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Dankmar Wildungen befand sich an jenem Morgen wo ohne Zweifel er selbst für den Prinzen Egon gehalten wurde, in der That noch am Fuße des Schlosses Hohenberg.
Seit der von dem Fremden in der blauen Blouse empfangenen Beruhigung über seinen Verlust, einer Versicherung, an deren Zuverlässigkeit er keinen Augenblick zweifelte, war sein Gemüth leicht geworden, der Freude zugänglich und auch der Freude bedürftig. Nach jeder großen abgenommenen Sorge will ja das erschöpfte Herz sich wieder füllen und stärken und wie in eine große Lücke und Leere stürzt das Leben dann nur mit so ungefesselterer Gewalt. Warum sollte er schon wieder nach der Residenz zurückkehren, jetzt, wo keine Last mehr auf seinem Gemüthe lag und sich so Manches begeben hatte, dessen nähere Entwickelung seine Neugier spannte?
Zuerst war es Hackert's plötzliches Verschwinden, über das er doch eine irgend zutreffende Aufklärung wünschen mußte. War ihm auch diese Bekanntschaft eine solche, von der er lieber gewollt hätte, er hätte sie nicht gemacht, so peinigte ihn doch jetzt die völlige Ungewißheit über das, was er von diesem oft aller Theilnahme würdigen und dann wieder so fremdartig abstoßenden, ja niedrig und geringfügig denkenden Menschen halten sollte. Stündlich erwartete er seine Wiederkehr. In dem Gasthause zur Krone glaubte er bestimmt, von ihm erfragt zu werden. Aber vergebens! Jede Spur des abenteuerlichen jungen Mannes war verschwunden.
In noch höherem Grade als die Enthüllung der Hackert'schen Persönlichkeit, fesselte Dankmarn die Aussicht, hier irgendwo, wenn auch unter dem schützenden Deckmantel der ihm gelobten Unbekanntschaft, dem Prinzen wieder zu begegnen. Er konnte kaum daran zweifeln, daß der von seinem Vater so schmählich verkürzte Erbe der Hohenbergischen Besitzungen wirklich hierher gekommen war, entweder um einen Act der Pietät, ein Opfer des Herzens, zu vollziehen oder sich ungekannt von dem wahren Zustande dieser Besitzungen zu unterrichten. Die letzte Annahme schien ihm nach längerer Erwägung fast die richtigere und der Natur des Fremden entsprechendere. Denn so edel und männlich ihm Alles erschien, was der junge ihm an Jahren nur wenig vorangeschrittene Fremde in Worten und Benehmen geäußert hatte, so war doch Dankmar Wildungen schon Kenner der menschlichen Seele genug, um sich zu sagen, daß bei Egon von Hohenberg, wenn er es war, die Kräfte des Verstandes das vielleicht verstecktere oder unentwickeltere Gemüth überwogen. Wie wenig hatte er sich von dem Förster Heunisch auf dem gelben Hirsch über seine Mutter berichten lassen! Weit mehr dagegen, besonders als sie beide vor die Thür des Wirthshauses gegangen waren und Dankmar ihr lautes Gespräch hören konnte, hatte er der gegenwärtigen Verfassung dieser seiner mehr als zweifelhaft gewordenen Besitzungen nachgeforscht. Dankmar griff in solchen Beurtheilungen nicht fehl. Wie sich eine seelenvolle, rein gemüthliche Natur äußert, konnte er durch keinen Vergleich sicherer treffen, als durch den mit seinem theuern, ältern Bruder Siegbert, der einen kindlichen Glauben an die Menschen besaß und die Jahre, die er vor Dankmarn voraus hatte, nur gewonnen zu haben schien, um immer wärmer, immer ergebener und nachsichtiger zu fühlen, während Dankmar dagegen schon an sich selbst gestehen mußte, daß er mit jedem Jahre, an dem sein Alter zunahm, im Gegentheil kälter zu denken lernte. Die Kälte des Fremden schien ihm nicht Kälte des Herzens, sondern gerade auch diese Kälte der Erfahrung, diese Kälte des Unglücks und des innersten Mismuthes.
