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Ein dichter Nebel lag drei Tage über dem Waldland, dann kam die scharfe Kälte, und nun hat der Wald sein schönstes Weihnachtskleid angezogen. Wie feierliche Kandelaber sind die alten Schirmtannen, die oben auf der freien Höhe stehen, nur daß sie ihren Kerzenschmuck nach unten hängen. Tief bis auf den Boden senken sich ihre Äste unter der schweren Last, die nun ein heimliches Nest bilden, von dem man sich denken möchte, daß darunter irgend ein frierendes Häslein oder Reh ein Obdach fände. Die Birken sind mit tausend und aber tausend Kristallperlen behangen, und an ihr feines Gefieder hat sich der Rauhreif angesetzt, wo ein Blattknöspchen auf den kommenden Frühling wartet, daß es läßt, als wollte der Baum mitten im Winter seinen Mai haben, aber einen silbernen. Jedes Möslein am Weg, der Dornstrauch dort, aus dessen kristallenem Gezweig noch die roten Beeren hervorleuchten, alle haben sich in köstliche Festgewänder geworfen. Wie zierlich und fein steht der Distel ihr Silberkrönlein, wie ist aus dem geduckten Schlehenstrauche das Meisterstück eines Elfensilberschmieds geworden! Ganz still ist's, und nur zuweilen geht ein feines Klingen durch den Wald, und ein Seufzen, wenn ein Zweig einen Teil seiner Last, die ihm zu schwer geworden ist, abschüttelt. Die Buchen sind ganz dicht geworden, und auf den Weg, über dem sie wieder, wie im Sommer, doch nun aus edlem Weiß, Silber und Kristall, den gotischen Dom bilden, fällt ein wunderbares gedämpftes Licht von dem fünften nebelgrauen Himmel, der doch ein mattes Sonnengold ahnen läßt. Der Haselbusch hat sich mit breiten silbernen Bändern behängt, die in seltsamen Bogen und Windungen seine Zweige verbinden. Spinnfäden sind's, und wie würde sich die emsige Spinnerin, die nun längst wie ein totes welkes Blättlein über ihren noch schlafenden Kindlein hängt, verwundern, wenn sie sehen könnte, was aus ihrem Gespinst geworden. Fliegt ein Vogel auf, so stiebt ein Wölkchen von silbernen Sternen, und wie sie fallen, so liegen sie auf dem Weg und schmücken auch ihn, der sonst so nackt und braun ist.
Zwischen den Schirmtannen hervor, welche die Höhe umstehen, kommt auf den weißen Buchendom zu ein großer Mann geschritten, in waldmäßigem Lodenwams, einen verschabten grünen Filzhut auf dem krausen braunen Haar. Unter dem alten Hut leuchten in die Pracht hinein ein Paar graublaue Augen, und wenn an dem Mann einem zuerst nichts als seine ungewöhnliche Länge und mächtige Breite auffallen mag, so tut's ein Blick in diese Augen, denn es sind die Augen derer, die sehen. Als saugten sie es in sich, dieses Bild des Waldwegs, mit den silberangehauchten Säulenreihen der Buchenstämme, ferne durchleuchtet von dem matten Opal des Himmels. »Augen, meine lieben Fensterlein... Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt!« Diesmal ist's ein silberner Überfluß. Dort steht er an der mächtigen Buche, und es umschließt ihn das Schweigen und die feierliche Stille, und es ist, als hielten die Bäume und Sträucher den Atem an; als müßte etwas werden, etwas Wunderbares, etwas Geheimnisvolles, etwas, das den gewöhnlichen Lauf des Geschehens unterbricht. Und das feine Klingen von fern und nah und das Seufzen geht durch die Stille, als hörte man das Herz des Waldes schlagen.
Könnte es nicht doch sein, daß der Schleier zerriß nur für einen Augenblick, der Schleier, der uns Menschen von der Welt, die uns umgibt, scheidet, die wir doch fühlen, wenn wir einmal still geworden sind? Von der Stille, die am liebsten von den nächtlichen Sternen herabsteigt oder im Walde auf uns niedersinkt, der unsern Vätern ein heiliger Ort war, wo die Götter wohnten. Waren sie denn so töricht, diese Alten? – Ach warum bist du so scheu geworden, du feines braunes Reh dort? Wie sind die Kinder der Welt von einander getrennt und fern, wie einsam, wie sterneneinsam das Herz darin; nicht Tier, nicht Pflanze kennen dich, sie scheuen sich vor dir, und doch treibt der gleiche rote, sanfte Strom seine Wellen durch dein Herz wie durch das des Tieres dort. Und den Eichbaum, den vielhundertjährigen, der seine vom Blitz in wilden Sturmesnächten gestreiften Arme wie Riesenschlangen windet, den liebst du! Wie ein Freund ist er dir, den du von Kindheit gekannt und mit scheuer Verwunderung an dunkeln Herbstabenden betrachtet hast, wenn du hinter dem Vater drein gingst. Wenn er eines Morgens geborsten am Boden läge, würdest du um ihn trauern wie um einen guten alten Freund. Aber was weiß er von dir? Einsam geht der Mensch dahin zwischen dem, was um ihn lebt und stirbt, sich freut im Mai und im Winter seine silbernen Träume träumt.
Der Mann starrt auf den Weg und sein Ende, wo er sich in dem duftigen Schleier der Birken wendet, als müßte etwas von dort kommen, gerufen von der brennenden Sehnsucht, die die Einsamkeit gebiert; aber nur ein kleines Dirnlein hastet dort vorbei, in einen alten braunen Schal eingewickelt, dessen Ende hinten nachschleppt und allerlei Waldanhängsel, Dornen, gefrorene Moosfetzen, nach sich zieht. Sehr eilig hat es die Kleine, und nun verschwindet sie hinter den Haselsträuchern. Dort geht's aber auf eine dachgähe Halde, und der einzige Pfad hinunter ist eine Eisbahn. Mit ein paar langen Schritten ist er zwischen den Sträuchern.
»Halt! da kannst du nicht hinunter.«
Ein Knacken, ein leiser Kinderschrei, der seltsam die Stille durchschneidet.
»Halt dich! Halt dich an einem Zweig, ich hole dich schon.«
Halb schleifend, halb rutschend kommt er hinunter, und da auf einem Blätterhaufen in einer Mulde zusammengeweht liegt ein braunes Häufchen. Und wie er mit einer Hand an einem Zweige hängend nach ihr greift, hebt sie ein kalkweißes, erschrockenes Gesicht.
»Da faß die Hand, ich tu dir doch nichts zuleid! Fürchte dich doch nicht. Hast du dir weh getan?«
»Nein;« sehr kläglich, sehr erschrocken kommt's heraus.
»Nun, so gib die Hand!« Sie schüttelt.
»Wohin willst du?« Sie deutet mit dem eingewickelten Köpfchen nach der andern Bergseite hin, wo der Wald steil in starrender Pracht wieder ansteigt.
»Dort geht kein Weg. Woher kommst du?« Keine Antwort. »Gehörst du nach Berklingen?«
»Nein.«
»Nicht? Und die Landessprache kennst du auch nicht, sonst würdest du ›Na‹ sagen.«
Ein fremdes Kind also. Und verlaufen muß es sich haben. Denn im ganzen Wald sind jetzt keine Holzfäller mehr; die haben heut schon Feierabend gemacht und sind zu den kleinen spitzgiebeligen Häusern gegangen, wo die Kinder schon warten, bis der Vater den Tannenbaum in das grüne »Gärtlein« setzt. –
»Hast du zu deinem Vater gewollt?« Das Schütteln ist nun sehr energische Abwehr. »Also gewiß nicht zu dem,« brummt er. Nun läßt er den Zweig los, und mit einigem Straucheln und Gleiten kommt er zu dem Nestchen, wo sich das Kind duckt, als sähe es sich nach einer Fluchtgelegenheit um, und nicht los kann, weil das eisige Dorngeranke der Brombeeren es festhält. Und nun macht sich's mit einem Ruck los, daß die ganze Schleppe mit dem Waldanhängsel abreißt. Aber da hat er sie auch schon erfaßt, und so sehr sie sich sträubt und flattert wie ein Vöglein, das man in der Hand hält, so bringt er sie doch mit vieler Mühe herauf, und nun steht sie zitternd und schneeblaß auf dem Weg. Da greift er in seine Tasche und zieht einen großen rotbackigen Apfel heraus und reicht den als Friedenspfand mit einem guten Lachen hin.
»Da nimm und sage, wohin du willst, so zeig ich dir den Weg, du wunderliches kleines Fetzenmadämchen.« Denn der braune Schal ist ziemlich übel aus den Dornen gekommen. Aber sie will den Apfel nicht, und der wandert wieder in die Tasche zurück. Aber der Apfel, oder vielleicht ein Blick in die blauen Augen mußten doch eine Brücke geschlagen haben.
»Ei woher hast du den feinen Nasenrücken? Und was hat dein linkes Beinchen getan, daß es frieren muß und nur das rechte eine Gamasche hat?«
»Sie gingen nicht zu. Und es ist auch gar nicht kalt.«
Es ist das erste Wort, und sie spricht allerdings nicht die Landessprache.
»Und wohin gehst du?«
»Nirgends hin!«
»So, nirgendshin. Da geh ich nämlich auch hin, dann haben wir einen Weg.«
Und er nickt ihr ermunternd zu, steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert neben ihr her, behält sie aber vorsichtig im Auge, daß sie nicht mehr entwischen kann. Und zögernd folgt sie ihm, als wäre es doch gut, auf dem Weg zum Nirgendwohin-Land einen Gefährten zu haben, eine kleine wunderliche Gestalt in dem zerfetzten Tuch; die Stiefel tragen bis oben hinauf Spuren eisiger und lehmiger Wege; am rechten Bein eine falsch zugeknöpfte Gamasche, am linken keine, dafür aber ein großes Loch im Strumpf, durch das ein weißes Knie schimmert. Und wie er so neben ihr hergeht, steigt ein deutlicher Armeleutegeruch aus dem Schal auf, ein Geruch nach selten gelüfteten Stuben, auf dem Zimmerofen gekochtem Sauerkraut und hundert andern unbestimmbaren Dingen. Aber der Nasenrücken ist sehr fein geformt und fast stolz, die Augen lang mit breiten Lidern, die so zart sind, daß, wenn sie die senkt, die Augensterne durchschimmern.
»Also durchgegangen bist du!«
Sie schreckt zusammen, und ja! steht so deutlich auf dem erhobenen Gesichtchen. Da lacht er wieder sein gutes Lachen.
»Wenn die Leute ins Nirgendsland wollen, sind sie meistens von irgendwoher gekommen, wo es ihnen nicht gefallen hat.« »Und ich geh auch nicht mehr zurück.«
»So arg haben sie dir's gemacht?«
»Nein, nicht arg. Weißt du, das kann man nicht sagen.«
So zutraulich ist sie nun schon geworden. Und eine Weile wandern sie miteinander in dem verzauberten Wald, und er wartet mit dem feinen Gefühl für Kinderseelen, das manche Menschen haben, die wissen, daß man durch Fragen das Kind von seinem Gedankenpfädlein oft nur abirren macht, und daß das Vertrauen am ehesten durch ein freundliches Zuwarten gewonnen wird. Doch ihre Schritte werden immer zögernder und schleppender, und als da am Weg ein Reisighaufen liegt, freilich auch in einem Eiskleid, so setzt sie sich darauf und sagt sehr artig und mit der Feinheit eines gut erzogenen Mägdleins:
»Ich danke sehr, ich bleibe hier.«
»Müde?«
Er setzt sich ihr gegenüber auf einen Steinhaufen und schlägt die langen Beine übereinander: »Ist vielleicht nun der Apfel gefällig, kleines Fräulein?«
In den Augen leuchtet's auf, und eine kleine Hand streckt sich zögernd aus dem Fransengewirr nach dem Apfel aus, und ein feines Freudenrot steigt in ihre Wangen. »Gut ist er.«
Und nun erzählt sie. »Mir hat das Nähröschen einmal auch einen geschenkt und ich habe ihn in mein Bett gesteckt und nachts gegessen, wie alle fort waren. War das nicht lieb von dem Nähröschen? Es hat rote Haare und wohnt in dem kleinen Haus, vor dem im Sommer die hohen roten Blumensäulen stehen, und hat neun Geschwister, und wenn sie abends heimkommt, macht sie denen noch alle Kleider.«
»Ein treffliches Nähröschen! Und wo ist das Häuschen, vor dem im Sommer die Blumensäulen – das sind wohl Malven – stehen?«
»Zuerst kommt ein grünes Feld, darauf sind weiße Sterne und gelbe Krönchen, wenn die Sonne freundlich ist, und dann kommt man an die steilen Bäume, die hinaufstarren und die seufzen.« »So wär's am besten, wir machten uns jetzt auf die Beine und gingen zu dem Nähröschen. Die hat gewiß noch einen Apfel, denn ich habe keinen mehr. Und das ist ein kalter Sitz und das Stiefbein friert.«
Aber sie schüttelt wieder. »Ich will hier bleiben. Ich bin ja sonst den ganzen weiten Weg umsonst gegangen.«
Und nun strahlt das volle süße Kindervertrauen aus den erhobenen, sanften Augen. »Ich will auch nicht mehr zurück und will warten, bis die Nacht kommt, und Hunger habe ich keinen mehr, weil du mir den Apfel gegeben hast.«
»Die Nacht willst du da bleiben und fürchtest dich nicht! Du hast etwas Gutes vor. Weißt du denn nicht, daß die Leute, wenn die große Kälte kommt, einschlafen und nicht mehr aufwachen?«
»Ich werd schon nicht einschlafen. Ich warte ja! Sieh doch die Bäume da am Weg und die weißen Schwertchen und die Krönchen und die silbernen Fransen, und die Perlenschnüre und die Bänder! Warum haben die sich so angezogen? Die warten alle, und daß etwas kommt, das wissen die ganz gut. Und vorher ging ein Reh vorbei, das sah mich an und wußte es auch.«
»Das fühlst du auch, du? Du kleines Seelchen! Wie heißt du denn?«
»Ich habe viele Namen, aber keiner ist der rechte. Und bei Nacht kommt mir, ich wisse den rechten, und am Morgen habe ich ihn wieder vergessen! ›Arme Kleine,‹ sagt mein Vater zu mir. Aber so will ich nicht heißen. Und ich bin fortgegangen: daß es aber der rechte Weihnachtswald ist, habe ich erst gesehen, wie ich drin war.«
Da beugt er sich vor und hebt das Geschöpflein trotz dem strengen Duft des Tuchs auf seine Knie und schlägt seine Lodenjacke um das eine kalte Bein mit dem großen Loch im Strumpf. Nun fürchtet sie sich gar nicht mehr und nestelt an seinen braunen Hirschhornknöpfen herum.
»Weißt du, das mit dem Christkind, das die schönen Sachen bringt, das ist alles erlogen. Es steht alles im Katalog. Puppen und Wagen und Soldaten und alles. Und wenn ein rechtes Christkind wäre, so wüßt es, daß ich keine neuen Puppen will, die gar nichts von mir wissen und mich nicht kennen.«
»Die alten kennen dich wohl?«
»Wenn ich sie doch abends immer ins Bett lege und nie auf einem Stuhl lasse! Aber vor Weihnachten gehen immer die alten Puppen fort, und es bekommen sie die bösen Kinder, und seh ich sie dann wieder, dann haben sie schmutzige Kleider, und die Lilla, die mit den schönen Locken, die hatte nur noch ein Auge und der Arm hing ihr herunter. Und nun spiel ich nicht mehr mit Puppen.«
»So verekelt haben sie dir's, armes Seelchen!«
Aber sie muß weiter an ihrem Faden spinnen. »Und das rechte Christkind, das weiß, was einen freut, das kommt doch nicht zu mir. Deshalb bin ich herausgekommen. Hör, wie der Baum seufzt. Und wenn's ein Christkind gibt, so muß es hierher kommen. Und wenn man einschläft und muß nie mehr zurück und sich auslachen lassen, weil man so ein Dummes ist und die rechten Worte immer nicht sagen kann, die alle andern Kinder gleich wissen, und es käme das Christkind vorbei, und läutete so fein mit seinen Glöckchen... Hörst du's nicht? Seit ich im Wald bin, hör ich's und bin ihm nachgegangen, so weit, so weit, daß ich gar nicht mehr zurück kann, weil es viel zu weit ist. Und wenn ich einschliefe, so käme meine Mutter heraus und holte mich, die liegt in einem silbernen Sarg und hat mein kleines Brüderlein im Arm. Und das darf immer bei ihr liegen, wenn ich lernen muß und wenn ich ganz allein in meinem Bett liege und nur leise weinen darf, daß es keiner hört. Und vielleicht nähme sie mich dann in den andern Arm. Und ich wollt schon bei ihr in dem silbernen Sarg bleiben. Da könnten die lachen; ich hörte nichts mehr, denn es ist eine dicke eiserne Tür über dem silbernen Sarg und ein Siegel darauf, und kein Mensch darf herein.« »Und das Lachen, das tut dem armen Seelchen so weh, wenn es die rechten Worte nicht findet?«
»Weißt du das denn nicht? Dich lachen sie doch auch alle aus!«
»Mich! Ja kennst du mich denn?«
»Du bist der Ruinengraf. Und warum gibst du den Mäusen, den netten kleinen, die sich hinsetzen können wie rechte Leute, und aus den Händchen essen, warum gibst du denen nichts? Mir hast du doch gleich den Apfel gegeben?«
»So – den Ruinengrafen nennen sie mich! Nicht übel, es ist immer gut, wenn man seinen Namen weiß,« brummt er. »Den Ruinengrafen! Und was für wunderbare Dinge du weißt! In einem silbernen Sarg liegt deine Mutter, du Armes! Und wohin gehörst du nun? Und warum geb ich den Mäusen nichts?«
»Ich höre manchmal, was sie in der Nähstube reden, die geht in den Lindenbaum, und da hab ich eine Treppe hinauf. Und die Margarete, die dick ist und wie ein Herr ein kleines Bärtchen hat, sagt, es wäre eine Schande, daß du in dem Geklüft wohntest, und du wärest so arm, daß die Mäuse mit verweinten Augen einem entgegenliefen, wenn man an deine Mauer käme.«
Nun lacht er laut auf, erschütternd und gewaltig dröhnt es aus der mächtigen Brust auf, ein urgermanischer Ton ist das in der verzauberten Waldstille. Das Seelchen erschrickt fast; dann läutet plötzlich ihr feines klingendes Lachen, wie wenn ein Vogel mit seinem Flügel eine Harfensaite berührte, daß die ein weniges klänge.
»Nein, die haben's zu arg gemacht – und auf die Mäuse will ich achten, daß sie ihr anständiges Futter kriegen.«
»Ich hab dich dann gesehen, wie du mit deinem Knecht gegangen bist, der aussieht wie der Kaliban in dem roten Buch, und du hast mir so leid getan, weil du so arm bist und so groß wie kein anderer, und nicht einmal die kleinen Mäuse bei dir satt kriegen. Aber nun ist's nicht wahr! Die lügen oft.« Wohin mag doch das vermummte Kind gehören, dessen Mutter in dem silbernen Sarg liegt? Nicht in das kleine Städtchen, so weit her kann sie nicht gekommen sein. Ihr Deutsch klingt fremdartig und zuweilen ein wenig stockend, als ob es nicht die Sprache sei, die sie immer spreche. Welch eine Woge des Schicksals mochte das arme Seelchen in das Waldland verschlagen haben? Die Waldleute sind ein wanderlustiges Volk. Kein Haus in dem uralten, noch umwallten Städtchen oder in den heimeligen Dörfern, das nicht ein Glied über See hätte. Sie haben dann allerhand Schicksale, diese Waldleute, kommen zu Geld und Ehre und verlieren auch beides wieder. Aber sie sieht nicht nach dem Menschenschlag aus. Er könnte es jetzt wohl aus ihr herauspressen, wohin sie gehört, aber es ist gar zu schön, in dem verzauberten Wald auf das feine Märchenstimmchen zu hören. Und er sollte doch die feinen Linien kennen, diese langen Lider, es ist wie ein Rätsel, das sich ihm jeden Augenblick lösen kann. Und er wird sie ja sicher nach Hause bringen. Vielleicht tut's den Ihrigen, die so wenig das arme Herz kennen, gut, wenn sie sich ein kleines absorgen. Und über dem keimt in seinem Herzen eine ferne, schwache Hoffnung auf. Vielleicht ist's ein armes Verlassenes unter Fremden, denen nichts an dem Seelchen liegt. Aber gleich schilt er sich einen Träumer. Kinder, die unter allen Umständen an Weihnachten einen neuen Puppensegen – »aus dem Katalog« – über sich ergehen lassen müssen, gehören nicht armen Leuten. Da legt sie ihr eingewickeltes Köpfchen an seine Brust: müde ist sie und so froh, als ob ihr das Reden von ihrem Leid schon einen Stein vom Herzen genommen hätte. So geborgen, als schließe der weiße Ring der Bäume in ihrem feierlichen Schweigen sie ein und beschlösse sie für immer und immer, und vielleicht kommt das Christkind doch.
Und es fängt der zartgraue Himmel an, sich hinter dem zierlichen Gegitter der Zweige, die so dicht und heimlich stehen, und von denen ein so weiches Licht herabkommt, sacht zu färben. Ein blasses Rosa zuerst. Und wie stehen sie nun gegen den Rosenteppich da, die Äste und Zweige, und das ganze Netzwerk von Kristall und weißem Flaum! Und immer röter und herrlicher wird die Purpurwand, und wunderbare blaue, violette und graue Töne steigen aus dem Weiß auf. Lautlos sehen die beiden in die himmlische Herrlichkeit. Und das Seelchen hält fast den Atem an, denn nun muß es kommen. Woher, weiß es auch. Dort, wo der Weg sich wendet, gerade in die Glut hinein, da hat die schwere Silberlast ein Buchenstämmchen herabgezogen, daß es im Bogen über den Weg hängt. Da durch muß es kommen. O wie der unauslöschliche Kinderglaube aus den grauen Augen leuchtet! Kommt nicht auch das Klingen immer näher? Das braune Tuch ist bedeckt mit Silbersternchen, daß es wohl Aschenbrödels Kleid von der Mutter Grab her sein könnte. Ihre Pupillen weiten sich, daß die graue Iris nur einen schmalen Streifen um die Schwarze bildet, sie gleitet herunter, sie faßt ihn an der Hand und zieht ihn mit sich fort. Da unter den herabhängenden Tannen tief unten ein goldenes Feuer, ein Bogen, wie ein ungeheures, loderndes Flammentor. Die Himmelstür! Weit offen steht sie und gerade auf sie zu führt die gotische Silberhalle, die herrlichste Prachtstraße der Welt. Nun ist's offenbar, darauf haben sie gewartet, die Bäume, die Kräutlein im Silberkranz, das Reh, der Vogel, der immer vorausflog mit dem roten Käpplein. Fest aneinander geschmiegt stehen sie, das Kind legt seine Ärmchen um den herabhängenden Arm des Mannes. Und ein feines goldenes Band schlingt sich von dem einen der zwei Herzen zum andern, ein Band, gewoben aus jenem Gold des Himmelstors. Und über seine Hand, an die sich das Kinderköpfchen schmiegt, fällt plötzlich ein weiches, sanftes Gewoge. Er wendet seine halbgeblendeten Augen, die noch in feurigen Ringen überall das Bild des goldenen Tores hinwerfen, nach ihr. Das Tuch ist abgefallen und um das erhobene, von seliger Erwartung und scheuem Entzücken erleuchtete Angesicht wallt eine Flut von blaßgoldenen Haaren. Und einer der feurigen Ringe legt sich um das Köpfchen, daß es davon umgeben wird und sein Herz ein leiser Schauer trifft, als berühre es der Himmlischen einer. Dann versinkt das Tor, noch ein letztes Gluten am Himmel, das den Wald mit tausend und tausend Rosen behängt – und nun steigen graue Schatten auf; wie Gespenster werden die Bäume; der Eichbaum dort, windet er nicht seine Schlangenarme? Die Stunde, die einzige, ist vorüber.
Und doch nicht vorüber, denn das Mägdlein, das mit seiner blaßgoldenen Mähne aussieht wie ein aus seiner braunen Hülle geschlüpfter Schmetterling, sagt mit seinem hohen feierlichen Silberstimmchen: »O, bist du nicht froh, daß doch alles wahr ist! Und daß wir das Christkind gesehen haben!«
»Hast du's gesehen?« fragt er fast scheu.
»Sein Tor hab ich gesehen und seinen Himmel, und nachher hingen überall rote Kränze. Die haben die Engel heruntergeworfen. Hast du die Rosenkränze, die so brannten und so schön waren, nicht gesehen? Sie hingen doch auf den Bäumen, und der Strauch dort hat sieben goldene Kronen gehabt.«
»Ich sah sie, und du hattest auch ein Krönlein, Seelchen.«
»Ich hatte auch eins! Hab ich's immer noch?«
»Nun ist's vergangen.«
»Sieh, wie die Bäume nun grau werden und sich einwickeln in lauter Schleier, weil sie nun schlafen wollen. Und ich bin so müd. Ich muß weinen, ich bin ganz müd. Du, ich hab mich überfreut!«
»Überfreut hast du dich?«
»Weißt du, wenn man so starke Freude hat, das tut doch weh.«
»Seelchen, komm, wir müssen eilen, ich trage dich.«
Er reißt sich das Lodenwams herunter, daß er in seinen weißen Hemdärmeln dasteht, und wickelt sie darin ein und nimmt sie auf seine starken Arme.
»Kannst du denn kein kleines Mädchen in deiner Ruine brauchen, ich esse nicht viel. Du mußt aber niemand herein lassen, daß man mich nicht sieht. Denn sonst holen sie mich. Weil die mich haben müssen, wenn ich auch nur ein Mädchen bin und es ein Jammer ist, daß die Mutter nicht mich mitgenommen hat und das Brüderlein leben geblieben ist.« »Die müssen dich haben!« Er schaut auf das weiße Gesichtchen, das in seinem Goldgewoge auf seiner Schulter liegt. – Die seinen Linien der Nase, die ein wenig zu großen Augen: das Rassegesicht – – der Braunecker. – –
»Prinzessin! Ja, um Gotteswillen! Wie lang sind Sie schon fort! Ja, sucht denn kein Mensch nach Ihnen?«
»Ja, warum sagst du denn nun Sie. – Dann muß ich's auch sagen. Ich hab kein Du, kein einziges Du, wenn Vater fort ist.«
Armes Prinzeßchen, armes einsames Seelchen, das er nun in seinen Käfig zurückbringen muß. So vertrauensvoll schlingt sich das Ärmchen um seinen Hals, während er mit langen Schritten dahineilt. Wohl wußte er, daß in dem alten Schloß, das mit seinen dicken Türmen in das lieblichste Tal hinabsieht, das einzige Töchterlein des Fürsten wohnt, der nur zu den hohen Festen und den Jagden nach seinem alten Stammsitz zurückkehrt. Aber es war von dem Kinde immer nur mit einem gewissen Achselzucken die Rede gewesen, so daß er sich ein vielleicht schwachsinniges Geschöpf vorgestellt hatte, das in seinem armen Dasein die bitterste Enttäuschung des alten Hauses sei. Die Fürstin und zwei Söhnlein, ein dreijähriges und ein wenige Tage altes, waren vor zehn Jahren innerhalb einer Woche an einer schweren Diphtherie gestorben. Geheiratet hatte der Fürst bis jetzt nicht wieder, und doch würde es sein müssen, denn der alte Stamm stand nur auf seinen zwei Augen. Aber warum wimmelt jetzt der Wald nicht von Jägern und Hunden, warum ertönen die Sturmglocken aus den Dorfkirchen nicht, wie man es immer tut, wenn irgendein Kind, das vielleicht seinem Vater das Essen in den Schlag gebracht hat, nicht zurückgekehrt ist. Seelchen, warum suchen sie denn nicht! Drei Stunden weit ist sie freilich gegangen, und das mochte ihr niemand zugetraut haben. Und mit Schrecken dachte er, wie es wohl gekommen wäre, wenn es ihn nicht in den Wald gezogen hätte heute, ob nicht sein einsames Herz von der Herrlichkeit da draußen so erfüllt werden könne, daß es den bitteren Hunger nach einer einzigen menschlichen Seele vergäße.
»Schläfst du, Seelchen?«
»Nein, es ist so schön, weil du mich trägst, und du bringst mich doch zu deiner Ruine! Wie das Schneewittchen über den sieben Bergen. Du bist freilich kein Zwerg, sondern schier ein Riese, und du kannst auf alle heruntergucken, und so lang will ich auch wachsen. Und stark bist du und brauchst dich im Dunkeln nicht zu fürchten.«
»Vielleicht fürcht ich mich doch.«
»Jetzt?«
»Nein, jetzt nicht. Aber soll dein Vater kein Kind mehr haben?«
»Du hast auch keins.«
»Jedes Kind bleibt bei seinem Vater.«
»So muß ich zurück! O sag's nicht. Ich will nicht. Ich bleibe da, und wenn auch die Bäume noch so schrecklich sind in ihren weißen Tüchern. So sind gewiß tote Leute, so steif und mit weißen Tüchern. O das träumt mir, das träumt mir. Aber ich bleibe hier. Nun haben sie alle einen Zorn und alle reden zugleich, und ihre Stimmen sägen und ich darf meine Ohren nicht zuhalten. Und das Tuch hab ich ganz zerfetzt.«
»Wie du reden kannst, Seelchen, und du meinst, du habest die rechten Worte nicht! Warum sagst du das nicht deinem Vater, deinem lieben Vater!«
»Wann denn? Ich muß immer so artig sein, wenn er da ist. Und das mußt du doch wissen, daß es nicht artig ist, wenn man sich über Miß Whart verjammert.«
»Seelchen, dein Deutsch ist wunderbar, ganz dein eigen. Und du sprichst wohl englisch mit der einen und französisch mit der anderen?«
»Mademoiselle ist nach Anvers in die Ferien, und Miß Whart hat Migräne, und Fräulein Braun – aber das ist ein großes Geheimnis, ich sag dir's nur, weil du's nicht weitertratschest, – sie ist zu Karl gegangen.« »So, zu Karl.«
»Der heiratet sie gewiß einmal, und dann kauft sie sich ein Plüschsofa. Daß sie sich nicht schämen muß, wenn die andern Frauen bei ihr Visite machen. Und das muß jeder anständige Mensch haben.«
Aber sie erschrickt in tiefster Seele, denn er hat gewiß kein Plüschsofa. Und es könnte ihm weh getan haben. Und sie küßt ihn schnell auf sein Ohr, das ist am nächsten und ist auch nicht so bärtig. »Ich meine nur Frauen, weißt du.«
»Laß das, Seelchen,« sagt er fast streng, »und sag, wie du fortgekommen bist: sie wird dich doch nicht zu dem Karl genommen haben.«
Ach, nun hat er es doch übel genommen und er hat sicher kein Plüschsofa.
»Nein,« erzählt sie gang verschüchtert weiter, »die Babett sollte mit mir spielen, aber zu der kam ihre Mutter, die wohnt weit weg, und die weinte und erzählte viel, es kam eine Kuh und ein Jude darin vor. Wie die Leute reden, das versteh ich nicht so recht. Und darf's auch nicht lernen, sagt Fräulein Braun: Es ist gemein.«
Es klingt, wie wenn er etwas brummte, – wie ›dumme Gans!‹ klingt's.
»Nun weiter!«
»Da ging die Babett und wollte der Mutter etwas bringen, das in einem Buche ist, wo man Geld dafür bekommt, und es war eine große Freude dabei. Für die Mutter, nicht für die Babett. Und die Mutter ging und ihr Tuch ließ sie da. Und da war's, wie wenn mich etwas packte und nach dem Tuch hinzöge. Und da wickelte ich mich darin ein, wie's die Waschfrauen machen, wenn sie im Regen kommen. Eine Gamasche hab ich nur angebracht, dann hab ich Angst bekommen und bin schnell die Dienertreppe hinunter. Und es begegnete mir niemand. Dann bin ich durch den Park gegangen, und ein Gärtner hat mir ›Vogelscheuche‹ nachgerufen, dann kam ich ans Wach. Es war aber keine Brücke da, so bin ich übers Eis gegangen.« »über das Wach gegangen!«
»Es war ganz schön. Das Wasser lief unten, und es gluckste, und es lachte einer heimlich da unten, und ein Fisch schoß vorbei, und ein großes Loch war auch da, um das ging ich herum ...«
So, nun weiß er, warum niemand hier suchen geht. Das Wach ist nur ganz dünn gefroren und hat Stellen, an denen unterirdische Quellen aus dem Boden kommen, wo auch im härtesten Winter das Eis nicht tragt. Und er möchte an einen Engel glauben können, der das Kind auf dem Todespfad geleitet hat. Und er sieht im Geist das Flüßchen zwischen seinem Wald und den Wiesenufern, unter der trügerischen Eisdecke, und die vielen Männer, die jetzt mit Fackeln und Stangen nach einem kleinen, halb erstarrten Körper suchen. Und der Fürst muß heute abend kommen. Mit dem Achtuhrzug. Und die müssen ihn mit der schrecklichen Nachricht empfangen. Und der Mann, der schon so viel verloren hat, was muß er leiden an diesem fürchterlichen heiligen Abend. Mit seinen längsten Schritten eilt er dahin. Aber es ist eine Stunde in der Nebelnacht bis zu seiner Ruine, von der aus er erst Nachricht geben kann. Das zarte Kind muß bald unter ein Obdach kommen. Und dem Fürsten wird es auch so lieber sein, als wenn er seine Tochter aus einer Bauernstube abholen muß. Der Pfarrherr ist unbeweibt, wunderlich und menschenscheu, studiert jetzt seine Predigt, wird gar nicht wissen, was er mit dem hereingeschneiten Gast tun soll. Und der Nebel schließt sie immer dichter ein. Kennte er nicht jeden Tritt hier, so wäre es schlimm bestellt ums Heimkommen. Und er macht sich bittere Vorwürfe, daß er nicht gleich geeilt hatte.
