh nur, Vater, wie die Sonne so heiter durch das Hellgrün der Buchen schimmert! Bei uns dringt die Sonne garnicht durch oder fällt nur von oben so geheimnißvoll herab, daß man sich nach dem Felde hinaussehnt, wo sie frei scheint. Und auch dort, gesteh's nur, Vater, was hat man als die unabsehbar große Prairie, die wie ein grünes Meer ist, endlos, unheimlich und recht melancholisch!
Da sehen Sie es, sagte Ackermann nach dieser gewandten Schilderung, die Dankmarn überraschte und fast erschrecken ließ, daß er den gebildeten Knaben ohne Weiteres mit Du angeredet hatte; da sehen Sie's, Selmar hat es darauf angelegt mich hier zu behalten. Wie gefiel ihm nicht das abscheuliche London, das garstige Hamburg! Gestern auf dem Schloßberge oben bekam er Gefühle, wie ein junger, unter Klosterruinen erzogener Siegwart! Ein Amerikaner! Ein praktischer Verstandesmensch! Schäme dich!
Selmar lachte. Er hatte es schlau angefangen. Erst den Vater durch ein Lob Amerika's gewonnen und dann doch seine Meinung gesagt.
Dankmar hörte schweigend zu. Er lächelte mit Wohlgefallen und Überraschung. Die gebildeten Äußerungen des Knaben, der freundliche Scherz des geistreichen, plötzlich so fein und unterrichtet sich ausdrückenden Vaters erfreute ihn innigst.
Der Träumer trifft dich, Vater, sagte jetzt Selmar, ließ den unruhig zappelnden Bello wieder laufen und hüpfte zu Ackermann heran, ihn zärtlich umfangend.
Wie so mich?
Er trifft dich, Vater! Besinne dich nur auf Gestern! Erst wolltest du nicht hinauf auf's Schloß, weil du wol dachtest, da fallen mir all' die schönen Mährchen und Geschichten ein, mit denen du und die Mutter mich in der langen trüben Regenzeit in Columbia unterhieltest! Weißt du noch die Sagen vom Kynast, vom Falkenstein, vom Kyffhäuser und vom Drachenfels? Immer zanktest du, wenn die Mutter von diesen Geschichten anfing, und sagtest: Laß das dumme europäische Zeug! Wenn aber die Mutter doch erzählte und nicht recht weiter konnte oder eine Sage nicht mehr recht im Zusammenhange wußte, fielst du ein und erzähltest mehr als sie.
Ja, ja! Aber oben..... was ist oben auf dem Schlosse gewesen?
Verstell' dich nicht! Wie du oben an dem Schlosse warst... rührte dich Alles, der kleine Pavillon im Garten, die Grotte, die kleinen Wasserfälle, die du, um nur spotten zu können, kleine Fingerhut-Niagaras nanntest; Und mit der alten Beschließerin und dem weißhaarigen Gärtner, mit dem besonders, hast du gesprochen, als wenn sie Kuno und Kunigunde hießen und seit tausend Jahren da wohnten....
Brigitte, heißt die Alte, Kind! Das ist ein ganz romantischer Name! Aber du irrst, mein Junge, die thaten mir's nicht an. Jedes dritte Wort war ein Bibelvers. Das können wir in Philadelphia auch haben. Ja! Das war's, was mich ergriff, Kind, die Erinnerung an Philadelphia.....
O du entkommst mir nicht! sagte der liebliche Knabe, immer zärtlich und dem Vater so treu ins Auge blickend, daß im Vaterauge wirklich eine Thräne der Rührung quoll; gestern hast du beim Anblick des Schlosses oben eher an die Hängematte eines Negers gedacht, als bei den beiden alten Leuten, die es hüten, an Philadelphia!
Junge, was soll der Herr da von deinem Geschmack denken? Das alte Rococo-Möbel.. im Commodenstyl! Wie kann uns das an deutsche Sagen erinnern!
Erzähltest du nicht von der alten Geschichte des Hauses Hohenberg? Und von den Grafen Bury, die mit ihm verwandt sein sollten? Und dir gefiel auch das alte Möbel mit seinem geschnörkelten Eisengitter, den vergoldeten Namenszügen und den wunderlichen Fratzen über den Fenstern! Und wie du erst hineintratest in den Hof.. oben war bunte fröhliche Gesellschaft,.. da schautest du in die Fenster so nachdenklich, so feierlich, als wolltest du dir schon die Stelle aussuchen, wo du deine Bücher hinstellen könntest, hier die deutschen, da die englischen und französischen, und wie du hinaufblicktest auf die Krone, die über dem Giebel des Portales schwebte, da dachtest du dir gewiß: da setz' ich meinen durchbrochenen Himmelsglobus hin und betrachte mir von seinem Innern aus in schönen Winternächten die Sterne.