Aber auch von diesem Fremden sah Dankmar nichts mehr. Zu den Behörden zu gehen, seinen Verlust dort noch einmal anzuregen, schien ihm, nach dem tiefen moralischen Eindruck der Versicherung des angeblichen Egon, nicht mehr nothwendig. In der Schmiede, wo er vorsprach, hatte er einen stumpfsinnigen tauben jüngern Gesellen, den Zeck Sohn angetroffen, der keine einzige seiner Fragen beantworten konnte. Mit dem ältern, dem Zeck Vater, schien es ihm anfangs, als würde er, wenn er viel forschen müßte, noch schlimmern Stand haben; denn dieser war stockblind. Die Unruhe, die den großen athletisch gebauten alten Mann ergriff, wie Dankmar sich als Eigenthümer des neulich geraubten Frachtgutes zu erkennen gab, fiel ihm allerdings auf. Allein einem Verdachte gab er keinen Raum und konnte es nicht, da die Aussagen des Blinden mit denen des Fuhrmanns stimmten. Kannte er doch auch hinlänglich diese, man möchte sie geistig halbwüchsige Menschen nennen, aus seiner eigenen juristischen Praxis! Er wußte ja, wie selbst der Unschuldigste vor einem Richter zittert und sich verfärbt, wenn man ihn eines Verbrechens zeiht und mit allen in solchen Fällen üblichen Feierlichkeiten inquirirt. Hatte er nicht Fälle erlebt, wo diese beschränkten Menschen, besonders wenn sie in einer gewissen religiösen Dumpfheit lebten, unter den Fragen eines Richters so über sich in Unklarheit geriethen, daß es ihnen allmälig wurde, als hätten sie in der That, vielleicht in einem unzurechnungsfähigen, von bösen Geistern ihnen angezauberten Zustande, die Verbrechen begangen, deren sie verdächtig erscheinen sollten! Des Menschen Seele ist ein schüchtern Ding, ein zitternd flimmerndes Beben. Nur darin erschien Dankmarn der alte Zeck wunderlich, daß er bei seiner Mittheilung, Zeck möchte sich beruhigen, Justizrath Schlurck hätte den Schrein gefunden, hätte ihn mit sich nach der Hauptstadt genommen,..... sich verfärbte und stutzte..... Statt sich zu freuen, daß seine und seines Sohnes Ehrlichkeit nun in das hellste Licht gesetzt war, griff der Alte sich in sein weißes Haar, riß die starren blinden Augen bis zu den dicken weißen Augenbrauen auf und tastete so krampfhaft erregt um sich her, als wäre ihm die niederschlagendste Mittheilung von der Welt gemacht worden. Darauf länger zu achten und zu forschen, behielt sich Dankmar vor. Er mußte die Natur dieser Menschen erst kennen lernen. Die sonderbar und falsch angebrachten Bibelsprüche, die der alte Zeck, wie nach seiner sogleich gemachten Entdeckung Viele in und um Plessen, im Munde führte, deuteten auf seltsame Anomalieen. Statt diesen nachzuforschen, beschäftigte sich Dankmar einstweilen lieber mit einem alten Bekannten, den er hier zu seiner Freude wiederfand.
Es war dies Niemand anders als Bello, der Hund des Fuhrmanns Peters. Er und der kleine bejahrte unansehnliche Spitz kannten sich schon von Angerode her, schon vom Lyceum, das die Gebrüder Wildungen dort besucht hatten. Wie Dankmar in die Schmiede trat, wo der Blinde noch mit gewaltigem Arm, wie in mechanischer Gewohnheit, auf glühende Hufeisen schlug, während der Taube den Blasebalg am Feuer zog, bis sich Beide ablösten und umgekehrt ihr Geschäft verrichteten, sprang das noch immer lahme Thierchen, das lange zottige Haar vom Dampf der Feueresse ganz geschwärzt, zu Dankmar hinauf, winselte, schmiegte sich, blaffte vor Freude, als wollte es sagen: Da ist Einer, der sich meiner erinnert! Ich weiß, du kommst um mich zu holen, du alter Gönner vom Gasthof zum Einhorn in Angerode, wo du als Lyceist zu Mittag speistest, du bringst mir Grüße von meinem Herrn und meiner Frau!... Und des Thierchens Erregung war so lebenvoll, in dem Grade fast sprechend, daß es Dankmarn, wenn er noch unruhig gewesen wäre über seinen Verlust, so hätte zu Muthe werden müssen, als spräche ihm Jemand: Das Thier will dir ja etwas sagen, es weiß ja, wer der Räuber deines Eigenthums ist und wird ihn dir ohne Zweifel bei erster Begegnung zeigen, verrathen!.. Bald sprang Bello zu ihm, bald gegen den alten Schmied auf, zerrte an Dankmar's Rockschooß, bellte den Blinden an, bis dieser, den Moment wahrnehmend, so gewaltig mit dem Fuß gegen den Störenfried austrat, daß er sich, an seinem wunden Bein getroffen, heulend und winselnd in eine dunkle Ecke der Schmiede verkroch. Ei, wie grob! rief Dankmar. Nennt Ihr das Pflege? Ich denke, Ihr seid ein Arzt für Thiere?