Aber das Kind will jetzt von ihm wissen, so viel, so viel. Mit dem sicheren Instinkt der Kinder hat sie herausgefühlt, daß sie einen Freund gefunden hat.
»Warum wohnst du in einer Ruine, warum bist du so arm? Bist du auch das Christkind suchen gegangen?«
Und im Weiterschreiten erzählt er ihr von sich. Erst zögernd, denn er ist es fast ungewohnt, von sich zu reden, dann mehr für sich selbst, wie es sehr einsame Menschen tun, wenn sie einmal ihr Herz öffnen. Von dem großen Brande, der in einer Nacht das alte Schloß, welches sein Vater an einen reichen, jagdlustigen Herrn vermietet hatte, zerstört hat.
Wie sein Vater und er Offiziere waren; beide in demselben Regiment. Und wie der alte Oberst es nie verwinden konnte und sich schwere Vorwürfe machte, daß er das Schloß vermietet, um seinem Sohn das Dienen in Berlin möglich zu machen. Und wie sie beide es nicht übers Herz bringen konnten, die Trümmerstätte, die die Heimat so vieler ihres Blutes gewesen war, wiederzusehen. Und wie der Vater starb und er so allein war und in kleinen nordischen Grenzstädten stand, wo die Wolken tief herabhängen und die Walnüsse bereits Südfrüchte geworden sind. Und wie er malte. Zuerst die grauen Wolkenzüge über den nordischen Ebenen und dann, aus der Erinnerung, das Bild des verlorenen Vaterhauses. Und wie alles, was nicht Farben und Malleinwand war, immer mehr ein bitteres Elend wurde und Verbannung und ein nagendes Heimweh nach dem Waldland. Das Heimweh, das die Seele mit grauen Fäden bespinnt und zusammendrückt und von dem nur reden kann, wer es einmal gekannt. Das Heimweh, das nach jedem Stein der Heimat schreit, das nach den fremden Wänden schlagen möchte. Das immer wieder dem Herzen die trauten Bilder vorhält. Wie es war, als die Halde im bittersüßen Duft der Schlehen lag, am ersten heißen Apriltag. Wie der Schloßbrunnen rauschte, in dem sich zuweilen Vogelgetön und die Sonntagsmundharmonika des Stallburschen verfing, daß es an seiner Steinschale ein wunderliches Echo fand, daß es gewiß auf der ganzen Welt keinen solchen singenden Brunnen mehr gab. Wie die Abendsonne auf dem alten Gemäuer lag und aus den Fenstern so viel goldene Augen machte, die ins Waldland hinausblickten. Bis das Bild aus Ton und Farbe und Duft gewoben vor dem Auge steht, daß Kasernenhofmauern und die grauen Ebenen und die Sturmwolken, oder die mitleidlose Sonne an den klarkalten Tagen, die alle Linien starr macht und so unbarmherzig die bittere Kahlheit zeigt, nicht mehr zu ertragen sind. Und wie er plötzlich dort Schluß gemacht. Weil – nein, das sagt er dem Kinde nicht, daß da ein kleiner Revolver lag und nur die Hand eines treuen Burschen den Punkt unter der Geschichte verhinderte. Und wie er nach Berlin auf die Akademie ging und malte.
Von was er lebte, konnte er schier selbst nicht sagen. Von dem Ertrag seiner Jagd, die er an den Fürsten verpachtet hatte; von dem, was sein Wald zuweilen abwarf, und (wenn das sein Vater noch hätte wissen können!) vom Tapetenzeichnen. Und wie ihm keine Bitterkeit des Deklassierten erspart war. Und wie seine Länge, »der Herr Graf«, der »Leutnant a. D.« und die Härten seiner so ganz allein erworbenen Malweise alle schlechten Witze der langhaarigen Kunstgenossen entfesselten. Wie die nicht Ruhe gaben, bis er einen der windigsten und frechsten Gesellen am Kragen packte und mit ausgerecktem Arm zum Fenster hinaushielt in den Regen, wie der sich auch wand und krümmte. Und das Wohnen in billigen, entlegenen Quartieren, und die ungeheure fürchterliche Einsamkeit, die nirgends qualvoller und entsetzlicher sich aufs Herz legt als in einer Millionenstadt...
Schon längst hat er vergessen, daß ihm jemand zuhört. Das Kind ist wohl eingeschlafen, es rührt sich nicht mehr. Aber das ist ein Irrtum. Das Kind ist hellwach und nimmt jedes Wort in sein feines Herz auf, wo alles unvergessen liegen und, wenn die Stunde kommt, wieder heraufsteigen wird zu jedermanns Verwunderung. Und das phantastische Köpfchen dichtet Bilder dazu, himmelweit entfernt von der Wirklichkeit, aber doch wahrhaftig, mit der innern Wahrheit der Dinge.
Und die Kunst ist eine strenge Herrin, und nur selten noch wird ihm die Seligkeit des Gelingens geschenkt. Und wie an einem stickigen Sommerabend, als aus dem Hinterhof die Luft wie ein glüher Brodem voll unguter Düfte heraufstieg, keifende Weiberstimmen, gröhlender Gesang, das jämmerliche Weinen eines verlassenen Kindes die Musik dazu gemacht, und es über ihn kam mit Riesengewalt. Nur noch einmal den Duft des Heus einatmen, wie es der Abendwind auf weichen Schwingen aus dem Tal heraufbringt, nach dem Schloßberg. »Ja, bin ich denn hier angeschmiedet, ist das noch Menschentum oder ist's ein Höllenkäfig, in den wir da zusammengesperrt sind?« In der Nacht noch, nur mit dem, was er gerade hatte, ist er davongegangen. Von Würzburg an reist er wie ein Handwerksbursche. Und wie er davon spricht, ist's nicht viel anders, als es wohl seine Vorfahren, die mit Kaiser Friedrich in der Wüstenglut hungerten und brieten, oder mit den Niederländern in den spanischen Befreiungskriegen im überschwemmten Land halb wie die Frösche lebten, den aufhorchenden Frauen und Kindern am heimatlichen Herde erzählt haben mochten.
»Und nun das Glück. An einem Regentag komm ich heim; es tropft mir von den Bäumen auf den Kopf und es rauscht und gluckst, und die alten Wolkenfrauen ziehen ihre Schleppen über das Wiesental. Und wie die Linden duften! Es war mir lieb, daß ein Regenschleier die leere Stelle ein wenig verhüllte, wo ehemals das steile dunkle Dach zwischen den Bäumen stand. Es war Abend geworden, und ich dachte: jetzt steigst du noch ein wenig auf dem Schutt herum, daß es dir am Morgen nicht mehr so schrecklich ist. Ich hole mir die Schlüssel beim Förster, denn die Tore stehen ja noch. Der hat eine große Freude und tut mächtig geheimnisvoll. Es knarrt das alte Tor mit dem Ton, den ich so oft im Traum gehört, es ist ganz wie ehemals. Einen Augenblick muß ich noch die Augen zumachen und die Zähne zusammenbeißen vor dem, was kommt, denn jetzt müßte dort die Palaswand aufsteigen, die beiden Hunde hervorstürzen, ich müßte des Vaters Stock hören. Aber wie ich aufschaue, ist's doch wieder ganz anders als ich gedacht. Der Wald hat schon wieder ein wenig Besitz genommen, dort an der Mauerwand rauscht noch unversehrt der Brunnen, ein später Amselschlag hat sich darin verfangen, und er klingt und klingt. Ein wilder Rosenstrauch hängt über dem Brunnen, und eine der Linden lebt auch noch, ohne Krone zwar, an einer Seite kahl, aber die andere hat die treue, gute mit tausend gelben Büschlein behängt. Und es riecht nach Heimat. Der Förster führt mich durch einen Steinwall, den er selbst geschichtet hat, zu einer Stelle, wo herabgestürzte, halb verkohlte Balken ein Dach gebildet haben. Eine rohe Bretterwand, dahinter eine Tür. Die Hofstube tut sich auf. Dort saßen in früheren Zeiten die Knechte, und der ganze große und hohe Raum mit seinen vier tiefen Fensternischen ist unversehrt. Die Fenster verdeckt freilich der Schuttberg. Damals, jetzt nicht mehr. Der grüne Kachelofen steht noch da, der Tisch, die langen Bänke, altes Zinnwerk. Daneben ist noch eine Kammer, wo in früheren Zeiten der Knecht, der die Feuerwache hatte, sich aufhielt. Und da stand noch ein uraltes Bett und ein grünglasiertes Waschbecken. Davon habe ich zuerst Besitz ergriffen, habe mir das am singenden Brunnen gefüllt und mit seinem Wasser mir viel, sehr viel vom Herzen gespült. Und obgleich der Förster, der dies alles im letzten Winter, als er einer Fuchsspur nachging, entdeckt und geheim gehalten hatte, es nicht dulden will, so bin ich die Nacht dageblieben.«
»O, ich will den singenden Brunnen hören. Nimm mich mit zu dir.«
»Ja, hast du denn das alles gehört, Seelchen, nun, dann hör auch auf mein Geheimnis. Ich dachte, du schliefest. Wenn es die Leute hörten, wie würden sie über den verrückten Ruinengrafen lachen. In der ersten Nacht schon, wie ich da auf dem alten Knechtsbett lag, habe ich's gewußt. Wer eine solche Heimat hat wie ich, die so vielen lebendigen Herzen einst das Höchste war, um die sie geblutet haben in vielen Schlachten, in deren Frieden ihre Kindlein spielten, in deren Schatten sie sich zur letzten Ruhe legten, der darf sie nicht verlassen, ihr nicht untreu werden, muß an seinem Teil und so gut er es kann, sorgen, daß die, die nach ihm kommen, das köstliche Gut bekommen, das ihm die Alten hinterlassen. Der Thorsteiner, der vor achthundert Jahren mit seinen Bauern die Steine zu dem festen Haus zusammentrug, hat es auch hart gehabt. Vielleicht nicht so hart wie der letzte, der da auf dem Knechtsschragen liegt. Vielleicht. Und wenn er jetzt da hereinschritte, durch die Türe, mit seinem harten braunen Gesicht unter der eisernen Sturmhaube, möcht ich mich nicht unter seinem Blick winden müssen. Und darum ist mir nicht eine Stunde wohl geworden in meiner Haut, von da an, wo ich wußte, daß die Dohlen und Turmkrähen über ihren zerstörten Nestern herumflattern. Sie haben nach mir verlangt, die Väter, und mir keine Ruhe gelassen, und sind hinter mir drein auf der Ebene geritten, wo die Wolken so tief herabhängen. Und wenn ich zwischen den Vorortbahnen und ihren hundert Lichtern und dem Menschengewühl der armen Heimatlosen im Berliner Norden herumstieg, haben sie an mein Herz gestoßen, daß es mir klar wurde, warum die so ruhelos sind, so verbittert, so unstät, so pflichtlos oft. Weil das deutsche Herz nach einer Heimat schreit. Hat es keine mehr, an der noch die Sitten, die Taten, die Leiden der Alten hängen, so muß es suchen gehen und wird unruhig und füllt sich mit allerhand, was es hin und her reißt und nimmer satt werden läßt.
Und ich baue sie wieder auf, meine Heimat. Manchen Kampf darob habe ich mit dem alten Herrn gehabt. Denn zuerst da sollte es wieder werden, wie es gewesen ist mit seinem Turm und Wall und Ecken und Winkeln. Aber der alte Herr unter seinem eisernen Sturmdach lacht mich grimmig aus. Von der Million, die ich dazu brauchte, und ob ich die mit Tapetenzeichnen zu verdienen gedenke, redet er nicht. Brauchst du denn eine Festung? Bilde dir nicht ein, daß du könntest mit allen Rissen und Plänen, die du machen magst, – was wir konnten. Wir bauten, weil wir nicht anders konnten. Und gegen wen willst du in deinen Wällen Geschütz auffahren? Gegen die Hollacher? Da versank der schöne Traum, und ich habe ihm auf meinem Schragen wie ein Bub nachheulen müssen. So wird's nun eben ein festes gutes Haus. Und wenn ich mich darum mein Lebtag nicht besser betten kann als auf dem Knechtsschragen. Und zuerst habe ich mit meinen zwei Händen angefangen und dabei das Berliner Elend hinausgeschwitzt. Der erste Herr von Thorstein wird auch seine Schultern angestemmt haben, wenn ein gar zu schwerer Stein das letzte Eck am Schloßberg heraufkam. Woher wären denn die meinen so breit? Und heutzutage, wo die Kinder schon mit dem Rundreisebillett im Steckkissen ankommen, muß es auch noch Leute geben, die wissen, wo sie hingehören und für was sie leben und vielleicht sterben müssen.«
»Aber du baust dein Dach wieder dorthin, wo der Himmel so leer ist zwischen den Bäumen, daß du wieder hinsehen magst,« flüstert ein halbträumendes Stimmchen.
Er erschrickt fast, so gut hat sie aufgemerkt. Nun, bis morgen wird sie alles vergessen haben.
Und jetzt blinkt plötzlich ein goldenes Licht durch das weiße Gegitter eines Holunders. Der lange Thorsteiner klopft an einen Fensterladen, ein Frauenkopf fährt heraus. Von ihrer ungeheuren Nachricht ist die Gute so bedrängt, daß sie es sofort, eh sie noch weiß, was er will, weitergeben muß.
»Wissen Sie's schon, Herr Graf, drüben die Prinzessin, das Arme, das nicht so recht im Kopf ist, ist ertrunken im Wach. Seit vier Uhr suchen sie's mit Stangen und Fackeln.«
»Unsinn, Frau Scheiterlein, schnell packe Sie Peterles Strümpfe und Sonntagsschuhe in einen Korb und komme Sie zu mir, aber schnell.«
Und schon ist er mit seinen langen Schritten weiter. Wieder eine Reihe hoher Bäume, dann eine Mauer. Und nun kommt's. Dem Kinde, das sich vor der Stimme der Frau ganz in seine Hüllen verkrochen hat, klopft das Herz. Denn nun kracht und brummt und stöhnt das Tor.
»Der singende Brunnen, du!«
Aber der schläft. Durch graues Gestein, ein Lichtlein schimmert, ein hoher großer Raum tut sich auf, aus dem eine wohlige Wärme und ein köstlicher Duft ihnen entgegenschlägt. Ein herrlicher, großer Tannenbaum auf einem Aufbau von Moos und Steinen, und darunter etwas Wunderbares, das das Kinderherz höher schlagen macht.
Nun läßt er sie heruntergleiten. Ein langer Kaliban steht vor seinem Herrn, den er ansieht wie ein treuer Hund, der jede Bewegung vorauszuberechnen scheint. Zwei Schriftstücke bedeckt der Haus- und Schloßherr mit langen, eiligen Zügen.
»Wenn du's gewinnen kannst, vor acht Uhr, Märt!«
Und mit eiligen Schritten verschwindet der Bursche und läßt gerade noch die Frau Scheiterlein mit Peterles Strümpfen ein.
»Nun, Frau Scheiterlein, wie fühlt Sie sich als dame d'honneur?«
Die Frau macht eine wilde Armbewegung, und mit einem Schwall von ihm unverständlichen Worten wird das Kind in den Salon geleitet, der in einer der vier Fensternischen bequem Platz hat, wo sie mit vielem Protest zwar – weil sie voll Stacheln seien – Peterles Strümpfe anziehen muß, während er im Nebenraum seine Toilette macht. Sie wird nicht eleganter dadurch. Peterles Schuhe erweisen sich als zu drückend und werden unnötig erfunden, Peterles Strümpfe stehen von selbst.
Und nun erhebt sich die schwierige Frage: »Frau Scheiterlein, was kann Sie kochen?«
Ein Zündhölzchen flammt und unter einer Teemaschine hüpft ein blaues Flämmchen. Frau Scheiterlein kann vielerlei kochen, Pfannkuchen, Eierschmarren; aber sie empfiehlt einen guten, festen Kindlesbrei als in allen schwierigen Lebenslagen das beste für hoch und nieder. Bei hoch macht sie einen kleinen Knix. Dann geht sie ab, und man hört bald draußen ein Feuer knistern.
Aus dem braunen Tuch, das zum Verlüften hinausbefördert wird, hat sich ein sehr, sehr schmächtiges Mägdlein in einem blausamtenen Hänger mit altem Spitzenwerk am feinen Hälschen geschält. Aber es könnte anhaben, was es wollte, man sieht nur die wallende Mähne vom blassesten Gold, die zu beiden Seiten des Gesichts herabfällt. »Wenn du so dick sein wirst wie die Haare, Seelchen, so ist's recht. Nun gibt's bald eine Schale Tee.«
Aber sie will gar nichts. Auf den blassen Wangen brennen rote Flecken und die Augen leuchten vor Verlangen. Ach sie ist in des rechten Christkinds Reich gekommen, da unter dem Baum ist etwas so unglaublich Schönes! sie hüpft auf ihren grauen dicken Strümpfen dorthin. Aber er hält sie zurück. »Einen Augenblick, Seelchen, mach fest die Augen zu.«
Da steht sie, vielleicht zum ersten Male in ihrem armen, kleinen Leben ein erwartungsvoll seliges Kind. Und es hat sich doch von jeher der ganze Segen der so hoch entwickelten deutschen Spielwarenindustrie über sie ergossen. Und nun klingen alle Weihnachtsglocken zugleich in ihrem Herzen zum erstenmal, und sie macht krampfhaft die Augen zu, so fest, daß sie noch die feinen Händchen ballen muß. Ein Streichhölzchen knistert und ein feiner köstlicher Wachsduft erfüllt den Raum. Augen auf! Da steht der Baum im Glanz seiner zehn Kerzen, denn einen andern Schmuck trägt er nicht. Und darunter erglänzt im sanften rötlichen Schein das Wunderwerk. Eine Krippe, aber nicht ein Stall, sondern aus grauem Steinwerk erbaut, eine Ruine, eine Steinplatte als Dach, die Ritzen mit Moos gefüllt. Und durch eine Rubinglasscherbe, die zwischen die Steine eingelassen ist, von oben in sanftes Rosenlicht getaucht, die heiligen Gestalten. Aus farbigem Wachs modelliert von den glücklichsten Künstlerhänden. Ein tiefer Atemzug des Entzückens!
»Das Christkind! Liegt so mein Brüderchen in meiner Mutter Arm im silbernen Sarg?«
Denn unter dem Rosenlicht liegt so sanft und lieblich ausgestreckt auf einem Bettchen von seidenweichen Disteldaunen Maria, ihr Kind im Arm. Sie schläft, das rundliche rosa Köpfchen ist an ihre Brust geschmiegt, und mit der einen Hand hält sie, wie den köstlichsten Wiegenvorhang, ihr weiches gelbes Haar um das schlummernde Kind. Über die beiden beugt sich, mit dem schönsten Ausdruck beglückter Liebe und treuer Sorglichkeit, Joseph. Auf dem Pfädlein, das durch Moos und graue Flechten hinaufführt zu der Öffnung, wandern ein Knabe und ein zerlumptes Mägdlein. Ein graues Wachseselein und eine biedere breite rotbraune Kuh sehen aus einem Verschlägchen heraus.
Das Kind kniet vor den Herrlichkeiten auf dem Boden und schaut und schaut. Und der lange Thorsteiner hinter ihr sieht mit der gleichen Kinderfreude auf sein Werk.
»Ein Engelreigen gehörte wohl auch noch dazu, aber ich bin nicht zurecht gekommen mit dem Federvolk. Wo denen wohl die Flügel herauswachsen?«
»Hast du das gemacht?«
»Siehst du, es war freilich eine große Zeitverschwendung. Aber etwas muß der Mensch zu Weihnachten bekommen. Die letzten Jahre gab's nichts, und es war ein Weihnachtselend, wie es nicht an die größte Wand zu malen ist. Aber jetzt bin ich Hausherr und werde mich doch nicht mir gegenüber lumpen lassen. Und siehst du, das hat mir wohlgetan, es ist wie bei Dürer, das Kind der Welt liegt auch in einer Ruine.«
Nun singt die Teemaschine. »O laß mich da, ich muß immer nach der Maria sehen,« flüstert sie, und auf einem alten Wollteppich kauernd, feiert sie die wonnigsten Weihnachten. Der Hausherr hat sich in seiner ganzen gewaltigen Länge auf den Boden ausgestreckt, eine dampfende Teeschale neben sich, ein Urbild des Behagens. Wie das Kind so zusammengekauert sitzt, fallen seine glänzenden Haare fast auf den Boden, die Ellenbogen stützt sie auf die Knie, und schaut und schaut, kaum daß die Teetasse dazwischen zu Ehren kommt.
So ist in ihrem immergleichen Dasein noch kein Tag gewesen, so wundervoll und so lang, als könnt er nie enden. In Wirklichkeit ist's kaum sieben, und mit einem Blick auf seine Uhr berechnet er, ob es noch gelingen kann, mit der guten Nachricht vor der schlimmen zu kommen. Wohl kaum.
»Du, Harro! Für wen hast du das gemacht?«
»Nun, für mich und meine Kinder.«
»Du hast doch keine und du brauchst keine.« »So, brauch ich keine?«
»Sieh die schöne Maria; wenn die Kinder kommen, dann lärmen sie und fassen an; und gehen sie fort, so hat gewiß die liebe Kuh nur noch drei Beine.«
»Meinst du, ich könnte nicht Ordnung halten in der Bande?« und er reckt einen langen, Respekt gebietenden Arm aus.
»Du brauchst keine Kinder, du hast ja mich.« Halb ängstlich, halb trotzig sagt sie's.
»Dich hab ich nur noch eine Stunde, Seelchen.«
Es ist ein Schatten über die Weihnachtsfreude gekommen.
»Eine Stunde noch, dann hoff ich, daß dein Vater da sein wird, dein lieber Vater.«
Sie zuckt zusammen, und eine feine finstere Falte steht auf ihrer Stirn: »Du hast nach ihm geschickt.«
»Sie sind in Angst um dich.«
»O, nun wird er böse sein, wie im Leben nicht! Und dann sagt er, was er immer sagt: ›Sie hat mir immer nur Kummer und Sorge gemacht, die arme Kleine.‹«
»Nein, das wird er nicht mehr sagen. Du machst ihm jetzt Freude. Seelchen! nun hast du ja die rechten Worte gefunden.«
»Hab ich?«
»Die richtigen Worte, mit denen man alles sagen kann, was man lebt!«
»Ist das, weil du mir den rechten Namen gegeben hast? O sag ihm, daß ich Seelchen heiße; aber wenn ich nicht dabei bin, mußt du's tun. Oh, du bist klüger als alle anderen: sag mir schnell, weiß Maria schon, wenn sie das Kindlein hält in ihrem lieben Arm und es zudeckt mit ihrem Haar, – wenn ich ein Kindlein habe, mache ich es auch so, daß die bösen Leute nicht einmal hereinsehen können, – weiß sie, was mit dem Kindlein wird?«
»Nein, das weiß keine Mutter.«
»Meine auch nicht, sonst hätte sie mich mitgenommen. Und dann wird er groß, und die Menschen tun ihm Leids an. Und ist es wahr, daß sie hat dabei stehen müssen und sehen, wie sie ihn tot machen?«
»Seelchen, komm, nicht weinen! Du hast zu viel erlebt heute.«
Sie sieht ihn mit ihren sanften Augen verwundert an, über ihre schmalen Wangen rinnen noch die Tränen.
»Ja, mußt du denn nie weinen, wenn du daran denkst?«
Es ist ganz still in der großen Stube, nur in den Tannen knistert's, es fällt ein Wachs herunter und die Wachslichter, die so schnell vergehen, neigen sich schon. Das Kind wartet nicht auf Antwort. Es sieht hinein in den Rosenschein, auf die schlafende Maria und das so süß geborgene Kindlein. Es ist jene Stille, die so selten ist in unserer hastenden und jagenden Welt voll guter und voll schlimmer Werke. Jene Stille, in der unsere Seele zur Harfe wird, worin sich die Töne der Ewigkeit verfangen. Und es webt sich fester und fester, das goldene Band aus der Himmelspforte im kristallenen Wald. Und weil er eine Künstlerseele in sich trägt, die in Bildern und Tönen denkt, so sieht er im Geiste wieder die Prachtstraße, die nach der Himmelstüre führt, und das Seelchen, das Sonnenkränzlein auf dem Haupt, geht ihm voran, und dort steht im goldenen Glanz das himmlische Vaterhaus, das für ihn die Gestalt der eigenen für immer verlorenen Heimat trägt. Und davor in dem allerherrlichsten Bilde, das uns der Sohn von der Gottesliebe gemalt, der Vater, der ausschaut nach dem wegemüden, dem sündenbestaubten und heimwehkranken, dem verlorenen Sohn. Ein tiefer Seufzer hebt die breite Brust, und indem er sich löst, hat seine Seele den ersten Pfeil ihrer Sehnsucht nach dem ewigen Ziele gesandt.
Und nun kommt die Scheiterlein herein, den dampfenden Brei in buntglasierter Schüssel; das Seelchen bekommt nur ein paar Löffel hinunter. Zuviel ist heute auf sein kleines Herz eingestürmt.
»Nimm mich in deine Arme, ich will noch in die Krippe hineinsehen.« Eine kurze Weile sehen die großen grauen Augen in die erlöschende Glut, dann schließen sie sich, ein Traum wirft seinen bunten Mantel um das Seelchen.
Ganz von ferne klingt in seine farbigen Bilder hinein die wohlbekannte Stimme: »Meine Kleine, meine arme Kleine, wer hätte ihr das zugetraut!«
»Papa,« flüstert sie... und dann schießt das Traumboot wieder mit dem Seelchen an vielen seltsamen Gestaden vorbei, bis es Halt macht an einem grauen Morgenufer.
Vor dem langen Kaliban in seiner Wolljuppe, der eben mit der Schneeschippe einen Weg bahnt schnurgerade vom Tor zur Ruine, steht ein schokoladebrauner Lakai mit einem Billett und schnarrt: »Sogleich abgeben.« Der Kaliban nimmt das Billett in seine hornenen Riesenhande und geht zu der Türe und damit sofort ins Innerste des Thorsteiner Schlosses. Der Haus- und Schloßherr hantiert an seiner Staffelei mit farbigen Kreiden auf einem großen grauen Tonbogen. Auf seiner Stirne entsteht eine senkrechte Falte, als er den Brief liest. Es ist eine in die liebenswürdigsten Worte gekleidete Einladung zu der heutigen Weihnachtsbescherung... »Meine Kleine scheint Ihr Kommen sehr zu erhoffen.« Der lange Thorsteiner dreht die Karte in grimmiger Verlegenheit in den Händen. »Donnerwetter.... mein alter grünschwarzer Rock da drüben!« Seine Hand fährt in seinen kurzen braunen Lockenschopf. »P. S. Wir werden nach der Bescherung ganz unter uns sein ...« Und zwischen den Zeilen sehen ihn bittende Augen an. »Da ist nichts zu wollen,« murmelt er, »... trotz dem Schwarzgrünen.« Und mit seinen langen Schritten eilt er hinaus in den Hof, wo der Schokoladebraune, mit der dieser Menschenrasse eigentümlichen Mischung von Verachtung und Herablassung, sich mit dem Kaliban zu verständigen sucht. Vor der hohen Gestalt des Grafen schnellt er aber sofort in seine korrekte Haltung zurück.
»Melden Sie Seiner Durchlaucht, daß ich kommen werde.«
Denn der Thorsteiner gibt sich nicht unnötig mit Papier und Tinte ab. Kaum ist der Schokoladene verschwunden, so ruft er mit Donnerstimme:
»Märt, die Kiste 4 + 6.« Was den musikalischen Brunnen zu einem beifälligen Gemurmel veranlaßt. Denn Kaliban ist schwerhörig.
Früher, als sein Übel sich noch nicht so fühlbar machte, war er Bursche gewesen bei des Grafen Vater, dann war er Bauernknecht geworden, und obgleich ihn seine Herren wegen seiner Riesenkräfte und seiner treuen Arbeit wohl schätzten, hatte seine zunehmende Schwerhörigkeit es ihm immer schwerer gemacht, mit seinen Mitknechten auszukommen. Er wurde gehänselt, oder kam sich so vor, – ein kleines rotköpfiges Minele wollte nur Spott mit seiner scheuen Liebe treiben, und so wäre er, den seine Riesenkräfte und sein schnell auflodernder Zorn fast zu einem gefährlichen Menschen machten, schier in eine schlimme Sache hineingekommen.
Eines Abends, als er in der halbdunkeln Scheune saß, neben dem letzten noch nicht abgeladenen Heuwagen, und zu seinem immer mehr umsponnenen Ohr die gedämpften Stimmen der Knechte und Mägde drangen, wie sie schäkerten und lachten, und er die hohe Stimme des roten Minele und die krähende des schönen Beckenkarl und dazu seinen Namen zu verstehen glaubte, da hatte sich sein einsamer dumpfer Schmerz plötzlich in einen aufsteigenden heißen Zorn verwandelt.
An dem Abend war er nicht zum Nachtmahl erschienen, und die Nacht hatte ihm einen furchtbaren Traum gebracht. Die Hecke mit den alten Eichenknüppeln, einen Menschen auf dem Gesicht in einer roten Lache liegend, daneben steht seine alte Mutter mit der schwarzen Florhaube, das große silberbeschlagene Gesangbuch im Arm, ganz so, wie sie ihm sein Erinnerungsguckkasten am liebsten zeigt, und hebt entsetzt ihre Hände auf.
Am andern Morgen hatte er seinen Dienst gekündigt mit so wilden Gebärden, daß der Bauer den unheimlichen Menschen trotz der dringenden Arbeit hatte ziehen lassen. Er war dann in seine Heimat gegangen, obgleich er das alte Mütterlein nur an dem Hügel mit dem schwarzen Holzkreuz darauf besuchen konnte, und hatte getaglöhnert. Ein finsterer und unzugänglicher Geselle, dem die Kinder scheu aus dem Wege liefen.
Da war er eines Tages im Holzschlag dem Sohn seines früheren Herrn begegnet, der mit seiner Staffelei vor einer Waldwiese saß. Der hatte ihn sofort erkannt und ihn freundlich angeredet. Die Stimme erweckte die schönsten Erinnerungen aus seiner Dienstzeit, wo er noch ein ganzer Mensch, ein vorzüglicher Soldat gewesen war. Wenige Tage darauf erschien er nach Feierabend in der Ruine und begann an einem Steinhaufen abzutragen, Schutt auszulesen und ihn in den tiefen Graben zu werfen. Als der Graf heraustrat, grüßte er militärisch und fuhr in seiner Arbeit bis zum Dunkelwerden fort. Eine Belohnung wollte er nicht dafür annehmen, da es nach Feierabend sei. So war er eine Zeitlang gekommen, kaum daß er einen Trunk oder ein Stück Brot dafür annahm. Es schien ihm zu genügen, daß er nur in der Nähe eines Menschen war, der ihn in seiner früheren guten Zeit gekannt.
