Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.

Als Ottheinrich am andern Morgen vom Lager sprang, sah er, daß die »Schwäbische Sturmfahne« schon lustig im Winde flatterte. Da rasselte es von Wagen und Rosseshufen. Dicht vor dem Wirtshause wurde Markt gehalten.

Schnell hatte er sich in minder auffallende Kleider geworfen als gestern und war hinuntergegangen in die allgemeine Trinkstube, wo man in den Gasthäusern die aus Bier, Eiern und Gewürzen bereitete Morgensuppe zu verzehren pflegte.

Bei den Italienern, die ein nicht minder ungeduldiges Verlangen trugen, aufzubrechen, erhielt er die Beruhigung, daß Vittoria und der Knabe aufs beste geruht hätten und bereits zur Reise gerüstet wären.

Es überraschte ihn zu hören, daß sich die Künstler entschlossen hatten, den Knaben, wenn sie in Augsburg Arbeit fänden, ganz zu sich zu nehmen. Er entgegnete ihnen, daß er selbst mancherlei Ursache hätte den Knaben nicht aus dem Auge zu verlieren. Wollte dieser in Augsburg ihr Handwerk lernen, so wär's ihm recht, einstweilen aber müßte er so beschließen: Hielten die Reisenden mit ihm selbst, der heute abend bestimmt in Augsburg eintreffen müßte, gleichen Schritt, so könnte der Knabe während der Reise bei Vittoria bleiben. Gingen sie ihm aber zu langsam, so müßte er den Knaben über den Sattel nehmen und die Reise mit ihm allein zurücklegen. Auf alle Fälle, gab er ihnen zu bedenken, würden sie als Fremdlinge gut tun, hierin seinen Anordnungen zu folgen. Ihnen könnten, da sie ohnehin der Landessprache unkundig wären, etwaige Nachforschungen Unannehmlichkeiten bereiten. Doch möchten sie dem Knaben selbst hierüber keine nähere Andeutung geben.

Alle versprachen zu handeln, wie er wünschte. Nur Luigi Costa schlich mit hämischen Seitenblicken zur Seite.

Zunächst mußte Ottheinrich das eine abzuwenden suchen, daß nicht Johannes wieder beim Anblick Vittarias seinen gestern gefaßten guten Vorsätzen untreu wurde und die ihm vorgeschriebene Reise nach Füssen aufgab.

Johannes war schon angekleidet und reisefertig.

Sein erstes Wort galt Vittoria und dem Knaben.

Letzterer, der im Wirtshause glücklicherweise keine Nachfrage, keine Neugier erregt hatte, ließ sich in seiner halb weiblichen seinen Ordensrock verdeckenden Tracht, ganz wohlgemut und sorglos sehen. Hier in diesem Menschengedränge schienen ihn weder die Steingadener Mönche noch die schöne Liesel von Buchloe zu beunruhigen.

Schon die siebente Stunde hatte geschlagen, als endlich auch Vittoria inmitten eines Durcheinanders von Karren und Wagen erschien. In ihrem Wesen verriet nicht das leiseste Zeichen, daß ihr gestriges Mandolinenspiel etwa die Absicht gehabt haben konnte, die fremden jungen Männer zu bestricken.

Der junge Paumgartner beobachtete sie daraufhin eine Weile mit spähendem Blick, ohne sie anzureden. Er weidete sich an ihrem Anblick.

Dann trat er ihr näher. Seine aufgeregte Weise hatte ihn verlassen. Er zog sein Barett mit weltmännischem, seiner schlanken Figur wohl anstehendem Benehmen und fragte sie, was sie nun wohl, wenn sie, wie er gehört, eine berühmte Bildhauerin wäre, hoffen möchte in Augsburg schaffen zu können? Welche Statue? Etwa den Gott Merkur mit einem Geldbeutel in der Hand? Das wäre in Augsburg die beliebteste unter den alten Gottheiten, nächst dem kämen Bacchus und Venus. Für den Begleiter der Liebesgöttin, Gott Amor – fügte er mit einem Seitenblick auf den Klosterflüchtling hinzu – wäre der Knabe, den er um den Schutz beneide, den sie ihm gewähre, als Modell nicht hübsch genug.

Vittoria lächelte und sagte, die Stadt Augsburg wäre, wie sie gehört, ganz in die Hände der Ketzer gefallen, vielleicht würde man aber doch noch christlich genug denken, um ihr Gelegenheit zu geben, mit ihrer Kunst, wie sie in Italien gewohnt, der Kirche, Gott und seinen Heiligen zu dienen.

»Bei Leichenmonumenten!« entgegnete Johannes. »Das ist eine traurige Anwendung eurer Kunst, selbst wenn ihr für Antoni Fugger arbeiten solltet, wird er eine Verzierung des Grabmals bei euch bestellen, das er seinem Bruder Raymundo zu erbauen verpflichtet ist. In diesem Fall rate ich euch, den blinden Gott des Reichtums, Plutus, zu meißeln, den die Göttin der Gärten, Flora, an der einen und Pan an der andern Hand führen. Raymunds größtes Verdienst um Augsburg waren die schönen Gärten, die er angelegt hat.«

»Gott Pan darf nicht gehen –« sagte Vittoria.

»Nicht gehen –?« fiel Johannes ein. »Ihr meint, der müsse sitzen, um schön zu sein, müsse seine Füße verstecken, wie der Pfau oder der Schwan oder die Liebe, wenn sie aus dem Herzen in die Sinne gleitet – Ihr mögt recht haben! Also ihr denkt doch schon auf die Gruppe?«

»Ich will sie den Fuggern empfehlen!« sagte sie.

»Und wenn die Fugger nicht Wort halten, so erwarte ich, daß ihr euch meines Namens erinnert! Laßt ihn euch von meinem jungen Freunde nennen und öfters wiederholen! Mein Vater will bauen. Wir haben zwar keine so stolzen Paläste, Höfe und Gärten wie die Fugger, aber doch Raum und würdige Umgebung genug, um irgendeine Arbeit von eurer Hand so aufzustellen, daß unsere Nachkommen, als die deren Hüter, von eurer Unsterblichkeit für sich selbst Gewinn ziehen.«

»Daß ihr ein Verwandter der so reichen und großmütigen Fugger seid,« erwiderte Vittoria, »habe ich bereits gehört. Ich zweifle nicht, daß ihr auch die Mittel besitzt, meine eigenen bescheidenen Wünsche zu befriedigen. Aber mein eigenes Schicksal habe ich mit dem meiner Gefährten verbinden müssen. Finden diese keine Beschäftigung, so muß ich ihnen solche suchen helfen und mit ihnen weiterreisen.«

»Das verhüte der Himmel!« fiel Johannes ebenso verbindlich wie aufrichtig besorgt ein. »Augsburg ist eine große Stadt. In drei bis vier Tagen kann sich's noch nicht entschieden haben, ob ihr bei uns bleibt! Bis dahin bin ich wieder zurück und werde für euch alle eine Fessel finden, die euch halten soll. Darauf gebe ich euch meine Hand und küsse euere schönen, weichen – zarten –«

»Die Finger meiner Hand –?« fiel Vittoria lachend ein und entzog ihm ihre Hand, die er ergriffen hatte, um sie an seine Lippen zu drücken. »Meine Hand ist, wie ihr seht, so unförmlich wie die einer Magd!« fuhr sie fort. »Eine feine Kunst mag es euch scheinen, sich eine schöne Gestalt auszudenken, die man Gottes Werken an die Seite zu stellen wagt, aber eine herzlich grobe ist's, diese von früh bis abends mit dem Schlägel und dem Stemmeisen in der Hand ins Leben rufen!«

»In der Tat,« sagte Johannes errötend, »diese Hand hat die Muskelkraft des Willens! Könige treiben Domherrenarbeit, Götter tragen Schweiß an der Stirn. Oder glaubt ihr, daß Minerva den Gordischen Knoten durchhauen hätte, wie Alexander tat, der den Sinn des Orakels mit Gewalt treffen wollte? Nein! Minerva würde Band auf Band an dem schwierigen Werke gelöst haben, wie bewundere ich eine Künstlerin! So sein ganzes Leben und Denken in eine einzige große Mühe versenken!«

»Eine schöne und erhebende – doch nicht auch immer belohnende!« sagte Vittoria anfangs freudig, dann mit Trauer.

Johannes war im Begriff, von den Ringen zu sprechen, deren mehrere an Vittorias Fingern glänzten. Er kannte die Geschichte ihres Verlobungsrings nach Ottheinrichs Erzählung, seinen Versuch, den Ring, der dem armen ermordeten Tiroler gehört hatte, mit jenem zu vergleichen, den ihr ein Verräter hinterlassen, ohne ihn am Altar einzulösen, unterbrach ein ihnen zur Seite schnarrend hingeworfenes, trotziges Salute, Signora!