Nehmt den Bello nur mit!.. hatte darauf der alte Schmied gesagt; er ist geheilt, so weit wie's möglich war, bei seinem strampligen, unruhigen Wesen! Die Bestie ist wie alle Fuhrmannshunde nur auf's Kläffen dressirt; für Bandage und Kost verlange ich nichts! Ich mag den Hund nicht!
Seitdem hatte Dankmar den für immer lahmen Bello zu sich genommen, in der Krone ihn säubern und waschen lassen und war von ihm auf seinen kleinen Spaziergängen, trotzdem er kläglich hinken und humpeln mußte, schon allwärts treu und munter begleitet worden.
Die schöne, liebliche, sonnenhelle Natur war es zuvörderst, die Dankmarn bestimmte, dem magern Gaule des guten dicken Pelikanwirthes einen ganzen Tag Ruhe zu gönnen.
Bring' ich doch Freude mit! sagte er sich. Trost und den Hund für Peters! Dem Bruder die Beruhigung über mein eigenes Unheil und, was auch etwas werth ist, die Erzählung meiner Abenteuer.
Dankmar fühlte, wenn er die Fenster des kleinen Zimmers, das er in der Krone bewohnte, öffnete, so recht jene reine selige Stimmung, die Jeder kennen muß, der einmal von einer großen Gefahr oder den Ursachen einer großen Befürchtung befreit wurde und dann zugleich die Muße fand, diese Seligkeit der Erlösung ganz zu genießen.... Die rebenlaubumkränzten Fenster gingen nach dem schönen Dorfe Plessen hinaus. Jedes Haus hatte da seinen Garten, den die Natur pflegte, wenn auch vielleicht die Menschenhand erlahmt war, seit die Zustände der Herrschaft sich so ins Ungewisse verliefen. Auch ordnen die Geringen sich lieber einer kraftvollen Macht unter, als einem schlaffen und ungeregelten Regimente. Diese Bauern und Häusler waren frei, aber nicht in dem Grade, sich ganz auf eigene Hand unabhängig zu fühlen. Ihre Abgaben an den Fürsten Waldemar waren schon seit lange capitalisirt. Die neue Zeit hatte wol an den vielen kleinen noch übriggebliebenen Laudemialgefällen rütteln können, aber nicht an den einmal bestimmten Abfindungssummen. Da gab es nun Mismuth, Unfriede, Zorn, Gewaltthat genug. Doch wirkliche Widersetzlichkeiten zeigten sich nur in Randhartingen, dem größten und selbständigsten Orte im Hohenberg'schen, im Ullagrunde, wo neben einem reichen Bauer, Namens Sandrart, viele Arme wohnten, in Schönau, wo dem Fürsten von Hohenberg manche Gerechtsame gehörten und der Haidekrüger Justus, noch entschiedener aber Drossel, der Wirth zum Gelben Hirsche, die Leidenschaften in Gährung hielt. Hier in Plessen merkte der Herrschaftsdirektor von Zeisel nicht so auffallend, wie bedenklich seine Stellung wurde. Plessen hing vom Schlosse und dem Leben auf ihm seit Jahren ab. Und schon seit Jahren fehlte die von oben strömende Befruchtung. Die Menschen ließen recht den Kopf hängen und welkten in ihren Hoffnungen so hin oder