Nun hatten aber bald einige günstig angebrachte Entwürfe den Herrn in den Stand gesetzt, für einige Zeit einen eigenen Taglöhner halten zu können. Da zimmerte sich der Märt aus noch wohlerhaltenen Balken, wie sie zuweilen doch aus dem Schutt hervorkamen, eine kühne spindelige Treppe vom Schutthügel aus bis zu einer Mauerlücke im Bergfried, die er verbreiterte, so daß er sich mühsam hineinzwängen konnte. Die Wendeltreppe führte noch hinauf zu einem Stübchen, in dem ein Taubenschlag gewesen war. Dort richtete er sich ein mit einem weißen Taubenpärchen, das er zärtlich liebte. In diesem etwas luftigen Ort hauste er nun, und an Sonntagen hämmerte, klopfte und bastelte er daran herum. Die Tauben bekamen ihr gesondertes Quartier; die Fensterluken aus alten bleigefaßten Scheibenstücken, die sich in Resten noch vorfanden, ergaben eine primitive Verglasung. Dann schaffte er, nicht ohne lebensgefährliche Turnkünste, sein Bett, seine Truhe, ein handgroßes Spiegelchen und ein großes gerahmtes Bild hinauf. Das Bild stellte ihn dar, wie er in kühner Haltung mit erhobenem Säbel auf einem prachtvollen Schimmel dahersprengte. Sein etwas windschiefer Dickkopf in Photographie auf den Halskragen geklebt. Dies war sein größter Schatz außer dem silberbeschlagenen großen Gesangbuch seiner Mutter, das er in ein rotes Taschentuch gewickelt in seiner Truhe geborgen hatte. Das Bild wurde mit großer Mühe an der rauhen Wand befestigt, Bett und Truhe aufgestellt, und die Einrichtung war im Rohen fertig. Der Graf warnte ihn freilich, er werde von da aus viel weiter an seine Arbeitsstätte haben, aber der Märt meinte, er wolle nur noch im Winter, wenn nichts mehr in der Ruine zu schaffen sei, in den Holzschlag gehen und sein frei Quartier in der übrigen Zeit mit Arbeit wett machen.
Zuerst wollte es dem Thorsteiner angst werden, wie er auch noch einen zweiten Menschen erhalten sollte, aber es mußte doch eine merkwürdige Kraft liegen im Heimatboden: hatte er in Berlin sich kaum selbst erhalten können, so trug es jetzt schon, daß zwei Menschen lebten und der Thorsteiner seinem Märt einen Knechtslohn auszahlen konnte.
Den zweiten Winter lebten sie schon so miteinander. Aus dem einen Taubenpärchen war ein Schwarm weißer Flügel geworden, die sich in anmutigen Kreisen über dem grauen Gemäuer und den dunkeln Waldwipfeln hoben und senkten. Märts Liebe hörte aber mit der weißen Farbe auf, jedes bunte Tierchen wanderte erbarmungslos in den Kochtopf. Der Märt kochte nun auch das spartanische Essen der beiden Schloßbewohner. Es gab immer eine Menge für ihn zu tun, und das Holzspalten gehörte zu den Feierabendbeschäftigungen, die sein Herr zuerst mit ihm teilte. Es wurden aus einem der halb eingestürzten Riesenkamine, der sich neben der Hofstube befand, eine Küche gebaut, die noch vorhandenen Ställe repariert. Darin stand nun die gute braune Kuh Selma in Gesellschaft mit dem zierlichen Rehzickchen, das Märt auf der Schutthalde gefunden und mit der Flasche aufgepäppelt hatte. Sie nährten sich von dem Gras der Schloßgräben und Hänge, wo Märt und sein Herr Heu und Öhmd machten. Seit die gute Selma mit ihrer Milch der Küche Märts einigen Hinterhalt verlieh, sahen der Herr und sein Knecht entschieden besser aus; auch das finstere Antlitz des tauben Märt war viel heller geworden. Seinem Herrn gegenüber behielt er vollständig die Allüren des Burschen wie bei seinem alten Oberst bei, nur zu notwendigen Botengängen verließ er die Ruine. Der Sonntagnachmittag war stets der Verschönerung seiner Wohnung gewidmet. Noch immer lief die spindelige, nur für absolut schwindelfreie Menschen zu gebrauchende Treppe hinauf, aber zu einem Mauerloche guckte ein Rohr heraus, dem an Wintersonntagen ein bläulicher Rauch entstieg. Dann bullerte in dem hohen, nun weiß getünchten Raum ein Kanonenöfchen, die Tauben in ihrem Revier glucksten und gurrten leise, und der Märt mit seiner Pfeife und irgendwelchem Bastelwerk unter den Händen bot dann das Bild eines wohlzufriedenen Turmwächters der guten alten Zeit dar.
Und jetzt erschien der Märt mit der Kiste, die aus früherer Zeit her noch die Regimentsbezeichnung trug, und entnahm ihr den einzigen Anzug des Grafen, für den die Bezeichnung Räuberzivil nicht gelten konnte. Einige kunstvolle Bürstenstriche von Märt, und mit leisen Seufzern zwängte sich der Thorsteiner in das ungewohnte Stück. – Da, halt, – fallen ihm des Seelchens Puppenschmerzen ein. Wie wär's, wenn er ihr für die arme, so schmählich verstümmelte Lilla einen Ersatz schaffte? Aber dann mußte er schon jetzt in die Stadt gehen, vielleicht daß doch noch ein Laden für Leute, die noch rasch ein Geschenk brauchten, offen war. Er packte Wachsreste und noch verschiedenes in einen Kasten, warf ein großes Cape um seine Pracht und überließ dem erstarrt blickenden Märt sein Schloßgut zur Verwahrung.
Quer durch den Wald die eisige Halde hinunter, wie gestern Märt, konnte er nicht gelangen, so mußte er die Chaussee nehmen, beinahe zwei Stunden Wegs. Nach einer Stunde schon taucht der langgestreckte Bergrücken, der das Schloß trägt, vor ihm auf. Ein schöner Park, jetzt verschneit und dunkel, schlingt seine Arme um den Schloßberg. Zwischen zwei finstern alten Rundtürmen schaut ein feiner Renaissancegiebel ins Tal hinunter; ein Gewirr von großen und kleinen Dächern, so wie sie Notwendigkeit oder die Freude am eigenen kleinen Nestchen im Lauf der Jahrhunderte an die alten Mauern gehängt hatte, machte das früher wohl düstere Bild nun freundlich und lebendig. Jetzt lag der leichte Silberreif eines dünnen Schnees auf jedem Giebel und Vorsprung von Mauer, Türmen und Palas. Unter dem grauen Himmel, dem ein zartes Flockengewirr entschwebte, sah das Schloß so weltfern, so märchenhaft aus, als könnten sämtliche goldhaarige Prinzessinnen, treue und törichte Königssöhne, finstere Könige, kluge Königinnen, die mehr können als Brot essen, aus Grimms Märchenbuch darin gewohnt haben. Seine Künstleraugen liebkosten die fein gewachsenen Formen, in denen jede Zeit ihren Ausdruck gefunden hatte. Aus der Neuzeit stammte freilich nur das recht häßliche Ecktürmchen, auf dem heute, wegen der Anwesenheit des Fürsten, die weißblaue Fahne flatterte.
Wo mochte wohl des Seelchens Reich sein? – Wie gut es da hineinpaßte, die letzte feine, ach gar zu feine Blüte, die der alte Stamm getrieben! – Ob sie wohl heute die rechten Worte gefunden hatte? Gestraft würde sie ja nicht werden, im Gegenteil, der Fürst war nur freudige Überraschung gewesen über den Streich seiner Kleinen, über die Überlegung und Kühnheit, mit der sie ihren Gedanken ausgeführt hatte. Wer ihr das zugetraut hätte? Freilich war auch Märts Nachricht der schlimmen andern zuvorgekommen.
Nun wand sich der Weg eine altertümliche Steige hinauf, eine von jenen, die uns immer wieder mit Verwunderung erfüllen über die Nerven von Menschen und Gäulen, die einst diese Wege benützten. Dann stillverschneite Gärten und eine stille Straße, von hohen schmalbrüstigen Giebelhäusern umstanden, ein uraltes Tor mit Torturm, an den ein Barockhäuschen angeklebt ist, vor dem vor hundert Jahren wohl die strickende Wache weiland Serenissimi saß. – Ganz Spitzweg. – Und gegenüber das Lädchen des Georg Häring, das Entzücken der Braunecker Jugend, wo immer noch verheißungsvolle Zinnsoldatenschachteln, ein Hampelmann und ein winziges Pappkarussel auf Käufer warten. Mit sehr gebücktem Haupt muß sich der lange Thorsteiner hineinwinden, wo ihn die freundliche Frau mit fragendem Erstaunen empfängt.
»Eine Puppe.«
»Ja, aber die angezogenen sind alle ausgegangen, und die andern sind nicht für bessere Herrschaften!«
Eine sei noch da, aber mit der sei leider ein Unglück passiert, und damit zieht die Frau bedauernd eine Puppenschönheit aus einer Schachtel, hellockig, der aber das Näschen schlimm zerstoßen ist. Harro strahlt.
»Herrlich! Ich nehme sie... Nur das Hemdchen, das das Unglücksgeschöpf anhat, ist freilich ein Übelstand. So kannst du nicht zu Hofe gehen, du Ohnenäschen!«
Aber da fällt ihm das Nähröschen ein, mit den vielen Geschwistern. Seinen Kasten unter dem Arm geht er nun die Straße hinauf, wo über einer Steintreppe ein Zeichen hängt, ein etwas merkwürdiger Ochse, in dessen bedauernswertem Haupt schon die Axt steckt. Dort ist zum Glück ein geheiztes Eckchen zu haben, der Frau Postmeisterin eigene Wohnstube, die sie ihm einräumt. Sie selbst steht jetzt drunten in der dampfenden Küche und regiert über eine verwirrende Menge von Töpfen.
»Sie essen doch mit an der Tafel, Herr Graf?«
»Ach bitte, schicken Sie mir etwas herauf!«
Es gelüstet ihn nicht nach der Gesellschaft der alten eingesessenen »besseren Herren«, des Herrn Postverwalters und des Herrn Notars und des Herrn Amtsrichters, über deren mittäglicher Vereinigung die graue Fledermaus der Langeweile ihre Flügel schlägt. Die Posthalterin lächelt sauersüß, verspricht aber das Beste. Es ist gut, daß das Seelchen das folgende, etwas kannibalische Beginnen nicht mitansieht. Mit seinem Taschenmesser zerklopft Harro das dummlächelnde Puppengesicht, daß die auf kleinen Kügelchen sitzenden Augen auf den Tisch herausfliegen. Sein schwarzer Rock ist sehr hinderlich, er könnte schlimme Bekanntschaft mit dem Inhalt des Kästchens machen, das Harro jetzt auspackt. Er entledigt sich also seiner und steht nun in weißen Hemdärmeln da, eifrig mit einem feinen Schnitzmesser an einem Buchsbaumscheibchen hantierend. Eine halbe Stunde später steht der Riese in seinen Hemdsärmeln vor der erstarrten Postmeisterin, ein kleines Pfännchen in der Hand, das auch dem Kasten entstiegen ist, um neben der puffenden Gans seinen Leim zu wärmen.
»Nun, Frau Postmeisterin, das sind unsere Männerkochkünste, einfach, nicht wahr? Ein Glück, daß wir Sie haben, die Gans riecht übrigens vorzüglich.«
Der aufgeregte Postmeister – es sind heute eine Menge Leute da, wegen einer großen Beerdigung – reißt die Tür auf, sieht im Küchendunst den Mann in den Hemdärmeln dastehen und schreit: »Der Martin soll noch einmal heim wollen am Christfest! Heda, trag Er den Koffer hinauf, Nummer siebzehn. Herumstehen in der Küche gibt's nicht.«
»Jawohl, Herr Postmeister. Frau Postmeisterin, achten Sie doch einstweilen darauf, daß der Leim nicht überkocht, der Duft ist leider nicht der beste.« –
Und vor den Mund und Augen aufsperrenden Mägden schultert der Thorsteiner den Koffer des Herrn Lohrmann, Teigwarenfabrikanten aus Offenbach am Main, und trägt ihn auf Nummer siebzehn, wo er ihn mit einem freundlichen Lächeln dem G. Lohrmann hinstellt. Der brummt: »Trinkgeld geb ich erst, wenn ich gehe,« aber der Thorsteiner ist schon wieder bei seinem Leimtopf, der nun offenbar den richtigen Wärmegrad hat, und entschwindet mit dem in die gute Stube.
Jetzt gibt's noch verschiedene Probleme zu lösen, bis die geschnitzte Scheibe richtig unter den flächsernen Locken sitzt, die Augen ihre Schuldigkeit mit Auf- und Zumachen tun, dann beginnt die eigentliche Arbeit.
Das leicht erwärmte Wachs wird über die Scheibe gegossen. Und nun modelliert er mit seinen langen Künstlerhänden, von denen jeder Finger seinen eigenen Verstand zu haben scheint. Aus den nur vorgeschatteten Umrissen wird mit erstaunlicher Schnelligkeit ein Kindergesicht, ein feiner Nasenrücken, apfelrunde Wänglein, ein Mund, den ein erwachendes Lächeln umschwebt, über die starrenden Augen senken sich breite Lider. In das glasige Blau hat er einen dunkeln Farbenstrich hineingeheimnißt, der ihnen ein merkwürdiges Leben verleiht. Eben kommt eine verlegene Magd mit einer halbkalten Suppe. »Sie haben drunten solchen Trubel...« Nun ist er fertig.
Da liegt unter den hellen Härchen ein feines, nur ein wenig jüngeres und runderes Ebenbild des Seelchens, ohne den leisen Schmerzenszug, der ihm gestern an dem Kinde aufgefallen ist, und der sich in seiner Erinnerung vertieft hat.
Er ißt sein halbkaltes Essen mit großer Eile, denn nun gilt's, das Nähröschen, das neben den steilen Bäumen wohnt, aufzusuchen. Also hinaus vors Städtchen... Kinder begegnen ihm, die ihre neuen Kapuzen und Müffchen spazieren tragen, und von denen die meisten an irgend einem Springerle oder gar Lebkuchen herumbeißen. Es findet sich sogar ein ebenso rothaariges Schwesterlein vom Nähröschen darunter.
Das Nähröschen ist mit Recht über den Besuch am Christfest erstaunt. Sie sitzt mit einem Buch inmitten ihrer Weihnachtsgeschenke und hebt ein freundliches Gesicht unter einem roten federigen Haarschmuck empor. Als sie aber das kleine Kunstwert sieht, ist sie voll Entzücken.
»Wie goldig! Man könnte meinen, es sei unser Prinzeßchen, nur daß das nicht so rotbackig und vergnügt aussieht. Ein feines Kleid, das langt nimmer, aber zu einem weißen Hängerchen hab ich noch den Stoff da.«
Und sie kramt allerhand aus einer Kommode unter vielen Ermahnungen an die andrängenden Kleinen, daß sie ja nicht das schöne Prinzeßchen »antappen«! Und sie erzählt: »Dem Prinzeßchen tut jeder gern etwas. Es ist immer sanft und lieb und hat's nicht zum besten. In der letzten Zeit ist's auch immer weniger geworden. Die Missen und Mamsellen sind auch nicht zu freundlich mit ihm.«
Harro hat sich hingesetzt auf eine Truhe und die Beine übereinander geschlagen, das jüngste, rothaarige Kind auf die Knie gehoben, wo er es reiten läßt. Darum wird das Nähröschen auch so zutraulich. »Die Fräulein Braun mag es am liebsten, die lacht doch auch mit ihm und läßt es ein bißchen tun, was es will. Aber eine leichtsinnige Haut ist die. Die wird auch schuld gewesen sein, daß das Prinzeßchen fort ist. Bei der Miß hätte es sich nicht getraut. Die ist eine greuliche! Die sagt: Die Deutsch sind ein Schweine, und Prinzeß will auch Schweine werden! Das macht, weil das Prinzeßchen nicht baden will morgens. Man hört das arme Ding durch den ganzen Prinzessinnengang schreien und wimmern. Bosheit ist's nicht bei dem, das hat kein böses Äderchen. Wer weiß, ob es nicht wegen der Baderei fortgelaufen ist.«
»Wer badet die Kleine?« Das Nähröschen sieht erschrocken auf, der Ruinengraf sieht aus, als unterdrücke er einen gewaltigen Zorn. Du lieber Gott, da hat sie am Ende sich in etwas hineingeredet!
»Fräulein Braun,« antwortet sie ganz verschüchtert. »Die ist jetzt schon im Schlamassel. Gestern sei sie wie von sich gewesen. Untersuchen hat der Fürst nicht mehr wollen gestern, wer daran schuld sei. Aber die Miß dreht es jedenfalls auf die Fräulein Braun hinaus und die auf die arme Babett!« Die fleißigen Hände haben inzwischen nicht geruht, und es ist alle Aussicht vorhanden, daß das Puppenkind heut abend zu Hofe gehen kann. In dem großen Gang, der vor dem Zimmer des Fürsten gegen den herrlichen Turnierhof mit seinen drei übereinander gebauten Steingalerien gelegen ist, und an dessen Wänden die berühmte Geweihsammlung hängt, wandelt der Fürst mit seinem Domänenrat, einem kleinen, spindeligen, aufgeregten Herren, auf und ab. Das graue Schneelicht fällt in den Gang, der nach dem Hofe zu verglast ist. Die gelben Glasaugen einer ausgestopften Wildkatze funkeln aus einer Nische, und ein leichter Lufthauch bewegt ein wenig die ausgebreiteten silbergrauen Flügel eines Fischreihers, der von der Decke hängt.
»Und nun, Herr Domänenrat, helfen Sie mir aussuchen. Ums Himmelswillen nichts Banales. Die Sache müßte womöglich eine persönliche Note haben.«
»Fähr und Brendel haben eine Auswahl geschickt, da Durchlaucht noch ein Geschenk für den Herrn Hofrat wollten, – es findet sich vielleicht etwas darunter.«
»Ach, das ist immer das gleiche. Und die »beziehungsvollen« Sachen sind immer die schrecklichsten. Und dann könnte es den Thorsteiner verletzen: sein Vater war mir der angenehmste Nachbar. Schade, daß der Sohn sich das Leben so furchtbar verdorben hat.«
Der Domänenrat zuckt die Achseln; eine eigene Ansicht zu äußern, scheint ihm im Augenblick nicht opportun.
»Wenn wir unter den alten Sachen suchten? Künstler sollen doch immer auch an Antiquitäten Freude haben.«
Die beiden Herren gehen den Gang hinunter zu einer Wendeltreppe, die sie auf die untere Galerie führt; die ist offen und ein kalter Schneehauch bläst ihnen entgegen. Am Ende des Ganges öffnet sich ein schmales düsteres Gemach, in dem eiserne Schränke in der Wand eingelassen sind. Der Domänenrat entfernt sich, um die Schlüssel zu holen, und der Fürst tritt in die tiefe Nische des vergitterten Fensters. Draußen wird das Flockengestieb dichter, es schimmert nur noch schwach der Wald von der jenseitigen Bergwand herüber. Halb träumend blickt der Fürst hinaus, und seine schönen dunkeln Augen verlieren den etwas starren Blick, der ihnen sonst eigen. Sein Haar und Bart ist noch schön dunkelbraun, sein schmales Rassegesicht mit dem Spitzbärtchen und den etwas vorstehenden Augen erscheint in dem fahlen Schneelicht, wie er in der Nische lehnt, schattenhaft und wie aus einem alten Gemälde heraus. Es hat einen eigentümlich müden Ausdruck, von der Müdigkeit alter Geschlechter, die so viele Jahrhunderte stürmischen und oft so jammervollen deutschen Lebens, nicht geschichtslos, wie die Menschen in dem wie in einem Nest geduckten Taldörfchen – sondern tätig und leidend miterlebt haben. Nun rinnt ja das letzte Korn aus der Sanduhr, wie bald wird das alte Geschlecht sich zur Ruhe betten. Dorthin, wo schon die vielen vorausgegangen sind und nun schlafen in blaßleuchtenden Zinnsärgen, mit Wappenschildereien und Sprüchen bedeckt, in ungefügen dunkeln Truhen, so viele, daß nur noch für einen Sarg Raum zu schaffen ist neben dem silberbeschlagenen Sarg, der des Fürsten junges Glück aufgenommen. Warum mußten seine Gedanken heute in langen Trauerschleppen in diesen Räumen herumsteigen? Macht es das Schneelicht oder dieser düstere Raum, in dem so viel verborgene Schätze liegen? Edelsteine und Gold, die einst auf weißen jungen Busen geleuchtet und gebebt, sich um feine Stirnen geschlungen, die erbleicht, und an Händen geglänzt, die längst im Tode erstarrt sind.
Auch die Smaragde liegen darin, die seine Frau bei den glänzenden Festen am Kaiserhofe getragen. Da liegen sie ... Der Rat hat die Schlüssel und das große Buch gebracht und den Kasten geöffnet. Dies Armband auf dem weißen Samt gebettet – der grüne Stein sprüht wie ehedem –, das den Arm schmückte, den feinen Arm, der sich einst um seinen Hals geschmiegt. Der Fürst nimmt es heraus und läßt die Steine durch seine Hand gleiten.
»Dies ist für meine Tochter einmal. Schließen Sie wieder, ich meinte die alten Sachen.«
Der Domänenrat öffnet sehr ungern, eigentlich weiß nur er und sein großes Buch und seine stille Sammlerfreude, was darin ist. Diese Dinge, die alle ihr Schicksal gehabt haben! Manches Stück ist darunter, dessen Gebrauch man kaum mehr kennt, – da funkelt ein fast barbarisch wirkender Rubinschmuck in Silber gefaßt von barocker Arbeit. Lauter hängende Blutstropfen, könnte man meinen. Seltsam geschmückt mußte die Frau sein, die ihn trug. Der Fürst nimmt das Halsband heraus, es hat keine Jahreszahl an dem hinteren Verschluß wie die meisten anderen, es hängt ein kleines Pappschildchen daran, worauf in steilen Buchstaben steht: Schmuck der Gräfin von Brauneck, der Thorsteinerin. † 1678.
»Der Thorsteinerin! Wahrhaftig!« rief der Fürst. Nun fällt ihm ein, daß er gehört hatte, es solle eine alte Verwandtschaft existieren! Das Halsband geht ja natürlich nicht, aber es ist doch gewiß noch etwas da mit dem Thorsteiner Wappen.
»Ende des siebzehnten Jahrhunderts, Durchlaucht,« sagt der Domänenrat. »War eine arme Zeit, es ist zu verwundern, daß immer noch so viel da ist.« »Wie hieß der Gemahl dieser Thorsteinerin?« »Heinrich Friedrich, Durchlaucht, und hier ist sein Ring; er scheint zu dem Schmuck gehört zu haben. Auch ein Rubin, nur in Gold gefaßt, und ähnliche Arbeit.«
An dem Ring hängt dasselbe Papptäfelchen, aber eine andere Schrift, eine ungelenke Hand, die mehr Schwert als Feder gewohnt sein mochte, und ein Wort, das in seiner harten Kürze von einem alten Schmerz redet: Mein Sohn †.
»Der Sohn starb also vor dem Vater; hatte dieser Heinrich Friedrich irgendwelche Bedeutung für die Geschichte des Hauses?«
»Nein, Durchlaucht, wenn man nicht sagen will, daß er der Vater des ersten Fürsten war.«
Auf der Goldplatte unter dem Rubin ist des Thorsteiners Wappen eingraviert und ein Spruchband. »Können Sie den Spruch entziffern?«
»Er heißt: Gottes Will hat kein Warumb.«
Der Fürst seufzt: »Gottes Will hat kein Warum; sie müssen festere Herzen gehabt haben, die Alten. Ist dies das einzige Stück, welches das Wappen trägt?«
»Nur noch ein Stirnband, uralt, karolingische Arbeit, Gold; es war eine Erbtochter, die Thorsteinerin. Graf Heinrich Friedrich hat eine Menge Schmuck getragen. Er muß so eine Art Elegant des siebzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Spangen, Ketten, Schuhschnallen, Hutschnallen. All das ist offenbar nie mehr benützt worden, und alles trägt das Zeichen auf dem Täfelchen: Mein Sohn †.«
Der Fürst wog den Ring nachdenklich in der Hand: »Eigentlich wäre mir etwas anderes lieber gewesen, als gerade ein Ring. Nun, dieser Heinrich Friedrich hatte keine weitere Bedeutung.« »Er starb sehr jung, der einzige Sohn.« Der Fürst sah auf das Täfelchen. »Der einzige, es mag ihm bitter schwer gewesen sein, doch hatte er ja einen Enkel. Nun schließen Sie die Kästen, bitte, es steigt ja doch immer irgendwelcher alte Jammer aus diesen Sachen heraus. Machen Sie den Eintrag und legen Sie das Täfelchen dazu; ich freue mich doch sehr, daß ich etwas gefunden habe,« sagte der Fürst. Er dachte: »Dies Geschenk mit seinem eigenen Wappen schließt so ganz aus, daß ich ihn seine verpfuschten Lebensumstände fühlen lassen will. Er hat mir den größten Dienst erwiesen. Wenn er Porträts malt, könnte ich ja ein Bild der Kleinen bei ihm bestellen; wenn es gar zu schlecht ist, braucht es ja nicht aufgehängt zu werden. – Aber das jetzt gleich zu tun, so gewissermaßen aus Erkenntlichkeit, widerstrebt mir doch. Er käme sich so sehr auf sein jetziges Niveau heruntergedrückt vor. Das hat er sich freilich selbst gewählt, aber es ist eine Liebenswürdigkeit, es zu ignorieren. Ob er nicht am Ende doch geschwenkt worden ist? Man hätte ihn, wenn er es nicht zu toll getrieben, ja immer als Dekorationspièce gebrauchen können! Diese Prachtgestalt! Sogar in der Aufmachung! Angenehm ist mir's ja nicht, wenn ich zu den Leuten mit gerecktem Halse sprechen muß.«
Der Fürst ging mit seinem Ring in der Hand durch die Galerie in den sogenannten Prinzessinnengang, dessen hohe Oberfenster auf den Hof hinausführten. Da hingen auch einige Geweihe an den Wänden, die vielleicht aus andern Räumen daher gewandert sein mochten: sonst hing da Bild an Bild, weiß gepuderte Schönheiten des achtzehnten Jahrhunderts. Ein dicker Herr mit roter Nase, in einem pflaumenfarbigen Roquelore, war wohl für manche Generation fürstlicher Mägdelein eine Art Popanz gewesen, er stierte aus verquollenen Äuglein. Nun hatte er etwas seinen Nimbus verloren, ein breiter Riß lief über sein Gesicht; er wurde Kutscher Hack genannt, nach dem rotgesichtigen Kutscher, der das Gepäck führte, weil seine Gurkennase für die Equipagen zu wenig dekorativ befunden wurde. Der Fürst trat in einen kleinen Vorplatz ein, als sich stürmisch die Tür öffnete und seine Tochter ihm entgegenlief. Eben war sie den Händen der Fräulein Braun entronnen und schon im Festgewand, aus Spitzen und weißer Seide, duftig und frisch mit silberglänzender blauer Atlasschärpe. Aber das Gesichtchen sah fast schattenhaft aus dieser Pracht heraus, nur die großen Augen strahlten in erwartungsvoller Freude.
»Papa, ich hörte dich kommen, ich wollte dir entgegen gehen,« rief sie, »aber Fräulein Braun war nicht mit meiner Schleife fertig. Ich höre dich immer auf dem Gang gehen, wenn du kommst, und wenn du fort bist, hör ich dich auch.«
Über des Vaters Gesicht glitt eine Wolke, und er sagte mit etwas lehrhaftem Ton: »Abwesende hört man nicht gehen.«
Er ging mit ihr in das große freundliche, aber recht einfache Zimmer hinein und setzte sich mit ihr an den runden Tisch, auf dem eine grüne Decke lag, und zog die hinweg, daß die alte Eichenplatte zum Vorschein kam. Dann lachte er:
»Kleine, das ist nun dein Reich, früher war es meines, da müssen noch meine Kritzeleien sein. Die Decke haßten wir, sie lag stets zusammengeballt in einem Winkel. Sieh! dies Geweih ist an einem heißen Sommertag entstanden, während einer griechischen Stunde. Und nun, Kleine, freust du dich auf heute abend?« Das Seelchen schmiegte sich an ihn und sah ihn nachdenklich an.
»Ich weiß noch nicht.«
»Du weißt's noch nicht? Das wußten wir immer ganz gewiß. Tante Helen, Fedo und ich, wir hatten Kalender und rissen jeden Tag Zettel ab. Fedo hatte einen Prachtskerl gezeichnet, mit dicker Nase, so ein wenig nach dem alten Herrn da draußen.« –
»Dem Kutscher Hack meinst du?« Der Fürst lachte hell auf: »So heißt er jetzt, – nun, gar nicht übel. Und der Dicke hatte einen Zettel zum Mund heraushängen und fraß die Stunden. Das war sein Kalender. Fein war's nicht, aber schön. Und du weißt nicht, ob du dich freuen sollst!«
Er seufzte. Unter seinem Seufzer duckten sich die schmalen Schultern, als träfe sie ein Stich.
»Hattet ihr auch ein Ehrenwort, Papa? Ich meine, wie ihr so klein waret und so vergnügt und den Kalendermann machtet?«
»Kleine, wie kommst du nur darauf! Ich kann mir nicht denken, daß wir damals mit so großen Worten umgingen. Was weißt denn du davon!«
»Viel weiß ich, und du selbst hast's mir gesagt, als du im Sommer mit Onkel Fedo da warst.«
»Ich sollte mit dir über dergleichen gesprochen haben?«
»Du sprachst mit Onkel Fedo über einen Mann und ein Ehrenwort, und ich fragte dich, ob die vielen Leute mit Harnischen und Zöpfen im großen Saal auch eins gehabt hätten? Du sagtest: ja, und gehalten, sonst hingen sie nicht dort.«
Dem Fürsten dämmerte nun selbst etwas dergleichen.
»Du bist ein Wunderliches mit deinen Gedankensprüngen, und das hast du bis heute behalten ... aber was hat das mit dir zu tun?«
Wenn der Vater jetzt das goldumsponnene Köpfchen gegen das Licht hielte, so sähe er aus der grauen sanften Tiefe der Augen die Tränen aufsteigen. Aber er fährt nur ungeduldig fort: »Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst.«
Er griff in seine Westentasche und holte den Ring heraus. »Kleine, den Ring sollst du deinem langen Freund von gestern unter dem Tannenbaum geben. Aber nicht gleich, zuerst sollst du deine Sachen ansehen, – ich habe Herrlichkeiten gesehen! – Sondern erst, wenn ich dir's sage. Gefällt dir der Ring?«
Die Kleine nahm den Ring in ihr blasses Händchen und nickte: »Ich habe ihn schon oft gesehen!«
»Hat ihn dir der Herr Rat gezeigt?« »Ach nein, der nicht. Es ist doch ein schöner junger Herr da, der ihn trägt. Der so schön lachen kann. So schön lacht niemand. Weißt du, er springt manchmal gegen Abend die Wendeltreppe hinauf und hat so viele lustige Bänder an sich hängen und glitzernde Dinge. Er ist der allerschönste von all den Leuten, er hat lange schwarze Locken und so schöne Augen wie du, Papa, wenn du an Mama denkst.«
»Kleine, wann willst du jemand mit langen Locken gesehen haben?«
»Vorgestern abend, als ich mit Fräulein Braun hinauf ging in das rote Zimmer.«
»Kleine,« sagte er streng, »wenn du so viel vom Ehrenwort weißt, – das Lügen verträgt sich schlecht damit.«
Einen Augenblick sieht es aus, als ob sie weinen wollte, aber plötzlich wie ein Regenwölkchen vor einem Sonnenstrahl verflattert, lächelt sie: »Und Harro kommt ganz gewiß und den Ring darf ich ihm geben?«
Erstaunt sieht der Vater das Aufleuchten. Was für ein unverständliches, rätselhaftes Kind, mit seinen Gedankensprüngen! – Seine Schwester fiel ihm ein, die diesen Sommer in ihrer kurzen Weise zu ihm gesagt hatte: »Deine Kleine ist verrückt wie ein Märzhase. Die mußt du zu jemand tun, der sie fest in die Kandare nimmt und für die Welt dressiert. So kannst du sie einmal nicht sehen lassen!« In dem großen Vorsaal steht Harro vor einem langen, in die Wand eingelassenen Spiegel, der seine ganze Gestalt wiedergibt. Die Spiegel in der Ruine gestatten ja nur eine beschränkte Übersicht. »Durch Eleganz bis zur Unkenntlichkeit entstellt ...« murmelt er und winkt einen Lakaien herbei. »Können Sie mir dieses noch an den Gabentisch der Prinzessin hinbesorgen?«
Der Lakai kann es und verschwindet mit dem eingewickelten Puppenkind. Kaum ist er fort, so kommt der Fürst, seine kleine Tochter an der Hand, in den Vorsaal heraus und begrüßt den Grafen aufs liebenswürdigste.