Es kam von Luigi Costa, der sich in die kleine Gruppe – auch Ottheinrich war hinzugetreten – drängte und zugleich seine rechte Hand mit unheimlicher Gebärde unter einem kurzen, von seiner linken Hand krampfhaft angezogenen Mantel verborgen hielt.

Diese Bewegung galt einem Dolche.

»Geht!« wandte sich Vittoria in unwilliger Entrüstung ab.

Mit verdoppelter Regsamkeit ging es an das Besteigen der Rosse.

»Warum nur erschrakt ihr gestern so vor mir?« fragte noch zuletzt Johannes, indem er noch einmal Vittoria, die ebenfalls einsteigen wollte, zurückhielt.

Sie betrachtete ihn mit prüfendem Blick, maß ihn von Kopf bis zu Fuß, lächelte und wollte nichts erwidern.

»Schärft euch meine Züge ein!« fuhr Johannes fort. »Ich lasse euch nicht! Ich werde euch dienen und wolltet ihr vor mir bis an die Säulen des Herkules entfliehen. Oder wollt ihr verschworen haben, je wieder an eines Mannes Treue zu glauben?«

Über diese Frage, die nun erst recht unbeantwortet blieb, wurde Vittoria von ihren Brüdern in ihren Karren gedrängt. Die Eile ersparte ihr die Erörterung einer Frage, die in ihrem Gemüt schmerzliche Saiten berührte.

Ottheinrich hob ihr den Knaben in den Karren nach.

Mit Ingrimm stand Luigi Costa an seinem mageren Klepper, sah und belauschte alles.

»Ich werde also mit meinem Hofnarren jetzt auf Füssen reiten müssen!« sagte Johannes zu Ottheinrich. »Fiele uns unterwegs ein hungriger Ritter an, ich würde wie einer, der Tod und Verderben sucht, um mich hauen –«

»Sorgt, daß alles gut werde!« entgegnete Ottheinrich.

»Grüßt die Ahne – und Gundula!« sagte Johannes, jetzt plötzlich lächelnd. Er half Ottheinrich aufsitzen und sah es noch, wie dieser errötete.

Bald hatte Ottheinrich den Zug der Italiener eingeholt.

Wieder mußte er erstaunen, plötzlich zu hören, daß der kleine Prämonstratenserflüchtling von den Italienern Moritz genannt wurde. Vittoria hatte ihm wenigstens das Geständnis seines Vornamens entlockt.

Es war schon zehn Uhr. Die Reisenden hatten einmal bereits gefüttert, hatten auch ihren mitgenommenen Vorräten an Eßwaren zugesprochen und mit Stroh umflochtene, wunderlich geformte Krüge im Kreise umgehen lassen. Moritz wurde veranlaßt, aus seinem Versteck hervorzukommen. Er verstand nicht, was Ottheinrich wiederholt über ihn mit den Italienern verhandelte. Ottheinrich unterstützte die Ansprüche, die er auf den Knaben machte, dadurch, daß er den Fremdlingen die

255 Mißlichkeiten vorstellte, die für sie eintreten könnten, wenn sich etwa eine Nachfrage nach dem Flüchtling einstellen sollte und sie den Schein gewinnen könnten, die Entweichung aus einem Kloster gefördert zu haben. Daraufhin machten sie abwehrende und dem Knaben abwinkende Mienen, worüber sich dieser aufs neue ängstigte.

Ottheinrich erklärte ihm, wovon die Rede war.

»Du wirst dich, wenn mir die Italiener zu langsam reisen, in Buchloe auf mein Roß setzen!« sagte er. »Wir kommen dann schneller zum Ziel!«

Als man hierauf wieder in Bewegung gekommen war, holte man eine Reihe von zwölf Lastwagen ein, die vor überschwere der Ladung auf dem zuweilen mitten durch die Sümpfe führenden Wege öfters stecken blieben und erst durch die äußerste Anstrengung der Fuhrleute wieder in Bewegung gebracht werden konnten.

Diese Wagen hatten sämtlich Kupfererz, Kupferschiefer und Kupferkies geladen.

Sie kamen aus Tirol, wo in Kitzbühl, Fiorozzo, Anzbach, Schwatz Fuggersche Kupferbergwerke lagen. Noch hatte man in Tirol keine guten »Seigerhütten«. Man konnte somit im Lande selbst das rohe, edle Kupfer, auch Silbermasse enthaltende Gestein nicht ausschmelzen. So mußte letzteres an Orte geführt werden, wo sich die zur ausscheidenden Schmelzung notwendigen Erze und Salze vorfanden. Von Ungarn, wo die Fugger ihr Kupfer in Neusohl gewannen, mußte das kupferhaltige Erz nach Krakau oder Schlesien geführt werden, wo unter Pochhämmern und in Schmelzhütten das reine Metall in Drahtfäden oder Rollplatten zutage gefördert wurde.

Dieser umständliche, höchst kostspielige Betrieb ging auf Fuggersche Rechnung und erforderte nächst den technischen Arbeitskräften ein vielverzweigtes Beamten- und Schreiberpersonal, an dessen Spitze Georg Hörmann zu Guttenberg stand.

»Diese Fugger sind die Könige der Welt!« rief Luzio de Spart. »Was ist ihnen gegenüber noch der Kaiser! Ihr Untertan! Wunder über Wunder! Diese Kaufleute können mit einem Federstrich Throne erheben und umstürzen, Kriege befehlen und Kriege untersagen! Alles steht bei ihrem Willen!«

»Evviva la Fuccaria!« riefen alle und grüßten die Bergleute mit geschwungenen Hüten und Mützen.

Auch Vittoria lehnte sich bewunderungsvoll aus ihrem Karren und zeigte dem Knaben die blinkenden Metalle, die dieser mit deutschen Namen bezeichnete.

»Es sind die Fugger nicht allein die Kronenträger der Erde!« sprach Ottheinrich. »Wir Kaufleute sind es allesamt. Es mögen die Fugger für einen so hohen Ruhm den ersten Namen haben, aber im Grunde ist es die gesamte Kaufmannschaft, der diese Ehre gebührt. Denn wir alle sind die Wohltäter und Erhalter der Staaten, die Beglücker christlicher und nunmehr auch schon heidnischer Nationen. Die Fugger wissen das gar wohl und haben trotz ihrer Grafenkrone Übermut zur Stunde von sich ferngehalten. Nur den nenne ich einen fürstlichen Kaufherrn, der sich zu dem Geringsten seiner Gilde leutselig herabzulassen vermag und sein Königreich nicht in seinem Reichtum erblickt, sondern in den Untertanen seines Königreichs, in den ihm mitverbundenen übrigen Kaufmännern. O, wir wissen allzumal sehr wohl, wie zerbrechlich unser Glück ist und wie im Grunde der Segen, den wir der Welt bringen, nur im Wecken ehrsamen Fleißes und mutiger Beharrlichkeit liegen kann. Und wolltet ihr auch lachen, ich sage euch, die Tapferkeit eines guten Kaufherrn nimmt es mit der Tapferkeit aller Kriegshelden auf! Denn scheint es wohl auch, als hockten wir meist wie die Hutzelmännlein hinter unsern Schreibtischen und wagten uns nicht von unseren Geldtruhen hervor, so haben wir doch in unserm Gemüt einen Mut, wie euerer geharnischten Kapitani nur irgendeiner.«

Ein alter Bergmann mit weißem, langem Barte, der auf einem der Wagen saß und offenbar eine bevorzugte Stellung von den übrigen teils fahrenden, teils zu Fuß gehenden Begleitern des Bergwerksegens einnahm, grüßte die Sprecher, deren italienisch geführte Rede ihm nicht unverständlich geblieben schienen. Er lächelte klug und sagte zu Ottheinrich in deutscher Sprache:

»Sah es doch gleich! Ihr seid ein Deutscher! Spracht da von den Fuggern. Seid ihnen doch nicht angehörig?«

Ottheinrich verneinte und forschte nach des Alten Herkunft.

»Ich bin aus dem Mährenlande, Herr,« lautete der Bescheid, »und habe schon vieler Herren Länder gesehen. Ob aber in Thüringen oder in Franken oder in Schlesien, Ungarn oder Welschtirol, wo ich gewesen bin, immer hab' ich sogleich den deutschen Landsmann erkannt!«

»So weit wandert ihr Bergleute?« fragte Ottheinrich erstaunt.