verwilderten wie ihre Gärten und die kleinen Hecken, die sie trennten. Plessen war sonst so lieblich! Die Ulla floß vom Ullagrund in zwei Armen hernieder, von denen der eine raschere und bewegte die Mühle bewässerte, die, wie wir wissen, die kranke Müllerin nicht verlassen wollte; der andere schlängelte sich hier und da durch den Ort und machte eine Menge kleiner Stege und Brücken nothwendig, die ein Haus mit dem andern gar traulich verbanden. In der Mitte des baum- und buschdurchzogenen Ortes lag ein kleiner Teich, auf dem Enten sich tummelten. Zur Seite, von düstern und verschnittenen Linden beschattet, lag des Pfarrers Wohnung, vor der die Stromer'schen Kinder spielten und baarbeinig, gleich allen andern Kindern des Ortes, mit den Enten um die Wette in der Ulla und dem Teiche wateten. Höher hinauf lagen dann herrschaftliche Gebäude, vor allen »das Amt«, nach alter Bauart, von einem Hofe mit Portal und Einfahrt umschlossen. Dankmar konnte von der Krone bis in die Zimmer der Frau von Zeisel hinüberblicken und bemerkte wol die kleine, sehr geputzte Dame, die unruhig und unbestimmt wie ein lebendiges Fragezeichen an den hohen Fenstern saß und bald an feiner Wäsche arbeitete, bald in einem Buche las, bald zum Fenster hinausschaute, bald in einem der Amtswohnung zur Seite liegenden Garten mit einem Körbchen unterm Arm sicher und bewußt auf und ab mehr trippelte als in ruhiger Würde und zufriedener Stimmung schritt. Zur Linken ging's dann nach dem Schlosse hinauf. In der Mitte zwischen dem Schloßberg und dem »Amt« lag auch jener gewaltige Thurm, von dem Hackert Veranlassung genommen hatte, seine erbauliche Schilderung der Patrimonialgerichtsbarkeit zu entwerfen. Es war ein festes und gutes »Stück Arbeit« dieser alte Zwinger der Ungebehrdigen und Tröster der etwa Reuevollen. Nur lag er sonderbarer Weise etwas einsam, ganz am Ende des Ortes. Denn hinter ihm lagen getrennt nur durch eine vom sonnigsten Himmel überwölbte fruchtbare Ebene sogleich die blauen Ränder der Berge, die dem nach ihnen pilgernden Wanderer, wie Dankmar gehört hatte, die reichste Mannigfaltigkeit von Tannengeschmückten Gründen, Wildbächen mit kleinen Wasserfällen, schroffen Abhängen und lieblichen Thälern bieten sollten. Auch von Kohlenmeilern, Steinbrüchen und besonders einer Sägemühle wurde gesprochen, die Dankmar besuchen sollte. Die Sägemühle konnte nicht zu weit sein. Dankmar hörte deutlich, wenn die von einem Waldbach getriebenen Räder wahrscheinlich standen und die großen Sägen wieder frisch geschärft wurden. Es klang das so hell und klingend herüber, daß er anfangs glaubte, in dem Walde da oben läge eine Kirche verborgen und die Glocke riefe jedes Christenherz, sie in ihrem grünen Verstecke aufzusuchen.
