Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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XVIII.

Auch ich soll der Königin mein Knie beugen! vielleicht gar mit ihr reden! Reden mit derselben Frau, von der jetzt im Gewühl des Weinmarkts, wo singend die Landsknechte an ihren Fenstern vorüberziehen, Tausende einen Blick zu erhaschen suchen –! Schaut nur hinauf! Liebäugelt mit ihren Fenstern! Sie wird sich hüten, sich den Fahnenflüchtlingen zu zeigen, die ihres Bruders Sache verlassen haben und zum Banner des Evangeliums, zu Luther übergehen wollen! Und ich, ich soll ihr nahen dürfen –!«

So sprach Ottheinrich vor sich hin, als er die von den Handlaternen der sich entfernenden Gäste erleuchtete Annengasse verlieh

»Gebt acht! Sie hat etwas vor! Mit den Pfaffen hält sie's doch! Wache muß gehalten werden die ganze Nacht über –!« Das vernahm er um sich her.

Sein Mund hätte sich zu gunsten der Königin öffnen mögen. Ihm stand der Moment vor Augen, wo er mit seinem Kästchen vor die Königin treten würde. Der festliche Anzug, den er sich zurechtlegen sollte, machte ihm keine Sorge. Zu jeder Zeit waren durch seinen Hauswirt Anzüge, wie sie der Rat voraussetzte, funkelnagelneu zu haben, warum kam ihm nur immer das Wort der Schrift in den Sinn: Viele sind berufen, wenige auserwählt –!? Hätte nicht Luthers Lehre vom Abendmahl in den Überzeugungen seines Gemüts die Oberhand behauptet, die Lehre von der Gnadenwahl, Calvins Prädestination, hätte ihn für die schweizerischen Reformatoren empfänglich machen können, wie oft hatte er sich schon gesagt: Wenn nur einer einmal ein mutig Wort mit Königin Maria sprechen könnte –!

Der Gedanke, daß er sich eine solche Dreistigkeit herausnehmen könnte, gebot seiner Freude Halt und lenkte seine Betrachtung in ruhigere Bahnen.

Die Herbstabende senkten sich schon auf die Straßen mit zeitigem Dunkel. Es war in der Stadt ruhiger geworden. Ottheinrich wollte zu den Italienern gehen und sich erkundigen, ob sich wirklich bei ihnen bereits Doktor Johannes, der junge Paumgartner, hatte erblicken lassen.

Auf dem Estrich des Wirtshauses fand er die Gebrüder Zorzo und hörte sie ihren Verdruß aussprechen über eine Vorladung, die sie für morgen aufs Stadtamt erhalten hätten. Teils sollten sie Ausweise über sich selbst, teils über den Knaben, geben, den, so lautete die Anklage, sie selbst einem Kloster entführt haben sollten.

»Wie wird man uns glauben,« rief der ältere der Brüder, »da man unsere Sprache nicht versteht!«

»Es wird auf dem Stadtamt an Dolmetschern kein Mangel sein,« beruhigte sie Ottheinrich. »Auch gehöre ich ohne Zweifel selbst zu den Geladenen, wie ich wohl in meiner Wohnung erfahren werde, und werde euch frei sprechen von aller Schuld!«

Daß einer von den Brüdern Vittorias morgen in der Frühe mit Oswald von Eck nach München reisen wollte, wurde ihm von den Brüdern Zorzo bestätigt.

Richtig stellte sich auch die Anwesenheit des Doktors Johannes, des Freundes und Gönners von Kaufbeuren, heraus. In diesem Augenblick befand er sich oben bei Vittoria.

So erkannte denn Ottheinrich wohl, wie berechtigt seines Prinzipals üble Laune gewesen. Einem so bedeutungsvollen Mahl hatte sich der älteste Sohn des Hauses entziehen können –! Die Königin, die Ankunft der Schwangauer, alles war zusammengekommen, die Anwesenheit des Doktors dringend wünschenswert zu machen. Dennoch hatte er fehlen können –

Ottheinrich entfernte sich. Er wollte die geheimen Wege des Doktors nicht durchkreuzen, sich auch nicht vor seinem Prinzipal zum Vertrauten eines Geheimnisses machen, das diesen aufs äußerste zu reizen schien.

Der Gedanke an Gundula, ihre liebenswürdige Schalkheit, ihre neckische Aussöhnung mit ihm lockte ihn verführerisch wieder zurück in die eben verlassene Gegend. Er mußte sich sammeln zu alledem, was er noch heute vorhatte. Er gedachte seines Geschäfts beim alten Obersteiger, dann drängte ein Besuch beim Wächter des Klinkerturms. Sein Blut war noch in zu mächtiger Wallung. Frische Luft nach dem reichlich genossenen Mahl war ihm Bedürfnis. Eine Unsitte der Zeit würzte und pfefferte auch noch die Weine –!

Unwiderstehlich zog es ihn in die Annengasse.

Er schlug seitwärts vom ehemaligen Kloster einen einsamen Weg ein, der dicht unterhalb der hohen Stadtmauer entlang führte.

Die Straßen Augsburgs waren mit Untergang der Sonne in der Obhut von Scharwächtern, die mit Spießen und Stangen zu jeder Stunde durch die dunkelsten Viertel zogen. Heute zumal hatte man den Tag über eine Zunahme der Sicherheitsmaßregeln bemerkt. Man hörte von Verhaftungen, von Aufpassern, die sich in die Wirtshäuser schlichen und verdächtige Sprecher beobachteten. Äußerlich feierte man die Königin, im Geheimen überwachte man ihre Umgebung, ja das eigene Tun und Lassen des hohen Besuchs. In diesem allerdings nur wenig Schritte breiten, einsamen Gäßchen schien es keine Gefahr zu geben. Zur Linken erhob sich die feuchte, in den Ritzen mit Moos und Gräsern bewachsene Wallmauer von wohlgefugten Steinen, zur Rechten lagen die Gärten des vereinsamten Klosters, des alten Peutinger und die seines eigenen Prinzipals. Wie oft hatte ihn Frau Felicitas in jenes kleine dunkle Häuschen dort gerufen, ihn aufgefordert, dem Magister, der diese Räume bewohnte, behilflich zu sein bei seiner Gartenpflege –!

Heute sah Ottheinrich mehr Acht bei dem Alten als gewöhnlich. Obschon auch der Magister die Tafel in einem Zustand verlassen hatte, der ihn sofort auf sein Lager hätte verwerfen fallen, so flackerte doch noch seine Studierlampe bald an diesem, bald an jenem Fenster; ein zweites Licht ging hin und her im Erdgeschoß.

In dem dunkeln, einsamen Gang führte aus dem Hause des Magisters eine Tür. Diese war von außen und innen mit eisernen Stangen verwahrt. Der kaiserliche Rat verbot ihren Gebrauch; seine Söhne hatten schon in jungen Jahren diese Tür zu Nachtschwärmereien benutzt, Johannes, der sich früh, wie er zu sagen pflegte, seinen eigenen Kalender schrieb, Tag zu Nacht und Nacht zum Tage machte; Antoni, der in gleicher Unregelmäßigkeit, nur mit minderer Geistigkeit lebte. Alles, was zum Leben des Hauses gehörte, sollte Aus- und Eingang zur Annengasse suchen.

Dennoch vernahm jetzt Ottheinrich das mächtige Geräusch der zurückgezogenen und gelösten Eisenstangen. Ein Schlüssel drehte sich im Schlosse.

Der Schimmer einer Lampe fiel auf die feuchte, dunkle Wallmauer gegenüber. Zwei Männer, der eine im Mantel und den Hut tief über die Stirn gedrückt, der andere mit der Lampe in der Hand, leicht erkennbar als der alte Magister selbst, nahmen von einander Abschied. Ottheinrich stand zu weit ab, um die ohnehin nur leise geführte, doch lebhafte Unterhaltung zu vernehmen.

Der Alte schien weder mit dem Besuch noch mit dessen Wünschen einverstanden zu sein. Er hob die eine Hand, die er frei hatte, drohend in die Höhe. Bald glaubte Ottheinrich, der sich an einen ebenfalls nur selten aufgeschlossenen Torweg, der zum Garten führte, anlehnte, zu vernehmen, daß der verhüllte von seiner baldigen Zurückkunft sprach und jemand mitbringen zu wollen erklärte, gegen dessen Erscheinen in dem Häuschen Rupilius seine Einwendungen steigerte.

Endlich zweifelte der Lauscher nicht mehr, daß der andere der junge Rat, Doktor Johannes, war.