»Welche Freude, daß Sie uns heute den Abend verbringen helfen. Wir sind ja beide gewissermaßen Einsiedler und müssen uns mit dieser einzigen kleinen Dame begnügen.«
Als Harro aber das Seelchen sieht, erschrickt er. Wie sieht das Kind aus! Als halte es sich nur mühsam aufrecht, und doch, als brenne eine verzehrende Flamme in ihr, so leuchten die grauen Augen. Am liebsten hätte er sie auf den Arm genommen und sie gefragt: »Was ist dir, Seelchen?« Aber er hat ja heute kein Recht mehr an das Kind. Und nun gehen sie durch die Reihe der Gemächer in den großen Saal, wo die Lichterbäume schon brennen.
Der große gewölbte Saal mit seinen Pilastern, auf denen vergoldete Wappentiere hocken, die nun in der einzigen Beleuchtung der Weihnachtsbäume seltsame Schatten werfen. Feierliche steife Gestalten, fast alle lebensgroß, sehen von den Wänden, und das Licht der Kerzen flackert in ihren gemalten Augen. Im Hintergrund stehen verschiedene Weiblichkeiten, darunter eine unverkennbare Britin, die Harro mit herzlichem Abscheu betrachtet. Eine hübsche rosige Schwarze, in einer seidenen Bluse und Goldgürtel, ist wohl Fräulein Braun. Ein langer Gabentisch steht zwischen zwei mächtigen Tannen, die dritte Tanne, die größte und schönste, steht allein, gerade vor dem Bilde eines kräftig und kühn blickenden dunkeln Mannes in mittleren Jahren. Es ist das weitaus lebendigste Bild der Galerie, ein Soldatenkopf, breite Brust im braunen Lederkoller, ein langes Schwert in den Händen, das aussieht, als habe es schon Dienst gesehen. Unter dieser Tanne liegen des Seelchens Geschenke, alles was nur ein elegantes Spielwarenlager hergeben mag, drei in Samt und Seide strahlende Puppen, Wägelchen, Eisenbahnen, ein mit Fell bezogenes Pferd. Das ist von Tante Helen. In dem begleitenden Brief dazu heißt es: »Wenn die Kleine einmal den Mut hat, diese Nora zu besteigen, so depeschiere mir.« Das Seelchen wirft nur einen einzigen scheuen Blick auf die Herrlichkeiten, sie hängt immer noch an ihres Vaters Hand. Dann geht sie auf Miß Whart und die andern zu und macht einen schüchternen Versuch, sie an den für sie bestimmten Gabentisch zu führen. Aber die Miß nimmt die Kleine von der Hand ihres Vaters hinweg und flüstert ihr etwas zu. Der Fürst zuckt die Achseln und meint: »Muß es wirklich sein, Miß Whart? Dann Kleine, tapfer drauf los.«
Das Seelchen steht da unter den brennenden Bäumen, so klein, so zart in seinem weißen Kleidchen, daß der lange Thorsteiner ein glühendes Erbarmen in sich aufsteigen fühlt, als geschähe irgend eine Untat an einem wehrlosen weißen Täubchen! Sie soll ja nur aufsagen, die Kleine! Dann klingt das hohe Silberstimmchen durch den Saal, und es ist, als wendeten sich all die gemalten Augen, in denen heut so viel Leben brennt, nach dem Kinde, und die Wachskerzen knistern leise dazu. Kläglich und eingelernt ertönen die Worte des englischen Psalms ... Da stockt sie plötzlich. Miß Whart flüstert eifrig ... noch ein paar stockende Worte ... der Fürst runzelt die Stirn, auf den schmalen Wangen dort brennen rote Flecken ... die ängstlichen Augen suchen den Freund ... da wirft sie die goldene Mähne zurück, fest ihre Blicke auf den Freund gerichtet, fängt sie noch einmal an:
»Es waren Hirten auf dem Felde und es war bei ihnen die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« »Komm her, Kleine,« ruft der Fürst freudig, »zum erstenmal etwas hinausgeführt!«
Es scheint aber doch nicht programmäßig gegangen zu sein, Miß Whart sieht ärgerlich aus.
Und nun werden die Menge schöner Dinge angesehen, die den Damen und Mädchen beschert worden, und dann ziehen die mit ihren Schätzen beladen ab, mit dankendem Knicksen. Nur Miß Whart und Fräulein Braun bleiben da, die das Prinzeßchen an ihren Platz begleiten.
»So war es bei uns in alten Zeiten,« erklärt der Fürst, »zuerst bescherten wir immer den andern, dann erst kamen wir selber dran.«
Darauf ging der Fürst zu seinem Tisch, um mit Lächeln und Stirnrunzeln in Empfang zu nehmen, was die originelle Schwester ausgesucht, und es dem Thorsteiner zu weisen. Dann legte er die Hand auf Harros Arm:
»Nun sehen Sie einmal hinüber, ob das nicht ein Jammer ist? Was man ihr auch geben mag, es ist nie das Richtige.«
Das Kind stand mit auf den Rücken gelegten Händchen. Miß Whart hielt ihr eine rosaseidene Puppe hin, Fräulein Braun hat eben ein kleines Tänzerpärchen aufgezogen, das sich auf einem Kästchen zu einer dünnen Walzermelodie bewegt. Plötzlich kam Leben in die kleine Gestalt, sie schiebt die Rosaseidene energisch hinweg und stieß einen hellen Jubelschrei aus.
»O Papa, o Harro, seht es doch an, ein Puppenkind, es lächelt... O darf ich's behalten, immer, immer?«
»Hat endlich etwas deinen Beifall gefunden, Kleine? Das nenn ich aber Glück!« Das Seelchen sah einen Augenblick nach dem Thorsteiner, dann schlang sie die Arme um ihren Vater.
»Darf ich's behalten?«
»Kleines Närrchen! Es ist doch alles dein Eigentum. Laß mich sehen, was dich so beglückt. Nun, das ist auch schön. Kleine, man könnte glauben, es sehe dir ähnlich. Wenn du einmal so rote Backen hast!«
Das Seelchen hielt die Puppe zärtlich in ihrem Arm. »Wie heißt sie, Harro?« Seltsam, sie schien keinen Augenblick im Zweifel zu sein, woher das Geschenk komme, und doch hatte sie mit dem feinsten Takt vermieden, ihres Vaters Freude zu zerstören. Harro war sehr froh, daß die Kleine so schön geschwiegen, denn es waren ihm doch Bedenken gekommen, ob er mit seinem Geschenk nicht in fremde Rechte dringe. Der Fürst sah nach Miß Whart hinüber, während Harro und das Seelchen sich auf Schneewittchen einigten, und dann zogen sich die Engländerin und die rosa Bluse mit dem Goldgürtel zurück. Der Fürst ging an seinen Gabentisch und entnahm ihm ein Etui, das er Harro zeigte. »Ihre Mutter ... Meine Schwester hat es mir für dies Reiseetui machen lassen. Es kommt eben leider immer doch ein fremder Zug in diese Wiedergaben.«
Es war ein schönes, junges, freundliches Gesicht, braunäugig und blondlockig, die Augen blickten kindlich.
»Sie können auch keine Ähnlichkeit entdecken.«
»Nein, Durchlaucht, doch ist vielleicht durch die Kopie manch kleiner charakteristischer Zug verwischt.«
Er fand die glatte höfische Malerei eigentlich scheußlich und konnte die Rührung, mit der der Fürst die bunte Porzellanpuppe betrachtete, nicht recht begreifen. Nun schließlich mochte ihm das Bild eine schwächer werdende Erinnerung wieder lebendig machen. Der Fürst hatte die Kleine hinter den Tannenbaum gezogen und flüsterte dort mit ihr. Während Harros Blicke von der Miniature zu dem markigen Kriegerkopf an der Wand glitten, sah er durch die Zweige, daß Vater und Tochter etwas miteinander austauschten.
Es stieg ihm das Blut in den Kopf. Wenn sie ihm etwas schenkten! Der Thorsteiner gehörte zu den Leuten, die gerne schenken, sich aber nichts schenken lassen mögen. Daß er nicht daran gedacht hatte! Keine sieben Gäule hätten ihn herüber gebracht! Daß er selbst geschenkt hat, ist schon vergessen. Er sieht sich scheu nach der Türe um, ob nicht unter irgendwelchem Vorwand eine Flucht möglich sei. War er denn ein Lakai, den man für seine Leistung mit einem Trinkgeld belohnen zu müssen glaubte! Menschen, die aus ihrer Lebenssphäre gerissen sind, sind ja immer überempfindlich. Der Thorsteiner ist im Begriff, eine große Torheit zu begehen, nicht die erste in seinem Leben ...
Er stellt die Miniature auf den Tisch, da kommt schon von den Tannenbäumen her, mit ihren leisen, federnden Schritten, mit ihren weißen Atlasschuhen das Seelchen auf ihn zu, die großen, grauen, glänzenden Augen auf ihn geheftet, und trägt feierlich in ihren blassen Händchen einen Ring, aus dem ein roter Strahl bricht. Wie ein Blitz trifft seine Seele das seltsame Gefühl mit unerhörter Stärke: Das hast du schon einmal erlebt! Das hast du schon gesehen ... Den feierlichen Saal mit den goldenen Tieren, die auf den Postamenten hocken, das blasse Elfchen mit dem Blutring in der Hand, die Wände, von denen in rötlichem Schein die gemalten Augen blicken. Verschwunden ist sein Zorn, eine fast angstvolle Feierlichkeit senkt sich auf sein Herz. Da ergreift das Kind seine Hand und streift den Ring daran.
»Von deinem Seelchen. Und du sollst mich immer lieb haben.«
Da wird es ihm feucht in den Augen.
»Ich danke dir, Seelchen.« Und er bringt es sogar fertig, dem Fürsten in wirklicher Herzlichkeit zu danken. Wer den Thorsteiner kennt, wäre billig erstaunt. Und als der Fürst ihm das Kleinod erklärt, da schämt er sich fast ein wenig. Es ist doch sehr freundlich und zart ausgedacht und betont nicht die jetzige Kluft, sondern die alte Zusammengehörigkeit.
»Und nun wollen wir essen, Graf Thorstein, und du, Kleine, ißt mit uns, und dein Schneewittchen soll auch dabei sein. Wie freu ich mich, daß ich nun endlich deine Wünsche getroffen habe.«
»O Papa,« bittet das Seelchen, »vorher noch etwas anderes ... Aber ihr dürft nicht hersehen ...«
Sie verschwindet hinter den Bäumen, nachdem sie eine neue brokatene Decke von des Fürsten Gabentisch genommen. Eine ganze Weile hört man sie hantieren ... Der Fürst strahlte. »Ihre gestrige Escapade hat ihr gut getan, so lebhaft habe ich sie noch nie gesehen. Letzte Weihnachten war es herzbedrückend, wie still sie war. Nun weiß man allerdings nicht, was bei ihren Überraschungen herauskommt. Sind wohl alle Kinder so rätselhaft?«
»Es wird immer etwas Feines und Liebliches herauskommen,« erwidert Harro, »nur muß man sie vielleicht erklären lassen. Von den Ideen bis zur Ausführung ist bei Kindern immer ein großer Schritt.«
»Jetzt!« erklang's hinter dem Baum. Die Tanne hing die Äste sehr tief herunter, unter den Zweigen halb verborgen lag das Seelchen auf dem Boden, die brokatene Decke um ihre zarte und schmächtige Gestalt gehüllt, bis auf ein wunderschönes blasses, nacktes Füßchen, das aus den Falten heraussah. In den Armen hielt sie das Puppenkind, um das sie die goldenen Haare wie ein Wiegenvorhängchen gezogen hatte. Die Augen hatte sie geschlossen, der kleine Mund lächelte ein wenig. Sie flüsterte:
»Harro, stehe hinter mich und mache den Joseph.«
Es hätte der Erklärung für ihn nicht bedurft, sein Madonnenbild aus der Krippe war in Haltung, selbst in den Falten des Gewandes so getreu nachgebildet, daß ihn die größte Verwunderung ergriff.
»Sehr schön hast du das gemacht. Es ist Maria mit dem Kind.«
Etwas verlegen sah der Fürst darein.
»Ja Kleine, mußtest du denn wirklich dazu Schuhe und Strümpfe ausziehen. Ein Glück, daß dich Miß Whart nicht sieht.«
Die Kleine hob ihr Köpfchen.
»O Harro, warum hast du nicht den Joseph gemacht? Ach, mach ihn doch nur. Nimm Miß Wharts Reisedecke, das Billardqueue dort soll dein Stab sein.«
»Seelchen, ich kann mich unmöglich an Miß Wharts Eigentum vergreifen.«
»Tu den Rock herunter, Harro ...« Die Zumutung, in diesem Milieu in Hemdärmeln dazustehen, erschöpft ihn sehr. Da erlöst ihn der Gong zum Diner.
»Kommen Sie, Harro, unsere kleine Dame soll nachkommen, wenn sie wieder anständig geworden ist.«
Und Seelchen merkt, daß ihr schöner Gedanke nicht recht eingeschlagen hat. Papa hat eben auch die Krippe nicht gesehen. Und sie möchte es so gern wieder gut machen.
»Papa, ich will auf der Nora reiten, daß du Tante Helen depeschieren kannst,« ruft sie und läuft mit ihren feinen nackten Elfenfüßchen auf dem blanken Parkett dahin.
Die gemalten Augen an den Wänden haben heute viel zu sehen ... In dem erlöschenden Licht der Kerzen, von denen eins nach dem andern zum roten Stümpchen herabsinkt, erscheinen sie immer mehr von seltsamer Lebendigkeit. Harro eilt herbei, das Seelchen auf den blanken Sattel zu heben. Sie verfärbt sich plötzlich, sie sitzt oben, die nackten Füßchen von sich gestreckt, aber totenblaß mit schmerzverzerrten Lippen, der Fürst ruft:
»Nehmen Sie sie herunter, sie wird ohnmächtig.« Er eilt fort, einen Diener nach Fräulein Braun zu schicken. Harro hat sie auf seine Arme genommen und auf den Diwan gelegt.
»Seelchen, hab ich dir weh getan?«
»O nein, Harro,« flüstert sie ... »O, du nicht, du nicht.«
»Seelchen, sag mir's, was ist mit dir ... warum willst du nicht baden?«
»Hast du mich schreien hören?« fragt sie.
»Schnell, Seelchen, laß mich wissen ...«
»Ich kann's nicht. Nie. Siehst du, wie der Herr mit dem Schwert zu mir herübersieht! Ich bin nicht echt, wenn ich es sage. Ich will sein wie sie alle!«
»Seelchen, du fieberst ... der alte Herr sieht nicht her, – sag mir's doch.«
Da kommt der Fürst herein. »Diese Fräulein Braun ist nicht zu finden. Nun weiß ich doch, wer gestern der Schuldige war.« Harro nahm ihn beiseite. »Die Prinzessin hat ein Geheimnis, das sie drückt: scheint mir irgendwie verletzt zu sein. Wäre es nicht am besten, gleich zum Arzt zu schicken?«
»Der hat sie heute morgen gesehen, freute sich, daß sie die Tour so gut überstanden. Verletzt, unmöglich. Gestern etwa?«
»Nein, es scheint schon älter zu sein.«
Der Fürst spricht rasch und ärgerlich:
»Will sich denn die Whart gar nicht von ihrem Diner trennen, wenn die Braun nicht aufzutreiben ist. Es ist der Kleinen leider nicht alles zu glauben, sie hat eine zu überquellende Phantasie.«
»Durchlaucht,« sagt Harro so eindringlich, daß der Fürst ihn erstaunt und befremdet ansieht. »Das Kind hat etwas, das es bedrückt ... Ein Geheimnis!«
»Was könnte sie haben, ich kann mich nie länger als eine Viertelstunde an ihr freuen. – Da sind Sie endlich, Fräulein Braun, bringen Sie die Kleine zu Bett und schicken Sie sofort nach dem Herrn Hofrat. Und nun kommen Sie mit mir, Graf Thorstein. Wir lassen uns Bericht geben ... Geh lieb zu Bett, Kleine, ich komme noch, dir gute Nacht sagen.«
Drüben im Speisezimmer, das dunkel getäfelt und mit vielen Porträts an den Wänden behängt ist, glänzen die elektrischen Lichter aus alten venetianischen Kronleuchtern golden und freundlich herab auf die gedeckte Tafel im Schmuck der roten Nelken und des grünstacheligen Laubes der Stechpalme. Die Unterhaltung dreht sich um lokale Interessen, die Jagdangelegenheiten des Fürsten, der doch Harros Jagd gepachtet hat. Er scheint von Zeit zu Zeit hinauszuhorchen ... Als die beiden Herren bei ihrem Nachtisch allein gelassen werden, sagt der Fürst plötzlich:
»Sie haben heute tiefer in meinen Kummer hineingesehen ... Sie als mein Kinsman, wie die Engländer sagen, werden ja ohnedies keinen Gebrauch machen. Meine Kleine wird von Jahr zu Jahr ein größerer Kummer. So früh hat sie die Mutter verloren ... Das hängt wie eine Wolke über ihrem Leben, sie ist häufig krank... aber das ist es nicht allein, ihr Seelenleben scheint in eigentümlicher Weise gestört.«
»Mir scheint,« beginnt Harro bescheiden, »als ob in dem Kinde in hohem Grade das poetische Temperament vorherrsche. Sie verlebendigt alles und sie findet die treffendsten Ausdrücke. Die Pappeln nennt sie die steilen Bäume, die seufzen ... Eine feine Beobachtung. Wie der Wind gerade in alte Pappeln greift ... Das Kind hat eine zarte Seele, auf die alles sehr stark einwirkt. Wie schön ist sie und wie sehr macht die Prinzessin den Eindruck, als ob sie ihr Gesicht irgend woher habe. Ich sehe mich aber vergeblich nach einer Ähnlichkeit um.«
»Schön finden Sie meine Kleine! Das hat mir noch niemand gesagt. Aber die Herren Künstler haben ihre eigenen Anschauungen. Ich kann es nicht finden, so elend wie sie immer aussieht.«
»In wenigen Jahren,« wirft Harro ein ...
»Ach, die Jahre, man hat mich immer vertröstet, aber Gutes haben sie mir nicht gebracht.«
»Die Prinzessin weiß es sehr gut selbst, daß sie Ihnen Sorge macht, und leidet darunter –«
»Das sollte die Kleine wissen,« meint der Fürst naiv, der so und so oft am Tage sein Kind den Sorgenstein nennt ... »Wie kommt es nur, daß sie sich Ihnen anvertraut hat, sie ist sonst so scheu gegen Fremde ...«
»Sie war doch aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, das kühne Unternehmen hatte sie in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt.«
Der Fürst erhob sich ungeduldig: »Ist dieser Hofrat nicht aufzutreiben? ...«
Er mußte doch die ganze Zeit gehorcht haben... Eben kam der Hofrat, würdig und aufgeregt sah er aus.
»Durchlaucht, die Prinzessin ist in furchtbarer Erregung, sie verlangt dringend nach jemand, der Harro heißt. Eine Untersuchung ist ganz unmöglich ... ich müßte Krämpfe befürchten. Es scheint mir, als ob eine der Damen sie irgendwie gegen mich eingenommen habe!«
Harro, der etwas im Saal zurückgetreten ist, hört noch:
»Kann dieser Harro nicht aufgetrieben werden?«
»Dieser Harro ist Graf Thorstein. Ich kann doch unmöglich –«
In Harros Gesicht steigt eine Blutwelle. Was kann er unmöglich? Ist dies nicht ein Notfall, wo man vergessen könnte, daß er aus der von alltagsher vorgeschriebenen Bahn gewichen war und etwas für sich selbst gewollt hatte?
Da kommt der Fürst zu ihm her, ziemlich verlegen: »Sie müssen nun schon einmal bei uns den Retter machen. Wenn sich die Kinder einmal etwas in den Kopf gesetzt haben. Keine größeren Tyrannen als kranke Kinder!«
Da sagt der Thorsteiner mit einer Stimme, deren seltsame Erregtheit den Fürsten betroffen macht: »Ich bin Euer Durchlaucht sehr dankbar, ich verstehe mich auf Kranke, habe einmal einen Freund gepflegt. Nun bin ich so allein, die Jahre ...«
Heiß dringt es aus seiner Seele.
»Keinem Menschen zu Leid, keinem zu Freud – ein schreckliches Wort ... Und die Kleine ... das wunderschöne Herz, es ging auf vor mir wie eine Blüte in der Winternacht ... Und ich benehme mich jetzt wie ein Narr und Hinterwäldler ... Durchlaucht müssen mir zugute halten ... – Die Einsamkeit, das Ausgeschlossensein. Und heute nun die Güte, die unerwartete, die ich doch fühle ...«
Er stockte wieder. Der Fürst schüttelte seine Hand. Er war selbst bewegt von der Ergriffenheit des andern. Es war ihm nur als eine Verlegenheit erschienen, den langen Thorsteiner mit seinem Kinderstubenjammer zu behelligen.
Das Seelchen lag in einem muschelförmigen Bett, das in einer Wandnische stand, und hatte sich die seidene Decke bis unters Kinn gezogen mit den fieberzitternden Händchen. Ihr Vater beugte sich über sie.
»Da ist dein Freund Harro, was willst du von ihm?« »Er soll mich beschützen und es nicht leiden, daß man mir die Decke herunterzieht!«
Der Fürst zuckte ratlos die Achseln.
»Und er soll mich in meine Decke wickeln und mich herumtragen wie gestern und mir von seinem Haus erzählen.«
Der Hofrat sagte zu dem Grafen: »Tun Sie der Kleinen den Willen, es kommt mir darauf an, daß sie sich möglichst bald beruhigt, und suchen Sie sie zu überreden, daß sie sich untersuchen läßt.«
Er half selbst das Kind in die Decke wickeln, und Harro war so geschickt beim Anfassen, als habe er sein Lebtag nichts anderes getan. Dann geht er mit langen, vorsichtigen Schritten auf und ab, das gelbe Haar flutet über seinen Arm, das Köpfchen ruht an seiner Brust.
Der Fürst hatte sich im Nebenzimmer an seinen alten Tisch gesetzt und trommelte nervös auf der Platte. Eigentlich eine unmögliche Situation. Das ganze Haus voll Frauenzimmer, und er mußte diesen gestern fast noch fremden Mann bemühen. »Ich könnte noch drei Weiblichkeiten anstellen, und die Sache wäre gerade so.« –
Die Miß war kurz erschienen, hatte sich erkundigt und war wieder verschwunden. Sie war doch nur als Erzieherin angestellt. Fräulein Braun schien ganz den Kopf verloren zu haben, sie brachte dem Hofrat immer das Falsche und fragte schon zum drittenmal, ob sie nun zu Bett könne, die ganze letzte Nacht habe sie gewacht. Und es sei noch die Babette da.
Der Hofrat sagte trocken: »Sie bleiben, bis ich Sie entlasse.«
Worauf sie sich in ihrer hübschen seidenen Bluse in die Nische setzte und die Gekränkte markierte. Inzwischen ging Harro auf und ab und erzählte von der Ruine, von der Kuh Selma und daß das Seelchen sehr schnell gesund werden müsse, um die einmal zu sehen und den Brunnen singen zu hören. Und dazu sei es nötig, daß sich Seelchen so bald wie möglich dem Doktor anvertraue. Da zuckt sie schon zusammen.
»Das kann ich doch nicht, Harro ... O Harro, ich darf's ja nicht, bedenk das Ehrenwort ... Wenn ich's nicht halte, mögen sie mich alle nicht mehr ansehen, der Schönste nicht und der Herr mit dem Schwert nicht.«
»Dein Ehrenwort, Seelchen, das ist ja ein Wort so lang wie du selbst. Da bist du doch noch zu klein dazu, das können alle alten Braunecker nicht von dir verlangen.«
Harro steht an einem Fenster, er hört aus der Dunkelheit das Rauschen eines großen Baumes, der mit seinen Ästen fast die Fensterscheiben berühren muß.
»Hörst du, wie die Linde rauscht, es wohnt jemand in der Linde. Wenn du das wüßtest. Aber sie sagen ›Lügen‹ und immer ›Lügen‹. Auch der Papa. Und ich habe ihm doch gesagt, daß ich ein Ehrenwort habe.«
»Seelchen, wenn du nun freilich, trotzdem du so klein bist, ein Ehrenwort hast, so ist es etwas anderes. Hast du es schon einmal gebraucht, oder ist es noch neu?«
»Ich habe es schon gebraucht. Es ist sehr schwer, wenn man noch klein ist, und man muß leiden.«
»Armes Seelchen,« sagt er sanft, er darf sie nicht von ihrem Gedankenpfädlein abbringen. Und es wäre ein Unrecht, dies arme, kleine, zitternde bißchen Menschheit nicht bitter ernst zu nehmen.
»Ein Ehrenwort kann einem auch unter Bedingungen, die später nicht mehr zutreffen, abgenommen werden,« sagt er.
Er kommt sich ziemlich lächerlich vor bei dieser Erklärung.
»Bedingungen weiß ich gar nicht, Harro,« antwortet sie kläglich.
»Tut nichts, wenn nur ich es weiß. Wem hast du es denn gegeben, dein Ehrenwort?«
Er wendet sich, wie er geht; eine Antwort bekommt er nicht, aber plötzlich ist die rosa Bluse aus der Nische verschwunden.
»Seelchen, ich lege dich auf dein Bett, ich hole es dir wieder, dein Ehrenwort.«
»O Harro –« fest klammert sich das Ärmchen um seinen Hals. Er geht hinaus, er rennt aufs Geratewohl einen Gang entlang, eine Wendeltreppe, vier Stufen auf einmal, irgend jemand muß er doch finden. Da sieht er nach oben in der Windung eine rosa Bluse verschwinden ... Noch vier Stufen, dann hat er die entsetzte Fräulein Braun am Ärmel gepackt: »Heda Sie, wohin wollen Sie so schnell, hat der Hofrat Sie entlassen?« Das Fräulein stammelt etwas und fängt dann zu weinen an, wie hübsche Mädchen weinen vor einem jungen Mann ... Aber den ficht das wenig an. Ungeheuer lächerlich kommt er sich vor mit seinem Ehrenhandel auf der Treppe, und doch hängt vielleicht ein Leben daran.
»Haben Sie Ihre Stellung in so schnöder Weise mißbraucht und der Prinzessin ein Ehrenwort abgenommen?«
Das Fräulein schluchzt, sie wisse von nichts. Die Prinzessin wisse gar nicht, was sie sage; wenn man ihr alles glauben wolle! Sie sei ja nicht normal.
»Normaler als Sie, Sie verbrecherische Person,« knirscht Harro. »Ist die Prinzessin verletzt worden oder nicht?«
»Das hat sie selbst getan und will's jetzt auf andere schieben. Lassen Sie mich doch gehen, Herr Graf, ich bin so ein armes, schutzloses – –. So können der Herr Graf gar nicht sein. Das Kind ist ja gar nicht normal und sieht tote Leute, wo es Geister doch nicht gibt und es ganz ungebildet ist, wenn man es heutzutage noch glaubt.«
»So nehme ich Sie mit zum Herrn Oberamtsrichter. Der hat ein Zimmer für Gebildete und Ungebildete, dort können Sie dann schön lang sitzen in Ihrer rosa Bluse, bis die Herren alles ausgemacht haben. Seien Sie ganz ruhig, es geschieht Ihnen kein Unrecht, die Herren bringen alles heraus. – Oder wollen Sie lieber mir jetzt nachsagen, was ich Ihnen vorsage: ›Ich erkläre, daß ich zu unrecht der Prinzessin ein Ehrenwort abgenommen habe und gebe es ihr wieder zurück.‹«
»O Gott, o Gott, daß ich ganz unschuldig in so etwas hineinkomme, ich will es ja sagen, Herr Graf, nur lassen Sie mich gehen,« aber sie ist schon allein in ihrer Wendeltreppennische. »Herr Rat, wollen Sie, bitte, die Prinzessin untersuchen, es ist das Mädchen bei ihr ... Fräulein Braun ist unbrauchbar, ich habe sie zu Bett geschickt.«
Dann sitzen die beiden Herren um die erinnerungsreiche Platte, und von innen ertönt ein Wimmern, ein jammervoller Kinderschrei nach dem andern. Der Fürst ist ganz grau geworden. »Das ist ja entsetzlich, Thorstein, Sie bleiben doch bei uns, Sie übernachten hier. Ich bin ja verraten und verkauft. Diese Engländerin, die Hälfte ihrer Tugenden könnte ein Mädchenwaisenhaus ausstatten.«
Der Hofrat kam heraus, er hatte einen sehr roten Kopf und winkte dem Thorsteiner.
»Gehen Sie, bitte, hinein, das Kind ist noch sehr erregt.«
Und während Harro neben der Babett an dem Bette der Kleinen sitzt, muß der Hofrat dem entsetzten Vater seinen Bericht erstatten. Es ist peinlich genug für ihn. Er hatte in der letzten Zeit eine Scharlachepidemie in einem der Walddörfer zu bekämpfen gehabt und war gar nicht ins Schloß gekommen, da man ihn nicht rief. Heute morgen hatte er die Kleine nur einen Augenblick gesehen ...
Das Seelchen will nun auch reden, nachdem sie so lange geschwiegen, und es gibt ihr noch ganze Herzstöße, während sie ihrem Freund erzählt:
»Man muß Umschläge machen, wenn ich nicht schlafen kann, und Fräulein Braun hat mich angerührt und ich habe geschrien, ›es ist zu heiß‹. Aber weil ich immer so schreie, hat sie es nicht weggetan. Das war wie eine heiße Kugel an mir, und ich habe sehr geweint und Fräulein Braun auch, weißt du, wegen Karl. Denn wenn sie es sagt, schickt man sie fort und der Karl heiratet sie nicht. Und nie, gar nie kriegt sie einen Mann und ein Plüschsofa, bis sie ganz alt und runzlig ist. Und muß bei fremden Kindern sein und sich von Missen und Mamsellen ärgern lassen. Und wenn sie Karl nicht bekommt, stirbt sie einfach oder geht ins Wasser, und wenn man sie herauszieht, muß man ihr die Knochen brechen, weil man sie nicht in den Sarg legen kann, wie bei dem Schlosserfritz. O Harro, wenn ich schuldig wäre, daß der armen Fräulein Braun die Knochen gebrochen werden! Da habe ich gesagt: ›ich sage es nie.‹ Aber sie hat es nicht glauben wollen. Da habe ich ihr mein Ehrenwort gegeben. Wir Braunecker haben alle ein Ehrenwort, auch wenn wir klein und noch nicht konfirmiert sind. Das war sie froh und ich auch, und sie sagte: ›Es wird gleich wieder gut.‹ Aber Miß Whart hat herausgebracht, daß sie mich nicht gebadet hat, und da hat sie es tun müssen, und da ist es nicht gut geworden. Und dem Herrn Hofrat habe ich's doch am allerwenigsten sagen dürfen und habe ihn anlügen müssen. Das war nun einmal dabei, bei dem Ehrenwort. Und nicht wahr, Fräulein Braun muß nicht ins Wasser, Harro!«
»Niemals, die rosa Bluse bleibt trocken, ich verspreche es dir, Seelchen, und du hast dein Wort gehalten und bist echt. Und wenn der Herr mit dem Schwert dich sähe, würde er vor dir salutieren, so echt bist du. Und nun kannst du darauf schlafen.«
»Und dem Papa sage, daß ich nicht lüge, nur wenn ich gar nicht anders kann.«
Da berührt etwas seine Schulter. Der Fürst steht an dem Muschelbett, auf dem sein blasses Kind liegt, umflutet von ihrem Goldhaar, ihr rosiges Wachsebenbild neben sich.
»Kommen Sie mit mir, Graf Thorstein! Was sagen Sie zu dieser Geschichte? Ist das nicht herzbrechend, daß ich so betrogen bin mit diesen Teufelsweibern? Kein Wunder, daß sie diesen Megären entrinnen wollte. Und mir hat sie sich auch nicht anvertraut.«
Sie sind in dem Lernzimmer, und der Fürst geht mit großen Schritten auf und ab. »Ihnen vertraut sich das Kind an.«
»Durchlaucht, es hat sich mir auch nicht anvertraut. Ihr Ehrenwort.«
»Soll das mit der Geschichte zusammenhängen.«
»Ja, und sie hat sich täglich darum quälen lassen.«
Und dann erzählt er dem aufhorchenden Vater des armen Seelchens Geschichte, es scheint ihm..., es will ihm bedünken ..., aber er entwirft doch ein Bild von der Kleinen, das dem Vater die Augen weich und leuchtend macht.