Dankmar war eine verstandesklare dialektische Natur; doch wenn auch das Gemüth bei ihm öfters schlummerte, so lebte es doch unter der Decke der Gedanken. Er besaß unter Anderm auch die schöne Eigenschaft gemüthlicher Naturen, daß er das Anmuthige und Wohlthuende nie für sich allein empfinden mochte, sondern zugleich auch mit für Die, die er liebte und die er bei seinem Genusse anwesend wünschte. Er gedachte, als er am Abend seiner Ankunft sogleich noch einen Spaziergang im Orte und seiner nächsten Umgebung machte und die Schönheiten des Eindrucks in vollen Zügen einsog, sogleich seines geliebten, zu früh geschiedenen herrlichen Vaters, der, wie hier in Plessen jetzt der ihm unbekannte Pfarrer, so in Thaldüren still und reichern Looses würdig gehaust hatte. In den kleinen Kindern, die da im Entenpfuhl wateten, erkannte er sich und Siegbert wieder. Er betrachtete wehmüthig die dunklen, von den Lindenbäumen allzudüster beschatteten Fensterscheiben der Pfarrerwohnung. Der Pfarrer und seine Frau, beide fast festlich geschmückt, verließen gerade, als er so in Gedanken und Herzensvergleichen stand, die Wohnung... wir wissen, daß sie zum Schlosse hinaufgingen. Dankmar trat zurück, um nicht gesehen zu werden. Er vergegenwärtigte, Guido Stromern prüfend, sich den doch viel ehrwürdigern Vater und die theuere Mutter, die jetzt daheim einsam in dem Sterbehause zu Angerode ihre Wittwenzeit vertrauerte. Dieses Pfarrerpaar dort ging so stumm, so kalt neben einander! Stumm und kalt? sagte er sich... und gedachte der Vergangenheit. Ach! Er mußte sich gestehen, daß auch seine Ältern nicht immer in jüngeren Jahren auf einen Ton gestimmt waren.... Eine Thräne stand ihm im Auge, als er der Zeiten sich entsann, die ihm als Kind nicht verständlich waren, jetzt aber klarer vom Jüngling begriffen wurden, der Zeiten, wo der Vater auch oft Noth hatte, sich mit einer schönen, gutherzigen, aber zuweilen anspruchsvollen, aufbrausenden und eigensinnigen Frau zu vermitteln. Später, als die Mutter an ihrer eigenen Familie, besonders an einem heißgeliebten verschollenen Bruder viel Leids erfuhr, ebnete sich auch in ihrer Brust der etwas schroffe Sinn und manches wärmere Wort entquoll den welkeren Lippen, die damals, als sie rosig waren, selten gebebt, selten gezittert hatten und selbst dann nicht gezittert, wenn den Vater der Schmerz darüber verzehrte. Das sind so Stimmungen in den Herzen der Kinder, wo sie die Erde aufwühlen und die theuern Todten aus der Gruft wecken möchten, um ihnen zu sagen: Was hast du gelitten und wir verstanden es nicht? Was hast du von uns fodern dürfen und wir ersetzten dir nichts? Warum lebtet ihr nicht so lange, daß ihr euch ganz verstandet? Warum sieht nun jetzt Einer nicht die Trauer des Andern?.... Bei solchen Erinnerungen kommt natürlich auch in ein sonst so weltliches Gemüth, wie das unsers Dankmar, ein ernster Anflug jener Stimmung, die uns ja auch die unerschütterliche, auf die ewige Gerechtigkeit begründete Nothwendigkeit des Wiedersehens dieser unserer Lieben wie eine Gewißheit in die Hand giebt, die dem Granit der Berge gleicht.
Von den Gästen, die zum Schlosse gingen, sah Dankmar auch den Justizdirector mit seiner kleinen anspruchsvollen, runden Frau, von der Hackert gesagt hatte, sie kenne Schlurck's schwache Seiten. Dankmar vermied auch dies Paar, indem er um die Mauer ging, die das Amthaus und den dazu gehörigen Garten umschloß. Wie prangten da die Obstbäume in ihrer schweren Last! Wie guckten die schwanken Spitzen der drinnen rankenden Rebengewinde über den weißen Kalk herüber! Wol, dachte er, muß es diesen kleinen Paschas, die bisher auf den adeligen Herrschaften Justiz übten, übel bekommen, wenn sie aus solchen anmuthigen Wohnungen, wo sie die Herren waren, in die Landstädte versetzt werden, wo sie, nach der gewöhnlichen Beamtenelle gemessen, auf der allgemeinen Bleiche des Staates nur ein bescheidenes