»Denkt ihr, wir hockten nur immer unter der Erde? Auch uns schleudert der Wind, wie er uns eben faßt! Ich bin ein Obersteiger und soviel gereist wegen meiner siebzig Jahre. Schon in meinen jungen Jahren wurde ich verschickt. Ich habe dreißig Jahre dem Grafen Alexis Thurzo von Bethlenvalva gedient, dem, wie ihr wohl wisset, die Bergwerke zu Neusohl und in der Zips gehören. Er hat sie nur an die Fugger, seine Schwäger, in Afterlehen gegeben. Ich heiße Matthias Grenitzer, Herr! Welsch hab' ich ein wenig im Ungarland gelernt!«

Inzwischen bewegten sich die Italiener schneller vorwärts als die schweren Lastwagen, so blieb Ottheinrich eine Strecke Zurück. Auch aus Vittorias Wagen plauderte der Knabe mit den Bergleuten und rief, als er von Ungarn hörte: »En Magyar wagyök«!

»Ein Ungarkind?« lachte der Alte, als Vittorias Karren an seinem Wagen vorüber war.

Ottheinrich fragte nach dem Sinn der von Moritz gesprochenen Worte.

»Ich bin ein Ungar!« erklärte der Alte.

Auf die Ausforschung des Knaben zurückzukommen, war fürs erste keine Gelegenheit. Daß hier ein Zufall so schon wieder den unheimlichen Findling aus dem Rückhalt, den er beobachten wollte, herauslockte, ergriff Ottheinrich mit nicht geringem Erstaunen. Wieder umstrahlte ihn jener Lichtglanz unmittelbarer Gottesnähe, an die ihn die stündliche Erfahrung zu glauben lehrte.

Ottheinrich sah soeben wieder Moritz den Kopf zum Karren herausstrecken und nach einigen Stücken des blinkenden Gesteins langen. Die Fuhrleute hatten ihm die schönsten Stücke des blauroten, wie mit Goldfäden durchzogenen Minerals ausgesucht.

»Kanntet ihr da auch diejenigen Fuggerschen Amtleute,« fragte Ottheinrich, den Knaben aus der Ferne beobachtend, »die in der Fuggerei zu Ofen und daselbst in der Münze angestellt waren? Ich meine die Steinschneider. Oder, um es offen zu sagen, kanntet ihr daselbst einen Venetianer namens Pisani?«

»Messer Pisani sollte ich nicht gekannt haben!« erwiderte Matthias Grenitzer. »Der arbeitete ja für unsere Münze –!«

»Dann habt ihr sicher auch dessen Tochter gekannt, die so ausnehmend schön war –«

Der Alte besann sich...

Ottheinrich wandte sich Vittorias Wagen zu, der über den Aufenthalt, den Moritz verursacht hatte, wieder erreicht war. Er hätte sie jetzt um ihre Brustnadel bitten mögen und das darauf befindliche Bild dem Alten mit der Frage vorhalten: Habt ihr nicht auch die gekannt, der vielleicht diese Züge angehörten? Doch setzte sich Vittorias Wagen eben wieder in schnellere Bewegung.

»Ja, Herr,« fuhr Matthias Grenitzer fort, »ich besinne mich! Beim Emmerich habe ich sie gesehen –«

Ottheinrich hatte nichts von den Schilderungen über Ungarn vergessen, die ihm sein Prinzipal an jenem Tage gegeben hatte, als er von ihm Abschied nahm und die vertrauten Aufträge für Venedig erhielt. Leicht sich zurechtfindend lauschte er der Erzählung des Alten.

»Das Regiment im Lande führte, als König Lajos halbwegs noch ein unbärtiger Knabe war – doch schon taufen ließ – ihr scheint's zu wissen! – ein Volk von Raben und Geiern! Im übrigen regierte das gesamte Ungarland, wie es Matthias Corvinus, der große Held, seinem Enkel hinterlassen hatte, ein Jude. Emmerich hieß er, seit er getauft; sonst war sein Name Salomon. Glückseliger Emmerich! hieß er. Imre Sczerenszes nannten ihn die Ungarn, als er getauft war. Ja, Imre war lange Zeit der Glückselige! Ein Meister in der Kunst, Geld aus nichts zu machen! Alles hungerte, Imre hatte Geld. Mit dem Steuereintreiber zog er durchs Land, hinter ihm her der Henker mit Wagen voll Stricke. Auch die Böhmen schindete der Jude, bis Gott die Christen in Ungarn und Böhmen auch noch durch den Soliman heimsuchte. Ja, ja! Kein stattlicher Weib auf Erden – entsinne mich – als die Tochter des Münzwardeins der Fugger. Aber schöner noch war Lea Hecht! Das war eine Jüdin aus Siebenbürgen, so der Jude durch Kuppler herausgefunden hatte. Führte sie erst dem jungen Lajos zu nach der Pisani und vor der Maria. Herr, da wurde gewirtschaftet! Ich sage – sie beteten den Bel zu Babel an, nicht Gott! Aber des Kaisers Geschwister – die, wo jetzt in Augsburg –! hei, die machte da Kehraus, vorher schon war des Pisani Tochter verschwunden um der Lea willen. Und die Lea heiratete rasch dann der Emmerich selbst. Diese beiden und Stephan Bathory waren die Schatzmeister von Ungarn und Böhmen. Ihnen mußten die Fugger dienen, auch Graf Thurzo, auch König Lajos, anfangs auch Königin Maria. Emmerich war König von Ungarn und Böhmen. Zu Ofen in seinem Hause nahmen Spiel und Tanz kein Ende. Das hab' ich aber auch erlebt, Herr, als es hieß: Der Türke kommt! So zieht ein Gewitter herauf, so kommt eine Sonnenfinsternis! Um Mittag war's, alles aber dachte: Nun wird's Abend! Wie die Vögel flog jedes zum Nest. Aber die Bäume schüttelte der Sturm, und die Nester fielen zur Erde – Herr, damals hat's Menschen gegeben, die an sich selbst Hand legten – nur aus Furcht vor dem, was noch gar nicht da war –!«

Die Wagen und Ottheinrichs Roß hielten an. Die Führer des Wagens, auf denen der alte Steiger saß, vergaßen vor Schrecken noch jetzt die Lenkung ihrer Tiere.

»Ihr floht in die Bergstädte?« fagte Ottheinrich, als der Steiger die Fuhrleute bedeutete, des schnelleren Fortkommens zu gedenken.

»Etliche, Herr –!« nahm Matthias Grenitzer seine Erzählung wieder auf. »Über uns Fuggersche und über den Juden brachen schon zuvor die Zornschalen Gottes aus! Das Volk wollte in seiner Angst ein Opfer haben. Ein großer Reichstag, den die Ungarn in Hatwan gehalten hatten, war wie die Plage von Heuschrecken gewesen. Zu Roß, zu Wagen kamen die Edelleute und ihre Advokaten und von Hatwan ging's auf Ofen. Auf dem Reichstag hatte der Jude die Dreistigkeit gehabt, zu sagen, sie sollten sich nur an die Bergstädte, an die Fugger halten, die Gold und Silber genug in ihren Kellern liegen hätten. Drob zürnte der König und die Königin dem Juden selbst. Sie ließen ihn – andere sagen, um ihn zu schützen – in einen Turm werfen, so man die Czonka nennt, wo ihn vierzehn Tage lang in einer unverdachten Kammer der freie Himmel beschien. Drauf gaben sie ihn frei. Bei den Ungarn schnob aber die Rache, was Adlige und Advokaten waren, alles, was noch vom Reichstag dageblieben, brach mit Husaren und Heiducken in des Juden Haus. Glückseliger Emmerich! Sie zerbrachen dir deine Türen, schlugen dir die Fenster ein, Tische und Stühle entzwei, zertrümmerten deine Spiegel, köstlichen Gefäße, Leuchter, raubten Geld und Geldeswert – sie hätten den Imre mit all seinen Gästen, mit seiner schönen Lea, allen vornehmen Freunden und Freundinnen, die sie geladen, aufgehängt, hätten die sich nicht in den Garten an Stricken hinuntergelassen und wären über die Stadtmauer entkommen. Ihren Weg bezeichnete eine Blutspur; denn von den gedrehten Tauen bluteten ihnen die Hände. Herr! Damals hatten die Ungarischen zum erstenmal Wut auf ihre schönen Kleider. Sonst halten sie nichts höher als ihre Stiefel, ihre engen Hosen und ihre Freiheiten. Nun hätten sie gern die Taschen wie sacke so weit gehabt, um nur das Geld unterzubringen. Ein Haufe raubte den andern aus. Auf einmal hieß es: Jetzt auf die Fuggerschen! wir wohnten dazumal in Ofen Allerheiligengassen. Grad' war ich von Neusohl zur Abrechnung gekommen. Anfangs sahen wir dem Wesen ruhig zu. Dachten wir doch: Bis in die Rächt und den halben Tag hinaus werden bei dem glückseligen Emmerich die Weinfässer geleert – sie gössen den Wein in Kübel, die durch die Straßen getragen wurden – das wird ihnen genugtun und dann dem Ding durch schlaf ein Ende machen, so vermeinten wir. Aber die Spielleute pfiffen anders. Ein Haufe frischer Husaren und Heiducken kommt wie eine bunte Schlange angeschlichen. Hui! Die Losung: Nun wird der Fugger Haus dem Erdboden gleichgemacht! Wucherer! Partierer! Leutverderber! schrieen sie die Faktorei an, zerbrachen die Türen, drangen in die Kontore, zuletzt in unsere Kassa. Mein Heiland! lagen Gelder da, die den Fuggern gar nicht gehörten! Gehörten zum einen Teil dem König Lajos und zum andern dem König von Polen! Gerade waren wir in der Arbeit, abzuschätzen, wie wir sechzigtausend Dukaten – der Papst hatte sie geschickt, daß sie wider die Türken und die Ketzer verbraucht werden sollten – in kleinere Münze schlügen und das Vierfache herausbrächten. Von den sechzigtausend Dukaten haben wir nichts wiedergesehen. Kein Schutz, keine Wehr! Dazu dann – der Türke im Anzuge –! Gott im Himmel – ich floh auf Wien zu. Damals war's das Ende der Fugger in Ungarn. Ein gottlos abgekartet Spiel, woran nicht bloß der Zapolya beteiligt war, der damals die Hand nach der Stephanskrone ausgestreckt hatte, die ihm dann auch die Türken gegeben haben, auch andere und sogar – gute Freunde staken dahinter. Ihr habt recht –«