Als Rupilius die Tür geschlossen hatte und Johannes in mächtiger Eile dem Einlaßtorgäßchen zuschritt, folgte ihm Ottheinrich in gemessener Entfernung. Er kämpfte mit sich, ob er seinen Schritt beschleunigen sollte, um den Ankömmling erreichen und bewillkommnen zu können. Aus Besorgnis jedoch, durch die liebenswürdige Beredsamkeit des Doktors zum Teilnehmer an irgendeinem Vorhaben zu werden, beschloß er, zurückzubleiben. Johannes war in solchem Grade in Gedanken vertieft, daß er den Schritt eines ihm Folgenden nicht bemerkte. Er war es gewiß. Das bestätigte sein jeweiliges Hüsteln, auf dessen Anfälle er das Trällern einer Melodie folgen ließ, gleichsam, als wollte er die Mahnungen seiner zerrütteten Gesundheit nicht verstehen. Je weiter Johannes in Straßen kam, die belebt waren, desto höher zog er den Mantel, desto tiefer drückte er den Hut ins Gesicht. Ottheinrich sah, daß er wieder zu Vittoria ging. Er folgte ihm nicht.

Es schien ihm nun durchaus zweifelhaft, ob sich der junge Sohn des Hauses überhaupt bei seinem Vater anmelden ließe, solange die Königin anwesend war. Wie sollte es da mit der Überreichung der Edelsteine werden? Konnte es möglich sein, daß er auch ohne einen Führer beauftragt wurde, sein Knie der Königin zu beugen –? Um so mehr mußte sich seine bangfrohe Erwartung steigern.

In der Nähe befand sich das Klinkertor, ein viereckiger, aus mehreren, mit Fenstern versehenen Stockwerken bestehender Turm. Im Klinkerturm saßen die leichten Verbrecher, Händelsucher, Schuldenmacher, Bankrottierer, Marktdiebe, Juden, die ohne Geleitschein betroffen wurden, fahrende Weiber, denen man, nach einer der grausamen Polizeiverordnungen jener Zeit, wenn sie sich außer dem einen Wochentage, an dem sie sich in der Stadt umhertreiben und ihrem Gewerbe leben durften, in Augsburg betreffen ließen, vom Henker die Nase abschneiden ließ. Der Henker selbst wohnte am Klinkerturm.

An dessen Häuschen mit vergitterten Fenstern, dicht zur Seite des Turms, klopfte Ottheinrich mit pochendem Herzen. Eine große breitschultrige Gestalt erschien. Es war der blutige »Freimann« selbst. Von Ottheinrich um den eingebrachten Knaben angeredet, gab der Henker zu, einen solchen zu beherbergen. Vom Stadtgericht war er ihm zur strengsten Obhut empfohlen worden.

»Laßt mich zu ihm!« sagte Ottheinrich, das Beben seines Herzens über den unheimlichen Mann, mit dem er sprach, bekämpfend. »Ich kenne den Knaben und bin erbötig, dem Gericht über ihn eine so zureichende Auskunft zu geben, daß sie ihm die Freiheit verschaffen soll –!«

»So meldet euch beim Amt, daß man euch drob vernehme!« sagte der Henker kurz. Er war in seinem Nachtmahl gestört. Gar köstlich duftete es aus seiner Küche. Ein Blick auf die Tafel zeigte Wohlhabenheit, sogar ein vornehmer Gast saß am Tisch, ein Ritter mit Federhut und langem Schwert an der Seite.

Vom Einlaß also in die Zelle des Knaben konnte keine Rede sein. Die zu dem Gespräch hinzugetretene Frau des Henkers, ein anmutiges Weib, gab die Versicherung, daß es dem Knaben an nichts gebräche.

»Wie benimmt sich Moritz Hausner?« fragte Ottheinrich und forschte mit blinzelnden Augen durch die Küche in die jenseit gelegene, mit Schränken und kostbaren Gerätschaften aller Art, sogar mit Büchern geschmückte Wohnstube.

Die Frau des Henkers erzählte, daß der Knabe anfangs gejammert hätte, aus Besorgnis, man wollte ihm ans Leben gehen. Jetzt, seitdem man ihn beruhigt, blicke er über die Dächer der großen Stadt hinweg und ließe sich dies und das zum Spiel kommen, Papier, unter anderm kleine Holzstäbchen. Letztere ließe er an einem Lichtstumpfen verkohlen, um damit zu zeichnen und zu schreiben.

»Meint ihr nicht,« sagte der Henker sich bekreuzigend, »daß den Jungen der Teufel behext hat? Er sang in der Nacht Lieder, die ich von Armsündern gehört habe, die ohne Beichte sterben wollten. Anfangs hätt' ich schier vermeinen mögen, daß er einen Verstand wie ein Gelehrter hätte; dann gab er sich wieder in anderen Dingen dumm wie ein Kalb –«

Inzwischen hatte der Henker das vergitterte Fenster des dritten Stocks, das, wie Ottheinrich von ihm gezeigt bekommen hatte, zu einem Vorgemach der Zelle des Knaben gehörte, längere Zeit im Auge behalten. Das Fenster erschien heller als irgendeins der andern im Turm.

»Hast du die erste Tür nicht verschlossen und dem Buben die Lampe gelassen?« fragte der Henker seine Frau.

Diese bejahte und sah am Fenster den überhellen Schein.

»Zigeunerblut!« polterte der Mann. »Er wird uns noch den Turm anstecken!«

Die Frau eilte in den Turm zurück.

Nicht lange währte es und das Licht erlosch oben.

Nach einer Weile kam die Frau die schmale, in die innere Torwölbung führende Stiege wieder herab, stieß heftig mit dem Fuß die eisenbeschlagene Treppentür auf und trug in der einen Hand einen Lichtstumpfen und die Lampe herbei, in der andern einen dampfenden Gegenstand, der einer Mulde von Eisenblech gleichkam.

»Sehet da,« rief sie, »was ich in des Buben Hand gefunden habe! Ein Stück Blech, das er draußen vorm Fenster aus der Regenrinne ausgerissen und mit einem höllischen Gebräu gefüllt hat! Schaut! Riecht es nicht wie die Pest! Wo hat er das alles her? Und was hat er damit gewollt?«

Der Henker betrachtete unwillig das noch heiße Eisenblech, dem die ausgehöhlt gebogene Form erst durch den Knaben gegeben sein konnte, roch an den Inhalt, der aus Unschlitt, Speiseresten, Knochen, Kalk und ähnlichem zu bestehen schien, und sagte: »Wir wollen es drinnen dem Meister zeigen! Der versteht sich auf solche Kochkunst.

Morgen wird des Buben Kammer vom Fußboden bis zur Decke untersucht. Ich wette meinen Bart, junger Mann, daß ihr so wenig von dem Kind, wie von den Italienern das richtige wisset! Wahrt eure Haut und eure Seele! Solcher bübischen Praktiken, die unsereins kennen zu lernen am Galgen die Gelegenheit hat, sind ehrliche Menschenkinder nicht mächtig. Sollte mir leid sein um euch, wenn ihr von solcher Berührung Schaden trüget.«

Die Frau des Henkers war in die hellerleuchtete Wohnstube zu dem ganz in Scharlach gekleideten Ritter, der sich inzwischen im Leeren eines silbernen Bechers, der vor ihm stand, nicht hatte stören lassen, eingetreten, um diesem die Mulde und deren noch immer dampfenden Inhalt zu zeigen.

Ottheinrich verabschiedete sich mit Grauen von der herzbeengenden Stätte, ließ aber noch die Bitte an den Henker zurück, dem Knaben anzeigen zu wollen, daß sich ein Fremder – er nannte seinen Namen – nach ihm erkundigt und versprochen hätte, für sein Bestes wirken zu wollen. Eine Gabe, die noch Ottheinrich dem düsteren Meister des Hochgerichts und der Folterkammer anbot, um dem Gefangenen eine bessere Verpflegung zu sichern, wurde abgelehnt. Unerwähnt ließ Ottheinrich den Trauring, den der Knabe wohl versteckt hatte.

Jetzt war die Stunde da, wo Cyriax Mäusle seinen Mitdiener in der »Finstern Stube« erwartete. Seine geringe Neigung, dem geckischen Kollegen Wort zu halten, erhielt durch Zufall einen Zwang, der ihn bestimmte, es dennoch zu tun. Dem alten Obersteiger hatte er sich noch zu einem Besuch in den Ställen der Fugger ansagen lassen. Dorthin begab er sich, erfuhr aber, daß sich der Alte entschuldigen ließ, wenn er ihn in einer öffentlichen Herberge erwartete. Dies war dann gerade in der »Finstern Stube« dicht in der Nähe des Rathauses.