Wenn keine Krähen drin nisten! sagte Ackermann und fuhr nach einer Weile fort: Du bist ein Phantast! Man sieht, daß du von deutschen Ältern stammst und deutsche Ältern ihre eigne Heimathssehnsucht in dich hineingeseufzt haben. Im Gegentheil! Ich habe Mitleid mit Denen, die sich da oben hinpflanzten und Einsiedler sein wollten. Reuige Menschen zogen oft in die Wüste, aber sie nahmen keinen Spiegel mit, der dazu dienen sollte, sich doch immer noch selbst nicht zu vergessen. Thaten sie es, wie Timon der Menschenhasser, so wollten sie im Spiegel nur ihren Verfall, ihr Elend erblicken. Der Ort da oben kommt mir wie ein Spiegel vor, in dem eine Büßerin beschaut, wie sie bei aller Reue sich doch noch immer schön ausnimmt....
Die Bewohnerin des Schlosses, sagte Dankmar, war die Fürstin Amanda von Hohenberg.
Ich weiß es, bemerkte Ackermann ernst und mit auffallender Bestimmtheit.
Sie wurde fromm, fuhr Dankmar fort, als sie sich unglücklich fühlte und keine irdische Rettung mehr kannte. Ihr Gatte trug einen berühmten Namen ohne Würde. Er verschleuderte sein Vermögen. Die Arme ließ nichts zurück, als ein gesegnetes Andenken und einen Sohn, der, wenn ich nicht sehr irre, gelernt hat, irdische Auszeichnungen entbehren.
Dankmar sprach diese Worte mit fester und doch bewegter Stimme. Er hatte eine so tiefe Achtung vor seinem Reisebegleiter in der Blouse gewonnen, daß er glaubte, hier für ihn einstehen zu müssen, wo seiner unglücklichen Mutter vorgeworfen wurde, sie hätte mit ihrer Frömmigkeit es doch wol nur auf die hergebrachte weibliche Eitelkeit, wenn auch in andrer Form, abgesehen gehabt und es wäre ihre Reue von Selbstzufriedenheit begleitet gewesen.
Ackermann wandte sich auf diese Worte plötzlich, blieb einen Augenblick stehen und sah Dankmarn mit fragendem Ernste an.
Kennen Sie den Prinzen Egon? sagte er, hochroth erglühend.
Ich kenne ihn! erwiderte Dankmar mit einer Erregung, die ihm gleichfalls in die Wangen stieg. Ich verbürge mich für ihn; setzte er entschieden hinzu.
Es kennt ihn hier Niemand, sagte Ackermann, es kannte ihn in der Residenz Niemand, er lebte in Paris; und Sie... kennen ihn?
Ich kenne ihn! erwiderte Dankmar bestimmt und war fast entschlossen abzubrechen und umzukehren.
Ackermann schwieg, betroffen, wie es schien und seine Anklage bereuend. Er wandte sich wie in tiefes Nachdenken verfallen, zu dem jungen Zeck, der mit schwerem plumpem Gang voranschritt und einmal über das Andere für sich über das Glück seines Vaters und seiner Tante in sich hinein lachte. Die für die Letztere bestimmten Goldstücke mußte Ackermann in der weiten Brusttasche tragen, denn mit stierer Neugier und einem gewissen vertraulichen Zublinzeln zu dieser Stelle schien der Taube sagen zu wollen: Nicht wahr, da steckt das Geld für die Tante? Nur zu Dankmarn wandte er sich dann wieder mit mistrauischer Furcht und betrachtete ihn noch ängstlicher als gestern schon, wo er sich als Eigenthümer des an ihrer Schmiede verlorenen Schreines zu erkennen gegeben hatte...
Selmar blieb bei Dankmarn zurück.
Es scheint, sagte Dankmar, als wenn ihr Beide, du und dein strenger Vater, im Streite wäret, wo ihr künftig leben solltet, hier oder wieder drüben, jenseit des Meeres.....
Das eben ist es! sagte der Knabe.