»Wer noch anders stak dahinter?« fragte Ottheinrich.

»Wer anders als der König selbst und die fromme Königin Maria!« fagte der alte Bergmann. »Auch sie haßten die Fugger und hatten sogar noch lieber den Juden! Ja, ja! Der leichtsinnige junge Fürst hat es dann gebüßt! In einem Morast ist er bei Mohacz elend umgekommen! Sein ganzes Land war ein Sumpf. Gewiß, junger Mann, auch die Königin steckte dahinter. Sie war jung, stolz und – fuchsklug! Seltsam, nun soll die Königin doch wieder, wie ich höre, in Augsburg bei den Fuggern wohnen, sie muß klein beigegeben haben! Das vermögen sie in Wien und Brüssel, wenn sie in der Not stecken!«

»Emmerich aber, der Glückselige?« fragte Ottheinrich, »und Lea und Beatrice Pisani, die man eine Gräfin Ilajos nannte –?«

»Emmerich starb nach der Schlacht bei Mohacz an jähem Schreck. Sah die ersten großen Wolken, in die verhüllt die Türken heraufziehen, fiel um und war tot. Lea ist nach Wien entkommen, wo sie wie eine Fürstin gelebt hat und eine neue Hochzeit halten wollte. Hatte sich da ein Bürger in sie vergafft. Getauft – das war sie ja schon. Aber am Hochzeitstag brach in Wien ein Aufstand drüber aus. Die verwandten des Bürgers machten die Hochzeit zunichte und ganz Wien überlief den Rat, die Feier nicht zu dulden. Wurde ihr dann auch untersagt und sie der Stadt verwiesen. Ihr Bräutigam führte sie nach Preßburg, wo sie in einen neuen Handel verstrickt wurde, der ihren Mann ums Leben brachte. Ein Ritter von Puchstein, kaiserlicher Amtmann, erstach ihn aus Liebestollheit. Jetzt ist sie bei den Türken in Ofen. Ich weiß nichts mehr von ihr ... Und – nach des Stempelschneiders Tochter fragtet ihr –? Die Bergleute dazumal wurden nach Tirol verführt. Mich setzte man nach Rattenberg. Der Steinschneider soll nach Venedig entkommen sein und seine Tochter mit ihm. »Gräfin« Ilajos? Kann sein! König Lajos konnte ihr kein Geld geben. Da gab er Titel. In der Zips hätte sie wohl manchmal lieber ein Stück Brot als eine Grafenkrone gehabt.«

»Hatte sie nicht einen Sohn von König Lajos?« forschte Ottheinrich.

»Von der Bank ist damals manches gefallen!« erwiderte der Alte, zog jedoch die Achseln zum Zeichen, daß ihm diese Dinge nicht näher bekannt waren.

War nun auch aus diesen Erzählungen über Ungarn für Ottheinrich nichts wesentlich Neues hervorgegangen, so schien der freundliche welterfahrene Greis nun doch die andere große Zeit teilnehmend durchlebt zu haben, die der Tiroler Bauernerhebung – vielleicht war er imstande, nach dieser Richtung hin manches, was Ottheinrich dunkel geblieben, aufzuhellen. Schon jetzt würde er ihn nach Michael Gaismayr und dessen Weib gefragt haben, wenn er nicht bemerkt hätte, daß die Italiener auf ihn warteten. Sie hatten innegehalten und winkten ihm, er sollte sein Nachkommen beschleunigen.

»Haltet ihr in Buchloe?« fragte er den Alten.

»Wir übernachten dort! Unsere Gäule sind mitgenommen und müssen noch bis Thüringen aushalten!«

Der Plan, mit diesem braven Alten nach Bamberg für die Eltern und für Argula einige seiner aus Venedig mitgebrachten kleinen Andenken mitzugeben, war Ottheinrich schon lange durch den Kopf gegangen.

»Ich spreche euch noch in Buchloe,« sagte er, »jedenfalls in Augsburg!«

Er nickte dankend und gab seinem Roß die Sporen, um die Gefährten einzuholen, die um eine ansehnliche Strecke voraus waren.

Das Wetter hatte sich freundlicher gestaltet. Hell strahlte die Sonne auf die Spitzen der uralten Kirche eines Örtchens, wohin des kaiserlichen Rates Freund und Gevatter Konrad Peutinger öfters Ausflüge machte. Es war Buchloe, berüchtigt durch seine »schöne Liesel« und einen Scharfrichter, der oft weither aus Bayern, aus der Markgrafschaft Burgau Aufträge zu Exekutionen erhielt, berühmt aber auch durch die herrlichste Ausbeute, die sich hier für römische Altertümer ergab.

Bei Vittorias Wagen angelangt sah Ottheinrich, daß Moritz noch ganz in die Erze verloren schien und sich mit den Italienern über die ihm geschenkte Probe durch allerlei Zeichen und Winke zu verständigen suchte. Die Italiener schienen diese kleinen Stücke schon für ein wertvolles Geschenk zu halten.

Ottheinrich sagte dies dem Knaben. »Sie halten deine Steine für pures Gold!«

»Das sind sie auch,« antwortete Moritz, »wenn wir nur den ›roten Löwen‹ hätten.«

Ottheinrich kannte diesen Ausdruck, der der Alchimie angehörte.

»Der ›weiße Löwe‹ macht nur Silber, der ›rote‹ macht Gold!« fuhr Moritz fort.

»Verstehst du dich auf die Gesteine?«

Ottheinrich ergänzte seine Frage mit dem Gedanken: Sollten die Kenntnisse, die der Junge da von Steinen verrät, von den Mönchen in Steingaden herrühren oder vom Bergmannsleben selbst, dem er vielleicht ursprünglich angehörte und die Bekanntschaft mit der ungarischen Sprache verdankte?

Ohne hierauf eine Antwort zu geben, weidete sich der Knabe am Glitzern des Erzes, das er gegen die Sonne hielt.

Ottheinrich sah, daß Moritz auch den goldenen Trauring des in Padua Ermordeten von Vittorias Finger abgezogen hatte und ihn selbst am Daumen trug.

»Kannst du die Buchstaben deuten, die in dem Ring stehen?« fragte er.

Moritz zog den Ring vom Finger, betrachtete ihn, warf aber einen Blick auf den in der Nähe dem Gespräch lauschenden Luigi Costa und verschwand im Innern des Karrens.

Jetzt halten zu lassen und das Ergebnis der Entzifferung jener ziemlich verwischten Schrift abzuwarten, war für den Augenblick nicht tunlich.

»Von Buchloe aus,« rief Ottheinrich Moritz in den Karren nach, »weißt du, geht's mit uns tapferer vorwärts!«

Den Italienern sich wieder anschließend, hörte er, daß sie die Ermüdung ihrer Tiere, die schlechten Wege, die weiten Entfernungen, vor allem die Anwesenheit der Königin Maria in Augsburg beklagten und wieder mutlos geworden waren.

In Buchloe sorgte Ottheinrich dafür, daß sie für alles, dessen sie und die Tiere bedürftig waren, Preise erhielten, deren Billigkeit wenigstens ihm in Italien nicht vorgekommen war.