Stückchen Tuch, vielleicht nicht länger als ihr Ordensbändchen, vorstellen. Näher besichtigte er sich jetzt den gefährlichen Thurm. Dankmar wünschte Siegberten den Anblick dieses malerisch gelegenen alten Mauerwerks mit seiner herrlichen Fernsicht auf die Ebene und das Gebirge. Mit Lächeln betrachtete er sich diesen Überrest alter feudaler Zeiten genauer. Der Thurm lag etwas erhöht und war gewissermaßen das Wahrzeichen des Ortes. Neben ihm wohnte ohne Zweifel der Büttel, Gerichtsbote und sonstige Amtsgehülfe, der dies wahrscheinlich alles in einer und derselben Person vorstellte. Der Eingang in den Thurm zeigte sich schauerlich genug. Die Thür war mit Eisen beschlagen und das Schloß von einem gewaltigen Umfange. Die untern Fenster deckten hölzerne, quer über die Gevierte genagelte Latten. Ganz oben aber waren die wahrscheinlich dort befindlichen Gefängnisse mit vergitterten kleinen Fenstern versehen, denen fast sämmtliche Glasscheiben fehlten. Vögel hatten daselbst ihre traulichsten Nester angebracht und unterhielten sicher die Gefangenen, wie Condorcet sich mit den Spinnen unterhielt. Dankmar mußte lachen, wenn er gedachte, daß hier eine gute Leiter und eine Feile, geschickt von einem guten Freunde bei Nacht dirigirt, jeden Gefangenen befreien konnte; denn der Thurm lag ganz frei, ganz außer dem Orte, in dem offensten Zusammenhange mit der Landstraße, dem freien Felde und dem Gebirge. Er legte sich, behaglich angemuthet, eine Cigarre rauchend, am Fuß des criminalischen Gemäuers nieder, recht in die Mitte unter frischen, duftenden Feldblumen, unter gelbweißen Kamillen, dunkelrothen Klapperrosen, blauen Glockenblumen, Winden und zwischen hochstämmige hier und da aufgeschossene wilde Wurzel- und Staudenpflanzen.
Da fühl' ich's, dachte er im Sinne des Bruders, da fühl' ich's, was doch zum Ergreifen des Pinsels treiben kann! Wer möchte dies weite Feld, diese Wiesen, diese schlängelnden Bäche mit den Thurmspitzen und blitzenden Fenstern der Meyerhöfe nicht dauernd festhalten! Wär' ich ein reicher Mann, trotz meines Bruders historischem Pinsel, nur Landschaften gewänn' ich mir! Die andern Maler geben mir alle zu viel aus sich und nur aus sich, der Landschafter giebt nur das, was ich brauche, um mich selber zu erfreuen und mich mit ihm in gleiche aber freie Stimmung zu setzen. Auch ein Genrebild will, daß man gerade diesen Moment und nur diesen, den der Künstler darstellt, genießt. Bei jeder Verschiebung der Gruppe hört das Bild schon auf, die Veranlassung gemalt zu werden, zu verdienen. Aber die Landschaft, die bleibt sich immer gleich! Der Beschauende wechselt. Er wechselt nicht in seinen Stimmungen, denn die sei eine und dieselbe durch jedes Landschaftsbild, aber in seinen Gedanken, in seinen Betrachtungen, Anknüpfungen, Auslegungen. Könnt' ich dort den Waldesrand auf dem Berge so nun für ewig mit mir führen! Es wäre ein Gefühl damit verbunden, das mir immer und immer gleich bleiben würde. Das Pünktchen da oben am Bergrücken ist fast eine Kappe von dunklerm Grün, die der hellgrün gekleidete Berg sich aufgesetzt hat! Wie mag es unter diesen Tannen da rauschen, singen, flüstern! Hätt' ich das nun immer so bei mir, könnt' ich's in einem Bilde so mit mir führen, wie gewiß wär' ich, daß mir nicht nur diese Vergleichungen, sondern diese ganze selige Stimmung, hier unter dem plessener Gerichtsthurme und am Fuße des Schlosses Hohenberg, nie verloren ginge! Es könnte nun kommen im Leben, was da wolle, ich sähe mein Bild, und immer genöß' ich das wieder, was ich jetzt genieße... Ich muß mir den Siegbert einmal hier hinaus plaudern. In dem Atelier, bei dem Theelöffelgeklapper seiner vornehmen Protectricen, in den Salons und Coterien, wo er ästhetisirt und sich verdüftelt, wird er mir – jetzt besinn' ich mich auf sein Aussehen im Pelikan – ohnehin ganz blaß... und verschmachtet mir wol gar... an einer geheimen Liebe?