Der Vater muß eine üble Meinung von Europa haben. Ich hörte es an der heftigen Anklage gegen die frömmelnde Fürstin Amanda...
Er war gestern anders.... Sonderbar..
Kannte er sie?
Die Fürstin Amanda? sagte der Knabe erstaunend. Ich glaube: nein!
Ist der Vater reich, so sollte er diese Besitzung kaufen...... Sie ist zu haben.
Ja zu haben! rief der Knabe lachend und schüttelte den Kopf, als glaubte er, dazu gehörten Millionen.
Dann fuhr er fort:
Nein, nein! Der Vater kämpft mit sich, was er mehr lieben soll, die alte oder die neue Welt. Erst zog es ihn mit so großer Gewalt nach Europa zurück, er traf alle Einrichtungen, nie wieder zu kommen, ließ Haus und Hof in getreuen Händen, die, im Fall er nicht wiederkäme, ihm dafür den baaren Betrag einer ansehnlichen Kaufsumme schicken wollen und nun gefällt ihm ja das alte Heimathland nicht mehr! Jede Gegend, die er von früher sieht, erweckt ihm traurige Erinnerungen und während er so rüstig, so gesund und sonst so heiter ist, ruft er hier überall aus: Ich bin alt geworden, alt!... und blickt dabei so wehmüthig gen Himmel,... daß ich weinen möchte!
Selmar weinte...
Armes Kind! sagte Dankmar, den Knaben tröstend. Und dir geht es umgekehrt? Dir gefällt die Heimath deiner Mutter. Dich kann ein Land nicht befriedigen, wo wie in Missouri noch Sklaven dem Boden seine Erzeugnisse abgewinnen. Dich reizt das Gewühl unserer Städte, die bunte Mannigfaltigkeit unserer Bestrebungen, die Verschiedenheit der Sprachen, der Luxus, die Pracht der Lebensweise, die schönen Krieger in glänzenden Uniformen – nicht so?
Selmar wurde über und über roth und lachte plötzlich.
Ei bewahre! sagte er endlich ganz verschämt.
Doch! doch! fuhr Dankmar fort. Das ist's, was dich fesselt! Für ein so schönes Schauspiel, wie bei uns eine Heerschau der buntgeschmückten Krieger in funkelnden Waffen und bei kriegerischen Klängen, giebst du noch Amerika's ganze Freiheit hin, alles das, was ohne Zweifel die wahre Fessel ist, die den Vater an Amerika kettet; denn aus seinen Äußerungen über das Schloß dort oben seh' ich, daß er die Wahrheit und das Licht der Vernunft liebt.
O gewiß, Wahrheit und Vernunft liebt der Vater! sagte Selmar mit leuchtenden Augen. Dann fuhr er fort:
Glaubt nur nicht, daß ich kein Herz für die Größe der Union habe und die freie Staatsform, in der wir leben, geringschätze. Indessen –
Warum stockst du?
Ich will es auch nur aufrichtig sagen, fuhr Selmar mit herzlicher Innigkeit fort. An dieser Lust, die ich empfinde, Europa und Deutschland zu sehen, ist die Mutter Schuld. Sie schläft drüben in amerikanischer Erde! Aber ihre Seele, wenn es Gott gestattet, daß sie zuweilen noch auf Erden weilen darf, würde am glücklichsten sich fühlen, dürfte sie hier weilen unter den deutschen Eichen. Sie umschwebt uns gewiß überall, wo wir weilen werden und zögen wir in die Wildnisse Asiens. Aber das reinste und schönste Opfer, das man ihr bringen kann, wäre das, wenn wir da lebten, wo ihr Geist auch die Andern noch umschweben kann, die sie hier liebte und verließ, als sie nach Amerika zog.....
Dankmar empfand diese schlicht vorgetragenen, tief empfundenen Worte in ihrer ganzen Wahrheit. Er sah im Geist die Mutter dieses Knaben sich trennen von denen, die ihr hier nächst dem Gatten das Liebste waren und mit halbgebrochenem Herzen in das ferne Land dem noch jetzt schönen, edlen Manne folgen, der da vor ihm herschritt mit eben ergrauendem Haare, noch stolz und männlich! Er konnte nachfühlen, wie hier ein Kinderherz früh getheilt war zwischen dem, was den Vater beglückte und dem, was die Sehnsucht der Mutter war. Vielleicht lebten hier noch viele Menschen, denen Selmar die Züge der frühvollendeten Mutter zurückrufen sollte; vielleicht sollte dieser Knabe ihnen Ersatz für Das werden, was sie an ihr selbst verloren.....