Inzwischen trafen auch die Fuggerschen Wagen ein. Diese wurden zu einer übernächtigen Rast ausgespannt. Sie waren schon um vier Uhr in der Frühe von Oberndorf aufgebrochen.

Der Führer des Kupfertransportes, der alte Steiger, hatte mit dem Bedienen des Fuhrwerks nichts zu tun. Er scherzte mit Vittoria, von deren Sprache er einige Worte verstand, tauschte auch mit dem Knaben ungarische Wendungen aus. Es zeigte sich bald, daß des letzteren stolze Erklärung: »Ich bin ein Magyar!« nicht durch eine besonders große Kenntnis des Ungarischen unterstützt wurde.

Ottheinrich bat jetzt Vittoria, ihm die schöne Nestel, den geschnittenen Kopf, den sie auch heute auf ihrer Brust trug, für einen Augenblick zu lassen.

Als er den Schmuck in der Hand hielt, führte er damit den Greis beiseite und fragte ihn, ob er das von dem Elfenbein wiedergegebene Antlitz wohl im Leben schon gesehen hätte?

Matthias Grenitzer nahm das kleine Kunstwerk in die Hand, betrachtete es und sagte nach einer Weile:

»Habe im Leben viele junge, schöne Frauen gesehen, kann mich aber auf diese Züge nicht besinnen. Das aber weiß ich, Pisani, unser Münzwardein in Ofen, hat solche Kunstwerke geschnitten!«

»Ist es nicht Beatrice Pisani, die Gräfin Ilajos, seine Tochter selbst?« fragte Ottheinrich. »Wir sprachen von ihr –«

»Sollte sie's gewesen sein?« sagte der Steiger und betrachtete das Bild darauf wiederholt. »Als ich euch von ihrer Schönheit gesprochen, meinte ich vielleicht nicht viel mehr als ihren Glanz, ihre kurze Herrlichkeit! Zum letztenmal habe ich sie in Neusohl gesehen. Da war sie freilich das nicht mehr! Sie lebte von der Gnade der Fürstin von Teschen und hatte Kummer. Anfangs durch die Lea, dann durch die Königin. Daß sie nicht ganz verkam, dankte sie der Schwester des Markgrafen Georg, des Brandenburgers, der Herzogin von Teschen – und – ich besinne mich – auch dem weiland Ofenheizer der Herzogin –«

»Martinuzzi – dem jetzigen Bischof von Großwardein–!«

»Dessen Mutter war eine Venedigerin!« nickte der Alte. »Ja, das ist jetzt der erste Mann in Ungarn!«

»Habt ihr Michael Gaismeyer gekannt –?« fragte Ottheinrich.

»Sein Weib habe ich gekannt –!« lautete die überraschende Antwort.

»Walpurga Gaismayr? Lebt sie noch?« fragte er in erregter Spannung.

»Gott gebe der armen Seele Ruhe –!«

»Wisset ihr das für gewiß? Sie ist tot –?«

»Habt ihr dessen ein Anliegen –?«

Wenn Ottheinrich auf diese Frage des Erstaunens schwieg, so versagte ihm nur die Stimme um den einen Gedanken: Wäre denn also dies Leben auch schon ausgelöscht! Auch diese Leiden, auch diese Leidenschaften verstummt –!...

»Die Neupertin, so hieß sie früher,« fuhr der Steiger fort »kannte ich schon von den Bergstädten in Ungarn her, ehe ihre Eltern nach Tirol gingen, wie wir damals alle. Ihre Mutter war eine Ungarin. Es war ein groß, wild, beherzt Weib! Brennend sozusagen vor Trockenheit, wie ein Salamander, dem sein Wasser das Feuer ist. Sie diente eine Weile in der Münze zu Ofen, woher sie die Pisani gekannt haben mag. In Tirol diente sie bei dem Statthaltereivogt Herrn Freiherrn von Völs.«

»In Venedig hat sie die Pisani wiedergesehen und ihr Kind gepflegt –«

»Das kann wohl sein! Bin dessen unwissend. In dieses Herrn von Völs Hause sah sie den gefangenen Gaismayr, so oft er zum Verhör geführt wurde, sie stellte sich mit ihm ins Einvernehmen. Als ihm die erzherzogliche Kammer nicht Wort hielt, brach er mit Beistand der Walpurga aus. Sie haben ihn ermordet, das weiß ich, als sie mit ihm in Venedig war.«

»Saht ihr nach dem traurigen Ende ihres Mannes die Gaismayrin noch einmal wieder?« fragte Ottheinrich, dem diese Verhältnisse in ihrem wahren Sachverhalt geläufiger waren.

»Einmal, Herr!« erwiderte der Steiger zu Ottheinrichs größter Überraschung. »Ich sah sie! Doch –« er blickte um sich und spähte, ob jemand ihrem Gespräch lauschte, »wie ein verscheucht Wild kam sie nach dem Mord zu uns Bergleuten und versteckte sich bei einem im Walde wohnenden Steiger. Hätte sie dieser auch aus alter Freundschaft – die noch von Ungarn herstammte – längere Zeit bei sich behalten wollen, er konnte nicht – es war im Land die Pest – erst starb sein Weib», dann er selbst. Hausner hieß dieser Bergmann – war ein geschickter Arbeiter aus Halle in Thüringen, vor Jahren von dem Fuggerschen Faktor, unserm Herrn Hörmann, nach Ungarn, dann nach Tirol berufen. Hatte einen Buben – diesen nahm die Gaismayrin an sich, einen anschlägigen Burschen. Den hat sie lange Jahre mit sich in den Bergen hinter der Martinswand herumgeführt. Kam dann auch wohl ab und zu heimlich wieder zu uns. Man ließ sie gehen, viele haben sie für verrückt gehalten –«

»Und ihr –?« fragte Ottheinrich, den Atem anhaltend, seitdem er von einem Knaben gehört hatte, der mit der ehemaligen Pflegerin des Grafen Ilajos in Verbindung genannt wurde.

»Sie war,« fiel Grenitzer ein, der seine Frage nicht gehört hatte, »ein Enakskind an Leibeslänge und Kraft! Gott hatte sie wie uns alle nach seinem Bilde geschaffen, bei ihr gab Beelzebub die Zutat. Die Rache hätte sie dem überlassen sollen, der gesagt: Die Rache ist mein –! Erst in Trient, dann in Brixen wollte sie auf den Schlössern der Bischöfe Feuer anlegen. Darüber verstört, verjagt, verfolgt – einmal schon in die Eisen gekommen, riß sie sich wieder los und erschlug mit der Kette einen der Sergeanten – kam sie zu uns. Wir selbst saßen dazumal in Not und Trübsal genug und gaben ihren hetzenden Worten kein Gehör. Um eine Ruhestätte und Freunde zu gewinnen, die sie wenigstens verheimlichten, versuchte sie's mit Tränken und Künsten, die sie in Ungarn von den Zigeunern gelernt haben mochte. Manches auch von geheimer Kräfte Macht in Stein und Erz wissen wir Bergleute. Da wollte sie denn bald den roten, bald den weißen Löwen in ihrem Verschluß haben –«

Der Alte hätte über den Ausdruck des Erstaunens, der sich über seine Worte in den Gesichtszügen des jungen Mannes ausbreitete, befremdet sein müssen, wären die Bergleute nicht allzeit gewohnt gewesen, ob ihrer geheimen Künste Verwunderung zu verbreiten.

»Wisset ihr also auch von diesen höllischen Bestien, dem roten und weißen Löwen?« sagte er, indem er sich mit dem Zeichen des Kreuzes segnete. »Das ist der Satan, der, wenn er umgeht und sucht, wen er verschlinge, allerlei Gestalt annimmt. Gar nicht ohne, daß die Gaismayrin dieses höllischen Tiers richtige Spur um Mitternacht auf Kreuzwegen und unterm Galgen gefunden haben mochte. Den kranken Hausner und sein Weib wollte sie freilich auch kurieren; die starben ihr dahin –«

»Ihr besuchtet die Hütte des Hausner – kanntet sein Weib, sein Kind –?«

»Als Obersteiger mußte ich auf die Gaismayrin fahnden lassen. Drückte aber die Augen zu und meldete nur nach Innsbruck und Brixen, daß die Frau da und dorten sich sehen lasse, nicht aber gut zu betreffen sei. Nun kamen die Reisigen des Salamanca und suchten sie. Hausners, die weit von ihrer Zeche im dichten Tännicht ob dem Zillertal wohnten, waren begraben. Sie, die ich hatte verwarnen lassen, war mit dem Kind verschwunden. Ich sollte meinen, daß der Bube Moritz hieß.« »Welchen Namen nanntet Ihr?« rief Ottheinrich in höchster Erregung.