»So sehen Sie meine Kleine an, meine arme Kleine. Aber Sie wissen nicht alles.«
»Wie könnt ich! Das Seelchen scheint noch manche Geheimnisse zu haben.«
»Sind Sie immer ein solcher Kinderfreund?«
»Ich verstehe mich mit den kleinen Herrschaften besser als mit den großen. Und wir haben uns auch in einer seltenen Stunde getroffen, als wir beide unsern Christtag suchten. Ich bin in den letzten Jahren ein wenig mit meiner Seele auseinander gekommen. Und das Kind ... es weht ein Lüftchen um sie, vielleicht, weil sie noch so klein, so fein und so einsam ist ... von dorther, wo die großen Geheimnisse wohnen.«
Draußen in der Winternacht rauscht und braust die Linde ... Harro sitzt, die sehenden Augen hinausgerichtet in das Dunkel, einen Hauch von Versunkenheit und Weltverlorenheit um sich. Der Fürst ergriff seine Hand: »Ach, helfen Sie mir doch bei meiner armen, meiner verlassenen Kleinen, bis sie wieder eine Mutter hat.«
Am andern Morgen gab es ein großes Kofferpacken im Schloß und ob auch Miß Whart von Her Majesty's Ambassador sprach, so rollten doch zwei schwer bepackte Wagen auf den Zehnuhrzug, und das Nähröschen saß am Bett der Kleinen. Harro ist wieder in seiner Ruine verschwunden, wo er zu bleiben gedenkt, bis man nach ihm verlangt. Denn der Morgen ist nicht wie die Nacht, und er möchte nicht den Schein erwecken, als ob er sich unentbehrlich dünkte. Und er hat auch zu tun. Aber alle Tapetenrollen, Risse sind verschwunden. Er steht vor seinem Karton, und wenn er zufällig auf seine Hand blickt, so blitzt ihn dort das rote Funkeln an. Wenn man nie einen Ring trägt – seines Vaters Siegelring hat er damals in Berlin beiseite gelegt, als nicht zu seinen Lebensumständen passend, – und wenn man viel mit den Händen arbeitet, so ist das ein seltsames Gefühl. Er muß ihn betrachten und den alten Spruch bedenken. War der Mann, dem der Ring gehörte, so sehr mit dem Leben fertig gewesen? Es stört ihn das rote Licht bei seiner Arbeit, von den Tapeten hat es ihn schon vertrieben. Es sieht so festtäglich aus, und das ist werktägliche Arbeit. Und er erinnert sich, daß er auch wie andere Leute einen Feiertag verdiene. Die Rollen knattern mißmutig, wie sie ins Eck fliegen. »Wir werden nicht fertig ...« Aber es hilft ihnen nichts, dort liegen sie, grau und häßlich. Harro hat schon lange nicht mehr gemalt, sein letztes Bild ist vom Kunstverein nicht angenommen worden und liegt unausgepackt in der Kiste. Der Tannenbaum verdeckt den ärgerlichen Anblick.
Und er mußte ja ums tägliche Brot arbeiten. Die Hälfte seiner Einnahmen floß unweigerlich in das Loch ohne Boden, die Baukasse. Müßig war er nie. Kaum an Sonntagnachmittagen gestattete er sich eine nachdenkliche Zigarre und den Genuß der alten Freunde aus dem Bücherspind.
Ach, noch sehr selten krönt das Gelingen seine hingegebene Mühe. Seinen Farben haftet eine gewisse Trockenheit an, seinen Gestalten sah man nur zu deutlich das fehlende Modell an. Um ein gutes Modell zu bekommen, muß er in die Kunststädte reisen, im Waldland gibt sich niemand dazu her. Paris ... Rom ..., aber das waren unmögliche Dinge. »Du bist eben zwiespältig,« schilt er sich. »Der Mensch muß nur eines wollen, dann kann er es auch. Aber du starrst wie verzaubert auf einen Haufen alter Steine und läßt deine sauer verdienten Groschen in das Faß der Danaiden gleiten. Mit dem, was du im letzten Vierteljahr in Kalk und Tagelohn angelegt hast, hättest du sechs Wochen Paris haben können. Ein Kerl wie du, der den ganzen Tag schafft und von Haferbrei und Zwetschgen leben kann! Aber du willst alles haben, und es gelingt dir nichts.« –
An solchen Tagen der Einkehr, wo seine zwei Willen sich zankten, ging die Arbeit schlecht von statten, und Harro muß seines Vaters Sohn stöhnend anlassen: »Sogar die Tapeten verdirbst du! Weil dir der Mondsee mit den schwarzen Tannen und das Weib, das aus den Wasserringen auftaucht, keine Ruhe läßt. Wollen die Leute Wasserringe auf ihren Tapeten haben? Willst du das selbst? So tu's auch andern nicht an. Sie müssen ja verrückt werden, wenn sie anfangen nach den Ringen zu schauen ... Der Teufel hole alle Tapeten ... im Haus gibt es einmal keine, nur Täfelung und Wandbespannung.«
»Und Intarsien von Silber und Perlmutter und ein wenig Goldmosaik, alter Narr und Träumer,« höhnt der andere Harro.
Aber heut geben die beiden Harros Frieden, und der Herr seiner Seele steht vor der großen Fläche, die er sich selbst zurecht geschreinert und geklopft hat. Er arbeitet mit Kreiden, und je mehr seine Striche den Grund beleben, desto heller sprüht das Feuer aus seinen Augen. Nein, diesmal soll der göttliche Blitz nicht ungenützt verglühen. Nun geht der kurze Wintertag zu Ende, eine rote Lohe schlägt ihren Mantel um den Bergfried, nur matter Schein dringt in seine tiefgelegenen Fenster.
Da ertönt Hufschlag, der Kaliban reißt das Hoftor auf, der Fürst reitet herein und springt leicht von seinem schönen Goldbraunen ab. Harro hat kaum Zeit, aus seinem Leinenkittel zu fahren und ein Tuch über seine Arbeit zu decken. Noch hat er sie ja selbst nicht mit kaltem Blute angesehen, und da darf kein fremdes Auge darauf fallen.
»Ich störe Sie doch nicht, Graf Thorstein ... Immer und immer können Sie doch nicht fleißig sein.«
»Ich hatte es auch eben aufgegeben, Durchlaucht. Mein Diener ist alter Kavallerist, der Gaul kann ihm anvertraut werden.«
»Sie haben ja Raum, Sie sollten auch einen Gaul haben.«
»Wenn er von leeren Farbentuben und durchrissenen Papierkuverts leben wollte,« seufzt Harro.
»Sie sollten nach meiner Kleinen sehen, es geht ihr so viel besser, sie verlangt schmerzlich nach Ihnen!« »Ich bin sehr beschäftigt, – hier, bitte, Durchlaucht, ist der Salon.«
Sie sind in die größte und düsterste Nische getreten, darin der Salon allerdings bequem Platz hat. Es steht ein gestickter Amerikaner darin, in den Harro seinen Besuch hineinkomplimentiert, und davor ein Tischchen mit einer roten Samtdecke. Darauf das einzige Glanzstück des Thorsteiner Schlosses, das Schäflein des armen Mannes, ein schönes silbernes Teeservice. Aus der alten Heimat. Nie hatte er sich davon getrennt. Um das alte Silber hing immer noch ein Duft von vornehmem Behagen. An der einen Nischenwand hing ein Bild im dunkeln Rahmen. Der Bergfried von Thorstein, wie er über die Wipfel emporsteigt, von einem Schwarm weißer Tauben umflogen im Abendschein, der dem rötlichen Stein ein so warmes Leben einhaucht, daneben das steile dunkle Dach des Palas schon im Schatten.
»Das ist schön,« ruft der Fürst, »Sie malen Landschaften?«
»Wie es gerade kommt.«
»Porträts?«
»Es hat sich bisher noch niemand getraut: die bezahlten Modelle müssen ja stillhalten!«
Das klingt nicht sehr ermutigend, denkt der Fürst. Dann sagt er: »Meine Kleine werde ich versorgen müssen. Sie ist ja sehr vergnügt mit ihrem Nähroschen und der Wunderpuppe, die niemand anrühren darf. Die Sache treibt mich beständig um. Wenn ich an die Empfehlungen dieser engelgleichen Wesen denke, die ich bei früheren Anlässen erhielt, – und nun ich weiß, wie sehr meine Kleine diesen Kreaturen ausgeliefert ist! Hätte irgend jemand versucht, meiner Schwester Helen so zu kommen, ich weiß, wer den kürzeren gezogen hätte.«
Harro meinte: »Vielleicht eine Dame, die selbst Kinder gehabt hat ...«
Der Fürst hatte sich eine Zigarette angezündet.
»Eine Dame, gewiß ... Nicht mehr so jung, ein bißchen Großmama ... aus der Gesellschaft, freundlich, in einem schwarzseidenen Kleid und Häubchen, die Lebensschicksale gehabt und in der Dämmerung von ihrem Seligen erzählt. Wie wundervoll müßte die zu meiner altmodischen Kleinen passen, mit ihren aufgeschnappten Brocken, mit denen sie so feierlich umgeht!«
Harro wurde rot.
»Was man sonst bei einem erwachsenen Menschen als höchste Treue ehren würde, daß er um ein gegebenes Wort leidet, muß man doch auch bei einem Kinde ehren.«
»Aber gewiß, nur sagen Sie selbst – wie will meine Kleine einmal durch die Welt kommen, wenn jeder, der gerissen und gewissenlos genug ist, sie mißbrauchen kann? Es hängen sich genug Leute an uns, die nicht immer die besten Absichten haben.«
Harro sagte leise: »Das Feine, Edle, Zarte ist immer ein wenig wehrlos.«
»Eine alte Dame wüßten Sie mir nicht? ... Man geht da freilich Verpflichtungen ein. Das Loswerden ist schwieriger.«
Harro meint zögernd: »Ich habe eine liebe Freundin, das Bild stimmt aber nicht ganz, so alt ist sie nicht. Aber das Loswerden wäre sehr einfach, sie wäre nur auf einige Jahre verfügbar.« »Ach, das paßte mir ... Wer ist es denn?«
»Eine Offizierswitwe von Familie. Ihr Sohn war mein Kamerad, stürzte an einem Unglücksmorgen und starb nach langem Jammer. Ein feiner Mensch, ein Goldherz, ewig schade um ihn. Die Mutter pflegte ihn, er war ihr ein und alles. Nun ist sie allein. Die Tochter verheiratet in den Kolonien, auf einige Jahre, später werden sie zusammen leben. Ich habe natürlich keine Ahnung, ob sie eine solche Stellung annehmen würde, doch schrieb sie mir vor einiger Zeit, das Alleinsein bekomme ihr nicht. Fragte an, ob ich nicht eine Hausdame brauchte. Ich mußte ihr leider sagen, daß ich nicht auf Damen eingerichtet sei.«
»Ich höre, Sie wollen bauen, Graf Thorstein. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann ...« – Harro errötete wieder: »Danke, Durchlaucht, ich habe keine Hilfe nötig ..., es eilt ja nicht, meine Pläne sind noch nicht fertig.«
»Wenn Sie so weit sind, lassen Sie mich es doch wissen,« drängte der Fürst. »Und Ihre Dame? Eine Engländerin müßte ich ja doch haben, sonst vergißt die Kleine ihre Sprachen wieder. Aber Ihre Freundin könnte sie ja im Schach halten.«
»Meine Freundin ist sehr tätig, ich weiß nicht, ob ihr dies Nebenamt genügte neben zwei andern.«
»Nun, das wird sich geben. Essen Sie morgen mit uns, Graf Thorstein, und fragen Sie doch einmal vorsichtig an.«
»Bedaure, Durchlaucht, ich brauche den Tag zu meiner Arbeit, aber ich komme einmal, mich nach der Prinzessin zu erkundigen.«
»Graf Harro, sind Sie immer so spröde?« –
Nun ist er wieder allein, und zuerst muß er einen großen Zug machen, der den Zigarettenduft hinausbefördert, er erinnert ihn zu sehr an das angebotene Darlehen. Nein, lieber bis zu seinem Tod im Geklüft hausen, als die Hilfe annehmen. »Und was schadet's, wenn die alten Mauern einmal nachgeben und du eines Frühjahrs nicht mehr aus deinem Bau kommst. Die Welt braucht dich nicht.«
Aber es ist ein betrübter Gedanke an einem finstern Winterabend, an dem nun ein kläglicher Wind zu heulen beginnt. Die Lampe erleuchtet auch nur einen Fleck des hohen düsteren Gemachs. Kein Gedanke, daß er jetzt an seinem Entwurf arbeiten kann, und er dürfte auch nicht, es hat sich wie ein Reif auf seine frohe Stimmung gelegt. Die Flammen sind erloschen; daß er kein Mittagessen gehabt hat, drängt sich ihm unangenehm auf. Und Märt ist einholen gegangen. Da muß ein Tee aushelfen. Kaum brennt das blaue Flämmchen, da wimmert die Schelle durch den Sturm. Der Schloßherr muß selbst öffnen und läßt den Briefboten herein, heut ist ein eingeschriebener Brief dabei. Bei dem kleinen Laternchen, das ängstlich in einer Tornische flattert, unterschreibt er, dann schlägt das Tor wieder zu, und das Lämpchen stirbt im Schrecken. Harro muß sich im Dunkeln zurücktasten, nicht ohne daß er mit verschiedenem in unliebsame Berührung kommt. Ärgerlich kommt er herein, dem blauen Flämmchen ist der Atem ausgegangen, Harro wirft sich auf seinen Stuhl, die Postsachen neben sich, und murmelt: »Scheußlich ... und die Eiskälte, die ich mir hergerichtet habe, und ich glaube, man riecht die Zigarette noch ...« Dann öffnet er seine Post. – »Einen Schein für eine ganze Reihe Entwürfe? Ich hätte gute Lust, ich verlangte meine Sachen ÿwieder. Das Sündengeld. Wachspuppen zu fabrizieren wäre rentabler ...« – Eine Zeitung, ein Angebot einer Lebensversicherungsgesellschaft, das er mit einem wilden Lachen in die Ecke schleudert, und ein dicker Brief, eine Schrift, steil und mühsam, eine Kinderhand ...
Mein lieber Harro!
Ich schreibe Dir, daß Du es weißt. Es geht mir gut. Das Nähröschen macht Deinem Schneewittchen ein Kleid mit Silber. Ich will lieber ein silbernes Kleid, das kann sie aber nicht. Weil es das icht gibt. Oder vielleicht nur in Paris. Das Schneewittchen habe ich sehr lieb, ich habe gleich gesehen, daß Du es gemacht hast, es ist beinah so schön wie Deine Maria. Hättest Du den Joseph gemacht, so wäre es Papa recht gewesen. Alles ist fort, Miß Whart, Fräulein Braun, Babett muß in die Nähstube. Wenn ich gesund bin, komme ich zu Dir und will Deinen singenden Brunnen hören und das Rehböckchen streicheln. Wir haben keinen singenden Brunnen und keine schöne Krippe, aber wir haben eine Linde. Hast Du sie gehört, wie ich krank war? Wenn sie zornig ist, wirft sie kleine Äste gegen mein Fenster und rauscht und rauscht. Dann schläft sie wieder ein. Im Frühling wacht sie auf. Sie hat tausend Herzen, grüne, weiche, die auf und ab schlagen, wenn Wind kommt, und ein Sonnenstrählchen wohnt darin in einem grüngoldenen Häuschen. Und einmal hat sie gelbe Büschelchen, die schwingen, und dann kommt alles zu Besuch. Den ganzen Tag haben sie Hochzeit, und die Büschelchen schwingen und die Herzen schlagen, und es geigt und orgelt, und sogar die Ameisen ziehen weiße Flügel an, daß sie nicht immer so schaffen müssen, und tanzen mit. Es kommt auch der Mond, wenn Sonnenstrählchen in seinem grünen Häuschen eingeschlafen ist, dann darf man aber nicht hinaus, es ist verboten. Einmal habe ich es aber doch getan. Und was war's? Die ganze Hochzeit war zu Bett, die Orgel aus, die Geigen und Flötchen, und was meinst Du, was sie tat, die Linde? Sie weinte! Mit allen Herzen und Büschelchen, und der Mond stach in jedes Tränlein hinein, da war es Silber. Und nun meinst Du, Du weißt die Linde? Aber Du weißt sie immer noch nicht, und darum schreibe ich Dir. Das Nähröschen hat mir versprochen, daß es nicht hereinsieht. Und ich sage es Dir, weil Du nicht sagst: Lügen. Darum bist Du mein Freund. Lieber Harro, es gibt doch ein silbernes Kleid, und es gibt goldene Schuhe. Die Linde weiß es auch, und vielleicht weint sie darum, wenn sie allein ist beim Mond in der Nacht. Dies ist der Aufsatz von der Linde. Dein Seelchen.
Hinweggescheucht war sein Unmut; die große Stube nicht mehr düster, der Zigarettengeruch nicht mehr unangenehm. Es rauscht in der Sommernacht die Linde, ein feines Ärmchen schlingt sich um einen Ast. »Warum weinst du, Linde?« fragt das Silberstimmchen ... Mit langen Schritten geht der Thorsteiner auf und ab, der Märt hat dem Kachelofen kräftig zugesprochen, eine leise wohlige Wärme verbreitet sich, draußen jammert immer noch die Windsbraut und harft mit den Tannen, die Lampe wirft einen freundlichen Lichtfleck auf den Tisch mit den Zeichengeräten, aus der Ecke lugen die schönen schwarzen Augen des Rehs, das mit Märt hereingekommen ist, und bewegt sich das feine Näschen, und nun singt und brodelt der Teekessel.
Aber wie verzaubert steht Harro plötzlich vor dem langen dunkeln Kasten ... es ist, als ob die dunkle Fläche weiche, da steht ein Bild. Das Bild, das von seiner ganzen Seele Besitz genommen hat, dem er heute nachgejagt ist in atemloser Hast. Ein großer Ehrensaal mit weißen Pilastern, darauf fremdes goldenes Getier hockt, verschwimmende Wappen in den Klauen haltend. Feierliche Wände, an denen lange Gestalten stehen, Ritter und Damen, undeutlich, schattenhaft, nur die Augen leben. Und in dem Saal geht von einer fernen Lichtquelle beleuchtet eine zarte Kindergestalt, mit weit offenen, träumenden Augen. – Einer blassen Goldwolke gleich flutet das Haar um das Gesichtchen und die schmalen Schultern. Es hebt sich auf blassen, nackten Füßchen, in den erhobenen Händen, sehnend, bittend ausgestreckt, trägt es ein fremdartiges Kleinod, von dem ein rotes Licht ausgeht. Ein tiefer Atemzug, das Bild ist verschwunden, – da steht wieder der alte Kasten.
Harro schließt die Augen, er tastet sich nach dem düstersten Winkel der großen schattenvollen Stube. Dort legt er seinen Kopf auf seine Arme, ein glühender Wunsch und Wille ist sein ganzes Herz. Wenn es mir gelänge! Wenn es einen Gott gäbe, der mich hörte. Aber der Weltengott mit seinen Millionen Erden und Sonnen, was kann ihm ein winziger Erdenwurm sein! Einsam ist das Herz in der Brust und ohnmächtig, wenn es das wilde Brausen wieder verläßt, das schöpferische, in dem die großen Gedanken geboren werden. Er stöhnt. Wenn ich ihm nachkäme! ... die Arme seiner Seele greifen hinaus in die dunkle Nacht. Wohin, irgend wohin ... dann reckt er sich auf. Ich bin ein Narr ... Als ob je eine Antwort gekommen wäre. Und was will ich denn. Jetzt heißt's die Zähne zusammen beißen, du zwiespältiger Mensch und Ruinengraf. Die Steine schreien lassen. Dem Geschenkten ... von wem geschenkt? – nachreiten. Es wallt heiß. Wenn es mir gelänge, – es zerspränge mir die Brust von Wonne. Ich muß katholisch werden und einem Heiligen eine Kerze anzünden ... Jemand muß ich danken. Oder ich zünde sie dir an, Seelchen!
Tief verschneit liegt Schloß und Städtchen unter dem schwerherabhängenden grauen Himmel. In dem beginnenden Dämmer fangen die Lichter an aufzuglühen in den hohen Schloßfenstern. Und heute haben sich ein paar neue Augen aufgetan: Frau von Hardenstein, die neue Erzieherin der Prinzessin, ist angekommen und erwartet in ihren Räumen mit Ungeduld den Thorsteiner. Sie entspricht nicht ganz dem Bilde der Dame in schwarz, das der Fürst zeichnete. Sie ist noch zu frisch, rotwangig und energisch dazu. Man sieht es ihr nicht gleich an, wie vernichtend die Sense durch ihr Blumengärtlein gegangen ist. Nur in ihren blauen Augen liegt etwas, als ob sie schon in ein großes Entsetzen gesehen habe: das taucht auf und verschwindet wieder.
Und nun haben sie sich aufs freudigste begrüßt, und Harro schaut sich in dem großen Raum um, dessen Fenster in tiefen Nischen liegen und allerhand trauliche Winkel bilden, und dessen alte Stuckdecke graue Sandsteinsäulen tragen. Der Säulenschaft ist mit allerhand billigen Stoffdraperien verkleidet, was ihrem Ernst sehr wunderlich steht.
»Wie gefällt es Ihnen in Ihrem Reich, Frau Mutter?«
»Gut, sehr gut, wenn ich mich einmal gewöhnt habe, mit Säulen zu leben; wenn ich erwache, so habe ich regelmäßig den Schrecken, daß ich mitsamt meinem Bett in eine Kirche geraten sei. Ich schlafe hinter dem grünen Vorhang dort. In meinem Schlafzimmer steht auch eine Säule und schaut so streng auf mich herunter, daß ich mir die Nische ausgewählt habe. –«
»Können die Höschen, die man den Säulen angezogen hat, nicht entfernt werden,« riet Harro. – »Es steht so unglaublich lächerlich aus. Aber freilich, dann würden die Säulen noch kirchlicher.«
»Dieses Zimmer muß früher zu etwas Besonderem gedient haben, sehen Sie, die Wand schneidet durch das Ornament der Decke.«
»Eine vierte Säule gehörte noch dazu. Sie müssen in den Kauf genommen werden.«
»Und sonst noch manches!«
Frau von Hardenstein lacht.
»Ich traf also den Fürsten im Wartesaal erster Klasse in Würzburg. Eine gute halbe Stunde waren wir zusammen. Er war sehr liebenswürdig und überschüttete mich mit einer Fülle von Ratschlägen, Ermahnungen, Bitten, Warnungen, wobei er mich von der Seite ansah, ob ich nicht am Ende doch den Dolch im Gewände trüge. Ich wäre gern wieder entflohen, aber – eitel werden Sie ja nicht – wenn es auch nur eine Probezeit sein soll, ich kann in Ihrer Nähe einmal sechs Wochen leben und Sie oft, oft sehen, das müssen Sie mir versprechen.«
»Oh, Sie werden genug und übergenug von mir bekommen, und Sie besuchen mich ja mit dem Seelchen in meiner Ruine, sie brennt darauf, und Papa hat's erlaubt.«
»Lieber Harro, Sie finden ja immer die Bedrängten heraus. Diesmal ist's aber recht wunderlich, daß es kein buckliger Musiker, keine vor Jammer halbverrückte Mutter ist, sondern ein verwunschenes Prinzeßchen.«
Harro ruft ungestüm: »Sie haben das rechte Wort gefunden, verwunschen ist die Kleine! Nur was meinen Freund Hans Friedrich den Musiker betrifft, so irren Sie sich. Ich bin nicht ihm, er ist mir beigesprungen!«
»Harro, haben Sie ihn nicht auf der Friedenauer Heide mit Lebensgefahr von den vier Rowdies errettet?«
Harro lacht hell auf. »Lebensgefahr! – Schwächliches, dekadentes Berliner Lumpenpack, bläst man sie an, so fallen sie um.«
»Konnten die nicht Revolver haben?« »Revolver, die treffen nur in Romanen, man schüttelt sie denen aus der Hand. Nein, mein Freund hat mich in meiner allerschlimmsten Zeit mit seiner wundervollen Musik über Wasser gehalten; erst als er fort war, brach es so recht über mich herein. Aber Sie haben ein wundervolles Wort gesagt – von der verwunschenen Prinzessin. Wie wenn über des Kindes eigentlichem Wesen ein buntes, trauriges Narrenkleid hinge, wie über Allerleirauh im Märchen. Auf einmal streift es das ab, und es steht etwas so holdseliges da, daß Sonne und Mond sich verwundern.«
»Ei, Harro, und Sie wollen erlösen?«
»Wenn ich könnte! Wie die das arme Seelchen gequält und mißverstanden haben, es ist kein Wunder, daß der Vater vor dem Dolch im Gewande zittert.«
»Und später, Harro.«
»Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.«
»Da können Sie sicher sein, totsicher, daß man das eines Tages Ihnen zu verstehen gibt. Je besser Ihnen die Entzauberung gelingt, desto sicherer.«
»Frau Mutter, glauben Sie, daß ich darauf warten werde, bis man mir das zu verstehen geben wird? Und es ist doch so schön, solange es geht. Wenn man so leer läuft wie ich, ein Höhlendachs, ein Erheiterungsgegenstand für die ganze Umgegend, und man findet an seinem Weg ein solches Blümlein Wunderhold, und noch dazu in Not! Mein Kopf ist ganz voll von der Kleinen. Ich male sie ja. Haben Sie schon die Füßchen gesehen! Ach sorgen Sie doch, daß die Form nicht durch schlechtes Schuhwerk verdorben wird. Sonderbar, daß die sich bis jetzt erhalten.«
»Ist das nun wirklich das Malerinteresse,« denkt Frau Mutter.
»Ist sie nicht schön?« drängt er.
»Lieber Harro, das müssen Sie wissen. Die Haare sind sehr schön, und die Augen hat sie von jemand anderem her im Kopf. Sie verändern sich sehr stark, und wenn sie ganz dunkel werden, sieht sie direkt unheimlich aus. Sie glauben ja, daß alles Sonderbare an ihr nur von ihrer poetischen Anschauung und äußerst lebendigen Phantasie komme.«
»Gewiß, und dann hat man sie gekränkt und ihre Phantasiegebilde Lügen genannt und so den Gegensatz erst künstlich erzeugt.«
»Nun, wir wollen sehen; und nun erzählen Sie mir aber von sich, Harro. Was machen die grimmen alten Tanten, zürnen sie immer noch?« Harro lächelt. »Oh, Tante Marga strickt mir schon wieder Strümpfe. Und weil ich doch immer lange Strümpfe und kurze Beinkleider trage und meine Beine ohnedies eine respektable Länge haben, Tante Marga auch die Idee mit sich herumtragen muß, ich wüchse noch, ist sie genötigt, das Strumpfwerk, wahrend sie daran strickt, in ein Leinwandsäckchen einzunähen, um es so dem Hohn der andern Stiftsdamen zu entziehen! Lieb, nicht? Tante Ulrike ist bereits wieder soweit erweicht, daß sie den Briefen ihrer Schwester hie und da ein Fragezeichen oder einen Unterstrich beifügt, und unten am Rand des Briefes ein imponierendes U. hinstellt.«
Harro hat nun von dem Fürsten den Auftrag bekommen, die Prinzessin zu malen, und ist sehr beglückt darüber. Zu seinem großen Bild kann er gar nicht genug Studien bekommen. Nun steht schon eine verhüllte Staffelei im Lernzimmer, und das Seelchen betrachtet alles mit Weihnachtsaugen. Die Pinsel, die Fläschchen, den langen Leinenkittel, wie komisch wird er darin aussehen! Frau von Hardenstein hat sich einen großen Knäuel silbergrauer Wolle gerichtet, den sie bei den Sitzungen verstricken will. Der Knäuel ist dick, so kann die Sache am Ende schön lange dauern, ein beseligender Gedanke. In des Seelchens Schlafzimmer liegen die schönen Kleidchen ausgebreitet, daß der Künstler darunter auswähle. Das Seelchen klettert auf die Kommode, wo der große Spiegel hängt, und betrachtet sich kritisch. Aber was da heraussieht, hat sie schon oft gesehen. Sie hört ihren Freund schon kommen und steigt etwas beschämt herunter. »Und nun, Seelchen, soll ich deine bunten Flügel sehen. Bunte Flügel meine Freude.«
Das Seelchen hängt sich an seine Hand und küßt den Rockärmel, so sehr er abwehrt. Aber Harro ist der Pracht gegenüber recht ratlos.
»Was gefällt dir denn selbst am besten, Seelchen?«
»Mein altes graues, Harro, es ist gar nicht dabei, weil es schon zum Verschenken beiseite gelegt ist. Röschen soll es bringen.« Ein ganz einfaches graues Hängerchen erscheint, von wundervollem Samt, einer von denen, die immer schöner werden, mit weichen Reflexen, das Seelchen läßt zur Probe eine Goldsträhne darüber fallen.
»Herrlich,« ruft er begeistert, »schnell zieh es an und komm herein.«
»Höre, Seelchen,« fragt er, als sie nun vor ihm sitzt in einem weißlackierten Stühlchen mit verblichenem grünseidenen Polster, »wie kommst du nun gerade auf dieses Kleid?«
»Ich kann auch nicht sagen, daß ich es billige,« meint Frau von Hardenstein, »Kinder sind immer am hübschesten in frischen weißen Kleidchen mit farbigen Schleifen. Nehmen Sie das weiße mit dem roten Samt, Juliane.«
Harro sieht ganz erstaunt auf: »Ja heißt du denn so, Seelchen?«
»Nein, ich heiße Juliane Charlotte Rosalie Marie, und keiner ist der rechte, und Miß Whart hat mich Juliet genannt und Mademoiselle July, wie ich doch niemals heiße.«
»Der Fürst nennt sie immer die Kleine.«
»Die arme Kleine,« verbessert das Kind.
»Die Namen passen freilich nicht für dich. Warum gaben sie dir nicht einen schönen altdeutschen Namen, einen Hohenstaufennamen, von denen stammst du ja ab, und dein Goldhaar ist eine Erinnerung daran. Es ist so lang her, aber nicht unmöglich. Mir erzählte ein Freund, in den Küstenstädten im Heiligen Land bei Akkon, wo die Kreuzfahrer waren, würden immer wieder Araberkinder mit blonden Haaren geboren. Das ist noch viel wunderbarer. Sie hätten dich Griseldis oder Gerhildis oder Windemut oder Gisela nennen müssen. Was hast du denn, Seelchen?«
»Es ist mir durchs Herz gefahren, wie du Gisela gesagt hast.«
»Wunderliches, du bist ganz blaß.«
»Du sollst auch den Namen nie wieder sagen,« befiehlt sie. Frau von Hardenstein steht von ihrem behaglichen grauen Knäuel auf und wirft dem Thorsteiner einen warnenden Blick zu.
»Seelchen, setze dich so recht gemütlich hin, und dann hältst du ein klein wenig still, wenn ich sage: jetzt. Und du brauchst gar nicht zu schweigen, erzähle mir etwas. Von deinem Lindenstamm. Was ist noch Schönes dort?«
Das Seelchen ist sehr bereit und beginnt mit ihrem hohen feierlichen Stimmchen zu erzählen: »Auf dem Lindenstamm, den man so nennt, weil früher eine Bastei dort war, lang ehe die Linde stand.«
Harro lachte: »Was für ein schöner Satz.« »Oh, den Anfang macht immer der Herr Kantor, denn anfangen kann iÿch die Aufsätze nicht. Und ich soll dir doch einen Aufsatz erzählen, mein Brief war doch auch ein Aufsatz.«
»Also der Anfang wäre gemacht, und nun kann's weitergehen.« Das Seelchen faßte nach ihrem Knie, das sie ein wenig hochzog, neigte ihr Köpfchen leicht nach der Seite und sah zu dem Freunde hinauf. Harro wollte schon »jetzt« rufen, aber er bezwang sich – nur einmal machen lassen, bis sie sich ganz vergessen hatte. Seine Künstleraugen leuchteten.
»Auf dem Lindenstamm is auch ein dicker Turm, weißt du von dem etwas, Seelchen?«
Sie beginnt zögernd. »Er ist rot, der Turm. Es sind alle Gastbetten darin auf langen Holzfächern. Wenn einmal ein König oder der kommandierende General kommt, so bekommt er das schönste Bett mit hellblauer Seide. Die Fenster sind vergittert, einen grünen, dicken Busch hat der Turm auf seinem Hut stecken. Im Sommer ist der grün mit kleinen Beeren. Alle Vögel essen daran, da freut sich der Turm mit seinem einen Auge. Wenn Fräulein Berger Betten nachsieht, hat er ein kleines, rotes Licht im Kopfe, dann ist er erst lustig anzusehen. Oben im Turm ist eine Stube, heißt die Hexenstube, und man kann die Türe nie zumachen, immer geht sie bei Nacht wieder auf. Von wegen der Hexe. Die ist aber schon lange tot, und es ist alles ein alter Aberglaube.«
»Dieser Satz wird dem Herrn Kantor ausnehmend gefallen haben,« wirft Harro ein.