Um der wehmüthigen Stimmung Selmar's keine neue Nahrung zu geben, lenkte Dankmar das Gespräch darauf hinüber, daß er sagte:
Ich kann mir denken, was die gute Mutter von Europa Alles mag erzählt haben und wie das früh in deinem Kopf gezündet hat. Hättest du in New-York gelebt, würde das Geräusch einer großen Weltstadt auch nicht den Drang nach der Ferne so mächtig in dir haben aufkommen lassen; aber eine solche kleine Niederlassung am Missouri, unter Urwäldern und Prairien! Da mag es melancholisch genug sein und ich kann mir denken, die Sagen vom Kynast und Drachenfels, die dir in der trüben Regenzeit erzählt wurden, kamen nicht vom Vater –
Nein! fiel der Knabe ein, die kamen von der Mutter, der guten Mutter. Sie war nur Liebe und Güte.
Wie hieß sie? sagte Dankmar und dachte dabei nur an ihren Vornamen...
Der Knabe erröthete, fast erschreckend. Er that, als hätte er die Frage überhört und machte sich mit den Sträuchern am Wege zu schaffen, von denen er einen kleinen Zweig abbrach.
Dankmar nahm das Nichtbeantworten seiner Frage für zufällig. Nur daß der Knabe zum Vater hinsprang und er allein blieb, wie Einer, der nicht zu den Andern gehörte und sich doch wol nur als einen Aufdringling betrachten müsse, war ihm peinlich. Er blieb stehen und hätte die Fremden vielleicht ohne Abschied gehen lassen, wenn sich nicht Ackermann umgewandt und auf ein kleines Haus in einem grünen Thalgrunde, der abwärts vom Walde nun in die Tiefe ging, aber rings vom Walde noch eingeschlossen blieb, gezeigt hätte mit den Worten:
Da ist das Jägerhaus!
Offenbar wollte er sagen: Sie begleiten uns doch?
Aber Dankmar fühlte etwas, was ihm zuflüsterte: Das Geschäft dieses Mannes im Jägerhause ist wol so eigner Art, daß du nur ein unwillkommener Zeuge sein würdest. Er sagte daher kürzer und fast schroffer, als er wollte:
Entschuldigen Sie meine Begleitung! Ich konnte dem lockenden Walde nicht widerstehen.
Damit lüftete er den Hut und nickte dem Knaben, der nachdenklich und wie eingewurzelt stand, ein freundliches Adieu! zu.
Auch Ackermann schien betroffen, wandte sich aber...
Lästig war das erneute garstige Bellen des Hundes, der seinen Namen »Bello« von der Schönheit seines Äußern weit weniger, als vom Bellen verdiente. Während Dankmar ihn zur Ruhe bedeutete, gingen die Wanderer schon weiter, ohne sich anfangs nach ihm umzublicken. Nur Selmar, als sie im Grunde waren, that es noch zuweilen, aber wie verstohlen. Dankmar's Augen waren scharf genug, noch einige Zeit zu verfolgen, wie traurig dabei des Knaben Miene schien und daß beide stumm nebeneinandergingen.
Warum folgst du nicht? schienen ihre Augen sagen zu wollen und Dankmar sagte sich selbst: Warum folgst du nicht?.....
Der Weg, der zum Jägerhause führte, erstreckte sich ziemlich lang am Rande des Waldes und der Wiese hin, die rings vom Walde eingeschlossen war und zu abschüssig ging, als daß man quer über sie hätte hinwegschreiten können. Dankmar stand an einem alten Eichenbaum und sahe, die Arme verschränkend, dem Amerikaner und seinem Sohne nach.