Wie Dankmar so im versengten Grase und unter den würzigen Kräutern und bescheidenen Blumen, den Kopf auf den Arm gestemmt, in die Gegend blickte, die ihm, dem Unruhigen und Rastlosen, so viel Friede in die Seele goß, verweilte sein Auge, das anfangs nur summenden Käfern und Schmetterlingen, dann und wann einem Landmanne, einem Bauermädchen, einem Wagen nachhängender folgte, auf einem ältern Manne und einem Knaben, die beide hinter dem Thurme dahergeschritten kamen und sich wie er in der Gegend umschauten. Es war dies jener Fremde, der Ackermann heißen sollte und sich mit einem bescheidenen Fuhrwerke gleichfalls in der Krone Nachmittags eingefunden hatte. Der zierliche, außerordentlich behende, schöne Knabe, der ihn begleitete, war sein Sohn. Er nannte ihn, wie Dankmar von den Leuten in der Krone schon gehört hatte, mit einem Namen, den Jene offenbar verwälschten. Er wußte von diesem Namen nur erst so viel, daß er dem seinigen zu ähneln schien.... Der Fremde bemerkte Dankmarn nicht, wohl aber sein kleiner Begleiter, der sein grüßendes Nicken mit Anmuth und so bescheiden erwiderte, daß er vor Verlegenheit roth wurde. Welch' ein anmuthiges Kind! sagte Dankmar unwillkürlich, als Beide vor ihm auf der Landstraße der Ebene zuschritten. So behend, so zärtlich, so verschämt! Das Bild eines Ganymed!
Vater und Sohn waren fast gleich gekleidet. Leichte Strohhüte mit weiten Rändern schützten vor dem Sonnenstrahl. Der Vater trug einen Überrock von demselben halbwollenen Zeuge, von dem der Sohn ein Jäckchen trug. Die Beinkleider waren weit und von einem gestreiften Zeuge. Der Vater hatte die Brust halb offen und hielt nur den Hemdkragen mit einem bunten Foulard zusammen, dessen lange Zipfel über die weit ausgeschnittene Weste fielen. Der Sohn dagegen trug ein zierlich gefälteltes Chemisett, das oben in eine Art Halskrause endete und seinem Antlitz mit den schönen dunkeln Locken, die über die Schultern herabrollten, etwas Neckisches, ja Zierliches, Stutzerhaftes gab. In der rechten Hand trug der Knabe ein Stöckchen mit einem goldenen kleinen Knopf und fuchtelte damit in der Luft hin und her, während sein linker Arm in dem des Vaters hing, neben dem er graziös und sich ihm fast zärtlich anschmiegend einherschritt, fast wie ein Mädchen.
Dankmar konnte beide Lustwanderer genau betrachten; denn oft standen sie still, wandten den Blick wieder rückwärts und sahen sich die Gegend, die sie ebenso wie ihn zu erfreuen schien, gründlichst an. Endlich hielten sie an einem der Wege, die zum Schlosse hinaufführten, inne. Sie schienen unschlüssig, ob sie ihn einschlagen und auch Hohenberg besichtigen sollten. Der Kleine verrieth durch seine zuredenden Gebehrden, daß ihn die Neugier recht stachelte, zum Schloß hinaufzusteigen. Zu den Gästen, die dort oben ihr Wesen treiben, dachte Dankmar, gehören sie nicht. Oder ist der Vater vielleicht geneigt, diese Besitzung zu kaufen? Er mußte sich sogleich sagen, daß der Fremde trotz unverkennbarer Bildung etwas von einem Landmann hatte. Seine Gesichtszüge waren sehr fein und edel, ja sie hatten sogar etwas, was ihn durch irgend eine ihm unbewußte Ähnlichkeit so mächtig ergriff, daß er hätte betheuern mögen, einen solchen Mann einmal als einen höhern Staatsdiener oder einen berühmten Gelehrten irgendwo schon gesehen zu haben, dann aber fand er wieder, daß der Fremde sich doch nur als ganz schlichter Naturfreund gab, der zuweilen Ähren raufte und sie prüfend betrachtete, einen Stein vom Wege aufgriff, in der Sonne funkeln ließ und wieder gleichgültig wegwarf, das Stackett, mit dem der zum Schlosse gehörige Baumgarten hier schon umzäunt war, mit dem Fuße rüttelnd prüfte und an schadhaften Stellen, um zu zeigen, wie vernachlässigt es war, sogar eine morsche Planke etwas losriß, kurz er war bei allem Anstand der Haltung doch eine derbe, der Natur des Landlebens kundige Persönlichkeit, die sicher einem Ökonomen oder ähnlichen Geschäftsmanne entsprach. Endlich folgte der Fremde der Überredung des Knaben und that ihm mit sichtlichem Widerstreben den Gefallen, mit ihm zum Schloß hinaufzusteigen.