Am Perlachberg, in einem Gewinkel von Gassen und Häusern, die sich einander den Wind abfangen, dicht im Schatten der alten Peterskirche führt noch jetzt ein Torweg in den Hof eines Eckhauses, der zu jener Zeit im Sommer mit Bänken besetzt war. Im Winter und bei kühleren Tagesstunden setzte man sich in die sich rundumziehenden niedriggewölbten Räume, die nur mäßig durch kleine vergitterte Halbbogenfenster erhellt wurden. Hier wurde Wein geschenkt, scharfgesalzenes, zum Trinken reizendes Schwarzbrot, mit Beimischung des in Augsburg seit Jahrhunderten beliebten Anisgewürzes, und Würstel von vorzüglicher Berühmtheit verabreicht.

Das war hier abends ein Sausen und Brausen, wenn man eintrat und sich ein Plätzchen suchen wollte, im Winter nicht zu weit vom Ofen ab oder, wenn fliegende Blätter, neue Lieder, neue satirische Holzschnitte umliefen, nicht zu weit von den mächtigen brennenden Kienspänen, die zu einigen Lampen und Unschlichtlichtern hinzu als Beleuchtung dienten.

Heute waren die Räume überfüllt. Neuangekommene Landsknechte, die Begleiter der vielen hohen Herrschaften, die der Königin zu huldigen nach Augsburg gekommen waren, vermehrten die gewöhnliche Gesellschaft sowohl hier wie nebenan in dem nicht minder beliebten Wirtshaus zu den »Sieben Hansen«. Nur die Hauptkemenate, die »Finstere Stube« selbst, die allerdings am Tage die allerdunkelste, jedoch um deswillen auch die beliebteste war, bot noch eine Anzahl nicht besetzter Bänke, die jedoch sorgsam gehütet wurden für erwartete Gäste. Hier fand Ottheinrich zwar nicht seinen Freund Cyriax, der noch nicht anwesend war, doch seinen alten Obersteiger, der ihn herzlich begrüßte und neben ihm Platz zu nehmen ersuchte.

Ungestört ging die erste Verständigung des Greises und des Jünglings von statten über die bereits für den ersteren abgegebenen Aufträge an Briefen und Geschenken, über das Geschick des vor einigen Tagen zwischen beiden so viel besprochenen Knaben. Ottheinrich war in die Mitteilungen dermaßen vertieft, daß er nicht um sich sah und nicht daran dachte, die Neuangekommenen zu mustern.

Um so mehr mußte ihn überraschen, als die allgemeine Aufmerksamkeit vom Erscheinen der Männer in Anspruch genommen wurde, denen hier in dem innersten Heiligtum des Wirtshauses die Sitze aufbewahrt geblieben schienen. Umgeben von mehreren, an scheuer Ehrfurcht sich haltenden Männern trat eine freundlich nach allen Seiten grüßende Gestalt ein, kahlköpfig hinunter bis zum Nacken, wo ein Kranz ergrauter Locken auf den Kragen und die Auslagen des Hemdes fiel, das Antlitz völlig bartlos, mit scharfen, durchdringenden Augen, die sich forschend im Zwielicht der gewölbten Räume zurechtzufinden suchten, ein mächtig breites Schwert mit gewaltigem Griff an der Seite, Wams und die darüber gezogene Schaube von scharlachrotem Tuch, der Hut mit wallender Feder – kurzum, derselbe vornehme Gast des Henkers am Klinkertor, der dort soeben beim Nachrichter sein Mahl beendigt zu haben schien.

Der Ankömmling hatte sich im Kreise seines Gefolges niedergesetzt. Schon hatte er mit einer scharfen, an den Schweizerdialekt erinnernden Sprechweise eine Kritik des gestern hier an derselben Stelle genossenen Weins begonnen und mit dem »Trinkherrn« verhandelt, als der alte Obersteiger Ottheinrich zuflüsterte, daß man in dem Scharlachroten niemand anders, als den berühmten Arzt vor sich hätte, den eine spätere Zeit, nicht er sich selbst, Aureolus Theophrastus Paracelsus Bombastus von Hohenheim genannt hat.

»Beim Scharfrichter träfet ihr ihn? Wohl, da macht er in jeder Stadt, wohin er kommt, zuerst Bekanntschaft. Hierauf geht er zu den Hebammen. Dann zu den alten Weibern, so Kröpfe beschwören. Hernach erst zu den Kollegen. Von allen Gewerben sind ihm die »Appendeker« die widerwärtigsten. Wir Bergleute sind ihm die liebsten –«

Der Doktor schien ein fein Gehör zu haben. Er horchte nach dem Sprecher hin. Der Blick, den er dabei auf den alten Bergmann warf, war ein wunderbar scharfer, langanhaltender Blick ärztlicher Diagnose, die ihm mit bezaubernder Kraft zu Gebote stand. Die Unterlippe seines Angesichts trat scharf hervor, wie der ganze Unterkiefer. Wangen und Kinn waren vollständig bartlos und dies, wie es schien, von Natur. Eine seltsame Meinung von dem vielbesprochenen Mann behauptete, er könne Menschen auf chemischem Wege (mit Hilfe tierisch warmen Kuhmistes) hervorbringen – seinen berühmten Homunculus. Den meisten jedoch glaublicher versicherte man von ihm selbst, daß er keinem Geschlecht, weder dem männlichen noch dem weiblichen angehörte – eine Meinung, die Theophrast weder bestritt noch bestätigte, verehelicht war er niemals. Darum sah er aber doch männlich und zuweilen herausfordernd ernst aus. Das mächtige Schwert, das er zwischen den Knien hielt, war nach dem Glauben des Volkes ein Scharfrichterschwert mit einer in die Klinge eingelegten Welle von Quecksilber, durch deren rollende Bewegung beim Köpfen dem Hieb der sichere Schwung gegeben wird. Quecksilber, Schwefel und Salz waren nach seinem System die Grundstoffe alles Erschaffenen. Die Flamme, lehrte er, ist der Prozeß des Lebens. Das Feuer, das brennende, ist der Schwefel; der Rauch, der verfliegende und niederschlagende, das Quecksilber; die Asche, die zurückbleibt, das Salz. Der alte Obersteiger schien sich auf sein System zu verstehen und beobachtete ihn aus seinem dunklen Winkel mit wahrer Andacht.

»Stubenmeisterle!« rief, kaum eingetreten, einer der Begleiter den Wirt an, »schreibts von jetzt ab auf, was der Doktor bei euch trinken wird –»

»Uffschryba?« fiel der Doktor im Schweizerdialekt ein. »Nix uffschryba, Kollega! Theophrastus zahlt älls, was er sim Archäo zu verduna gibt!«

»Ihr habt mich nicht ausreden lassen, Doktor!« fuhr der als Kollege Bezeichnete fort. »Nicht von dem schnöden Mammon, der zu berichtigen hat, was ihr euerem Archäus an Wein zu verdauen geben werdet, ist die Rede – sondern –«

»Nein, höre es, Israel,« unterbrach ihn Theophrast mit erhobener Stimme »und kündige es den Völkern vom Aufgang bis zum Niedergang! Noch nie hat ein alt Weib, so ich um ein paar Rüben im Feld angesprochen habe, beim ewigen Koch der Höllen, Sadramelech, hinter mir her einen Schwur getan, etwa, es sollten mir die Rüben, weil ich sie nicht bezahlt hätte, im Leib verbrennen –! oder: noch nie hab' ich einen Trunk, ein Hemdli oder ein Nachtquartier oder ein Paar geflickte Hosen oder ein alt Buch – heißet Biblia, das einzig Buch, so sich zu kaufen lohnt – auf Borg und Jüngsten-Tags-Stundung entnommen! Ich zahle –! Ich zahle bar. Ich zahle, abschon ich der Medicus der Armen bin und nur um Gotteslohn heile und um keinen andern Dank, als daß mein Rat anschlagen und helfen solle und mir die armen Tröpfe, wenn sie von mir gehen und nichts zu geben vermögen, wenigstens den Gefallen tun, dreimal hinter sich auszuspeien – der Beschreiung wegen! Umsonst ist der Tod. Etwas muß der Medicus als Miete han! Aber – uffschryba?! Gott sige Dank! Das sollte nit recht zugan!«

So pflegte Theophrast Paracelsus in den Schenken, die er vorzugsweise als Aufenthalt liebte, zu verkehren. Nach diesem Bilde hatte man ihn auch heute am paumgartnerschen Tisch geschildert. Nach dieser Art zu geben, hatten ihn seine Gegner, die »galenischen« Ärzte, wie er sie nannte, als Prahler, Wirtshaushelden, Händelsucher, ja Säufer bis ins Übertriebene an die Wand gemalt.