Der Alte staunte über den Anteil für eines Bergmanns hinterlassenes, ohne Zweifel verkommenes Kind und schüttelte ungläubig den Kopf, als ihn der junge Mann mit verfärbtem Antlitz auf den Knaben, ihren Begleiter, von dem er jetzt frei und offen das gestrige Abenteuer mit seiner, wahrscheinlich aus einem Kloster erfolgten Flucht erzählte.

An dem Umstände, daß es sich hier um einen entlaufenen Klosterzögling, vielleicht immerhin auch um den zurückgebliebenen Sohn des Bergmanns Hausner aus Halle in Thüringen, der ein paar ungarische Worte aufgegriffen hatte, handelte, konnte der alte Steiger an sich noch nichts Auffallendes finden. Ihm fehlte die Kenntnis der näheren Beziehungen, in denen Walpurga Gaismayr, die ohne Zweifel dem Knaben eine Pflegemutter geworden, zu Beatrice Pisani gestanden hatte. Er erzählte, daß die unheimliche Frau, soviel er erfahren, durch einen Sturz in den hohen Alpen umgekommen war, nachdem sie sich, wie ein von allen Seiten gehetztes Wild, bald auf bayrischem, bald erzherzoglich oder bischöflich tirolischem Grund und Boden zu halten versucht hätte. »Alles das habe ich erfahren,« schloß er, »als ich vor einiger Zeit die Burgen von Hohenschwangau besuchte.«

Immer näher rückten die Mitteilungen dem Ahnen Ottheinrich's, der in Schweigen verfiel und den Alten reden ließ.

»Die Marmorbrüche hinter den Schwangauer Burgen,« fuhr dieser fort, »geben einen guten Gips zum Bauen! Vom Innsbrucker Kammeramt wurde ich entsendet, darüber eines Sachverständigen Urteil zu sagen. Da ging ich ins Schwangauer Land und sah nicht minder, daß es nicht wenig kosten würde, sollte der dortige Segen in Fluß kommen. Doch, wovon ich reden wollte, liegt da oben, wie ich dazumal gesehen, nicht weitab von dem Kalkgestein und einem wilden Wasser, so man die Pöllat heißt, eine lustige grüne Alpe, das Ilgenmösle genannt. Geht darüber hinaus, hoch in die Luft, ein spitzer Schroffen, der an seinem Fuß mit einer mächtigen Höhle anhebt. Da hört' ich, daß die Gaismayrin, als von allen Zeiten aus, von Innsbruck, Brixen, Füssen auf sie Jagd gemacht wurde, alldort mit dem Knaben Sommer und Winter gehaust hat, in diesem Grüble – Grüble, so nennen sie die Felsenmulde. Baute sich drüber ein Dach von Tannenzweigen, einen Herd, einen Stall. Dann hat sie ringsum Kräuter aufgelesen und ist den Sennern und Gamsschützen eine Heilandin gewesen, wider allerlei Gebresten und insonders hat sie Bergleuten und salzsiedern, die oft um ihretwillen von weither gekommen sind, törichte Anschläge gemacht mit Künsten, die sie über berg- und Hüttenbau von ihrem Vater und anderen ererbt haben wollte. Hat dann wohl einmal aus der höllischen Flaschen, die sie mit ihrem Gebräu gefüllt, einen Schluck zu tief getan – ist da jählings von einem Grat gefallen. Brach das Genick. Was aus dem Knaben geworden, erfuhr ich nicht oder habe es vergessen. Im Grüble suchten die Leute nach ihren Schätzen, sie soll Geld gehabt haben – auch Freunde, die ihr schickten. Heute noch, jetzt sind's fünf Jahre her, sagen sie in Hohenschwangau, es läge da hinter den Schlössern ein unermeßlicher Schatz. Ich denke, wessen Probiernadel Christus unser Herr heißt, der suchet sein Heil an anderer Stätte.«

Ohne diesen Glauben in Abrede zu stellen, fragte Ottheinrich:

»Wie dünkt euch aber, wenn jener Knabe, der aus dem Kloster entflohen, Moritz Hausner wäre? Würdet ihr ihn darauf noch wiedererkennen?«

»Nehmen wir ihn ins Verhör!« entgegnete der Alte, lächelte aber ungläubig.

Das Umschauen nach dem Knaben und das Anrufen wurde durch einen Streit gehindert.

Die Italiener zankten mit einigen bischöflichen Reitern, die sich ihnen im Wirtshaus zugesellt hatten. Man rief Ottheinrich, den Streit zu schlichten.

Er hörte, die bischöflichen Gesetze schrieben vor, daß Reisende, die mit Fuhrwerk und in einer größeren Zahl des Weges auf Augsburg zogen, bischöflich Geleit annehmen mußten. Teils der Sicherheit, teils der Geldabgabe wegen schien diese Anordnung getroffen zu sein.

Die Italiener waren außer sich über die ihnen zugemutete Geldausgabe. Sie weigerten sich, die drei Reisige, die bald in vollem Aufzug zu ihrem Schutz, möglicherweise auch zu ihrer Überwachung aufritten, anzunehmen und zu bezahlen.

Ottheinrich erklärte sich bereit, wenn sie ihren Rossen zumuten wollten, noch heute bis nach Augsburg auszudauern, für seinen Teil die Steuer in einem Betrage mitzuentrichten, der zur Zahl der Köpfe in keinem Verhältnis stand.

Die Künstler traten zusammen, sprachen aufs lebhafteste einige Zeit untereinander und fügten sich dann in etwas, das nicht zu ändern war.

Diese Erörterungen lenkten Ottheinrich von der Fortsetzung seines Gespräches mit dem alten Bergsteiger ab. So mußte er denn alles, was er noch auf dem Herzen hatte, bis auf ihr Wiedersehen in Augsburg lassen.

»Lebt wohl, Vater Grenitzer!« sagte er zu dem Alten, ihm die Hand schüttelnd. »Für alles, dessen ihr mich unterrichtet habt, sage ich euch meinen Dank! Aber in Augsburg sprechen wir noch weiter von diesen Dingen! Das Erzgestein, das ich von eurem Gedächtnis, von eurer Freundlichkeit, eurem gottvertrauenden Verstand mir aufgeladen, muß wohl noch auf manche Seigerhütte! Ihr sollt aber von allem und – Wunders hören –!«

Der Alte sah ihm kopfschüttelnd nach.

Mit seltsamen Ahnungen über einen Fund, der die Ergebnisse seiner Reise für die Wünsche des kaiserlichen Rats zu krönen schien, schwang sich Ottheinrich in den Sattel und schloß sich den Reisenden an, die sofort Anstalten machten, das Geld, das sie nun doch einmal bezahlen mußten, durch schnelle Benutzung des sicheren Geleits und Vermeidung eines längeren kostspieligen Verweilens in der Herberge wieder einzubringen.

Gegen fünf Uhr abends hatte man zum letzten Male in einem im Walde gelegenen Wirtshause, hinter dem Dorf Bobing, unfern der Wertach, gerastet.

Ottheinrich, durch die Spannung gehoben, endlich in Augsburg zu sein, erregt, so noch kurz vor seinem Einritt hinter den wahrscheinlichen Zusammenhang eines Frevels gekommen zu sein, den man gegen Ferdinand von Ungarn und Königin Maria im Schilde führte, war ebenfalls in Schweigen versunken. Der Waldfriede um ihn her stimmte zu allem, was er in sich zurechtzulegen hatte, beruhigend. Das Wetter war schön geblieben. Die Abendsonne blinkte mit rotem Herbstglanz durch die bald dicht, bald durchsichtiger bewachsene Waldung.

Vittoria stieg in Bobing der Erholung wegen während der kurzen Rast aus ihrem Karren und wandelte am Saum eines mächtigen Tannenwaldes, der sich zum Lechfeld hinüberzog, leise sogar trällernd, auf und nieder. Der Knabe hatte ihr helfen wollen, Blumen pflücken. Hier und da blühte auf dem trocknen Moose ein bescheiden Kraut. An den feuchten Wiesenrändern der Fahrstraße fand sich der Herold des nahenden Winters, die Herbstzeitlose.

Als man weiter wollte, konnte Moritz nicht sogleich gefunden werden.

Man rief ihn. Keine Antwort erfolgte. Man suchte und suchte und fand ihn nicht. Darüber trat ein Zeitverlust ein, der unbequem wurde. Die Reiter des Bischofs hatten eine bestimmte Stunde genannt, bis zu der sie an den Toren Augsburgs eintreffen mußten, widrigenfalls sie in einer der Herbergen vor den Wällen der Stadt zu übernachten hatten.

Die Italiener lärmten, fluchten und verwünschten den Knaben, der sich nicht finden ließ.