Dankmar stand nun auf und wäre gern gefolgt. Der Fremde und sein Knabe fesselten ihn. Er beschloß, sich ihnen zuzugesellen, um auch seinerseits das Schloß in Augenschein zu nehmen. Da Schlurck dort oben gewohnt hatte, konnte er vielleicht erfahren, wie der Justizrath zu seinem Schrein gekommen war. Auch die schöne Melanie, von der er die Erinnerung hatte, sie schon in der Stadt gesehen zu haben, Melanie Schlurck, von der er so viel Phantasieanregendes vernommen, die er selbst im Walde an sich hatte vorbeisprengen hören – genauer nach ihr zu sehen, war er durch Hackert's Flucht und den Zustand seines Pferdes verhindert – auch diese konnte er vielleicht hoffen, irgendwo an einem Fenster zu erblicken. Sein Bruder, mehr wußte er nicht, hatte sie im Atelier des Professor Berg, wo sie malte, zuweilen beobachtet. Daß Siegbert, der neuerdings sogar in ihrem Hause war, durch ein Bild wegen ihrer verspottet sein sollte, wußte er nicht. Alle diese Dinge waren während seiner Abwesenheit in Angerode vorgefallen. Er selbst, zu voll von dem, was er dem Bruder zu erzählen hatte, war noch nicht dazu gekommen, ihn nach seinem eigenen inzwischen Erlebten zu befragen. Von den andern Namen, die Hackert und der Förster Heunisch genannt hatten, kannte er Niemand, selbst Eugen Lasally nicht persönlich, obgleich er zuweilen eines seiner Pferde ritt. Die Sphäre, in der Lasally lebte, war ihm aus vielem Betrachte widerwärtig und auch unzugänglich.
Als er einige Schritte dem Fremden und seinem Knaben nachgegangen war, blieb er stehen. Man wird dich, wenn du dich ihnen anschlössest, für zudringlich halten! sagte er sich. Und da oben um das Schloß herumschnuppern und der Eitelkeit der dort hausenden Menschen die Folie der Neugier geben, ist doch auch wol deine Sache nicht!
So blieb er unten, blickte noch einmal dem leicht hinaufhüpfenden Knaben nach, durchschritt einige Feldwege und kehrte wieder in die Krone zurück, wo er bestätigt erhielt, daß der Fremde wirklich aus Amerika käme und Ackermann hieße. Aber dem Namen des Knaben kam er wieder nicht bei. Man hatte ihn offenbar nicht verstanden und sprach ein Wort aus, das ihn mehr an einen indianischen Häuptling, als an einen christlichen Taufnamen erinnerte.
Früh zur Ruhe sich legend, das stille Einathmen eines ländlichen Abends unter Sternengeflimmer und beim vollen goldgelben Julimondenschein sentimentaleren Naturen überlassend, hatte er die Absicht, am nächsten Mittag, wenn er sonst von Hackert und dem Prinzen nichts erfuhr, mit seinem Einspänner und dem anschmiegsamen Bello sich auf den Rückweg zu begeben. Kaum hatte er wol am Abend gedacht, daß am folgenden Morgen nicht nur eine nähere Bekanntschaft mit Ackermann und seinem Knaben ihm diesen Entschluß vereiteln, sondern auch eine abenteuerliche Kette von Misverständnissen aller Art ihn so umstricken würde, daß er sich für's Erste vom Fuße des Schlosses Hohenberg nicht wieder loswinden konnte und der Lage sich aussetzen mußte, dort die seltsamsten Dinge zu erleben.