»Ist auch vom Herrn Kantor!« sagt das Seelchen stolz, »und da gehört er herein. Man kann keine fremde Kammerfrau in der Stube schlafen lassen, auch wenn noch so viel Gäste im Schloß sind und man sich nicht zu helfen weiß. Weil die Tür immer wieder aufgeht, mitten in der Nacht. Eine Treppe hat der Turm auch, die geht im Kreise herum, wie alle Treppen in den Türmen. Man nennt sie Wendeltreppe.«
»Bravo, Herr Kantor!«
»Die Treppe geht bis mitten in die Erde hinunter. Soll ich weiter erzählen?«
Das Seelchen blickt etwas besorgt nach Frau von Hardenstein; die hat aber ihren Knäuel weggelegt und sich in ein Buch vertieft, oder tut wenigstens so. Harro nickt ermutigend.
»Der Turm ist tausend Jahre alt. Mitten in der Erde ist der Turm nicht so freundlich wie oben, wo der Busch sitzt. Vielleicht hat er's vergessen, was unten ist, sonst könnte er nicht mit einem Auge lachen und mit dem Busch nicken, wenn alle Spatzen zum Besuch kommen. Vielleicht weiß er auch nicht, was vor tausend Jahren war, er muß ja Betten hüten. Es ging einmal jemand die Treppe hinunter.«
»Seelchen, ich fleh dich an, bleib so sitzen, nur einen Augenblick. Herrgott, ist das eine Freud! Kannst du so still sitzen? Und erzähl weiter, war's ein Ritter, ein Kellermeister?«
Den wundervoll geistig belebten Ausdruck möchte er auf dem Gesichtchen festhalten. Sein Stift fliegt.
»Weiter, Seelchen!« »Es war kein Ritter – es war sie!« »Eine Frau?« »Ich weiß nicht. Sie hielt ihre Hand vor sich, daß sie nicht an die grauen Steine stieß. Ihre Hand war weiß und ihr Gesicht. Das Haar, wie meine Haare sind, nur viel goldener, fiel ihr bis zu den Knien. Hinter ihr ging jemand, er darf sie aber nicht anrühren, er hat auch Angst davor. Unten ist eine dicke Säule und ein Gang. Es brennt ein kleines Licht, ein gelbes und ein rotes Licht. Die Steine sind schwarz und rauh, und sie steht an der Säule. Dann ist ihr Kleid weiß, vorher war es schwarz. Das ist vom Turm.«
»Deine Geschichte ist ein bißchen schauerlich, Seelchen, und du bist ganz blaß geworden.« Aber das Seelchen schweigt, und Harro malt mit inbrünstiger Hingabe.
Und doch möchte er weiter das feine Stimmchen hören. Wenn sie schweigt, sieht sie so leidversenkt aus. Und das kann den Vater nicht freuen, wenn zu viel davon auf das Bild kommt. »Ist das nun alles von ›ihr‹«, fragt er. – »O nein!«
Das Seelchen ist ihm wieder geöffnet wie im Winterwald.
Sie beginnt leise. »Es war einmal Nacht, und es war jemand gestorben. Und die Linde hat gelbe Büschelchen. Weil sie nun tot ist, erzählt niemand mehr: Rapunzel, laß dein ellenlanges Haar herunter, – weh', weh' Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen – Brennesselbusch so kleine, was stehst du da alleine? Niemand kämmt mit lieben Händen mein Haar, daß es kein bißchen reißt, und erzählt dazu und kann spinnen, daß die Spindel tanzt am feinen Fädchen. Die Stube ist leer. Es steht ein Kreuz auf dem Kirchhof, daran wächst ein Kräutlein, heißt Herzeleid und eines heißt Nimmerfroh, und singt das Vögelein Niemalswieder. Niemals wieder.«
Hinter dem vorgehaltenen Buche laufen über das stolze Gesicht langsame Tränen herunter. Die Schultern zucken unter der grauseidenen Bluse.
»Es gibt nur noch Leute, die über einen seufzen, und Leute, die quälen. Und nie ist man allein, nie, nie. Immer muß man es jemand recht machen, auf französisch und englisch recht machen. Und es kommt gewiß nie besser. Aber man kann durchs Fenster klettern, weil ein Riegel ab ist, das weiß Babette nicht: und da kommt man auf den Lindenstamm. Und der Mond scheint auf die Linde – da weint die auch. Man kann auch einschlafen auf der Rampe, weil es so süß duftet, und im Schlaf herunterfallen. Der liebe Gott würde nicht einmal so sehr zanken, er weiß ja ganz gut, wie es ist. Es ist so schön warm, und die Linde glänzt mit ihren Tränen, daß einem die Augen zufallen, und streichelt einen mit ihrem Duft. Da rauscht es. Ein feines Klingen, und da ist sie. Das Mondlicht ist auf ihrem Kleid, und das ist von Silber. An ihrem Halse hat sie einen Schmuck von hängenden Tropfen. Von ihrem Haar hängt ein weißer Nebel. Und sie sieht einen an. Streng ist sie, sie weiß alles. Sie weiß Weh, Allein, – Niemalswieder. Man ist am frohesten, wenn man am traurigsten ist. Sie ist da, bis man einschläft.«
Seelchen schweigt. Es ist still, man hört nur Harros eilige Striche. Frau von Hardenstein ist hinausgegangen.
Dann legt er seinen Pinsel hinweg. »So, für heute kann ich's nur noch verderben. Geh schnell, Seelchen, und sieh nach Frau von Hardenstein, ich möchte sie noch sehen, ehe ich gehe.«
Das Seelchen geht hinein, kommt aber gleich wieder.
»Sie ist nicht allein, ich mag jetzt nicht.«
Harro packt seine Sachen zusammen und verhängt sein Bild und verbietet dem Kind, die Decke aufzuheben. Da kommt Frau von Hardenstein mit einem ganz hellen Glanz in den Augen wieder und sagt: »Warum kommen Sie nicht, Harro, wenn Sie fertig sind, in mein Säulenheim?«
»Ich wollte nicht stören, Frau Mutter, es war doch jemand bei Ihnen.«
»O nein, ich war ganz allein.«
Harro sieht das Seelchen an, das wird dunkelrot. Und Harro eilt heute nach Hause und verabschiedet sich von dem Kinde mit einem ernsten Blick. Da schreit sie mit ihrem allerhöchsten Stimmchen: »Du hast mir dein Wort gegeben, daß du es nie sagst.«
»Habe ich etwas gesagt, kleine Dame? Das Denken wird doch noch erlaubt sein.« – – –
»Lieber Harro, kommen Sie doch heute herüber, und wenn's erst am Abend ist. Sie haben gestern ein Unglück angerichtet ...« schreibt ihm Frau von Hardenstein am nächsten Tage. Harro geht im Dämmer hinüber. Es kommt ihm kein Seelchen entgegengestürzt, aber Frau von Hardenstein geht ihm mit sehr roten Wangen entgegen. »Ich kann gleich einpacken, Harro, ich komme mit dem Kinde nicht zurecht. Sie hat nicht einen Bissen angerührt, nicht auf gute, nicht auf ernste Worte. Hat das Kind einen Eigensinn! – In meinem Leben habe ich keine so hartnäckige kleine Person gesehen. Ich habe ihr gedroht, ich ginge, aber sie sagt nur, dann kommt Miß Whart wieder, als wäre ihr das eine so lieb wie das andere. Und ich hatte mir schon eingebildet ...«
Harro eilt an ihr vorbei, da sitzt das Seelchen in ihrem Stuhl, hält ihr Schneewittchen in den Armen und rührt sich nicht. Graublaß und elend sieht sie aus.
»Seelchen, warum machst du Frau von Hardenstein Kummer?«
»Ich habe auch Kummer.«
»Das sehe ich, und er ist scheint's so überwältigend, daß du deinen Freund nicht begrüßen kannst. Soll ich wieder gehen?«
»Das kannst du, es hilft ja doch nichts.«
»Kann ich wirklich ... Ja weißt du denn, ob ich wieder komme?«
Sie steht auf und stampft mit dem kleinen Fuße. »Ich will auch nicht mehr gehorsam sein, ich tue, was ich will, schlagen dürft ihr mich nicht.«
»Seelchen, warum beleidigst du uns – Frau von Hardenstein, die dir nur Liebe erwiesen hat, und mich?«
»Mich beleidigt man!«
»Wer hat das getan?« »Du. Du hast mich angesehen und gedacht: Lügen!«
»Wenn du willst, daß man dich wie eine vernünftige kleine Dame behandeln soll, so mußt du dich auch so benehmen. Ich schickte dich zu Frau von Hardenstein, die allein war, und du kommst wieder und sagst, es sei jemand bei ihr.«
Frau von Hardenstein zog das widerstrebende Kind zu sich her.
»Seelchen,« sagte sie zum erstenmal sehr sanft und freundlich. »Wer soll es denn gewesen sein?«
Es zuckt etwas über das Kindergesicht – da plötzlich schlingt sie ihren Arm um den Hals der guten Frau Mutter und flüstert mit ihr. Harro sieht zum Fenster hinaus. Als er sich wieder wendet, hat Frau Mutter das Kind auf ihren Knien und küßt mit Weinen das Goldhaar und die feine blasse Hand. Dann steht sie auf und trocknet ihre Tränen. »Harro, Prinzeß ist wieder lieb und wird jetzt ihre Milch trinken, und dann geht sie zu Bett. Gehen Sie einstweilen hinüber, Harro, ich komme nach.«
Harro geht hinüber und wandelt zwischen den Säulen hin und her, die ihre lächerlichen Höschen verloren haben. Er betrachtet die Stuckdecke und pfeift leise; drüben ist er sich recht überflüssig vorgekommen. Die halbierte Decke ist aber sehr interessant. Lauter weinende Engel, Sanduhren, dicke Blumengirlanden. Besonders ein fettsüchtiges Engelein mit langen Locken weint herzbrechend und benützt sogar ein Taschentuch dabei.
Was für ein tränenreiches Volk da oben, denkt er ... da ist zu viel geweint worden in den alten Mauern und da ist wohl etwas an den Wänden hängen geblieben. Am Ende ist es gut, wenn nicht alle alten Mauern gar so lange stehen bleiben.
Endlich kommt Frau von Hardenstein. »Ich habe Sie lange warten lassen. Studieren Sie die betrübte Gesellschaft da oben? Ich wunderte mich auch schon darüber. Es ist ein wunderliches Haus, und die Höschen um die Säulen nehme ich meinen Vorgängerinnen nicht mehr übel. Also Harro, der ganze Schmerz galt Ihnen.«
»So.«
»Ach Harro, die Sache ist traurig, und das Engelein da droben mit seinem Tränentüchlein hat viel Schicklichkeitsgefühl. Haben Sie sich nicht über die Geschichten verwundert, über die Frau, die die Treppe herunter ging, bis mitten in die Erde?«
»Und das Kräutlein Nimmerfroh und Vöglein Niemalswieder,« sagte Harro. »Es ist ein Dichtkind.«
»O Harro, wie sie das erzählte, mit dem hohen feinen Stimmchen, das einen Klang nach Saiten hat, – Gott, poetisch bin ich nicht – so, wie das klang – Niemals wieder. Ich mußte hinaus zu meinem eigenen Niemalswieder.«
Sie nahm ein Bild von ihrem Tisch und legte es vor sich hin.
»Harro, dies Zimmer muß einmal eine Totenkapelle gewesen sein, doch das gehört nicht hierher. Aber wie soll ich's nur beschreiben, etwas, wofür es keine Worte gibt. Ich fühlte – deutlicher kann ich's nicht sagen – eine sanfte Nähe. Es wurde mir ganz feierlich und leicht. Warum soll ich nicht in einer Totenkapelle wohnen, wenn mein Herz eine ist! – Ja, und dann kam ich wieder heraus. Inzwischen muß die Kleine hereingesehen haben. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen wiederhole, was sie mir gesagt hat. Ich war doch nicht allein.«
Einen Augenblick herrscht tiefes Schweigen in der Stube, aus der die Schatten nie weichen, in der immer, glänzt die Sonne auch noch so schön, zwei dunkle Schattenbalken liegen – dann sagt Frau Mutter energisch:
»Genug von mir. Nur noch dies. Ich bleibe hier, bis sie mich hinauswerfen oder meine Aufgabe zu Ende ist. Sehen Sie, lieber Harro, wie alles zusammenpaßt, die Stube, das Kind und ich. Sie wissen ja, daß ich keinem eine Stunde unnötig verderbe, aber der Schatten ist da. Entweder ist das Kind, das die Seelen der Abgeschiedenen herummandeln sieht, ein Todgeweihtes, oder ein armes Unglückliches, dem etwas anhaftet, was es für die meisten Menschen unheimlich macht. Sahen Sie nicht, wie sie blaß wurde, wie ihre Augen sich veränderten? Und Sie sollen nicht sagen: »Weiter, Seelchen.« Ich entsetzte mich darüber. Man darf das Kind nicht dabei auch noch ermutigen.«
Harro rief: »Das feine Dichtwerk – alles zuschütten – ist das nicht ein Unrecht?«
»Wenn Sie sie gehört hätten, Harro! Sie will nicht mehr mit uns leben, und sie will zu den andern, denen mit leichten Füßen – –. Ach, lassen Sie mein armes Verwunschenes. Glauben Sie mir, wenn Sie helfen wollen, das Kind tüchtig zum Leben zu machen, so dürfen wir das Geranke nicht wuchern lassen.«
»Ich ordne mich unter Ihre Weisheit, Frau Mutter. Ich bin auch bereit, dem Seelchen zu sagen, daß ich ihr Unrecht getan, und daß ich mit dem Denken vorsichtig sein will, gesagt habe ich nichts.«
»Eher wird sie nicht zufrieden sein, Harro!«
Ein ganz blauer Himmel, die Tauben sonnen sich auf der Mauer, zwischen Steinquadern gucken die ersten gelben Hungerblümchen. Märt hat den Hof gekehrt, als ob Inspektion wäre. Ein Strauß Schneeglöckchen, kleine verschüchterte Kammermägdlein des Frühlings, stehen auf dem Fensterbrett im Salon. Blitzblank ist der Teekessel, alle Tapetenrollen verschwunden – die Ruine bekommt Damenbesuch. Der Wagen rollt heran, und Harro hebt seine kleine Dame heraus. Ihre Augen strahlen, sieht sie doch zum erstenmal die Ruine, wo ihre Gedanken nun täglich wohnen. »O Harro, dein Brunnen! Einen wundervollen grünen Samtmantel hat er an. O Harro, sag ihm, er soll singen!«
Harro zieht eine Mundharmonika heraus, auf der er in äußerst kunstloser Weise bläst: »Wer hat dich, du schöner Wald.« Und der Brunnen macht ein feines Tongemälde daraus, einige Töne läßt er aus, an anderen klingelt er herum wie Elfenfinger an einem silbernen Saitenspiel!
»Oh, der wunderbare Brunnen! Und dort wohnt der Kaliban.«
Frau von Hardenstein sitzt auf einem Stuhl, den ihr Harro herausgetragen hat. Sie sieht mit andern Augen als das Seelchen die Ruine an. Die hohen Mauern, der finstere Bergfried, Harros aus einem Schuttberg hervorglänzende Fenster.
Endlich sind die Genüsse im Hofe erschöpft, und es geht ins Zimmer. Das Seelchen wird aus ihrem Mantel geschält und taucht ihr Näschen in das Schneeglockensträußchen.
»Es riecht so herrlich bei dir, Harro.«
»So, ich denke nach Terpentin und Lappen.«
»Nein, nach diesem.«
In hohen Krügen stehen frische Tannenzweige, manche mit den schweren Zapfen daran.
»Ah, die Dekoration! Die hole ich mir jede Woche. Etwas muß man doch von seinem Wald haben. Frau von Hardenstein. Ihnen gehört der Amerikaner, für dich, Seelchen, hat der Märt ein Stühlchen gemacht, ausgemessen für deine Größe, und rot angestrichen ist es auch!«
Seelchen muß es ausprobieren und wieder herunterhüpfen und ihre Entdeckungsreise machen. Ist es möglich, daß einige Wochen das Kind so verändert haben. Und wie wird es erst werden, wenn der Frühling kommt! Harro ist heute in strahlender Laune. Das Seelchen steckt ihm ein Schneeglöckchen an seine ganz neu aussehende Joppe, und dann machen sie Pläne, der feine Duft der Schneeglöckchen muß sie hergerufen haben. Wie das Seelchen auf dem Lindenstamm wohnen wird, wenn die Linde grün ist. Und an der Bastei, da wird sie eine Überraschung erleben. Es ist zwischen den Steinplatten eine Schnur mit einer Öse. Die Öse hält ein Pflock zwischen dem Efeu. Nun, das Seelchen kann es morgen probieren, es hilft ja nicht immer, man zieht zuweilen vergeblich daran, es gibt aber auch wunderbare Fischzüge. Vom ersten April an muß das Seelchen täglich nachsehen, und wenn es am wenigsten daran denkt, wird an der Schnur ein blühender Schlehenzweig hängen, dann wird das Frühlingsfest gefeiert. Auch wenn's schneit. Und wie das gefeiert wird?
Man steckt den Zweig ins Wasser und macht die Augen zu, dann kommt der Duft über einen, zuerst ganz fein und leise, und dann ist man auf einmal auf einer blühenden Halde, wo alles weiß ist über grauem Stein. Das zweite Frühlingsfest wird aber draußen gefeiert. Das Zeichen ist ein frisch grüner Buchenzweig mit einem Schlüsselblumensträußchen. Da geht man den Reitweg zur Römerwiese. Da öffnet sich ein Waldweg, grün vergrast ist er. Tannen strecken ihre langen Arme darüber, und dazwischen stehen in ihren Festkleidern lichtgrüne Buchen. Der Sonnenschein liegt auf dem Weg in großen goldenen Flecken, und ein Schmetterling, ein Schwalbenschwanz fliegt langsam den Weg herunter, wie eine selige Seele auf dem Himmelsweg. Und ein Maiblumenfest gibt's, wo man in die lichten Eichen geht und dicke Sträuße nach Haus bringt. Und ein Sommerfest. Da ist das Feld golden, und man muß einen Weg gehen, wo die Ähren einem über dem Kopf zusammenschlagen. Ehe man den Weg nicht gefunden hat, der jedes Jahr wo anders ist, kann das Sommerfest nicht sein. Roter Mohn und blaue Kornblumen und steife purpurne Raden, die sich nicht mit den andern Blumen vertragen und immer einen Strauß für sich wollen, blühen darin. Das Seelchen trägt einen Kornblumenkranz. Man geht zu dem heimlichen Ort, wo man nichts sieht als Ährengold und den schwer graublauen Himmel darüber. An dem uralten Stein, worauf die Braunecker Hirschstangen eingegraben sind, da liegt im Gras ein zinnerner Krug, glänzt wie mattes Silber, und darin ist Most, und in einem Körbchen sind Stachelbeeren, von den kleinen süßen, und Bauernbrot und in frischgrüne Kohlblätter eingeschlagen kühle, frische Butter. Das ist das Festmahl. Einen silbernen Becher bringst du mit, Seelchen. Wenn der Weg und das Goldhäuschen gefunden ist, hängt zum Zeichen das Kornblumenkränzchen an der Schnur.
Jetzt kommt ein feierlicher Tag! Es wird nicht verraten, was an der Schnur hängt – die läßt sich an diesem Tag nicht lumpen! Der Lilientag – mehr wird nicht gesagt.
Dann gibt's ein Herbstfest. Es könnte sein, daß Kartoffeln gebraten werden im Feuer, das eine so wundervolle Rauchfahne wehen laßt, an der man sich gar nicht satt sehen kann, und daß das Seelchen sich schwarze Finger und ein schwarzes Näschen holt.
Dann kommt die Abschiedsfeier. Dazu braucht man hohe Stiefelchen, einen Wettermantel, ein grünes Samtkäppchen. Das Zeichen ist ein Leinwandsäckchen mit Haselnüssen. Dann geht man hinaus in den weißen Nebel. Man sieht immer nur ein kleines Stückchen von der Welt. Jetzt nur das Stoppelfeld, auf dem die Mäuschen mit nassen Fellchen huschen; jetzt nur den Hohlweg, wo die Brombeerranken mit den allerletzten schwarzglänzenden Beeren hängen. Immer ist die Welt so heimlich, als schlösse der weiße Schleier einen ab von allem. Es kommt eine Wiese, smaragdgrün glänzt sie durch den weißen Schleier. Auf der Wiese stehen viele blasse Herbstkinderchen nackt und bloß, amethystenblau mit goldenen Herzen, in Trüppchen beisammen. Nun zerreißt der Schleier ein weniges, – eine Waldmauer, – zwei hohe dunkle Tannen als Wächter davor. Immer herrlicher wird das Fest. Durch den Nebel schimmert ein Gold, der Buchenwald, zwischen den Stämmen die Nebel wie mattgoldene Schleiertücher, – alle Bäume sind wie verzaubert, einer hat sich gelb gemacht, dunkelgrün war er vorher, der rot, und jetzt zerreißen alle Schleier, ein Sonnenblitz fährt auf den Weg und bewirft ihn mit Perlen und Diamanten. Die Birke ist reines Gold geworden, der Ahorn wie Blut so rot. Und zwischen den schwarzen Tannenzweigen leuchtet das Himmelsblau. Der Weg ist mit goldenen Blättern bestreut, auf denen man leise geht, daß das Reh einen hat gar nicht kommen hören und nun erstaunt gucken muß. Immer weiter geht man durch flammenden Purpur und Gold, und smaragdgrüne Wiesen leuchten durch Tannenzweige, bis man an eine graue, hohe Mauer kommt. Über die Mauer nickt eine Linde mit gelber Krone im Sonnenschein. Jetzt ist der Himmel ganz blau und glänzend wie weiche Seide.
Es geht durch ein Tor, ein altes Försterhaus mit Hirschgeweihen, eine Steintreppe windet sich zwischen dunkeln Efeuwänden hinauf zum Schloßhof. Nun ist man in Schloß Schweigen. Das gehört dem Seelchen. Es darf in jedes Zimmer hineingehen, darf aus den goldenen Täßchen trinken, die mit Silber eingelegten Schränke aufmachen, vielleicht sogar in dem Himmelbett schlafen mit der wackeligen Fürstenkrone und den wunderbaren seidenen Vorhängen, die mit allen Blumen bestickt sind, die es gibt und nicht gibt. Wenn es sich nicht fürchtet natürlich, denn ein bißchen grauslich ist so ein altes Himmelbett immer. Es ist ein uraltes Spiegelein da, in grünlichem Bronzerahmen, darin kann es sein Näschen betrachten, es ist gut gegen die Eitelkeit. Ein Erker ist da, worin das Seelchen auf einem hohen steifen Stuhl sitzen kann. Der Erker geht auf goldpurpurne Waldberge hinaus und hat ein Fenster nach der Abend- und eins nach der Morgensonne, umarmt von Efeugeranke. Eine Ranke ist sogar ins Zimmer hereingewachsen. Dies ist das schöne Abschiedsfest!
»Ach Harro, du sprichst ja gar nicht von der Welt, du sprichst immer vom Himmel.«
»Närrchen, was weiß ich vom Himmel! Das Schöne ist alles da, man muß es nur zu finden wissen!«
Das Seelchen, das wie verzaubert auf seinem roten Stühlchen saß, die Milchtasse in den Händen, erwacht wieder zum Leben und schüttelt betrübt ihre goldene Mähne.
»Wenn das Korn golden ist, muß man lernen, und den Most aus dem Silberkrug darf man nicht trinken, weil es gemein ist. Das tun nur die Bauern. Unterwegs essen darf man nur bei einem Picknick, und da verzanken sich die Leute, weil die Mücken stechen und der Koch die Sauce einzupacken vergessen hat.« »Ja Seelchen, meinst du denn, man könne mit allen Leuten Feste feiern? Weit gefehlt. Wenn man mit den falschen Leuten in den Wald geht, kommen immer Mücken und bricht der teure neue Sonnenschirm ab und ist der Weg schrecklich weit, viel weiter als man gedacht, und hinter den Himbeerbüschen verliert man das schönste Armband, daß es ist, als habe die Erde es geschluckt. Und es kommt sogar ein Gewitter, an dem man schuldig ist: man hätte es längst sehen müssen.«
Dies ist aus Harros Schatz der Erfahrungen.
»Aber wer sind die rechten Leute?«
»Wir drei. Komm, darauf stoßen wir an mit unseren Teetassen.«
Aber das Kind ist noch nicht zufrieden.
»O Harro, ist nur eins davon wahr, von all dem? Der Schlehenzweig ist wahr.«
»Aber Seelchen, haben wir nicht mit vieler Mühe die Schnur festgemacht? Haben wir das umsonst getan?«
»Und der Lilientag? Wird das so?«
»Immer kommt noch etwas Neues hinzu. Das ist gerade das Feine. Man muß sich überraschen lassen.«
»Oh, das tu ich gern!«
»Das wird sich weisen, ob du die nötigen Springfedern für die Überraschungen hast. Aber du wirst sehen, nicht einmal der Zinntrug mit Most wird sich als Fata Morgana erweisen. Wie der gemein sein sollte! Im Walde sich über einen Koch und eine fehlende Sauce verzanken, das ist gemein! Selbstverständlich müssen da Mücken kommen, in Scharen, in Wolken jagen die Waldgeister sie auf, daß sie ihren Wald bald wieder von der Gesellschaft gesäubert haben.«
Hellauf lacht das Seelchen: »Ich habe einen silbernen Becher, den nehme ich mit.«
»Nur eins! Überfreuen darfst du dich nicht. Das mußt du dir abgewöhnen!«
Das Kind verspricht das beste, und Frau von Hardenstein sagt: »Ich bin gespannt, was wir alles tun werden, aber nun, Harro, zeigen Sie uns endlich die große Hauptsache. Wir wollen Ihr Bild sehen!«
Harro errötet. »Niemand hat es noch gesehen. Dies ist ein Moment! Und tadeln dürfen Sie zuerst nichts, ich flehe Sie an, ich bin noch wie ein schalenloses Ei. Ich schicke das Bild erst fort, wenn ich abgehärtet bin. Ich kann jede Quantität Lob vertragen. Sie brauchen vor nichts zurückzuschrecken. Ich weiß nicht, ob die Damen es bemerkt haben, daß auf mir eine gewisse Feierlichkeit liegt? Die Dekoration« – er zeigte auf die Tannenzweige – »das Blumenarrangement« – er wies auf die Schneeglöckchen – »für Eingeweihte selbst meine Montur. Ich bitte zu beachten, neue grüne Aufschläge auf der Joppe deuten auf etwas Besonderes hin. Es ist nämlich auch heute ein Fest. Daß es ein Fest ist, wenn die liebe Frau Mutter zum erstenmal meine väterlichen Hallen betritt, ist selbstverständlich. Und daß dies freudige Ereignis mit etwas Besonderem begangen werden muß, ist klar. Darum ist heute Enthüllungsfest. Du, Seelchen, darfst an der Schnur dort ziehen, aber ums Himmelswillen nicht schief.«
Er erhob sich mit dem erwartungsbleichen Seelchen und sagte feierlich: »Seelchen, dir verdank ich's, du sollst leben. Nun zieh!«
Die Hülle fällt. Da steht das Bild schon im Goldrahmen, tief und warm leuchten seine Farben und adeln die werktägliche Hofstube mit ihrer festlichen Glut. Das Kind steht davor, und es ist fast zu fürchten, daß es sich überfreut. Sie soll daran teil haben, an dem herrlichen Bilde, die arme Kleine, die sonst immer nur zum Kummer und zur Last für alle da ist! Frau von Hardenstein hat ihren Stuhl herbeigeholt und setzt sich vor der Leinewand nieder.
»Harro, wunderschön, sonderbar schön, aber was bedeutet es?«
Das Kind dreht sich herum und sagt vorwurfsvoll: »Das sieht man doch!«
Es schlingt seine Ärmchen um Harros herabhängenden Arm und lehnt ihr goldenes Köpfchen daran. »Wenn du es so gut weißt, Seelchen, so sag es.«
»Das sieht man doch gleich, daß es der Ehrensaal ist! Darin all die stehen, die in der Gruft schlafen und ihre Bilder für sich wachen lassen. Sieh, wie die Augen schauen! Die Augen der Ritter und der Frauen in den seidenen Kleidern, die in ihren weißen Händen Nelken halten. Alle sehen sie herunter nach mir. Auch die goldenen Tiere auf den weißen Säulen horchen und halten den Atem an. Die müssen das Haus auch bewachen und sorgen, daß nichts hereinkommt, was lügt und sein Wort bricht. Und da geht ein Seelchen und trägt das rote Licht in den Händen in dem Becher, und weil es so schwer zu tragen hat, ist es so dünn und leidet. Und alles sieht auf sie, ob sie es nun fallen läßt, daß das rote Licht erlischt und es aus ist mit allem. Und darum halten auch die goldenen Tiere den Atem an.«
Harro legt seinen Arm um die zarte Gestalt, und seine Hand drückt das goldene Köpfchen sanft an sich.
»Warum streckt das Seelchen so flehend die Hände mit dem Kleinod aus?«
»Wenn ihm niemand hilft, so muß es den Becher ja fallen lassen, Harro: darum sucht es mit seinem roten Licht, und geht auf nackten Füßen und sucht.«
»Es wird ihn nicht fallen lassen, solang es lebt!«
»Meinst du, Harro? Aber wenn es tot ist? Dann zerschellt's, und alles ist dunkel. Die Tiere schlafen ein und wachen nicht mehr auf, und es kann alles herein, was will.« Harro beugt sich herab und küßt wie ein Hauch den goldenen Scheitel.
»Ich dank dir, Seelchen. Nun ist das Bild geweiht.«
Nun hat das Seelchen schon manchen wunderbaren Fischzug getan. Harro hat das Kind richtig eingeschätzt, es hat die Springfedern in sich, die nötig sind, um Überraschungen recht genießen zu können. Es ist das Fest der Schlehenblüten gewesen, das Maiblumenfest, und jedes hat seine eigenen Feinheiten mitgebracht. Der lange Thorsteiner geht wie auf Federn und reckt seinen braunlockigen Kopf unter dem alten Filzhütchen, daß die Holzarbeiter und Bauern, die ihm begegnen, anfangen, ihre Kappen vor ihm herunter zu ziehen; früher hatten sie ruhig auf seinen Gruß gewartet. Er erzählt dem aufhorchenden Seelchen:
»Wenn du einen angehenden Kapitalisten sehen willst, schau mich an. Wenn wir wollten, könnten Kaliban und ich jeden Tag Hühnerkoteletten mit Schlagsahne verzehren; oder im Heuwagen durchs Land spazieren fahren, wie das Mazzenbacher Büblein getan hätte, wenn es König geworden wäre. Ein schlaues Büblein, das wußte, was schön ist.«
Harro hat sein Bild verkauft. Nicht das Original, eine Kopie davon. Von dem Original sich zu trennen, wäre ihm als eine Profanation erschienen. Daß er den Kauf verweigerte, hat, ohne daß er es ahnte, den Preis hinaufgeschnellt. Denn der Amerikanermillionär muß den Ehrensaal haben, und da er Schweine schlachtet, paßt das Gemälde jedenfalls ausgezeichnet dazu, in seinem Hause in Chicago aufgehängt zu werden. Mrs. und Miß Vandouten werden sich ganz feudal vorkommen, wenn sie es ihren Besuchern weisen. Harro hat das Bild für den Amerikaner kopiert und mehr für die Kopie bekommen, als er für das Original ihm angeboten hatte. Auf der Kopie sind die Wappenschilder, die die goldenen Greifen und Pelikane halten, leer, und der Besitzer kann ja später, wenn seine Tochter ihren gestrandeten Grafen oder italienischen Principe geheiratet hat, eines hineinmalen lassen.
Aber der Thorsteiner strahlt nicht so sehr wegen der Scheine, die er auf die Bank getragen, er feiert eben auch die Feste mit, und Frau von Hartenstein entdeckt, daß es ein neues Talent gibt, von dem sie bisher nichts wußte, das, Feste zu feiern. Und das muß gänzlich verschüttet in dem Thorsteiner geschlummert haben, sie hat es wenigstens nie an ihm bemerkt. Sie selbst ist gar so viel vom Leben hin und her geworfen worden. Von ihrer Verheiratung an ist sie kreuz und quer durchs deutsche Vaterland gezogen. Sie hat ein kleines Grab in Dieuze und eins in Thorn. Sie weiß nicht mehr auswendig, wie oft der Möbelwagen vor der Türe stand und die Packer sich auf ihre Sachen stürzten.
»Ich söhne mich mit den Säulen aus, Harro,« sagt sie, »sie sind so anständig standfest und können nicht gerückt werden. Manche würde das sehr angreifen, mich beruhigt es. Ich habe schon gar zu viel hin und her gerückt, bis allemal meine Sachen wieder gestellt waren.