Ottheinrich geriet in Bestürzung. Kurz vor dem erreichten Ziel sollte ihm eine solche Erfahrung zuteil werden –? Mit lauter stimme rief er in die Waldwildnis Schelt- und freundliche Lockworte hinaus. Die Mägde und Knechte des Gehöftes, wo sie gehalten hatten, halfen suchen. Sie deuteten auf einige Wege, die sich in die dichteren Tannenreihen, dann in Laubwaldungen verliefen. Nirgends war vom Flüchtling eine Spur zu finden.

Ottheinrich bekämpfte sein Gelüst, offen den Architekturmaler als den Anstifter der Flucht des Knaben zu bezeichnen – ein Wortwechsel darüber, der ohnehin bei dem Charakter des tückischen jungen Italieners leicht in Tätlichkeiten hätte ausarten können, würde nichts geholfen haben. So nahm er von seinen ungeduldig gewordenen Gefährten, die nicht länger warten wollten, Abschied, bezahlte seinen Anteil am Geleitsgeld und erklärte, nicht eher ruhen zu wollen, bis er nicht den undankbaren Burschen wieder aufgetrieben hätte. Die Künstler verwies er in die Herberge Zur Traube.

Vittoria sah dem Beginnen des jungen Mannes voll Besorgnis zu. Ihre Augen ruhten ängstlich forschend auf dem halb und halb noch entschlußlosen und ganz seiner selbst vergessenden Gefährten. Eine trauliche Gewöhnung, vielleicht auch die Hoffnung auf seinen Rat und Beistand beim Gewirr des ersten Eintritts in die große Stadt, ließen sie mit ersichtlichem Schmerz eine Wendung wahrnehmen, die sie nicht erwartet hatte bei ihrer sorgsamen Pflege für den Flüchtling, dem ihre Gefährten, als einem Undankbaren, eine Reihe von Verwünschungen in den Wald nachriefen. Es kam heraus, daß der Knabe auch den Ring, mit dem er gespielt, behalten hatte.

Den Geleitreitern schienen die Fremden selbst verdächtig zu werden, warum entfloh ihnen ein so sorgfältig gehütetes Kind? Woher stammte der Flüchtling? Wenn sie auch für die Unterkunft der Reisenden Mitsorge tragen wollten, so betrieben sie doch jetzt mit Strenge die Abfahrt.

Voll Zorn und vollkommen vergessend, welchen Gefahren er sein Leben und die Schätze, die er bei sich trug, preisgab, lenkte er sein Roß in die wie ein großer Mastenwald aufragenden Tannen, nicht achtend, ob ihm da oder dort die Bezeichnungen des Wildbannes, Wildtafeln, Rehklauen, die an den Bäumen aufgehängt waren, den Weg verboten. In den Wipfeln glühte das letzte Rot der Abendsonne.

»Moritz Hausner! Moritz!« rief er, bei sich unschlüssig, ob er voraussetzen sollte: Vertrieb den Knaben die ihm durch das Rufen dieses Namens gegebene Andeutung der Bekanntschaft mit seinem Ursprung oder lockte sie ihn herbei? Konnte er auch überhaupt den Ruf vernehmen?

Auf hundert Schritte und weiterhin noch konnte sich dem Auge des Suchenden nichts verbergen. Eichkätzchen entdeckte er um sich her, sonst kein lebendes Wesen.

Es wurde dunkler und dunkler. Ottheinrich fühlte sich von unheimlichen Schauern ergriffen. Rings diese Waldeinsamkeit, die unerwartete neue Flucht des Knaben, seine wahrscheinliche Verbindung mit einer Frau, die ohne Zweifel den Mächten der Unterwelt näher stand als den lichten Geistern – alles das weckte ihm die Vorstellung, hier den Fürsten der Hölle gegenwärtiger zu haben als die guten Engel, die nach Ottheinrichs Glauben Gott nicht minder in die Welt sendet, um den bösen, wo es nottut, den Widerpart zu halten. Jeder Vogel, der vor seinem rasch dahintrabenden Roß aufstob, war ihm ein Unhold.

Mit Zagen sah er, daß der Weg durch die Tannen allmählich aufhörte. An einem grünen, von Erlen umstandenen, sumpfigen Platz stieg er von seinem müden Gaul und führte ihm am Zügel weiter, indem er unausgesetzt nach dem Knaben rief.

Der Gedanke, daß es Torheit war, hier ins Ungewisse in den Wald hinauszurufen und im Leeren und Dunklen einen Flüchtling zu suchen, der nicht gefunden sein wollte, entwich, als er glaubte von fern her Rufe ertönen, stimmen lachen, Pferde wiehern zu hören. Da jedoch niemand sichtbar wurde, der Lärm auch wieder aufhörte und vielleicht überhaupt nur eine Sinnentäuschungen gewesen war, so überfiel ihn ein gesteigertes Grauen. wußte er doch, daß der Wald der Frau Holle und dem wilden Jäger gehört. Das »wilde Gejaid« nahm auf seine feurigen Rosse Menschen mit, die im Walde Tannenzapfen und Holzreiser suchten. Köhlerbuben verschwanden und wurden nicht wiedergesehen. Das wilde Heer sind ruhelose Seelen, Grafen, die ihre Untertanen drückten, Jäger mit Morden auf dem Gewissen, Hexen, die den übeltäterischen Waffen einen immer treffenden Zaubersegen verleihen. Hunde hat das wilde Heer zahllose mit feurigen Jungen; die Rosse sind Schimmel, helleuchtend wie Mondlicht. Der Jagdzug kommt wie pfeifender Sturm, ein andermal geht er mit gespenstiger Stille ....

Bei alledem mochte der Verirrte auf derselben Fährte nicht wieder den Rückweg antreten. Mochte es auch Nacht werden, er wollte nun so weit durch den Wald hindurch, bis er vielleicht auf Haunstetten herauskam und dort die Landstraße gewann. Der Richtung, wohin der Abend lag, glaubte er gewiß zu sein.

Endlich sah er in der Tat Gestalten, die auf ihn zukamen. Am Ausgang eines Weges, den er, sein Roß am Zügel führend, auf Geratewohl eingeschlagen hatte, sah er drei Männer ihm entgegenkommen, schwarzberußt, Stangen in der Hand, an deren oberen Enden Spitzen von geschärftem Eisen blinkten, sie hielten zu gleicher Zeit zwei mächtige Hunde an Stricken zurück. Diese erhoben, als sie still stehen mußten, ein wildes Gebell und drohten gegen den Wanderer und sein Roß anzuspringen.

Verwundert zwar über die Begegnung, doch friedlich und die Hunde zurückreißend, grüßten die Männer und fragten, ob sich wohl der Junker von der Jagd der Königin verirrt hätte und diese gar schon für die Nacht im Anzuge wäre?

Sie hielten den jungen Mann für einen Angehörigen des Gefolges der Königin Maria.

Darüber gewann Ottheinrich Zuversicht.

»Habt ihr nicht einen Knaben gesehen,« fragte er, »ein Kind, das sich von der Landstraße in den Wald verirrt hat?«

Die Männer – es waren Kohlenbrenner – konnten keine Auskunft geben, sie sagten aus, daß sie sich, laut Verkündigung durch den kaiserlichen Wildmeister, der zwischen Haunstetten und dem Lech wohnte, einem großen Jagdtreiben anzuschließen hätten, das zu Ehren der Königin von Ungarn abgehalten werden sollte.

Er erfuhr, daß er einen Weg eingeschlagen hatte, der dem richtigen gerade entgegengesetzt war, und sich ohne diese Begegnung vollends hätte verirren müssen, sich jetzt zu denken, daß sich der entlaufene Knabe allein, ohne Lebensmittel, in dieser Waldnacht befand, mußte ihn mit Mitleid erfüllen.

Der Weg besserte sich. Er konnte wieder sein Roß besteigen. Glücklich gelangte er am Haunstetter Jagdamt an. Auch hier gab er dem Jagdpersonal des kaiserlichen Wildmeisters, das er versammelt fand, zu erkennen, daß eine Entdeckung des verirrten und vielleicht auf die Länge verschmachtenden Kindes des Finders schaden nicht sein sollte.

Ohnehin mußte die auf morgen erwartete große Jagd das gesamte Waldrevier bis zum Lech in Aufruhr bringen und jeden Schlupfwinkel lichten, wo ein Flüchtling feinen Versteck suchen konnte.

Ottheinrich ritt getrosten Mutes, in scharfem Trabe, soweit es die ermüdeten Kräfte des Tieres zuließen, auf der mit Obstbäumen besetzten Straße weiter. Jedenfalls waren die Italiener schon in Augsburg angekommen. In Gefahren, deren Ausgang man ratlos übersieht, dehnen sich Raum und Stunde. Für ihn selbst war an einen Einlaß heute in Augsburg nicht mehr zu denken. Die Torsperre war eingetreten. Er mußte im Ziegelstadel übernachten.