Was zieht mich euch Beiden nach, sagte er sich, dir du strenger Mann und dir du holder Knabe! Ist es die wunderbare ferne Welt, aus der ihr wiederkehrt und die vielleicht auch einst nur das Land sein wird, wo meine Träume reifen können? Warum trennen wir uns, da wir uns kaum begrüßten? Warum kann ich nicht gleich tief in deine Seele und dein ganzes Leben greifen, tüchtiger Mann, der du gewiß von deinen eigenen verzweifelten Stunden her Timon den Menschenhasser kennst und den Spiegel kennst, in dem er sich selbst anredete und die Menschen verfluchte? Warum hab' ich nun kein Zeichen, das dir gleich gesagt hätte: Ich fühle Ehrfurcht vor deinem Antlitz, deinem Auge, deinem leise angegrauten Haar! Wenn ich dich selbst nicht lieben könnte, so lieb' ich dich in deinem Sohn! Ich weiß es schon, du Kräftiger, daß in dir Gedanken leben, die höher hinaufweisen als die gewöhnlichen Wegweiser unserer grauen Theorie! Du hast nachgedacht, du hast gefühlt, gelebt, geliebt! Ich weiß schon Alles..... Ein Weib folgte dir und vergaß ihre Thränen in deinen Umarmungen und dies Kind ist das Unterpfand dieses Schmerzes, das Denkmal einer Liebe, die sich noch im Tode bewährte... und die du selber ehrst, sonst würdest du nicht dies Europa wiedersehen wollen, dies Land, das dich doch sicher – denn du heißest schwerlich so, wie du dich nennst! – von seinem Herzen stieß! Wo kann ich dir wieder begegnen, edler Mann? Wo mich an deiner starken Hand führen? Nie also, nirgends mehr? Das wäre so verloren! Und warum verloren? Weil du die Menschen vielleicht hassest wie Timon? Nein! Weil du mich für einen gedankenlosen Dieb deiner Zeit hältst, der nichts kann, als fremde Menschen belästigen und zwecklos ausfragen! Ich mißfiel dir; du kennst mich nicht! Warum ist nun kein Wort möglich, das mit einem Hauche sagt: Hier ist auch ein Mensch, ringend, wie du einst gerungen hast, ein Mensch ohne Ehrgeiz für sich, aber voll Ehrgeiz für das Allgemeine! Das Allgemeine? Ja das Allgemeine! Das nicht Einen, nein Tausende, Hunderttausende Gleichgesinnter braucht! Sind wir beide gleichgesinnt? Warum erkennen wir uns nicht? Die Freimaurer erkennen sich! Gerechter Gott, und was drückt das aus: ein Freimaurer! Wenig genug, wenn man Lessings Geständnisse liest. Und doch grüßen sie sich geheim, wie mit einem Gruße in der Wildniß! Man ist mit diesem Gruße nicht mehr dunkel über sich, man hat doch Eins gemein, Eins, das Gefühl der Brüderlichkeit, so misbraucht es auch wird und so lästig es dem sein muß, der das Zeichen dem erwidern soll, der ihm gleich beim ersten Blicke misfällt. Aber was führt die Männer, die sich gefallen sollten, zusammen? Wer läßt den Geist den Geist erkennen? Was kürzt uns durch einen einzigen Blick den langen Umweg ab, den wir brauchen, um die, die uns gleichgesinnt sind, erst zu erkennen – ach, wo anders erkennen wir uns, als... auf dem Schlachtfelde..... in den Gefängnissen... im Grabe!
Dankmar blickte auf. Der Knabe hatte noch einmal zu ihm herübergeschaut wie mit traurigem Vorwurfe...
Um sich einem Anblick zu entziehen, der ihn zu heftig bewegte, trat Dankmar zurück und warf sich ins Gras unter einem Haselstrauche, den die dichten Zweige der etwas entfernteren Eiche noch beschatteten...
Er spann die Gedankenreihe aus, in der wir ihn schon so oft, am meisten nach Schlurck's Äußerungen über den Reubund, belauscht haben und die, das merken wir nun wol, mit seinem glücklichen Funde in Angerode zusammenhing. Er vergegenwärtigte sich die alten Zeiten, wo das Christenthum ganz allein die Stelle solcher neuernden Begriffe vertrat, wie sie jetzt die Menschheit beherrschen. Er sah die damalige Bildung, die christliche, da nicht dem Zufalle preisgegeben, sondern in der Obhut eines gewissen gegliederten Kastengeistes, den sogleich die Verbrüderungen, die Herbergen, die Agapen und dann die Mönchsorden vertraten. In den Ritterorden erblickte er dann die Beseitigung der Gefahren, die das alleinige Vorrecht des geistlichen Standes an der Verwaltung der Ideen mit sich bringen konnte, wenn es ausschließlich wurde. Die Orden waren Jedem zugänglich, selbst Ungelehrten und unadlig Gebornen. Wenn er dann die rege Betriebsamkeit eines gemeinschaftlichen Wirkens und die sichere Anlehnung an Gleichgesinnte, die man durch äußere Kennzeichen in der ganzen damaligen christlichen Welt antreffen konnte, bewundern mußte, so flößte ihm vollends die feine und durchdachte Gliederung besonders des späteren Jesuitenordens als Form, als kunstmäßig angelegter Bund, die größte Achtung ein...