Theophrast senkte den Kopf auf den Tisch, schwieg längere Zeit, erhob ihn dann wieder und entgegnete:

»Und euer Uffschryben? Stubenmeister, was hat's damit bedüten sollen?«

Statt des Wirtes, der nur geschäftig und lächelnd auf- und abhantierte, antwortete der vorhin als Kollega Bezeichnete, der somit endlich zum Fortführen seiner vorhin unterbrochenen Rede gelangte:

»Daß es genau verrechnet werde, wieviel ihr dem Archäo zugemutet habt, wenn ihr abends, nachdem ihr in der »Finstern Stuben« gewesen, eurem Verleger da, Mayster Oporino, noch eure unsterblichen Opera diktiert. Ein Ohm Bacharacher hat er schon in Augsburg vertilgt! hat Doktor Adolf Occo neulich bei den Fuggern von euch versichert. Und erst heute wollte, wie mir erzählt worden, Ambrosius Jung, nach Witz haschend, bei Hans Paumgartner auf einer großen Gasterei versichern, ihr tränket jeden Abend eure sieben Maß und ein Achtel und seiet ein Landläufer, nur um die Folgen euer verunglückten Kuren nicht sehen zu dürfen. Da meine ich denn, es sei besser, wenn wir mit diesen lateinischen Doktoren in förmliche welsche Buchhaltung treten und lieber alles genau aufschreiben lassen, was ihr wenigstens zu Augsburg in Wahrheit getrunken habt!«

»Lasset diese galenischen Tröpfe!« antwortete Theophrast mit Feierlichkeit, rückte den Weinkrug, den er schon zur Hälfte geleert hatte, etwas unsanft von sich ab, stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch und fuhr fort: »Ihr Wissen ist doch nur Feuer auf der feuchten See! Sie haben Perlen in der Hand und machen daraus Kieselsteine! Ihr akademischer Doktorhut ist aus dem Filz des Fortunahütleins geschnitten, so nur immer Geld und nichts als Geld einbringen soll! Lasset sie mich verketzern! Lasset sie meiner spotten! Etwan auch, wie ich höre, meiner Armut? Bacharacher?! Haha! Ein feiner Wein, der freilich ihnen täglich durch die Gurgel läuft! Ich aber tausche drum nicht mit ihnen. Ich hüte, wie einstens die Arimaspen, dasjenige, so die Greifen mir so gern – abgreifen möchten, das lebendige All-Einssein der drei Urelementa, das ewig Vierte, verbunden durch die Essentia quinta – die Welt nennet das bemitleidenswerte glänzende Elend des gebundenen All-Einsseins Gold –. Das besitze ich und behüte es in Klumpen! Aber nur die Fugger und die Paumgartner sind dran schuld, daß ich noch nicht die Magnalia Gottes in gemeine landläufige Münze umsetze. Die haben noch das Privileg des Münzschlagens von Kaiser und Reich, sie und die Fürsten und einige Städtlein, um Dukaten zu kippen und zu wippen. Ich aber hinterlasse, was ich habe, kommenden Geschlechtern – unausgemünzt und im großen werden sie's erben, Landfahrer?! Ich sei ein Landläufer?! Hinaus, sage ich, Theophrastus von Hohenheim, hinaus muß der Arzt in alle Lande! Muß die Welt schauen! wenige Krankheiten kommen zu uns, zumeist müssen wir zu den Krankheiten gehen! wo sah euer Occo beim Herrn Fugger, seinem Patienten, schon das Bleifieber, von dessen Gift in Ungarn und Tirol ich hundert Fuggersche, die ihm das Gold, Neujahrs seinen Doktor zu bezahlen, suchen müssen, befreit habe? Ei, schickt doch, Herr Paumgartner, euern Ambrost Jung, euern Gereon Sailer, den Gasser, den Dieffenbach in eure salzburgischen Steinbrüche und lasset euch eure Steinhauer kurieren von ihrer Lungenkrankheit und dem ewigen Katzenjammer, genannt Steinbrecherkrankheit! Kennen's nicht, verstehen's nicht, haben's nie gesehen. Ein Arzt muß und soll ein gut Schuhwerk haben. Soll auch nicht die Professoren, sondern alte Weiber befragen, die Köhler im Walde, den Jäger auf der Pirsch – und, wenn's not tut, selbst den Mann im roten Mantel unterm Dreibein!«

Zunächst brachte ein Schauder alles zum schweigen. Ottheinrich sah, er hatte sich in der Person, die soeben am Klinkerturm zu Nacht gespeist, nicht geirrt. Dennoch vermochte er nicht, mit einer Frage nach dem Inhalt der Mulde, die des Henkers Frau dem Doktor überbracht hatte, hervorzutreten. Er nahm überhaupt Anstand, sich unter so gelehrten Männern bemerklich zu machen.

»Wozu trag' ich ein Schwert?« fuhr Theophrast, auf dem eisernen Korb seines Schwertes die Hände zusammenfaltend, fort. »Um mich zu ???»vertädigen«? Dazu tragen wir Doktoren das Schwert nicht. Hab's ja auch in Basel getragen, wenn ich ins Kolleg ging und dozierte. Das Schwert –« er zog die halbe Länge der Klinge heraus und ließ sie wieder klirrend in die Scheide fallen – »hat mir genützt, wenn ich auf meinen Reisen in die Hände der Diebe und Mörder gekommen war, in Pohland und in der Walachei. Bin auch der Bombaste von Hohnheim letzter Sproß, ein Ritterbürtiger, vom schwäbischen Adel, könnte um deshalb ein Schwert tragen, obschon bereits mein Vater selig statt eines Straßenplackers, was des Adels Tugend jetzung geworden ist, ein Pflasterschmierer war zur Wohlfahrt der Menschheit und ich sein erster Geselle, bald hernach, als ich geboren wurde – nicht auf hohen Burgen und in Prunkgemächern, sondern unter frischem Tannenholz, an dem nichts glänzet als das Harz, so wir aus ihm sammeln. Die Hirten von Einsiedeln zu Schwyz im Eidgenossenland waren meine ersten Meister, ein Spital war meine hohe Schule, meine Apotheker waren die Ziegen, die mich gelehrt, welche Pflänzlein Salz enthalten und welche nicht. Meine Mutter selig, sie war im Spital die Wartfrau, lehrte mich, was am Krankenbette der menschliche warme Odem der Pflege sei, der Geist der Liebe und wie eine Wunde, so guten Eiter treibt, ein Balsambüchslein zu nennen sei, so von Gottes Allgegenwart mehr enthält als die Monstranz, wenigstens eine solche, in welcher aus dem heiligen Brot Würmer auskommen. Aber nein! um das alles trag ich nicht das Schwert. Das Schwert hier – das soll tragen jeder Arzt zum Zeichen, daß seines Berufes sein müsse Tapferkeit und hoher Mut. Ein Arzt ohne Mut, das ist die Rose ohne Duft, der Honig ohne Süße. Ein Arzt, der nicht einen Mut hat wie Daniel in der Löwengrube, kann dem Gott mit der Schlangen um den Stab nimmer dienen. Saget doch schon Hippokrates: »Ein Arzt sieht das Furchtbare!« Drum soll sich aber just der Arzt nit fürchten. Er soll nit scheuen den Kampf mit der Natur, wenn sotane Megära wild wird, mit dem Gebresten einreitet wie ein unbekannter Ritter, mit niedergelassenem Visier, eisernem Harnisch und einer Lanzen dreimalmanneslang auf hohem Roß, schwarze Todesfedern am Helm und verkünden lassend in die Schranken des Turneys? Heran da! Wer wagt's! Ein Gspiel mit mir –! Da sage ich: Nun komm du nur an mit deiner Dreckapotheken, Jung oder Occo, auf welche du selbst kein Vertrauen hast, komm mit deinen ellenlangen Latwergenzetteln, deiner abgestandenen Zweitausendjahresweisheit von Sankt-Aristoteles an bis zu dem letzten hochweisen Kathederdoktor, so dir die ersten Würmer aus der Nase gezogen und die Dukaten aus dem Sack für deinen Doktorgradus! Wirst bald das Hasenpanier ergreifen, nichts wagen, nichts aufs Spiel setzen –! Das sei ferne von mir –! Ein Arzt muß sein ein freier Mann, wie auf meinem Sigill zu lesen steht: »Wer seines zu sein weiß, der sei keines Andern!« Der Glaube eines Medici an Gott, als welcher sich im Arcanum offenbart, muß sein, fest, sicher wie wandelnd auf dem Meer, nicht aber der Glaube an Galen und Avicenna und Talmud. »Paulus schlenkerte die Otter ins Feuer und ihm widerfuhr nichts Übles.« Heißet: Sei tapfer in deinen Medikamenten! Eure Occo und Jung dahier hätten die Otter, so an Pauli Hand hängen blieben und ihm schon das tödlich Gift ins Blut einließ, erst lange beschworen mit Abrafax, heiliger Hippokrates Abrafax, heiliger Galenus! Dann am dritten mit Abrafax, heiliger Celsus! Paracelsus sagt: Schlenkre sie von dir! Drum trägt er ein Schwert und – seinen Doktorhut nur wenn's regnet.«

Die humorale Ideenassoziation, mit der die Rede des Doktors geschlossen hatte, bestimmte ihn, sich mit dem vollen Rest des Bechers die vom Sprechen trocken gewordenen Lippen anzufrischen.