Wie das Kind gedeiht! Schon drei Wochen hat sie kein Wörtchen mehr von dem Schönsten gesagt. – Wer weiß, ob wir nicht doch das Kind durchbringen.«
Aber Harro empört sich sehr über diese Worte. – Wer denn noch daran zweifelte?
»Aber das kommt von eurer liebevollen und dankbaren Ansicht vom Jammertal. Als ob diese schöne Erde ein Strafplatz sei und alles Liebliche, Schöne und Gute, sobald es sich entfaltet, gleich daraus verpflanzt werden müsse auf eure Halleluja-Wiesen. Wenn ihr so nah bekannt seid mit der Gottheit, daß ihr derselben eine Ansicht vortragen dürft, so käme mir die anständigste die vor, daß man dankbar anerkennt, was für einen schönen Tummelplatz wir bekommen haben. Wo wir uns allerdings oft schlecht genug aufführen, wofür aber das Gelände nichts kann.«
»Seien Sie nicht frivol, Harro, und Sie tragen auch die Lilienstengel schief, von denen Sie mir doch gesagt haben, daß sie durchaus gerade getragen werden müßten.«
Harro ist mit Frau von Hardenstein im Empfangszimmer, es ist spät abends, das Seelchen schläft schon lange, und Harro erklärt seiner Freundin, wie Lilien behandelt werden müssen, wenn sie ihre volle Pracht entfalten sollen! Und Frau von Hardenstein schüttelt ziemlich bedenklich den Kopf über seine Vorbereitungen. –
Am zwanzigsten Juli scheint die Sonne so golden, wie es sich für den Tag gehört, und der Himmel ist schon am Morgen tiefblau. Das Seelchen hat schon am frühen Morgen auf ihrem Toilettentisch ihr schönstes weißes Kleid gefunden. Das bedeutet etwas. Ist heute vielleicht Lilientag? Als sie fertig ist, schlüpft sie hinaus auf den Lindenstamm, eine ehemalige Bastei, auf welche ihr Zimmer sich mit einer Flügeltür öffnet, und von der man in zwei grüne Täler sieht, denn sie bildet den vorspringendsten Punkt der Bergkuppe, um deren Fuß der Fluß sich legt. Grüne Waldberge begleiten den Wasserlauf, und gerade gegenüber dem Lindenstamm ist das heimliche Plätzchen, wo die alten Buchen bis zum Uferrand herabsteigen und liebende Arme über das grüngoldene Wasser breiten. Das Flüßchen selbst hält hier in seinem Laufe ein wenig an, als ob es nicht weiter möchte, hohe Schilfstauden umgeben das andere Ufer. Der Platz heißt das Grafenbad, und es steigen jetzt noch alte Steinstufen hinein in die lockende Tiefe.
Und heute blüht die Linde, die sich mit ihrem mächtigen Stamm an das Mauerwerk der Bastei lehnt und ihre Wurzeln in einem kleinen Erdvorsprung hat, ihre Krone aber über dem Lindenstamm ausbreitet. So wohnt man da oben in Wipfeln, denn auch von der Nordseite umgeben die Bastei zwölf riesige Tannen, auch sie schauen nur mit den Wipfeln herein, und die Zweige der zwölften berühren schon den roten Turm, der als ehrenfester Wächter herabsieht auf die Steinplatten des Lindenstamms. Dieser selbst ist so groß, daß ein Berliner Mietshaus mit sechs Zimmern sehr bequem darauf Platz hätte, und man kann auf ihm in Sonne und Schatten wohnen. Der Efeu treibt überall um die Bekrönung seine Ranken und streckt Zweige durch die winzigsten Mauerluken.
Seelchen, festlich angetan, eilt nach ihrer Schnur, deren Ende hinabreicht an den Fuß der Bastei, tief unter die Wurzeln der Linde in einen heimlichen Winkel des Parks.
»Oh, die Schnur ist schwer! Es hängt etwas daran, – ja, es guckt schon über die Mauer.«
Ein weißes Kästchen, an dem hängt ein Rosenkranz. »Frau von Hardenstein, kommen Sie! So sehen Sie doch!« Nun zuerst den Kranz lösen und ihn aufsetzen. In den Spiegel braucht man dabei nicht zu sehen, denn die Kränze sitzen in den offenen Goldhaaren immer, wie sie sollen.
Und nun das Kästchen auf! Auf weißem Seidenpolster ein paar goldene Schuhe! Und was für eine Form haben sie! Wie angegossen sitzen sie an den feinen Füßen, und auf den Zehen stehen kann man darin, als ob man barfuß wäre. Seelchen tanzt mit ihren goldenen Schuhen und ihrem Rosenkranz auf den alten Steinplatten unter der Linde.
»Das sind meine Freudenschuhe! Immer will ich sie anziehen, wenn ich froh bin. Und wenn ich sie anziehe, ist ein Fest!«
»Und es ist auch heute ein Fest, es ist Ihr Geburtstag, Prinzeßchen, und Sie müssen sich gratulieren lassen, und es gibt noch viel zu sehen ...«
»Horst du, alte Linde, was heute ist? Mein Geburtstag und ein Festtag. Und du bist auch am allerschönsten heut.«
Denn die Linde blüht auf ihrer Nordseite.
»Sieh meine goldenen Schuhe! Tausend Jahre hast du keine goldenen Schuhe mehr gesehen! Wirf mir ein Büschelchen herunter, einen Tropfen Honig, Linde, Herzelinde!«
Endlich läßt sie sich fortziehen in das Empfangszimmer –. Da stehen im Halbkreis die Lilien in alten einfachen mattglänzenden Zinnbechern. Seelchen atmet beklommen. »Ist das mein Geburtstag?«
Frau von Hardenstein findet, daß Harros Blumenstilleben fast ängstlich feierlich aussieht, und daß nicht einmal das weiße Gabentischchen in der Mitte die Sache bessert. Das Kind betrachtet seine Geschenke, dann nimmt es eins nach dem andern von den hübschen Dingen hinweg und trägt sie in die Ecke auf den blauen Diwan. Dann kauert sie sich auf den Boden in ihrem Lilienhalbkreis. Einen Augenblick zieht sie die goldenen Schuhe aus und stellt sie auf das nun leere weiße Tischchen.
»Das ist Harros Geschenk.«
Dann zieht sie sie wieder an. »Ein wunderliches Kind,« denkt Frau von Hardenstein, »und Harro hat es mit seinem Blumenzauber wieder getroffen! O Kind, wenn man dir einmal deinen langen Freund nimmt! Kommen Sie nun mit mir herunter, Seelchen, im Hof ist auch noch etwas zu sehen. Der Duft ist fast zu stark.«
»Ach liebe, beste Frau von Hardenstein, darf ich denn nicht ein wenig allein bleiben, bei meinen Lilien? Ich rühre sie nicht an, ich weiß ja, daß man's nicht darf. Ein klein wenig? Ich tue alles, was ich soll, nachher!« »Gut, ich gehe über den Lindenstamm in den Park den Rosenweg hinunter und in den Hof. Dort kommen Sie hin, nicht wahr?«
Sie geht, und Seelchen ist allein. Nun steht sie in ihrem Blumenring vor dem großen Bild ihrer Mutter und flüstert: »Siehst du mich, Mutter?« Eine Pause, als ob sie auf Antwort warte. Ganz still ist's, nur der Sommerwind bläht ein weniges die langen weißen Vorhänge auf, und durch die Läden schießt die Sonne schmale goldene Pfeile.
»Mutter,« flüstert das Seelchen noch einmal – dann seufzt sie leise. »Ach, sie schläft so fest, oder ist so fern. So schön muß es sein, dort, wo sie ist, daß sie nicht ein wenig mehr hersehen mag zu ihrem Seelchen, das doch seinen Lilientag feiert.«
»Sie machen wohl Musik bei dir, die Lilien? Jede hat einen Ton und den singt sie.« Ob man wohl darnach tanzen könnte! Aber schön langsam muß es gehen, ich liebe sie nicht, die schnellen Tänze! Und wenn man so froh ist, wie im Leben nicht, so muß man doch tanzen!
Sie faßt die Enden ihrer langen Haare, daß das feine Goldgespinst sich ausbreitet wie ein Schleier. Zuerst bewegt sie nur ein wenig das rosengeschmückte Köpfchen. Dann hebt sie das feine Füßchen. Nun schwebt sie langsam im Lilienkreis herum. Sie wendet sich und neigt sich.
Da geht die Türe auf, und dort steht Harro mit einem großen Rosenstrauße in der Hand. Sie nickt ihm lächelnd zu und dreht sich langsam im Kreise, und ihr feiner Körper ist wie eine weiße Flamme in dem dünnen Kleidchen. Harro steht unbeweglich und seine Augen trinken. Da lacht sie ihr feines klingendes Lachen. »Der Lilientanz, Harro. – So klingen sie auf der Himmelswiese und darnach tanze ich in meinen goldenen Schuhen!«
Harro ist, als rühre ihn zwischen den Schulterblättern etwas kühl an.
»Komm, Seelchen, Frau von Hardenstein wartet auf dich, der Duft ist doch zu stark hier.«
Und im Hofe ist noch etwas zu sehen. Da steht der braune glänzende Pony, den Tante Helen gesandt hat. Seelchen streichelt das Tier beglückt, aber um es besteigen zu können, müßte sie sich von ihrem Rosenkranz und den goldenen Schuhen trennen. Und so begnügt sie sich für heute damit, ihm ein Stück Zucker zu geben und es zu streicheln. Auf dem Lindenstamm wird zu Mittag gegessen im köstlichen Lindenschatten.
»Prinzeßchen, haben Sie sich auch für alles bedankt, und Harro, wie sind Sie zu goldenen Schuhen gekommen?«
»Harro, ich danke dir, es sind meine Freudenschuhe, immer werde ich sie tragen, wenn ich froh bin. Wer hat dir denn die Schuhe für mich gegeben? War es ein Männlein im Walde, oder eine Nebelfrau, oder hast du sie am Kinderbrunnen gefunden?«
»Falsch geraten.«
Und Harro erzählt über dem Nachtisch von köstlichen Erdbeeren und Sahne, an dem sie nun angelangt sind:
»Als ich in letzter Woche in München war, da sah ich in einem Gäßchen ein Schild an einem buckligen Häuschen, Johann Nepomuk Wurmhaber, Kunstschuster. In dem Fenster stand seltsames Schuhwerk, Schnabelschuhe, ellenlange, breite geschlitzte Latschen aus farbigem Leder, Spangenschuhe mit hohen Absätzen. – Da ging ich hinein, da war ein kleines feuerrotes Männchen, so buckelig wie sein Haus. Das schnarrte: ›Mein Herr, Sie können in jedem Jahrhundert bedient werden. Der Herr ist Künstler.‹ Nun, das mußte mich schon freuen, das war mir noch nie passiert, man hatte mich immer bis jetzt für einen Offizier in Zivil gehalten. Ich sagte, ich möchte lieber im gegenwärtigen Jahrhundert bleiben. Haben Sie goldene Schuhe? Nun staunte er aber doch ein wenig, faßte sich jedoch sofort.
›Meine Schuhe sind Kunstschuhe. Sie werden also nicht über ein Holz geschlagen, sondern nach der Persönlichkeit gebaut.‹ ›Da kann geholfen werden‹ sage ich und präsentiere ihm meine Wachsmodelle, eins für den rechten, eins für den linken. Die habe ich mir doch mit vieler Mühe gemacht. Du bist ja so freundlich gewesen und hast so oft deine Schuhe ausgezogen.«
Nun wird Frau von Hardenstein ernstlich böse. »Lieber Harro,« sagt sie scharf, »ich fürchte, jede Ermahnung von meiner Seite wird nichts nützen, wenn Sie die Prinzessin in ihren Unarten so bestärken wollen. Gestern hat sie bei dem Geschichtsunterricht des Herrn Präzeptors die Schuhe unter dem Tisch ausgezogen. Ich bin dafür, die goldenen Schuhe werden konfisziert, wenn das noch einmal vorkommt.«
Beide Gescholtenen ducken ihre Köpfe, Harro beugt sich über seine Erdbeeren, das Seelchen, das dunkelrot geworden ist, verschwindet fast hinter seiner Serviette. Sie ist sehr schuldbewußt, denn auch der eine der Goldenen tanzt nur noch auf den Zehen. Frau von Hardenstein sieht aber zum Glück nicht unter den Tisch, und Harro erzählt weiter.
»Herr Wurmhaber freut sich nun sehr über die Modelle, und als er hört, daß er die behalten darf, verspricht er richtiges stiftvergoldetes Leder zu beschaffen durch einen Freund, der kostbare Büchereinbände macht, und sagt, ich solle die Form angeben, ich möchte mich aber in seine Sammlung begeben. Die ist in einem Hinterstübchen, das in ein Gärtchen geht, man sieht sogar ein brunnentiefes Stückchen Himmel. Da stehen Gipsabgüsse von Füßen. Die Füße der tanzenden Grazien von Canova sind da, und der Fuß des Bogenspanners und des griechischen Dornausziehers. Deine Füßchen stellt er neben den linken einer griechischen Tänzerin. ›Und nun, mein Herr,‹ sagt er in hohlem Grabeston, ›die Schreckenskammer!‹ Nun zieht er einen Vorhang auf, und da gibt es schreckliche Dinge. ›Mein Herr! ohne alle Mühe zusammengebracht. Hier in der Gasse und Nebenhöfen! Das ist von zu hohem Absatz, dies kommt von Schuhen, die vorn in der Mitte spitz sind – es ist eine Armee von Häßlichkeiten ... Und nun wollen wir eine Form suchen, die all diese Unglücksfälle vermeidet.‹ Diese Form, behauptet er, sei ihm beim Anblick der Schuhe eines Würzburger Bischofs auf einem Grabmal aufgegangen. Ich weiß nicht, ob ich ihm den Bischof so ganz glauben kann, und Frau von Hardenstein, der Mann hat nichts für die Schuhe genommen, absolut nichts, wenn er die Modelle behalten dürfte für seine Sammlung. Und die Schuhe sind gut.«
»Verzeihen Sie, sie sind höchst absonderlich, und für die Festschuhe mag es gehen, aber diese formlosen Dinge!«
»Ich bitte Sie, Frau Mutter, die haben doch schon die Form der Füße angenommen, sie sind sehr schön und gut.«
Seelchen rief jammernd: »Ich will keine andern mehr, ich will nicht mit meinen Füßen in die Schreckenskammer kommen.«
Harro schlägt vor, wenn Seelchen dafür verspräche, daß sie nie, nie unter dem Tisch die Schuhe ausziehe, dann könnte man ihr doch vielleicht den Willen tun.
Frau von Hardenstein seufzt: »Harro, als Prinzessinnenerzieher sind Sie die allerungeeignetste Persönlichkeit, die ich mir denken kann, und das Unheil, das Sie anrichten werden – – –«
Etwas beladen von der Ungnade der Frau Mutter geht Harro zu seiner Studie auf der Römerwiese. Gegen Abend soll er zum kühlen Brunnen kommen, wohin das Seelchen mit Frau von Hardenstein fahren wird. Dort gibt es Erdbeeren in Menge, und das Kind hat ein feines Weidenkörbchen bei sich, schön mit Weinlaub ausgelegt, und darin will es Erdbeeren sammeln für Harro, wenn er kommt. Und nun nimmt sie der Schatten auf, und der kühle Atem des Waldes weht ihnen entgegen. Der Wagen hält und fährt wieder zurück, denn sie wollen den Heimweg zu Fuß machen. Die hohe Gestalt der Dame in ihrem schwarzen Kleid, und das Kind mit seinen goldenen Schuhen, die es auf vieles Bitten hat anbehalten dürfen, schreiten über die moosigen Waldwege unter den hohen Eichen hin.
Es ist ein uralter Eichenhain, der seit vielen Jahren schon überständig ist, aber immer geschont wird um der alten Prachtgestalten willen. Es ist hier nicht einer unter ihnen, den nicht der Blitz gestreift hätte, die Äste winden sich wie Schlangen, in den hohlen Kronen haust der Specht. Zu ihren Füßen haben sich Erdbeerfamilien angesiedelt und nicken hohe Farnwedel. Wie ein beseeltes, silbernes Band gleitet die Ringelnatter über den Moosboden, ein zierliches Reh schreckt auf, das zwischen den mächtigen Wurzelhäuten geruht hat. Gurru, Gurru rufen die Waldtauben einander und ein kleines Brünnlein erfüllt mit seiner einfachen Melodie die Einsamkeit mit lieblichem Leben.
Da ist ein Tisch und eine Bank, gerade dort, wo sich der Hain gegen eine sanftgesenkte Waldwiese öffnet. Nun darf das Kind Erdbeeren suchen, und sie geht eifrig hin und her zwischen den Waldriesen, deren Leben ihre Väter und Großväter geschaut. Ihr Mund steht keinen Augenblick still, sie muß mit allem sprechen, was ihr begegnet. Mit dem kleinen Fröschchen, dem sie sagt, daß es die schönsten Goldaugen habe, und mit den blassen hohen Glockenblumen, die sie küßt und fragt: »Gehörst du auch zu meinem Geburtstag, weil du so dastehst vor des Wurzelweibchens Haus?«
Und da kommt Harro, vor Freude verschüttet sie fast ihr Körbchen. Und so schöne, reife, dunkelrote Beeren sind darin, groß wie kleine Kirschen. Und nun gehen sie noch über die Wiese, wo die vielen Federnelken nicken und glührote Weidenröschen stehen, hoch über des Seelchens Kopf. Wie die Sonne glüht auf dem roten Blumenfeld, und wie die Musikanten schrillen!
»Wir setzen uns ein wenig an den Rain, Harro, dort hören wir, wie das Brünnlein mit sich selbst schwatzt.«
Harro streckt sich der Länge lang ins Gras mit einem Seufzer des Behagens. Das Kind sitzt zwischen hohem nickendem Riedgras neben seinem Korb und spießt eifrig Erdbeeren auf feine Grasstengel. Harro muß den Mund aufmachen, er bekommt die zierlich aufgespießten Beeren hineingesteckt und braucht sich nicht zu rühren.
»Harro, wenn ich deine Frau wäre, so würde ich dir immer Erdbeeren suchen und dir in den Mund stecken.«
Harro ist ein wenig schläfrig, er ist durch die Sonnenglut gegangen und hat vor seiner Studie auch immer in das grellste Licht sehen müssen. Er brummt nur: »Prinzessinnen haben nicht in Ruinen Platz. Wohin mit den Equipagen und den Dienern?«
»Ich brauche doch keine, Kaliban ist da und ich geh mit dir zu Fuß.«
»Durch den Sonnenbrand auf deinen goldenen Schuhen?«
»Nun sollst du einmal gar nichts antworten. Wenn du etwas sagen willst, – sieh, da hab ich eine Erdbeere, die stecke ich dir hinein.«
»Rede los, Seelchen, nimm's aber nicht übel, wenn ich ein bißchen einnicke, seit vier heute morgen steige ich herum und war schon sehr fleißig, und dein Stimmchen hat eine so feine Begleitung in dem Brunnen dort ...«
»Einmal bin ich deine Frau, Harro.«
Er will etwas sagen, bekommt aber sofort eine Erdbeere in den Mund.
»Können wir denn nicht so tun? Dann bin ich groß, und habe ein Silberkleid und du hast einen Saal, in dem du malen kannst. Man kann darin Sonne und Schatten machen, wie man will. Und ich sitze bei dir, wenn du malst, und bin mäuschenstill, und du malst das schönste Bild. Und Kaliban kocht das Essen und ich die süße Speise. Und abends gehen wir auf die Römerwiese und dann kommt die Nacht. Und die Welt schläft ein und es kommt der Mond und sieht, wie sie daliegt und schläft. Dann fährt der liebe Gott übers Land und sieht die Menschen an, wie sie ihre Herzen herausgelegt haben, denn bei Nacht können sie die nicht hüten, und sieht, was sie darin haben. Und wenn er zur Ruine kommt und sieht unsere Herzen, so sagt er: ›Ich muß ihm auf sein Herz einen goldenen Tropfen geben aus dem Himmelsbrunnen und einen Tropfen auf seine Augen, daß er das schönste Bild malen kann.‹ – Dann klagt mein Herz, ach was geb ich nur dem Harro dafür, daß er mir die Lilien auf meinen Geburtstag gestellt hat im Kreis, daß jedermann sehen kann, es ist ein Fest, daß das Seelchen da ist und ist keine Betrübnis dabei! Aber nun meinst du, ich sage dir, was mir der liebe Gott für dich gibt, aber ich will auch ein Geheimnis haben ... nein ... aber wenn es da ist ...«
Da winkt Frau von Hardenstein. – Harro ist heute so verträumt, daß Frau von Hardenstein ihn neckt, er sei von seinem Schläfchen dort am Rain noch gar nicht aufgewacht und gestattet ihm eine Mückenvertreibungszigarre, damit er wieder zu sich kommt. Derweil erinnert sich das Kind plötzlich, daß sie Vaters Brief immer noch nicht zu Ende gelesen hat, er ist heute so lang und sonderbar. So liest sie denn eifrig, während Harro eine sehr nachdenkliche Zigarre raucht.
»Nun, Prinzeßchen, gute Nachrichten?«
»Ja, und Papa freut sich. Es wäre aber jetzt gar nicht mehr so nötig gewesen.«
Harro sieht sie an und sagt halb mechanisch: »Was wäre nicht so nötig gewesen?«
»Ach, die neue Mutter. Ich habe ja Euch!«
Schloß und Städtchen haben das Galakleid angelegt. – Alle die kleinen Giebelhäuser, die so schön nebeneinander stehen, daß jedes dem nächsten ein wenig über die Schulter gucken kann, tragen ihren Schmuck, und wenn es nur ein Mooskranz mit einer weißblauen Papierschleife ist. Die ganze schöngewundene Straße entlang, vom Hohenstaufentorturm bis zur Reitbahn, steht eine Doppelreihe junger Fichten, die durch bunte Blumenketten verbunden sind. Die Herbstblumen, die festen Georginen, Sonnblumen und Astern lassen sich schon einiges gefallen. Es gibt sogar eine mit Tannengrün umwundene Ehrenpforte mit einem sehr wohlgemeinten Vers darauf. Die Tochter des Bürgermeisters memoriert laut und ängstlich an einem Gedicht. Mine in der Küche und der kleine Fritz können es längst auswendig, aber Fräulein Klara hat einen harten Kopf, und bei der dritten Strophe bleibt sie stets hängen.
»Die Bergstadt steht im Feierglanze,
Und ihre Wimpel wehn zu Tal ...«
beginnt sie wieder, während Mama ihr schon das festlich weiße Gewand überstreift. Im Schloß fliegen die Lakaien, heute scharlachrot mit Schnallenschuhen: an der Einfahrt in den Turnierhof hängen kostbare Gobelins, und die Waffenhalle, wo bei festlichen Gelegenheiten der Einzug stattfindet, steht offen. Wundervoll ist's für die Braunecker Kinder, da die Näschen hineinzustecken zu den unzähligen Karabinern, alten Schwertern, Degen und Panzern. Das Schönste von allem ist aber ein ausgestopfter Bär, der mit erhobenen Pranken dasteht. Den hat der Fürst einmal in Rußland geschossen, und die Braunecker Kleinen trauen ihm immer noch nicht so ganz, so gefährlich steht er da.
Überall sind Palmenkübel, hohe Vasen mit Rosenzweigen. Eine Atmosphäre der Erwartung liegt auf allem, denn heute kommt die junge Fürstin. Jedes hat irgend etwas zu erwarten oder zu besorgen. Es gibt so manche behaglichen Gewohnheiten, die vielleicht einer jungen Frau nicht ganz gefallen werden. Und wie wird es dem Prinzeßchen gehen, was wird es heute wohl anstellen? Die Nähstube ist durchaus nicht im Zweifel, daß sie irgend etwas verfehlen wird. Die Küche, wo die Männlichkeit das Übergewicht hat, hält dafür, daß es nun nichts mehr verschlage, was sie tue oder nicht, denn mit der ersten Violine sei es doch vorbei. Ob der Ruinengraf immer noch herumgehen werde und den Herrn spielen, ist eine noch aufregendere Frage. Und eben kommt der Thorsteiner über den Hof, als ob es sich von selbst verstehe, daß er bei allem dabei sei. Und elegant! Die Küche plattet sich die Nasen ab an den Fenstern, um ihn zu sehen.
Der Thorsteiner geht unbekümmert vorüber auf die Galerie und klopft am Säulenheim. Er muß das Kind zuvor sehen. Das ist so bitterlich enttäuscht worden. Es wollte doch auch zur Hochzeit. Eine Hochzeit muß doch etwas so Herrliches sein. Auf das man sich so lange freut, wo es Musik gibt und alle Leute froh und schön und festlich find. Und nun will sie Papa nicht dabei, nein, sie soll ruhig in Brauneck bleiben, bis Papa mit der neuen Mama kommt. Das feine Herz des Kindes fühlt, daß ihr Vater sie nicht dabei haben will, denn die neue Mama hat sie sehr freundlich eingeladen.
Und sie hat recht; der Fürst wird nervös bei dem Gedanken an die vielen Leute, die seine arme Kleine sehen werden, und wie ihre wunderlichen Reden von Mund zu Mund getragen würden. Und was sie Unpassendes tun könnte! Vom Schuheausziehen an bis zu den allerunmöglichsten Dingen ... Und Frau von Hardenstein hat nur trösten müssen.
Heute trägt Seelchen ihre Freudenschuhe, einen La France Rosenkranz und das von Harro gezeichnete silbergestickte Tüllkleid. Es ist immer noch kein richtiges silbernes Kleid, aber doch das nächste dazu. Und nun steht sie auf den Zehenspitzen, zupft ungeduldig an Harro herum ... »Sieh mich an ... wie gefall ich dir?« Harro wiegt bedenklich seinen Kopf, mehr als je ist er von seiner Unfähigkeit als Prinzessinnenerzieher überzeugt.
»Reichlich seltsam ist's, Harro,« klagt Frau von Hardenstein.
Das Kleidchen ist aus ägyptischen Tülltüchern gemacht, die Harro aufgetrieben hat, die mit dünngehämmerten Silberbändchen in einfachen Mustern durchzogen sind. Und er ist nun doch betreten über den Eindruck, den das Kind macht. Das Kleid betont noch das Geheimnisvolle, Feierlich-Zarte, das immer über dem Kinde schwebt.
»Ich bitte Sie, Harro,« flüstert ihm Frau von Hardenstein zu, »ein präraffaelitisches Engelchen; man kann es auf jeden Altar stellen. Und Sie wissen, wie wichtig der erste Eindruck ist!«
»Nun, dann ist es gerade gut, daß die Mutter das Kind zuerst sieht in einem Kleide, das seine Eigenart betont ... Übrigens verspreche ich Ihnen feierlich, daß ich mich nie mehr in Toilettenangelegenheiten mische.«
Und nun hört man einen fernen Kanonenschuß ... Es ist nichts mehr zu machen. Es ist eine weiße Lilienflamme auf einem Altar, das Seelchen, denkt Harro. Und wie sich das Silber an die feinen Glieder schmiegt, glatt und glänzend wie eine Schlangenhaut, und wie es sich in rhythmischem Fall bewegt. Und der rosa Kranz macht, daß es doch nicht tot ist, das Weiß und Silber ...
Fräulein Klara hat zwar richtig an der dritten Zeile eine kleine Kunstpause gemacht, aber die braunen schönen Augen der jungen Fürstin haben so heiter geglänzt, da hat sie doch weitergefunden. Die Pferde, die man vorher durch hochrufende Schulbuben auf ihre heutigen Pflichten dressiert hat, sind nur ein ganz klein wenig unruhig geworden. Fürst und Fürstin sind ausgestiegen und langsam über die Brücke, die über den tiefen Graben führt, gegangen.
An der Schloßpforte, wo die Gobelins hängen, steht ganz allein das Kind und sagt »Willkommen Mama und Papa«, wie Papa es gewünscht hat. Die befrackten Herren treten etwas zurück und die Fürstin sagt verlegen:
»Willst du mir einen Kuß geben?«
Die junge hübsche Frau mit den Braunaugen beugt sich zu dem Seelchen herab. Das hat ein Gefühl, daß es etwas Außerordentliches tun müsse und verspricht:
»Ich will so lieb sein, als ich immer kann.«
Und die Fürstin erhebt sich wieder, froh, daß ein unbehaglicher Moment vorüber ist, denn alle Augen sehen auf sie, noch mehr als vorher. Und nun darf Seelchen den Vater begrüßen, und dessen Augen leuchten auf bei ihrem Anblick, er nimmt sie an seine Hand, und zu dritt steigen sie die Treppe hinauf in das große Empfangszimmer.
Dort sind die Herrschaften aus den benachbarten Schlössern, die Honoratioren des Städtchens, die Patronatspfarrer versammelt, und jedermann stammelt ein paar passende Worte. Die junge Fürstin muß erwidern und lächeln und selbst ein paar Worte sprechen, denen man anmerkt, daß sie nicht immer an die richtige Adresse gelangen. Der Fürst läßt seine Kleine nicht von der Hand, als ob sie ihm entwischen oder sonst etwas Unpassendes tun könnte. Und es ruhen die Augen der Gäste fast ebensoviel auf ihr, wie auf der jungen Mutter. Niemals hat man das Kind, von dem doch so viel Gerede war, in der Nähe gesehen. Sie fuhr im Wagen vorbei mit ihren Begleiterinnen, oder ging im Park zu ihrer eingezäunten Spielecke. Und die dicke Frau von Statten flüstert ihrer Nachbarin zu: »Das hätte kein Mensch gedacht, daß die Braunecker so etwas Liebliches vermöchten. Haben Sie die Prinzeß Helen gekannt? Ich bitte Sie! Oder sehen Sie an den Wänden hinauf. Die Männer, ja, die sehen alle gut aus!« ...
Seelchen benimmt sich heute tadellos, sie beantwortet jede Frage sogar ziemlich richtig und weiß, daß sie vor den alten Damen und dem Herrn Stiftsprediger ein Knickschen machen muß. Der Fürst strahlt, eben hat er, etwas abseits von seinen Nachbarn und Standesgenossen den Thorsteiner entdeckt.
»Liebe Charlotte, nun muß ich dir unsern nächsten Nachbarn, den Grafen Thorstein vorstellen. – Was macht die edle Kunst, blüht und gedeiht sie? – Graf Thorstein wird ein großer Maler werden und unserem stillen Waldwinkel einen Glanz von Berühmtheit verleihen.«
Die junge Fürstin sieht mit entschiedenem Wohlgefallen an der hohen Gestalt des Nachbars hinauf. Sie wagt sogar einen kleinen Scherz: »Er überragt uns schon jetzt.« »Jetzt nicht, Durchlaucht,« sagt der Thorsteiner und beugt sich, um die junge Hand zu küssen. »Euer Durchlaucht untertänigster und dankbarster Nachbar. Schloß Brauneck hat mir sehr viel gegeben, wofür ich nicht dankbar genug sein kann.«
»Das klingt freundlich,« erwidert die junge Fürstin, »und Sie sind das ganze Jahr hier, da werden wir gute Nachbarschaft halten und viel von Ihnen sehen.«
Ihre Augen kehren immer wieder zu dem großen Mann Zurück. Die andern Herren sind zumeist älter. Ein junger Prinz und Vetter ist da, dem sein blaues Band gut zu seinem offenen frischen Jungengesicht steht. Und der spricht eifrig mit der Kleinen, da denkt sie, es wird eine angenehme Nachbarschaft ... Und nun verabschiedet sich alles, – ein Teil der Gäste wird zur Abendtafel wieder erscheinen. Die Fürstin hat ihren ersten Empfang überstanden.
Sie sinkt mit einem Seufzer der Erleichterung auf den Diwan ... Der Fürst setzt sich lachend an ihre Seite.
»Nun ist's überstanden. Und nun, was sagst du zu der Kleinen? Wie sie aussieht, und keinen einzigen faux pas hat sie gemacht. Ich staune. Und runde Wängchen! Diese Frau von Hardenstein ist ein Juwel. Liebe Charlotte, vergiß ja nicht, heute ihr einige freundliche Worte zu sagen. Deine Freude darüber ... sie kann es erwarten ... Ja, wie du aussiehst, Kleine!«
»Schön, Papa.«
»Ei, wer hat dich so eitel gemacht?«
»Niemand hat's gesagt, aber ich habe es in Harros Augen gesehen.«
»Wer ist dieser Harro,« fragt Mama, »der so Bewunderung geblickt hat? der Herr Vetter?«
»Nein, der Thorsteiner, – der Kleinen ganz besonderer Freund.«
»Ach, der Maler, oder hast du nur gescherzt?«
»Nein, er ist Maler, und sein Bild von der Kleinen müssen wir noch vor dem Diner ansehen, wir müssen ihm doch auch etwas Freundliches darüber sagen.«
»Sonst noch mehr Pflichten?« schmollt die junge Frau.