Warum geht bei uns Alles so in der Irre! dachte er sich. Warum gruppirt man sich nur in losen Vereinen ohne Form und dauernde Haltung! Warum verschwört man sich nur blindlings mit abenteuerlichen, leicht enthüllten Masken... Wer uns eine Stiftung brächte, die unabhängig von jeder zunächst auf der Tagesordnung stehenden Frage nur die Verständigung über sie im Allgemeinen, die Einigung über die ersten Grundsätze erleichterte! Wer uns etwas ersänne, das wie ein elektrischer Schlag Jeden träfe, der mit uns in einem geistigen Rapport steht und uns dann immerhin so ganz zufällig begegnete!... Man würde sich gleich erkennen. Wie würde man seine Erfahrungen austauschen, wie würde man sich zu einem geordneten, sicheren System des Handelns rascher vereinigen! So viel Verstand und keine Verständigung!
Und wenn sich Dankmar dann gestehen mußte, daß alle die, die etwas Großes in dieser materiellen Welt dauernd behaupten wollen, Mittel besitzen müssen, um die Zweifelnden und Lässigen zu ermuntern und das Beispiel der Entbehrung, das so Mancher in seiner Großherzigkeit giebt, für die Andern auch nicht gar zu abschreckend zu machen, so gedachte er der Papiere, die er in jenem Schreine gefunden hatte. Eine alte Überlieferung seiner einst angesehenen Familie hatte sich plötzlich in eine mit Händen zu greifende Wahrheit verwandelt. Die Vergangenheit ragte in die Gegenwart mit Wurzeln herein, die in einem gesitteten Rechtsstaate wirklich noch festen Boden gewinnen, keimen, ausschlagen, blühen konnten. Er hatte die Mittel in Händen, einer seit zwei Jahrhunderten schwebenden Verhandlung über ein immer größer angewachsenes Vermögen von Häusern und Grundbesitzungen eine neue Diversion zu geben, die sich auf die Annahme gründete: Wenn der Staat begonnen hat, jene Verlassenschaft, die Jahrhunderte lang gleichsam herrenlos war, für sich in Anspruch zu nehmen und den gegenwärtigen Nutznießern zu entziehen, warum kann sich nicht mit den sichersten und festbeglaubigten Urkunden ein Mitkämpfer um das gleiche Ziel ihm zur Seite stellen und Alles das, was Jener zur Begründung seiner Ansprüche mühsam und aus Zwangssätzen der Gewalt zusammenstellt, mit weit größerem Fug und Recht aus verbrieften historischen Thatsachen herleiten?
Wer weiß, fuhr er innerlichst zu erwägen fort, ob in jenem Processe, dessen inneres Getriebe mir bald kein Geheimniß mehr sein soll, nicht Assertionen genug vorkommen, die mir unbewußt über das, was noch sonst dem eingebildeten Entwickelungsgange dieses Processes einen plötzlichen Umschlag geben könnte, meinen Wettlauf mit dem Staate und jener großen mächtigen, von Schlurck vertheidigten Commune erleichtern?
Und so gewaltig ergriff ihn jetzt die Aufgabe, die er sich gestellt hatte und die er nicht zu seinem Vortheil, sondern in der That zur Durchführung einer großen socialen Idee lösen wollte, daß ihn nun eine namenlose Angst überfiel, welches Schicksal die in Schlurck's Händen befindlichen Papiere treffen könnte... Mit dem Entschlusse, jetzt unmittelbar nach der Residenz zurückzueilen, sprang er auf, warf, um nicht gefesselt zu werden, keinen Blick mehr nach dem grünen Plane und dem Jägerhause zurück, sondern lief fast mit beflügelter Eile denselben Weg zurück, den er eben neben dem Knaben so gemüthlich geschlendert war...
Bello konnte auf seinem lahmen Beine kaum folgen. Dankmar rief, feuerte ihn an und trieb zur Eile.... Da grüßte ihn ein freundliches Wort aus dem Busch. Ein Bekannter hielt ihn an, der eben aus einem Seitenwege des Waldes trat und plötzlich, ihn fast erschreckend, vor ihm stand. Es war der Jäger Heunisch.