Es wiederholte sich jetzt die Szene, die seit einiger Zeit in der »Finstern Stube« allabendlich stattfand. Wenige der Gäste behielten noch ihre Plätze. Alles drängte in die enge Stube, die vom Qualm der Lampen, von den Ausdünstungen der Menschen, der Speisen und Getränke, welche sie zu sich nahmen, eine Luft zum Ersticken verbreitete. Man stand voll Bewunderung, die Scherze zwar belächelnd und doch gewonnen und gläubig! Ab und zu trug einer einen Schaden vor, für dessen Heilung Theophrast entweder sofort eine Antwort oder den Bescheid erteilte, man sollte sich zu näherer Untersuchung in seiner Behausung einfinden.

»Ich wohne,« sagte er »wie ich nicht durch einen Hanswursten an eurem Perlach brauche ausrufen zu lassen, – die zornigen Hähne, meine Kollegen (Dank der Ehre!) krähen's schon überall aus – ich wohne bei meinem würdigen Freunde hier, dem Bekenner meiner Lehre, Herrn Doktor Wolfgang Thalhausen. Wisset ihr, warum der gottesfürchtige Heide Sokrates, als ihm die Einwohner von Athen, die undankbaren blinden Heiden, gezwungen, den Giftbecher zu trinken, Befehl gegeben, dem Äsculapio, als der denen Heiden ihr medizinischer Götze gewesen, einen Hahn zu opfern? Zum Zeichen der Genesung! sprach der würdige Mann. Daß dies Leben hier auf Erden eine Krankheit, erst der Tod die ewige Gesundheit sei, hat auch oft genug unser allerheiligster Herr und Erlöser gepredigt und selbsten sein hochheilig Haupt nur um deswillen zum Sterben auf seine Schulter geneiget, um in himmlischer Auferstehung, mit verklärtem Leibe, wo gleichsam die Luft selbste ein Gewand antun wird seiner denn Seiden, fortzuleben bis zum jüngsten Tage, wo wir ihn erschauen werden in seiner Herrlichkeit. Einen Hahnen aber ließ Sokrates denen Ärzten deshalb opfern, weil der Hahn, wie der Franzosen, so der Ärzte Spottzeichen ist. Schau doch einer einen solchen Tyrannen des Hühnerhofes an, wie er da so pluderhosig und breitbeinig unter seinen Hennelein schreitet! Rot ist sein Kamm, hat Sporen an den Füßen, blähet sich auf, leidet nimmer, daß ein Körnlein auch einmal an ein ander Hühnlein komme, als an das, so er gerade jetzund seiner Gnaden würdiget. Das ist der Franzosen Art, weshalb sie auch Gallier, d. h. Hähne, Streit-, Zank-, Kollerhähne genennet wurden schon zu der Römer Zeiten. Und eben, solch anmaßlich, herrschsüchtig, sporenbeinig, aufgeplustert, kollrig, hochnäsig Federvolk sind die galenischen Doktores und lateinischen Medicaster, die patentierten Versorger der Friedhöfe, die guten Gevattern der Leichenwaschweiber, die Seelhausfuhrwerker mit der langen schwarzen Peitschen des Todes. Drum sagte Ehrn Sokrates: Opfert Äsculapio einen Hahn! Heißet: Opfert ihm für meine Genesung einen graduierten hippokratischen, in Ferrara oder Salerno mit dem achtfach gebrochenen Hut versehenen Doktor, am liebsten einen fürstlichen Leibmedicum! O, ihr Männer von Augsburg, ich sage euch, kümmert euch nicht um die scharfen Krallen dieser Hähne Occo, Jung, Sailer, Gasser und Dieffenbach! Kommt zu mir und lasset mich eure Gebresten erschauen! Das hab' ich schon gesehen, auch ganz besondere Augsburger Übel gibts, die nur hier zu Land wuchern. Denn jed' Land hat seine eignen Krankheiten. Jed' Land hat auch seine eigne Heilart, was in Engelland hilft, hilft nicht in Pohland. Aber um eins muß ich doch bitten: Lasset uns jetzt etwas von frischer Luft zukommen, ihr Leute! Frische Luft ist der Limbus aller geschaffenen Dinge, der Samenbehälter Sanitatis, auch der fröhlichen Unterhaltung! Jagt jetzt einmal auf euren Fährten und lasset uns die unsrigen, wenn wir euch auch feierlich versprechen, nicht miteinander Latein reden zu wollen!«

Die Gäste gingen an ihre Plätze zurück, wußten sie doch, daß es nicht lange währen würde, bis wieder eine laute Rede des Doktors ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde und wohl auch – ziehen sollte. Theophrast hatte das Bedürfnis, einen Kranz von Hörern um sich zu haben.

Schon lange hatte Cyriax, der nun endlich gekommen war, seinem Kollegen gewinkt und ihn am Ärmel gezupft, er sollte aus der Gelehrtenstube hinaus in den Weberschaumeisterwinkel kommen; dort ging es ehrbarer zu. Ottheinrich hatte ihn zu schweigen bedeutet, denn eben brande sich Theophrast an Matthias Grenitzer.

»Alter,« begann der Arzt, »ihr habt es hundert Lachter tief unter der Erde gesehen, die Welt ist noch nicht fertig geschaffen. Alle Tage wird sie neu geboren, ergänzt und verjüngt. Feuer brennt und Wasser siedet im inneren Erdkessel zu jeder Stunde, wer weiß, was da noch alles kommen wird. Aber mehr braucht's auch im Laborantenturm nicht, um das so heißersehnte Gold zu machen. Macht nur die Mischung wie die Natur und ihr habt's. Was kann der Mensch nicht noch zustande bringen –! Da denk' ich immer – es ist ein Beispiel nur – nehmt ein Hühnerei, legt's euch unterm Arm in die warme Achselhöhle, wachet und schlafet damit und in dreißig Tagen habt ihr ein Küchlein zur Welt gebracht. Es ist ein Beispiel für der Engel Geduld. So muß der Naturkundige forschen, so subtil und leise gehen und Gottes Atemzüge belauschen wollen. Ein Ruck – und er zerbricht's Ei. Dreißig Tage aber Demut und das Küchlein ist da. Das Eierbrüten unterm Arm – das ist der Anfang aller Erfindung. Der Mensch, der da lebt, als trüg' er ein Ei unterm Arm, wird sittsam, still, frumm, andächtig, grad' so geschickt, wie wer ein groß Staatsgeheimnis abzuwarten hat. Euer junger Freund da vom Hohenschwangauer Land – das scheint mir einer, der so ein Ei unterm Arm brütet –! Wo seid ihr her?«