Im Ziegelstadel ging es lebhaft her. Wirt und Wirtin hatten Mühe, ihn unterzubringen. Die Feststimmung, die in Augsburg waltete, ließ sich bis in diese Vorwerksherberge verspüren. In der Zechstube wurde gesungen und getrunken. Im Hofe, in den Ställen ging es bunt durcheinander. Fuhrleute, Jäger, Reisige, abenteuernde Vaganten warteten auf den morgenden Einlaß in Augsburg. Der Neuangekommene hatte Mühe, für sein Roß einen Platz zu finden, der ihm sicher schien. Eine Nachforschung nach dem Knaben war auch hier seine erste Aufgabe, doch ebenfalls ohne Erfolg.

Im Begriff, seinen ermüdeten Klepper abzuzäumen, hörte er einen dumpfen Kanonenschlag. Ihm folgte ein zweiter. Alles lief ins Freie auf den Platz vor dem Wirtshause, von Augsburgs Wällen ertönte ein Freudenschießen.

Inzwischen vernahm man in der Nähe Pferdegetrab, das von der Stadt zu kommen schien. Auch ein greller Feuerschein lohte auf. Man konnte an eine Feuersbrunst denken.

Bald kam Beruhigung. Es waren Fackeln.

»Die Jäger der Königin sind's!« hieß es.

Die Rosseshufe kamen näher. Endlich unterschied man eine Anzahl bewaffneter Reiter. Von ihnen kam der Feuerschein. Einige, die dem Zug vorausritten, schwangen über allen Häuptern mächtige Fackeln.

Jetzt war der Troß bereits dicht in der Nähe des Ziegelstadels und einer der Reiter schwenkte zum Wirtshaus ab mit dem lauten Rufe:

»Habt ihr nicht einen verlorenen Knaben aufgefunden? Oder ist ein junger Mann zugeritten, der einen verlorenen Knaben sucht?«

Ehe noch dem Fragenden eine Antwort gegeben werden konnte, wurde dieser schon von Ottheinrich erkannt. Es war ein junger Besserer aus Ulm, ein Freiwilliger auf dem Paumgartnerschen Kontor.

Alles sah und verwies inzwischen auf den jungen, eben mit seinem Roß beschäftigten Reiter.

Und ehe sich dieser noch in die Ursache so lebhafter Nachforschung und die von den Reitern schon in Erfahrung gebrachte Flucht des Kindes hatte finden können, dann aus dem Dunkel hervorgetreten war und sich zu erkennen gegeben hatte, erblickte er zu seiner noch größeren Überraschung auf einem der abwärts am Wege stampfenden und im Staube, den die feuchte Nachtfrische niederhielt, ungeduldig scharrenden Rosse eine weibliche Gestalt – Gundula Paumgartner.

Kaum war auch seiner die kühne Reiterin ansichtig geworden, als sie ausrief:

»Da ist er ja! Er ist gefunden! Helft mir doch aus dem Sattel!«

Gundula, in den wenigen Monaten auffallend gereift, saß auf einem vom scharfen Ritt dampfenden und schnaubenden Zelter im Kreise derselben jungen Männer, die ihr vor drei Monaten spottend gesagt hatten, daß sie ihren Bruder, wenn er von Padua zurückkommen würde, zu Roß empfangen könnte, wenn sie bis dahin reiten gelernt hätte. Das war auf drei Jahre gemeint gewesen. Sie hatte die Einholung auf drei Monate verstanden. Im engen, bis zum Halse geschlossenen, dort von einer mächtigen weißen Krause, in der sich der kleine Kopf fast verlor, abgeschlossenen hellfarbenen Reitkleid saß sie auf dem üblichen Halbquersattel der Frauen.

Der junge Besserer, der ebenfalls abgestiegen war, klärte ihn auf, so gut es in dem Durcheinander gehen wollte. Ottheinrich hörte von dem Eintritt der Italiener sprechen, vom Gasthaus Zur Traube, vom Bericht der bischöflichen Geleitsreiter.

Alles aber, was zu seiner Aufklärung über die unerwartete Einholung in sein Ohr dringen sollte, unterbrach Gundula. Hätte sie nicht an ihrer Schleppe zu tragen gehabt, durch die sie im Gehen den Fuß verwickelte und sich das Ausschreiten verhinderte, sie würde ihn vor allen Zeugen umarmt haben.

»Da haben wir euch ja!« rief sie wiederholt, »von Räubern und Mördern freigekommen! Was fällt euch nur ein, in die Wälder zu irren, um einen losen Buben heimzuholen? Habt ihr ihn wieder? Der Vater hat meinen Ausritt zugelassen, denkt euch! Gott sei Dank, hättet ja im Walde verkommen können! Kommt aber jetzt!

279 Alle, Alle! Der Stadtvogt hält uns so lange nicht den »Einlaß« offen!«

Der junge Bessere nannte ihm die ihm unbekannten Personen, deren größere Zahl sich inzwischen im Wirtshaus erfrischte, von den reichen Söhnen der Augsburger Patrizier war ein Imhof zugegen und des alten Peutinger jüngster Sohn. Einige, die in wunderlichem Aufzug erschienen und sich zu allem wie stumm verhielten, schienen Flamen oder Spanier zu sein, sie gehörten zu dem Gefolge der Königin.

Die Sache war also die, daß heute, wie seit einigen Tagen allabendlich, beim kaiserlichen Rat ein großer Verkehr war. ... Die Zahl der Fremden, die nach Augsburg strömten, um der Schwester des Kaisers die Aufwartung zu machen, nahm stündlich zu. Die königliche Wittib von Ungarn lebte zwar selbst nach der ihr eigenen Weise still und zurückgezogen in dem neuen Hause der Fugger am Weinmarkt – außer der Jagd, die ihre Leidenschaft war, liebte sie nur zu lesen, zu schreiben und ein mit kundigen Männern anregend geführtes Gespräch – aber ihr Gefolge schickte sie, besonders ihren Verehrer, den Andächtigen von Brixen, zu den reichen Kaufleuten, vor allem in die Sankt-Annengasse zu Hans Paumgartner, dem treuen Freund ihres kaiserlichen Bruders. Dorthin nun war, mitten in die stolze Pracht des Hauses hinein, durch Marquard von Stein, den wohlgenährten Domherrn, durch Heinrich von Schwangau, den Marschall des jede Stunde erwarteten Bischofs, die Kunde gebracht worden, daß soeben des Bischofs Reisige aus Buchloe einen Trupp Italiener eingeleitet hätten, denen ein Knabe entlaufen wäre, dem wiederum ein Diener des kaiserlichen Rats, Ottheinrich Stauff, der sich den Italienern angeschlossen hätte, in den Wald nachgeritten, um ihn zu suchen, und hierauf spurlos verschwunden wäre. Daraufhin und als der kaiserliche Rat noch gehört hatte, sein Diener hätte auf diesen Knaben, der aus Ungarland stammen sollte, einen besonderen Wert gelegt, wäre der kaiserliche Rat in hohem Grade unruhig geworden. Der Rat, durch die Erwähnung der paduanischen Künstler, durch das Interesse, das Ottheinrich auf die Italiener und den für einen Ungarn ausgegebenen Knaben gelegt zu haben schien, immer nachdenklicher geworden, gab dem Plan der vom Wein erhitzten Männer, und Jünglinge seine Zustimmung, ließ die Wiener für die Herbeischaffung von Rossen und eine Gewähr des Einlasses, in dem einzigen, für Nachtankömmlinge geöffneten »Einlaßtor« sorgen, ja, widersprach nicht einmal, als Gundula anfangs heimlich, dann offen Anstalten machte, an dem Ausflug teilzunehmen.

Als man unter dem Donner der Kanonen, unter dem Läuten der Glocken wieder in die Sättel stieg, nahm man die kühne junge Reiterin, anfangs auch Ottheinrich, in die Mitte. Bald aber bedingte die Müdigkeit seines Gauls sein Zurückbleiben hinter dem Zuge. Der arme Klepper hinkte mit losen Eisen über die Brücke am Einlaßtor allen andern nach. Gundula, unablässig plaudernd, jubelnd, blieb bei ihm zurück.

»Er wollte nicht dich, sondern seine Juwelen retten, und erwartet – den falschen Prinzen von Ungarn!« sagte sich Ottheinrich, als es ihm zu schwer aufs Gewissen fiel, wie sehr es durch Gundulas Verirrung den Anschein gewann, als sollte auch er bestimmt werden, die Schwierigkeiten zu mehren, die ein geistvoller, reicher, ehrgeiziger Kaufmann, der dem Adel angehören wollte, für seine Pläne bei seiner eigenen Familie und deren nicht zu berechnenden Charakteren fand.


 << zurück weiter >>