»Von Bamberg –!« antwortete Ottheinrich hocherrötend. »Eures Zeichens –?«

»Kaufmann –«

»Goldmacher also! Und – gesund wie ein Fisch?«

»Gott sei Preis und Dank!«

»Sorgt dann nur immer für den Archäus, dann werdet ihr's auch bleiben,« nickte Theophrast, »und werdet nie nicht in die Hände der galenischen Papisten kommen oder in die der noch lateinischeren Apotheker – lateinisch sag' ich, wenn sie auch manchmal die Rezepte nicht lesen können! Der Archäus muß dem Menschen allzeit sagen: wer weiß, Gott macht einmal eine Ausnahme von der Regel und lasset dich nicht sterben, wie er den Schuster von Jerusalem damals, den Ahasver, nicht hat sterben lassen! Der Archäus, zu wissen, ist der Vizeregent im Menschen, thronet nicht zu Häupten, sondern im Magen, von welchem aus unser gesamt Gebäu seinen Halt hat. Alles gehorchet ihm, jeder Atemzug, jed Bluttröpfli ist dem Archäo Untertan. Könnte Archäus herfürtreten, so wäre er bei denen Gesunden ein schöner herrlicher Jüngling, anzuschauen schier wie ein Engel, ernst und milde zugleich, wie Sankt Michael und ohne sein Schwert. Ist aber der Mensch krank, wehe, dann leidet Archäus –! Da aber Archäus ein Vize-Roi für Gott und fast stark ist, so streitet er, ringt wie ein Kunstfechter, legt sich aus und stößt mit seinem »Dussek« nach rechts und links, hat auch, wie die Krankheit, einen Decksal vorm Antlitz, irret und necket den Arzt und den Kranken ebenso wie die Krankheit – Archäus kann in Wahrheit kein Sklave oder Bettler oder Überwundener werden, stirbt der Mensch, so entfleucht Archäus wie ein klein Vöglein, zwitschert noch lieblich ein Sterbelied auf den erblassenden Lippen des Menschen, in dem er seither gethronet, und steigt empor zu unser aller himmlischem Vater!«

In seltsamer Übereinstimmung mit dem Eindruck, den die letzten Worte des Doktors hervorgebracht hatten, fand sich noch trotz nunmehr schon ziemlich vorgerückter Stunde ein Gast ein, der ein Bild des soeben geschilderten Todes zu sein schien. Alle entsetzten sich vor einem Anblick, der in der Tat den Archäus wie auf den Lippen eines Sterbenden erblicken ließ, schon am Eingang in die überheiß gewordenen qualmigen Räume hatte man dem späten Ankömmling, aus Schrecken über sein Aussehen, Platz gemacht. Niemand kannte ihn. Er fand sich in der Örtlichkeit von selbst zurecht. Ohne weiteres schlug er den Weg in die hintere Kammer ein, wo er in dem Augenblick eintrat, als sich die ringsum stehenden, den Gesprächen neugierig Zuhorchenden zurückzuziehen im Begriff waren, gerührt von dem eben vorgeführten Bilde des Todes, das sogar Rhodomantis fürs erste nicht zu verzerren wagte.

Der Ankömmling sah ärmlich aus. Eine Pelzkappe bedeckte den langen, hagern, von der Gicht krumm gezogenen Körper. Unwillkürlich mußte man vor ihm ausweichen, entsetzt über das Elend eines solchen Befindens. Die Augen des Kranken, der an Jahren noch keineswegs ein Greis zu sein schien, funkelten unheimlich umirrend in tiefliegenden schwarzen Höhlen. Auf den Knochen seines Körpers schien nur noch wenig dürres Fleisch zu haften, während die Hände von Gichtknoten entstellt waren. Graue, hier und da geflickte Kleider hingen über dem Skelet, dessen Erscheinen um so unheimlicher wirkte, als nicht ein einziger Laut über die Lippen des knochigen Antlitzes kam, während sich die Grauengestalt ziemlich sicher und entschlossen bewegte.

Nur ein schmal Plätzchen noch fand sich auf derselben Bank, wo Ottheinrich neben dem alten Obersteiger saß. Mit der ihm eigenen Freundlichkeit rückte Ottheinrich sofort zur Seite. Obschon er selbst sich kaum vor Beengung noch rühren konnte, gewährte er doch dem Ankömmling einen Platz, den dieser auch sofort ohne ein Wort des Dankes angenommen hatte. Ein Ausstrecken seiner dürren Hand und ein heftiges Aufklopfen mit seiner Krücke sollte den Wunsch um die Anschaffung eines erquickenden Trunkes bedeuten.

Als man diesen gebracht hatte, schlürfte der Gichtbrüchige nur gleichsam den Duft des Weines ein, verschnaufte allmählich von seinem anstrengenden Gang und ließ erst dann unter den langen weißen Wimpern seiner Augen unheimlich forschende Blicke im Kreise umgehen.

»Ihr suchet wohl den berühmten Arzt Theophrastus?« begann Doktor Wolfgang Thalhausen. »Habt ihr die Gicht, so wird er euch bald sagen, ob sie euch nach außen dringe oder eher geneigt sei, auf die inneren Teile zu schlagen!«

Der Angeredete erwiderte nichts, sondern betrachtete nur den ihm gerade gegenübersitzenden Rhodomantis, der ihm äußerlich am meisten aufzufallen schien.

»Die Gesunden bedürfen nicht des Arztes, nur die Kranken!« sagte Theophrast ironisch. Seine mit dem Tatbestand in grellem Widerspruch stehenden Worte, die Lachen erregen mußten, straften die Nichtachtung, welche ihm der Leidende zu schenken schien.

Indem rechnete der Wirt mit dem Unbekannten, der schon bezahlen zu wollen schien. Es fehlte seinem Beutel nicht an Füllung. Dies zu zeigen schien seine nächste Absicht zu sein.

Cyriax, der sich mit denen, die dem Unbekannten gefolgt waren, wieder an Ottheinrichs Seite gestellt hatte, flüsterte letzterem zu:

»Wüßt' ich nicht, daß wir schon ein Jahrtausend und ein halbes über die Offenbarung Johannis hinaus und nicht mehr im Neuen Testament stäken, so möcht' ich glauben, das müßte der Lazarus sein, just, wie er von den Toten auferwecket worden. Spürt's denn ihr nicht auch? Oder ist's nur meiner Nasen so, als ginge ein seltsamer Geruch daher und nicht eben nach Spezereien und Narden. Lasset doch endlich, ich bitt' euch, die Weisen Griechenlands und kommt zu den Weberschaumeistern! Sie erzählen vom Tanzhaus –! Alle Zünfte will Königin Maria sehen und die Schneider zumal –! Um einen guten Platz zum Zuschauen könnte uns ihre neue Majestät die Martina eine Gnade verwilligen –«

»Lasset mich den Tod sein, junger Bursche, ja, den lebendigen,« unterbrach ihn der Unbekannte, der Cyriax' Rede erlauscht hatte. »Meine Fiedel hat hellen Klang! Konnte einst Königin und Kaisern zum Tanz aufspielen! Daß ich da in die »Finstre Stuben« gekommen bin, ist meine Gewöhnung ans Dunkel schuld! O wohl! wohl! Sieben Schuhe tief im Erdreich hab' ich schon gelegen. Aber ich komme noch um zween andere Gründe. Will wissen, wie der Wind in der Welt bläst. Das erlausch' ich wohl hier. Item möcht' ich den Mann sehen, der das Kraut für den Tod gefunden hat. Seid ihr der Hohenheimer? Nun, Doktor, macht mir hier die Hand wieder gelenk, den Fuß geschmeidig, biegt mir den Rücken gerade!«

Damit hatte er endlich Theophrast angeredet, war aufgestanden und hatte sogar den Beutel dazu gezogen.

Theophrast winkte ihm, näher zu kommen. Aus den Umgebungen des Doktors sprangen einige hinzu und führten den Kranken. Theophrast streckte die Hand aus, betastete die vornehmsten Körperteile des Gebrechlichen, fühlte seinen Puls und sah ihm einige Zeit ins Auge.

»Seid trocknen Humoris!« begann er, während alles gespannt aufhorchte, »Schier das ein Wunder –! Denn eure Krankheit geht gemeiniglich ins Wasser. Dessen dürft ihr froh sein. Aber der Tartarus, wo selbiger nicht im Wasser den Abzug hat, ist leider um so höllischer in der Pein. Tartarus sag' ich aus Kunst. Es soll niemanden drum bestimmen, zu glauben, der Mann hier käme aus der Höllen, Tartaro. Luther und der Papst, beide, also vernehme ich, sind an gleicher Krankheit siech, beide haben tartarische Krankheiten, brennende, sengende, feuerverwandte. Nun, so höret! Da ist euch gut, Mann, daß ihr reiset in ein Bad –! Nicht das Bad zu Pfäffers, wohin ich, wie die Doktoren hier sagen, meine Patienten schicke, weil mir der Abt von Pfäffers Gutes getan habe –! Nein, Mann, ihr müsset nach Sankt Moritzen im Engadin. Dorten findet ihr euern Teich Bethesdam! Aber nur Mense Augusto. Hört ihr – zu sankt Moritz im Engadin – mense Augusto –!?«

Der Kranke lachte bitter auf.

»Was lacht ihr –?« fragte Theophrast.

»An euerm Teich zu Sankt Moritz hab' ich mein Lebtag oft schon gesessen und dorten den besten Valtelliner getrunken und soll nun dorten das höllische Wasser saufen –?«

»Kennt also schon den Ort? Um so besser,« sprach Theophrast. »Daß ihr aber bis dahin überhaupt noch am Leben seid und Kraft genug behaltet, die harte Reise zu machen, so geb' ich euch zur Stunde zwei Dinge – ein »ewig Rezept« und hier noch pillulas tres –«

Oporin riß bereits aus seinem Schreibbüchlein, das er unentwegt neben sich liegen hatte, um auffallende Äußerungen des Doktors aufzuschreiben, ein Blättlein, reichte Theophrast eine Metallfeder – damals schon gab es solche – die dieser nach einem laut gesprochenen Recipe (der größte Teil der Umstehenden hielt das lateinische Wort für eine Beschwörungsformel) ansetzte, um eine Arznei aufzuschreiben, die sich der Kranke so oft sollte machen lassen, als er für sein Befinden die Notwendigkeit einer Erleichterung verspüren würde. Dann zog er aus einer an seinem Schwertgehänge befestigten Tasche ein Büchslein, öffnete solches und entnahm ihm einige Pillen, die er in einen Streifen Papier wickelte.

»Sofort aber nehmet hier die drei Körner –!« sagte er. »Davon genießet heute abend eines, übermorgen – am Abend – wieder eines und abends den nächsten fünften Tag das letzte. Archäus darf aber nicht unhold sein. Will sagen: Müßt vorher leidlich gegessen han!«

Der Gichtbrüchige nickte und nahm Pillen und Rezept. Dann zog er wiederholt seinen Geldbeutel.

»Das lasset nur!« bedeutete ihm Theophrast. »Die Reise nach Sankt Moritzen kostet drei Batzen und noch einige Heller darüber. Zahlet – mit eurer Person! Schenkt uns die Ehre, zu vernehmen, von wannen ihr seid und von welchem Turm ihr vorhin gesprochen habt –! Es gibt viel Türme und nicht in jedem möcht' ich zu Keller wohnen.«

Als sich der Unbekannte auf seinen Sitz zurückbegeben hatte (Ottheinrich hörte den alten Steiger flüstern: »Es war sein berufen Laudanum – schon in Tirol tat er damit Wunder –!«) begann er:

»Habt ihr mir wirklich geholfen, Doktor, so sollt ihr Professor werden an einer der Universitäten, so ich noch einst in deutschen Landen zu stiften vorhabe! Wasserbeschauer der Fürsten und Minister, will sagen ihrer Ingenien, muß es geben! Lehrer des Rechts der heiligen Volksfeme sollen noch kommen! Juristen müssen uns werden, so einen Prozeß, der am Reichskammergericht alt geworden wie schimmelig Brot, in einer einzigen Mondnacht erledigen – alle drei Instanzen, vom Schwur auf den Totenkopf bis zum Hängen am nächsten grünen Lindenbaum, abgemacht von Mitternacht bis zum Hahnenschrei! Lehrer sollten wir gewinnen für die Bauern, um baß die Pflugschar zu schärfen, da der Acker denn doch jetzt der Tyrannei dreimal zehnten soll! Aber schaffet dann auch eine neue Welt in allem, bessere Erziehung, bessere Schulen, Ordnung und Polizei auf dem Lande. Zum mindesten bauet Straßen, wo kleine Kindlein ihres Vaters Kram mit einem Ziegenbock von Nürnberg auf die Frankfurter Messen fahren können, nicht mehr nötig haben, für jeden Pfeffersack von Stadt zu Stadt drei Geharnischte zum Geleit zu nehmen oder solche zu zahlen. Das kann nur kommen, wenn auch in die Menschen ein neu Saatkorn gelegt wird, auf hohen Schulen der Boden umgeackert, solche Schulen der Weisheit und Vernunft sollten unsere Fürsten stiften. Tun es aber die nicht, so muß es der Bürger tun –! Vor elf Jahren haben's die Bauern wollen. Wie's da ergangen, wissen wir ja wohl alle –!«

Düster war der Ton, mit dem der Fremde den Namen der Bauern ausgesprochen hatte und über den Rücken manches der Hörer lief ein eiskalter Schrecken, vor elf Jahren hatte man ebenso in Deutschland gesprochen und Galgen und Rad hatten die Antwort gegeben.

Während dieser Reden hatte sich des alten Obersteigers eine Unruhe bemächtigt. Er blickte ab und zu und immer erregter auf den Eingang der engeren Kemenate. So sehr sich die Zuhörer bemühten, an den Stellen, wo sie einmal standen, ihren Platz zu behaupten, so trieb sie doch zuweilen die bewegliche Geschäftigkeit des Wirts und der bedienenden Zapfjungen auseinander.

Als Theophrast, der zu den jetzt entsponnenen Unterhaltungen nachdenklich geschwiegen hatte, wieder zu reden begann und anfing, in seiner weise, allen Dingen auf den Grund gehend, Ursprung und Teilung der Weltläufte in gesunde und kranke zu schildern, letzteres mit der von ihm ausdrücklich hervorgehobenen Einschränkung, daß es ihm nicht beikommen könnte, hier die Geheimnisse, die sein Geist auch nach dieser Richtung hin im Haupte bewahrte, wie die Perlen vor die Säue zu werfen – je mehr er trank, desto mehr schien sich die Höhe seines Selbstbewußtseins zu steigern – flüsterte Matthias Grenitzer:

»Seht die Gesichter dort –! Den kleinen Kerl mit dem Kehlmarder an der Kappen, das Spitzbäuchle – hinter ihm den andern, den Langen –!«

Und ehe nun noch Ottheinrich der Aufforderung des Alten gefolgt war und sich auf die Worte, die ihn überraschen mußten: »Bock und Böhme, die Kammergrafen find's –!« nach den bezeichneten Männern, um sie sich aus dem Durcheinander herauszusuchen, umgewandt hatte, vernahm man am Eingang vom Haustor her eine mächtige und nachdrücklich befehlende Stimme, die den Ruf erschallen ließ:

»Kehraus für heute, ihr Herren! Feierabend sei's! Aber harrt noch eine Weile! Niemand gehe aus noch ein! Uns aber lasset den weg frei –«

Man hörte das mächtige Aufstoßen von Partisanen. Mit dröhnendem Schritt näherten sich Bewaffnete. Der laute Sprecher konnte nur Stoffel Sorge sein, der Führer der Stadtwache.

Die letzte Wirtshausstunde, die ohne Strafe gestattet wurde, war vorüber. Man nahm es sonst mit der Befolgung der gesetzlichen Vorschriften in diesem Punkte nicht allzu genau, seit einigen Tagen jedoch befolgte man die Vorschriften mit größerer Strenge.

Da aber doch der Polizeischluß hier in der »Finstern Stube« seit lange heute zum ersten Male wieder vorkam, so glaubten anfangs die Freunde des Paracelsus an einen dem Doktor von seinen Gegnern gestellten Hinterhalt, vielleicht sollte es vor Deutschland den Namen haben, daß man den Mann, der ein Reformator der Arzneikunst sein wollte, zu Augsburg in einer Schenke verhaftet und für eine Nacht ins »Narrenhäusle«, die gewöhnliche Unterkunft nächtlicher Augsburger Ruhestörer, versetzt hätte.

Daraufhin sprang Thalhausen entschlossen vor, Oporin zog seinen Degen. Man versperrte den Eingang zum Kämmerchen.

Inzwischen riefen die beiden vom alten Obersteiger erkannten Abenteurer, auf den Gichtbrüchigen deutend und die Umstehenden anredend:

»Lasset! Lasset! Das ist er, den wir suchen! Den nur lasset vor!«

Der Gichtbrüchige hatte sich erhoben. Mit gekrümmten Händen hielt er sich an seinem Krückstock und einer Tischecke fest, unentschlossen, was ihm hier die gänzliche Nichtbeherrschung seines Körpers anraten, was er in seiner Ohnmacht wagen und beginnen sollte, seine Augen funkelten wie die einer gehetzten Katze, die keinen Ausweg finden kann und nur mit gekrümmtem Rücken, mit borstig aufstrebendem Haar ihren Gegner anstarrt.

»Flieht in die Freiung von Sankt Ulrich!« riefen dem Gichtbrüchigen, dem Verhaftung zu drohen schien, einige zu.

Beim Anblick der beiden Angeber verlor der Kranke, dem sich so viel Mitleid und Teilnahme zugewandt hatte, alle Besinnung. Er starrte die frechen Männer mit aufgerissenen Augen an, ballte die ins Zittern geratenen Hände und hob seinen Stock mit solcher Wut gegen die Helfershelfer der Häscher auf, daß ihm Cyriax und Ottheinrich in die Arme fielen.

Die von ihm Bedrohten griffen nach langen Messern, die in ihren Gürteln staken.

Inzwischen hatte sich Stoffel Sorge Bahn gebrochen und die Hand nach dem Mann ausgestreckt, den er in der Tat gefangen zu nehmen gekommen war.

Noch einmal sammelte der Gichtbrüchige seine letzte Kraft, um wenigstens reden zu können. In heftigen, unartikulierten Tönen, in unverbundenen Sätzen stieß er Verwünschungen über seine Angeber aus, die inzwischen vor einem höhnischen Grüß Gott hiezuland –! des alten Obersteigers verlegen zurückgewichen waren.

»Ihr Buben,« rief der Kranke, »lebt ihr auch noch in dieser schlechten Welt? Liegt nicht schon längst in einem höllischen Schacht vergraben? Hängt nicht verfault an einem guten Galgen, zur Freude der Raben und Hunde?«

Seine Verwünschungen verhallten in den vorderen Räumen, wohin ihn mit leichter Mühe die Bewaffneten gezerrt hatten. In den Hof wurde er hinausgeführt, dort umringt und sofort in die nahe gelegenen »Eisen« gebracht.

Die Angeber waren sofort verschwunden.

»Diese Gauner hier in Augsburg!« sagte der Obersteiger erstaunt. »Hat sie die Nähe der Königin angelockt, deren ergrimmteste Feinde sie gewesen! Haben sie sich ihr ausgesöhnt? Wem dienen sie? Dem Rat der Stadt! Das mag ich zur Ehre Augsburgs nicht glauben. Lasset uns gehen! wo solche Buben stecken, in der Luft kann einem nicht mehr wohl werden –«

Niemand wußte Auskunft zu geben, wer der Verhaftete war.

Die Gäste hatten sich verzogen.

Ottheinrich war von dem Kreise, in dem er mit einer mächtigen Anregung für seinen so lebhaften Bildungseifer verweilt hatte, durch den Tumult abgekommen und suchte nach Cyriax. Als er diesen nicht fand, hielt er sich an den alten Bergmann, der den Empfindungen, die ihm das wiedersehen der so übelberufenen und in alle Händel verwickelten Abenteurer verursachte, den lebhaftesten Ausdruck gab. Die Fragen, die Ottheinrich gern noch dem Doktor vorgelegt hätte über den Wächter des Klinkerturms, den Inhalt der Blechmulde, die des Henkers Frau ihrem Gast vorgezeigt hatte, konnten nun nicht mehr, wie beabsichtigt, von ihm gestellt und von Theophrast erledigt werden.

Wenn hierauf der Alte mehrfach die Äußerung wiederholte, daß überall, wo jene, nur durch ihre gleiche Schlechtigkeit freundschaftlich verbundenen Männer, Bock und Böhme, auftauchten, Unglück und Verderben hereinbrächen, so schien sich die Prophezeiung schon zu erfüllen. Denn kaum hatten er und Ottheinrich begonnen, sich über die Aufträge zu verständigen, die der alte Obersteiger auf die morgen in der Frühe anberaumte Weiterreise in den Fuggerschen Ställen vorfinden würde, als sie zu bemerken glaubten, daß sich die bereits nachtstill gewordenen Straßen zu beleben anfingen. Nicht lange währte es, da erscholl vom Perlachturm die Sturmglocke. In ängstlicher Eile antworteten kleinere Glocken von den Stadttoren. Die Fenster der Häuser öffneten sich, Burschen rannten vorüber. Ein heller Schein blitzte am dunkeln Himmel auf.

Es war eine Feuersbrunst ausgebrochen.

Jetzt sprengte der Stadtvogt Herr Ludwig Spinner in voller Rüstung an ihnen vorüber, von Reisigen begleitet. Alle Häuser wurden lebendig. Eine wohlbedachte Feuerordnung bot zum Löschen die Mithilfe der ganzen Stadt auf; jeder Bürger mußte sich am Kampf gegen die Verheerungen des Elements persönlich beteiligen.

Als der Feuerschein immer röter, die Gefahr durch einen heftig wehenden Wind bedenklicher zu werden begann, nahm Ottheinrich von dem Alten herzlichen Abschied, umarmte ihn mit dem Versprechen, daß er oft für ihn beten und Gott um ein frohes Wiedersehen anflehen würde, und wandte sich der Gegend zu, wohin die Menschen in stürmischer Eile drängten, als inzwischen bekannt geworden war, daß es am Klinkertor brannte.

Besinnungslos schlug Ottheinrich den Weg zum Dom ein. Hier war die Straße breit genug, um ihm in dem Menschengewühl zur schnellsten Beschleunigung seiner Schritte Platz zu lassen.

Doch am inneren Tor zu Unserer Lieben Frauen stopfte sich die Menge wieder. Nur noch mit Mühe konnte Ottheinrich durch die nächste Straße hindurch bis zum Eck der langen Gasse gelangen, von wo, an der Heuwage vorüber, auf die schon zu aller Entsetzen die Funken flogen, der Klinkerturm selbst in lichtem Brand gesehen werden konnte.

Ottheinrich stand anfangs wie erstarrt vor Schrecken. Dann riß er sich auf und wollte hindurch. Bewaffnete Bürger bildeten eine Kette, die jeden zurückhielt, der nicht am Löschen beteiligt war. Der Heumarkt, der Katzenstadel, das Zeughaus, das ganze Stadtviertel sah der größten Gefahr entgegen.

Ottheinrich erblickte den Turm, wo heute in der Dämmerung schon allein der Schimmer einer Lampe den Henker in die größte Unruhe versetzt hatte, in hellen Flammen. Das Gefängnis Moritz Hausners ging nach den Wällen und zur Zugbrücke hinaus. Mit bebenden Lippen fragte er wiederholt nach den Gefangenen und schärfte sein Auge, um irgend etwas zu entdecken. Die einen wollten das Schreien der Gefangenen gehört haben, andere solches aber hören; wieder andere versicherten, sie wären sämtlich beim ersten Lärm unter Bewachung in den Turm zum Luginsland abgeführt worden.

Wie war das Feuer ausgebrochen? Sollte Ottheinrich annehmen, daß den Knaben selbst die Schuld der Brandstiftung traf –?

Totenstill blickte die Menge. Der Ruf einzelner Lenker der Löschanstalten scholl mit grauenhafter Bestimmtheit und jeden an die Stelle bannend, wo er stand, durch die Straßen hin- und herüber.

»Laßt mich hindurch!« rief Ottheinrich. »Ich habe Freunde im Turm –!«

Da sah ihn alles mit Befremden an. Freunde im Turm? Unter den Gaunern und Abenteurern? Freunde im Hause des Henkers und seiner Knechte? Noch schien das Haus des letzteren vom Feuer nicht ergriffen. Nur die wohlbekannte hünenhafte Gestalt des Henkers selbst sah man, der mit offener Brust und in Hemdärmeln, wie sonst auf dem Schafott, so im Flammenschein hin- und wiederlief. Seine Knechte und Mägde schleppten Kasten aus dem Hause, deren Inhalt auf Gold und Silber gedeutet wurde. Das Volk fing an zu murren. Jetzt wurde die Absperrung um so dringender geboten. Man wies Ottheinrich zurück.

Verhindert, in das Entsetzliche helfend einzugreifen, auch unvermögend, vor Ermüdung sich noch länger aufrecht zu erhalten, überbürdet von den Eindrücken des ereignisreichen Tages, wandte sich zuletzt Ottheinrich, jede Hoffnung aufgebend, dem Heimwege zu.

Grauenhafte Bilder gaukelten vor seinem Auge. Er sah die brennende Fackel der Pflegemutter des Knaben wieder, die ihn schon einmal im Traum beängstigt hatte. Er sah den Teufel selbst dem Knaben zu Hilfe kommen – hörte das Lachen der höllischen Dämonen, denen ihm der unheimliche Knabe ohnehin so nahe verwandt schien.

Endlich gelangte er in die Nähe seiner Wohnung, wo der nicht endende Lärm der Trommeln und Sturmglocken jeden Schläfer, auch seine Hausgenossen, geweckt hatte. Sie kamen ihm händeringend und Gott dankend entgegen, daß wenigstens er, den man mit Angst vermißt hatte, endlich heimkehrte.


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