»Nur die Pflicht, dich noch einmal schön zu machen, und ich hoffe, es wird ebenso Bewunderung geblickt werden, wie bei der Kleinen. Nun, Kleine, wollen wir der Mama ihr Zimmer zeigen. – Ich hoffe sehr, daß alles nach deinen Wünschen ist. Ein alter Bau, weißt du, es läßt sich nicht verleugnen.«
»Es kommt mir noch sehr labyrinthisch vor, Fried, – die Gänge, die Treppen und, oh, der Eingang! Ein bißchen nach dem Geist der Ahnfrau ... Weißt du gewiß, daß keine umgeht? Sie könnte am Ende mit mir unzufrieden sein.«
»O nein,« ruft Seelchen, »gewiß nicht.«
Aber ihr Vater schneidet schnell alles weitere ab und sagt: »Geh in die Sommerstube und warte dort auf mich, Kleine!« –
Als die Kleine fort war, drehte er sich um und fragte strahlend: »Nun, wie findest du sie?«
Die junge Frau denkt, daß nun schon sehr viel von dem Kinde die Rede gewesen und sagt mit einer hübschen kleinen Weisheitsmiene: »Es soll nicht gut sein, wenn man vor den Kindern über sie spricht. Es nimmt ihnen die Naivität.«
»Da ist bei unserer Kleinen nichts zu verderben, für sechs Kinder ist sie naiv ...«
Und er reichte seiner jungen Frau den Arm und führte sie in ihr neues Reich.
»O wie schön hast du das gemacht, Fried, wie lieb! Und gar keine Ahnen! Wie dank ich dir! Helen sagte, man könne sich bei euch nicht drehen und wenden, ohne daß einem ein paar Onkel und Tanten aus den verschiedensten Jahrhunderten zusähen ... Und sie hielte es darum an trüben Tagen oder im Winter gar nicht bei euch aus.«
»So ist Helen, am liebsten hätte sie ein Scheibenschießen nach den Tanten veranstaltet. Schrecklich pietätlos war sie, meinem Vater ein Schmerz.« »Sie hängt nur Landschaften auf ... und ihre Sammlung von Rassepferden.«
»Entsetzlich.«
Beide lachten ... »Und doch läßt man sich immer wieder malen,« sagte die junge Frau. »Ist dieser Thorsteiner kein moderner Maler, daß er zu sehr in Stimmung und Beleuchtung macht, und man mit grünem Haar und blauer Nase auf die Nachwelt kommt?«
Ihr helles Lachen klang durch die hohen Räume, der Fürst schlang seine Arme um sie. – –
Das Seelchen wartete in der Sommerstube sehr lange auf ihren Vater. Doch sie ist ein geduldiges Kind und hat viel zu überlegen. Ein sehr ängstlicher Gedanke ist unter der Schar, die sich ihr aufdrängt. Stiefmütter können ihre Stiefkinder ebenso lieb haben wie die rechten Mütter, Harro hat ihr erzählt von dem Maler Feuerbach und seiner Stiefmutter, und was sie alles für ihren Sohn tat, und welch schönes Denkmal er ihr in dem herrlichen Bild gesetzt. Stiefmütter wohl, aber Stieftöchter?
»Eine so nachdenkliche Kleine!«
Papa lacht, seine schönen Augen leuchten, das Kind sieht, daß irgend welche Veränderung mit ihm vorgegangen ist. Wie wenn er auf einmal ganz jung wäre, und ist vorher doch auch nicht alt gewesen. Er geht im Zimmer auf und ab, summt vor sich hin und vergißt sogar, sich eine Zigarette anzuzünden.
»Nun sind wir nicht mehr allein. Kleine. Die Mama! Lebendig wird es hier werden!«
Er summt vor sich hin und sieht hinaus in den verglühenden Abendhimmel. Und dann wendet er sich und sagt erstaunt:
»Ja, bist du denn noch da, Kleine? Ich hatte dich ganz vergessen.« Da fällt ihm ein, daß er etwas wollte – was war es doch? »Ach richtig, das Bild. Kleine, dein Bild, wo hängt es denn?«
»Dort steht es, es ist zugedeckt. Harro sagt, es soll noch nicht aufgehängt werden; man weiß ja noch gar nicht, ob es dir gefällt.« Das Kind zieht die Hülle hinweg und steht erwartungsvoll. Aber Papa sagt nichts. Er starrt das Bild an, als ob er das kleine Mädchen darauf gar nicht kennte.
»Das hat der Thorsteiner gemalt? Und das bist du, Kleine! Wo habe ich denn meine Augen gehabt!« Das Kind zieht sich einen Stuhl herbei, sie reißt sich ihren Rosenkranz vom Kopfe, sie schlingt die Hände um das Knie und wendet ihm ihr Köpfchen zu. So genau, wie sie das Bild kennt in jedem Strich. Sie kann es bis auf den Ausdruck darstellen. Und Papa sieht sie an und das Bild, aber er spricht kein Wort. Da ertönt der Gong. Der Fürst erhebt sich schnell.
»Wir müssen dir nun wirklich einen Namen suchen unter all deinen Namen ...«
»Ich habe doch schon einen, ich heiße doch Seelchen.«
»Das ist nur für die Leute, die dich lieben, du mußt doch einen Namen haben, den man auf deine Briefe setzen kann. Komm, wir gehen zu Mama und holen uns Rat.«
»Aber Papa, kennst du mich nicht viel besser als Mama, und siehst du mir nicht an, wie ich heiße?«
»Du warst so elend, als wir dich tauften, wir fürchteten, deine Mutter nähme dich mit, so haben wir dir die Namen deiner Paten gegeben.«
Er trat wieder vor das Bild. »Wenn wir dich Maria nennten oder nach deiner Mutter Rose ... oder beide Namen ... Was meinst du, ist es dir so recht ... Rosmarie, meine liebe Rosmarie?« – –
In dem großen Empfangssaal stehen die Gäste noch in Gruppen, die Herren mit der Zigarre, die Mokkatäßchen mit mehr oder weniger Geschick balancierend. Harro, der sich halb hinter einer Palmengruppe versteckt hat, liebäugelt mit seinem Spiegelbild, das ihm seinen neuen Frack zeigt. »Was tut man nicht einer jungen, hohen Dame zulieb! Noch ganz andere Dinge, als sich in ein Habit werfen, das nun einmal in unserer augenlosen Zeit das Festgewand der Männlichkeit vorstellt. Die Beine Fabrikschornsteine,« so redet sich Harro an, »die Arme, der Hals, alles ein Röhrensystem in weiß und schwarz, wohl Symbol unserer wirtschaftlichen Erhebung. Der Schwalbenschwanz hinten deutet an, daß wir am Manne am meisten den Lakaien verehren, mit dem wir das herrliche Gewand teilen. Die Brust ein Leichenstein, Krawatte ebenfalls weiß, bei groß und klein, dünn und dick das gleiche Schleifchen wie aus Blech ... So, o Mensch, mit deinem Palmenzweige stehst du an des Jahrhunderts Neige ...« Er fährt auf aus seiner Betrachtung, der Fürst steht vor ihm.
»Graf Thorstein, das Bild meiner Tochter hat mich überrascht ... Ich wollte, ich verstünde mehr davon, um Ihnen die richtigen Worte sagen zu können ...«
»Wenn es geworden ist, wie es ist, so ist es der Prinzessin selbst zu danken, die mir meine Aufgabe ungemein erleichtert hat.«
»Meine Tochter, ach, Sie sind viel zu bescheiden! Was könnte die Kleine dabei getan haben?«
»Sie kann still sitzen, ohne steif zu werden, jeden geistigen Ausdruck auf Wunsch festhalten. Sie hat auch einen fabelhaften Farbensinn und pflegt mit ihren Wahrnehmungen nicht hinter dem Berge zu halten.«
»Sie wird sich doch nicht erlauben ...«
»O gewiß, Durchlaucht – eine oft vernichtende Kritik. Dies ist zu blau, das Rot zu freudig, in dem Gelb lacht gar nichts. Zuerst ärgerte ich mich darüber, nun bin ich schon gewöhnt, die Kritik mit gebührender Demut hinzunehmen; es ist mein eigener Schaden, wenn ich's nicht tue!«
»Was Sie alles noch aus meiner Kleinen herauslesen, Graf Thorstein! ... Aber vielleicht wissen Sie doch mehr von ihr, als wir alle. Vielleicht hat mich darum ihr Bild so sehr überrascht, abgesehen von meiner Bewunderung! Ich muß es Ihnen sagen: es war mir, als sähe ich meine Kleine zum ersten Male. Und nun haben wir ihr auch einen Namen gegeben: Was halten Sie von Rosmarie? ...«
Die Fürstin steht in ihrem neuen entzückenden Boudoir. Ihr Morgenkleid ist ein Pariser Kunstwert aus Spitzen und Band, ihre schlanke Taille umschließt eine Goldkette. Eben hat sie eine befriedigende Überschau vor ihrem großen Spiegel gehalten. Und nun besinnt sie sich mit einem kleinen Seufzer auf ihre Pflichten. Eine gemalte Bonbonniere auf ihrem Tischchen hat sie daran erinnert. Sie drückt auf eine Birne neben der Chaiselongue und sagt zu dem wie aus einer Versenkung auftauchenden Schokoladebraunen:
»Die Prinzessin, ich lasse bitten.«
Irgend etwas ist mit der Kleinen nicht in Ordnung! Was es ist, weiß sie nicht. Mit einem gewissen klagenden oder mitleidigen Ton wird immer von ihr gesprochen. Sonderbar sieht sie ja aus, aber das kann von dem verrückten Kleidchen kommen, das sie anhatte. Nun, die werden wohl nehmen, was irgend eine verdrehte Schneiderin, die große Rechnung machen möchte, ihnen schickt. Eigentlich hat sie sich das Kind ganz anders vorgestellt, vielleicht würde es sogar einmal schön werden. Und dann war der hübsche junge Vetter, mit dem sie gestern sprach, vielleicht in wenigen Jahren schon bereit, die weitere Verantwortung zu übernehmen.
Da stand schon die Kleine an der Tür, mit dem freundlichsten Morgengesicht und zum Glück angezogen wie andere Kinder. Sie kam sehr freundlich herbei, umarmte ihre neue Mutter und küßte sie auf die Wange. Die Fürstin war ganz erstaunt über so viel Entgegenkommen. War's am Ende ein Schmeichelkätzchen! Sie schob ihr die Bonbonniere hin.
»Magst du das oder darfst du nicht, Rosmarie? – sie sind freilich auch gut, wenn man nicht darf.«
Aber das Kind ist sich keiner gegenteiligen Vorschrift bewußt, mit Bonbons ist sie überhaupt nicht verwöhnt worden. Und so lächelte sie vergnügt und fing an, mit spitzen Fingerchen herauszunehmen und die Herrlichkeiten zu probieren. Die junge Mama half auch bei dem Vergnügen, und so saßen sie sehr kameradschaftlich beieinander, Seelchen auf einem kleinen Tabouret, die Fürstin auf ihrer Chaiselongue gegenüber von einem schmalen langen, in die Tapete eingelassenen Spiegel.
»Und deine Frau von Hardenstein hast du wohl sehr gerne?«
»Sehr lieb habe ich sie. Sie kommt abends an mein Bett und sitzt ein wenig bei mir und dann sagt sie: Behüt Gott! Sie hat einen Sohn gehabt und der ist tot. An den denkt sie immer, wenn sie mir gute Nacht sagt. Und dann fährt sie über meine Decke, siehst du –, und dann ist's ihr gewiß, als ob sie ihm noch gute Nacht sage.«
Frau von Hardenstein wäre sicher sehr erstaunt gewesen, wenn sie das gehört hätte. Niemals hatte sie beim Gute-Nachtsagen von ihrem Sohn gesprochen, aber das Seelchen hatte doch herausgefühlt, daß dies Behüt Gott ein Liebesgruß war, einem andern Kinde nachgesandt. Die junge Fürstin sagte mit einem Praline in der Hand:
»Ist das nicht ein bißchen langweilig, ich meine, wenn immer ein Todesfall beklagt wird?«
Aber das versteht das Seelchen nicht und sieht ihre Mutter erstaunt an, daß diese fühlt, sie bewege sich auf schlüpfrigem Gebiet, und schnell weiterspricht:
»Und viel lernen mußt du nun auch bei deinem Herrn Präzeptor?«
»Er weiß eine solche Menge, Mama, von dem Miß Whart nie etwas gesagt hat. Miß Whart hat mir immer gesagt, die deutsche Geschichte wäre furchtbar langweilig, weil wir immer so viel Fürsten gehabt, die um das Land gestritten hätten, und man könne das doch nicht behalten. Und darum habe ich immer nur von Mary queen of Scots und den Kindern Edwards gehört. Aber der Herr Präzeptor weiß sogar von Griechen und Römern! Und alles lerne ich. Und wenn er sagt: Wissen Sie noch? so weiß ich es immer, und dann freut er sich, weil die Buben es gar nicht immer wissen. Und zuerst, wenn er kommt, ist er schnarrig wie eine Krähe und stöhnt und sagt: ›Nun wollen wir eben‹ – und dann wird er ganz lustig. Und wenn er geht, sagt er: ›Machen Sie so fort.‹« »Ei, da bist du ja außerordentlich brav. Meine Schwestern und ich haben unsern Herrn Doktor schwer geärgert. Dann standen ihm die Haare bolzgerade in die Höhe und mit einem Auge schielte er dann. Die Mäg, meine Schwester, sagte allemal, wenn es so recht langweilig war: ›Komm, wir machen ihm die Augen krumm.‹«
Aber das Seelchen sagt entschuldigend: »Die Buben ärgern den Herrn Präzeptor schon so sehr.«
»Ja gewiß, gewiß.« Die junge Frau fühlt, daß sie nicht sehr pädagogisch war.
»Und es ist schön, daß du so ein kleiner Tugendspiegel bist. Und nun erzähl mir von deinem langen Freund, dem Maler.«
»Hast du mein Bild schon gesehen? Es ist schön, aber er sagt, es fehle etwas. Er hat mich noch einmal gemalt, auf einem großen Bilde, das ist noch viel schöner. Aber das hätte Papa nicht so gefallen, und er sollte doch Freude daran haben. Und nun gefällt's Papa sehr gut und Harro nicht ganz, aber wie soll man es beiden recht machen?«
Und sie schüttelt weise das Köpfchen.
»Graf Thorstein kommt oft herüber, ich meine, seit er dich nicht mehr malt?«
»Gar nicht so oft, nur wenn er Zeit hat, und er hat nicht oft Zeit. Wenn ein Fest ist, kommt er immer. Wenn jetzt der große dicke Nebel kommt, ist das Haselnußfest, und wir gehen nach Schweigen. Willst du auch mit? Aber du mußt einen Wettermantel anziehen.«
»Nach Schloß Schweigen fahren wir jedenfalls –«
»Und es muß ein dicker Nebel sein.«
Die Fürstin lachte: »Ich sehe nicht ein, daß das nötig ist.«
»Das ist ausgemacht, weil es das Herbstfest ist. Und dann kommt doch die Sonne,« sagt das Seelchen, das ein felsenfestes Vertrauen hat, daß auch bei dem Wetter Harro es so einrichten wird, wie es am schönsten ist.
»Frau von Hardenstein geht auch mit.« »Als Trauerweide,« lacht die Fürstin. »Mein Geschmack sind Trauerweiden nicht.«
»Und Harro nimmt dich gewiß auch mit, wenn du ihn bittest.«
Die Fürstin erhebt sich und lächelt, wie schöne junge Frauen lächeln, die mit ihrem Spiegelbild zufrieden sind. »Nun, er wird nicht ganz hartherzig sein,« und sie ging an den Flügel, den sie öffnete. »Kannst du Walzer tanzen, Rosmarie?« Sie spielte einen der hübschen, halbsentimentalen Modewalzer mit guter Technik und wiegte sich dazu ein wenig in den Hüften. »Faß dein Kleidchen an und tanze, Rosmarie, so machten wir es, wenn wir keinen Partner hatten!« Das Kind lächelte, blieb aber stehen.
»Den Tanz kann ich nicht. Ich kann nur den Lilientanz, den kannst du aber nicht spielen, und den Finkentanz, der ist komisch, und den Abendfräuleintanz, – der gefällt Harro am besten. Da gehören Flügel dazu, und ich habe zu Harro schon gesagt, er soll sie mir machen. Aber er sagt, er könne nicht. Aber vielleicht will er mich auch nur überraschen. Und wenn du ihn sehr bittest, vielleicht macht er dir auch.«
Der Fürst hört schon von außen ein helles Gelächter, ein zweistimmiges ... Wie ihm der Klang wohl tut und das Herz erleichtert!
»Zu drollig ist die Kleine, hast du je von einem Finkentänzchen gehört?«
Die Fürstin lacht wieder, aber ihr Lachen klingt ein wenig anders wie vorher ...
Heute geht man nach Schweigen, und alles soll ganz anders sein, als Seelchen es sich gedacht. Kein Mensch sagt ein Wort von Harro. Den schönsten dicksten Nebel hat man ungenützt verstreichen lassen, wie alle Tage ist der Wagen auf drei Uhr befohlen. Seelchen weiß nicht, ob es sich nun freuen soll, beschließt jedoch noch abzuwarten, aber so viel merkt sie schon: ein richtiges Fest wird es nicht. Ein Fest ohne Harro!
Der blaue Wagen fährt vor, Mama und Papa steigen ein, das Kind auf den Rücksitz, sehr tugendhaft und ängstlich bemüht, die Füße vor Mamas Augen zu verbergen.
Denn Mamas Ansicht über ihre Schuhe kennt sie nun schon. Zum erstenmal in seinem Leben ist das Kind schlau gewesen. Daß das wunderbare Schuhwerk von Harros Gnaden ist, hat sie nicht verraten, auch nichts vom Herrn Wurmhaber.
Die Fahrt nach Schloß Schweigen ist sehr schön. Es geht in das Tal hinunter, über die uralte bedeckte Holzbrücke donnert der Wagen, dann geht es in Windungen die steile Höhe hinauf, und man sieht die Türme und Giebel von Schloß Brauneck schön gegen den seidig blauen Herbsthimmel. Dann kommt der Hochwald, in dem die Räder leiser rollen, und der glüht in dunklem und hellem Gold und Purpur und Blaugrün. Und Papa ist sehr froh, und sie fühlt, daß er mit ihr zufrieden ist.
Und nun wieder durch Felder, über die der Pflug geht und über die die weißen Marienfädchen fliegen. Seelchen hält ein glühendrotes Ahornblatt in der Hand, das ihr in den Schoß gefallen, und hält es gegen den seidigen Himmel und muß es immer wieder bewundern und sich ausdenken, warum sich wohl das Blatt gar so herrlich zum Sterben anzieht. Nun kommen ein paar uralte kleine Giebelhäuser, ein großer Nußbaum, ein Hohlweg, in dem silberglänzende Waldrebendolden mit rotleuchtenden Hagebutten sich verspinnen, und plötzlich über den Kronen von zwei mächtigen Linden ein dunkler Turm: Schloß Schweigen.
»Rosmarie, freu dich, das ist Schweigen!«
»Wie seltsam,« sagt Mama, »das sieht man ja gar nicht, bis man daran ist.«
»Darum steht es noch. Es ist im Dreißigjährigen Krieg wohl gar nicht gefunden worden.«
»Gott, wie still,« ruft die Fürstin, »heißt es darum Schweigen?« Sie sind ausgestiegen vor dem Försterhaus, das so freundlich am Eingang neben den beiden Linden steht. Über die innere Umwallung schaut hoch und finster in seinem grünen dichten Efeumantel der Palas hernieder und der düster schwarze Bergfried mit Mantel und Wehrgang. Unter den Linden rauscht und murmelt ein Brünnlein, und wie nun der Wagen hinuntergefahren ist zu den Ställen, so ist sein leises Plätscherlied der einzige Laut in der verzauberten Stille. Von der runden Umwallung der Linde aus sieht man auf herbstbunte Waldberge, ein Habicht kreist über der tiefen Klinge, aus dem Gärtlein an der efeuumsponnenen Mauer weht ein leiser Resedaduft. Der Fürst hat seine Tochter an die Hand genommen und zieht einen silbernen Becher aus einem Etui. Den füllt er an dem Brünnlein und sagt:
»Trink, Rosmarie, das muß man hier tun.«
Seelchen sieht zu ihrem Vater auf und trinkt aus dem Becher und bittet ihm in der Stille ihres Herzens ab, daß sie von ihm gedacht, er könne keine Feste feiern.
»Das hat mein Vater auch getan, wie ich zum ersten Male mit ihm hier war. Er sagte: Aus dem Brünnlein muß man trinken, wenn man ein rechter Braunecker werden will.«
Die Fürstin war auch herbeigekommen, sie hob ihr feines Spitzenkleid in die Höhe, um den Brunnen war es ein wenig feucht.
»Sag, Fried, ist das nun Familiensimpelei, wie deine Schwester Helen sagt, oder ist ein Aberglaube dabei?«
»Helen ist ein pietätloses Frauenzimmer und sollte ihre Zunge mehr im Zaum halten. Ein Aberglaube ... ich wüßte nicht, eine Geschichte soll es geben von einem Braunecker, einem Brunnen und einer Fee, ich weiß sie leider nicht. Darf ich dir übrigens anbieten?«
Aber die Fürstin hat kein Verlangen nach kaltem Wasser, sondern hofft auf einen Tee in dem verwunschenen Schloß da oben ... »Wenn eure Andacht beendigt ist, natürlich: Rosmarie sieht aus, als wenn sie in der Kirche wäre.« »Sie ist beendet. Rosmarie, hier hast du noch einen Lindenzweig zu deinem Ahorn.«
»Gehört das auch zum Zeremoniell? Gott, ist die Kleine feierlich, ein Glück, daß sie nicht ein Junge ist, sie müßte Pastor werden!«
Es geht eine Treppe hinauf zwischen Efeuwänden zum inneren Schloßhof mit Palas und Bergfried. Eine hohe Pforte, über der ein mächtiges in Stein gehauenes Wappen mit der Jahreszahl 1534 hängt. Eine düstere Halle mit geschnitzten Hirschköpfen mit riesigen Geweihen an hölzernen Säulen. Die Fürstin schauert ein wenig zusammen.
»Hu, wie riecht es da nach Geistern! Fried, ich bin überzeugt, daß es hier spukt, am hellichten Tage sogar. Du hast mir gar nicht gesagt, daß Schweigen ein solches Spuknest sei ... Du willst doch nicht behaupten, daß man in dieser Luft leben könne, ein paar Tage lang.«
Der Fürst sagt etwas verlegen: »Nun ja, ein wenig altmodisch riecht es ja, nach unbewohnten Räumen ... Vielleicht lüftet die Försterin nicht genug oder wird das Efeugespinst zu dicht. Oben wird es besser, du wirst sehen.«
»Diese Hirschköpfe überall mit den glotzenden Glasaugen, die Treppenfensterplätze,« klagt die Fürstin, »es ist ein Gespensterschloß aus einem englischen Roman.«
»Daß dir die Geweihe nicht gefallen! Sieh, an jedem Schildchen die Namen, sie sind alle in unsern Wäldern geschossen worden. Sieh den Siebzehnender! Und ich bin an einem guten Rehbock froh. Den schoß mein Vater; da war er, laß sehen, fünfzehn Jahre alt ... Da mag er eine Freude gehabt haben! Und nun die Scherereien um die paar Böcke, – unsere Urenkel, wenn die sich einmal amüsieren wollen, müssen auf die Rattenjagd gehen.«
Die Fürstin biegt sich über die Treppe und ruft: »Da seid doch ihr Herren schuld! Mir sollten Anno 48 die Bauern gekommen sein und mir meinen Sport verdorben haben, auf die Ratten käme ich noch lange nicht!« Oben öffnen sich altmodisch trauliche Stuben, die mit schönen Rokoko- und Empiremöbeln eingerichtet sind. Die spindeligen Empiretischchen sehen ein wenig sonderbar neben den uralten schwarzen Öfen aus. Und die Tapeten sind mit fürchterlichen braunen Quadratmustern bedeckt, die man nicht ansehen kann, ohne das Zählen zu bekommen. Die Fürstin kann nicht begreifen, was an diesen Zimmern, an deren Fenstern blau-weiße gestärkte Vorhänge sind, sein soll! Die gräßlichen Tapeten, die Ungeheuer von Öfen, die alten rauhen Fußböden! Selbst für den kleinen Erker, dessen Fenster genau nach Morgen und Abend orientiert sind und ein so liebliches Farbenspiel durch die Efeuranken hindurch versprechen, kann sie sich durchaus nicht begeistern. Der Lehnstuhl, der darin steht, ist steif und das eingelegte Tischchen davor wackelig.
Und sie fühlt deutlich, daß der Fürst etwas von ihr erwartet! Rührung oder Bewunderung? Er sieht sie eigentümlich an, und nun nehmen die Augen dieser wunderlichen Kleinen fast den gleichen Ausdruck an, daß Vater und Tochter sich plötzlich ähnlich sehen.
Dann sagt der Fürst leicht verlegen: »Ich kann natürlich nicht erwarten, daß Schloß Schweigen dir irgend etwas sagt ... Für uns Braunecker ist Schloß Schweigen nicht ein Schloß wie die andern! Es hängen allerhand alte Sagen daran ... Schon der seltsame Name ... Von Schweigen her soll uns unser Glück gekommen sein ...«
Die Fürstin gähnt höflich durch die Nase ...
Seelchens Augen haben sich groß und strahlend geöffnet: »Sind sie hier gewesen, Vater, all die Leute, die jetzt nur noch in ihren Bildern leben, der Herr mit dem Schwert und die schöne Frau mit dem Schmuck wie fallende Blutstropfen, und das blasse Bübchen mit dem Vogel und dem kleinen Schwert an der silbernen Rosenkette! Sind sie hier gewesen, Vater ... und haben sie das Glück herübergebracht ... und warum heißt's Schweigen, und halten die blauen Männlein alle den Finger an die Lippen? Warum muß man schweigen! Hat man Glück, wenn man schweigt?«
»Für kleine Mädchen wird es immer geraten sein, wenn sie nicht so viel reden,« sagt die Fürstin mit so scharfer Stimme, wie sie bisher weder Vater noch Tochter von ihr vernommen haben.
Beide sehen erschrocken nach ihr ... Ihre Stimme klingt so seltsam in den alten Zimmern, die niemandem geöffnet einen leichten Hall forttragen. »Dieser Familiengötze,« denkt die junge Frau, die immer nur in Stadtvillen gewohnt hat, da ihr Vater der Nebenlinie seines Hauses angehörte. Alles hier ist ihr fremd und zuwider. »Wie kann man sich so haben um geschmacklose Stuben,« und sie sieht den seltsamen abweisenden Blick aus den Augen der beiden, der macht sie noch ärgerlicher ...
Und was hat das Kind. Das ist ganz schneeblaß und hat fast schwarze Augen bekommen, steht auf der Schwelle, als wollte es im nächsten Augenblick umfallen.
»Aber Rosmarie, du wirst dich doch nicht fürchten? Gott, ist das Kind ängstlich, es riecht doch nur muffig hier!«
Der Fürst runzelt die Stirne ... es war ein Leichtsinn, Frau von Hardenstein nicht mitzunehmen; wenn irgend etwas geschieht, weiß sich niemand zu helfen. Er zieht sie ins Zimmer herein.
»Komm, Rosmarie, Tee trinken.« Das Seelchen läßt sich fortziehen, es tritt ganz leise auf den Zehenspitzen, als fürchte es jemand zu wecken. –
Man trinkt Tee aus alten vergoldeten Täßchen. Diener sind keine da, hier bedienen sich die Herrschaften immer selbst, das ist so Sitte. Auch nach seiner Milch ist das Kind bläßlich und spricht kein Sterbenswörtchen, aber sie hat doch etwas gegessen, und der Fürst beruhigt sich wieder. Und er versucht, seine junge Gattin etwas mit der Atmosphäre von Schweigen zu versöhnen und erzählt ihr von seiner ersten Jagd hier, noch mit Vater und Großvater, und wie sie übernachteten und niemals Zeit hatten, sich irgend welchen Geistern zu widmen. »Abends freute man sich auf den Morgen und erzählte sich unendlich schöne Gauls- und Hundegeschichten; im Morgengrauen stand der Jäger vor der Tür und klopfte, und man fiel aus den steinharten Betten heraus, noch ganz schlaftrunken.« Aber die Fürstin ist durchaus nicht versöhnt.
»Man muß vollständig ohne Geruchsnerven sein, wenn man hier hausen kann, und ich bitte dich, Fried, diese Tapeten! Und diese Spiegel! Waren die Damen früher so wenig eitel, daß sie solche Spiegel duldeten?«
Da erhebt sich das Seelchen und geht mit zagen Schritten, die niemand, beileibe niemand aufwecken wollen, zur Tür und fragt: »Papa, darf ich jetzt das Zimmer sehen, wo das blaue Männlein von der Decke hängt?«
»Was meinst du, Rosmarie?«
»Das Männlein, das so macht!« und sie hielt den Finger an die Lippen und lächelte, als wenn sie jemand Schweigen gebiete.
»Das gibt es hier doch gar nicht.«
»Doch, Papa, wir wollen's suchen,« und sie zieht ihn mit sich fort, aber immer auf den Zehen, leise, leise ... Sie gehen durch alle Zimmer. Die Fürstin ist zurückgeblieben, sie hat herzlich genug von alten muffigen, geschmacklosen Stuben. Sie zündet sich eine Zigarette an und probiert Stühle und Spiegel. Vater und Tochter gehen durch alle Stuben, und der Fürst zeigt seiner Tochter die Bilder, lauter Jagdstücke in alten Kupferstichen und schlechten Ölgemälden von merkwürdigen Hirschen, Ebern und Hunden. Aber das blaue Männlein ist nicht da. Nicht einmal in der letzten Stube, wo das große Himmelbett steht. Das hat seidene Vorhänge, die bedeckt sind mit den feinsten Blumenstickereien. In den Falten an den geschützten Stellen glühen noch die Farben. Fleißige Hände müssen jahrelang daran gearbeitet haben. Unter dem prachtvollen Betthimmel steht ein altes breites, niederes Bett aus gestrichenem Tannenholz.
»Sieh, da habe ich manche kurze Nacht mit meinem Vater geschlafen, hart war's, graniten. Aber ich durfte in meinem Pennal nur daran denken, so kamen mir schier die Tränen, ein so großer Junge wie ich war.«
Sie sagt kläglich: »Aber, Papa, warum haben sie das kleine blaue Männlein weggetan?«
»Sei doch nicht so hartnäckig, Rosmarie, du hörst doch, hier war niemals ein blaues Männlein, es ist alles unverändert geblieben, solange ich denken kann, und wehe dem, der mir bei meinen Lebzeiten hier etwas verdürbe. Drüben kann man den Neuerungen nicht entgehen, aber hier in dem Waldwinkel will man sein altes Zeug behalten,« grollte der Fürst.
»Aber Papa, es hing doch da, eh wir hereinkamen.«
»Rosmarie, red' keinen Unsinn, kann man denn durch Türen sehen, und in welches Mausloch soll sich das blaue Männchen verkrochen haben!«
»Es ist aber doch nicht da,« sagt sie sehr kläglich.
»Und war nie da. Wer hat dir denn davon erzählt?«
»Niemand, ich weiß es doch.«
»Jetzt will ich nichts mehr davon hören,« sagt der Fürst streng, »und laß das Flüstern und auf den Zehen gehen.«
»Aber es heißt doch Schweigen.«
»Ach, das hat schon Jahrhunderte so geheißen, hier war man oft laut genug.«
»Ja, fühlst du denn nicht ...«
»Rosmarie, du führst dich heute auf! Nun warst du so lange vernünftig, daß man sich freuen konnte – muß mir nun der schöne Tag verdorben sein!«
Seelchen kommen die Tränen, es schleicht sich zu dem Bette hin und greift zaghaft nach dem wunderbaren Vorhang und küßt die seidenen Blumen und wischt sich verstohlen die Augen daran ab. Der Fürst sieht ihr mit finsterer Stirne zu. Nun ist sie gerade wieder wie früher. – Und er geht ärgerlich hinaus, das Kind auf den Zehen hinter ihm drein. Es wendet noch einmal das blasse Gesichtchen nach dem Bett und suchend nach der Decke, als müßte das blaue Männlein sich erbarmen und plötzlich aus der Decke brechen und wieder da hängen, und halb warnend, halb lächelnd, auf die Lippen deuten. Aber die Decke bleibt weiß, und Papa ist ärgerlich, und Mama wird immer vergnügter, je ärgerlicher Papa ist. Dann fährt man nach Hause; der Wagen wird geschlossen, weil es kühl ist. Armer Papa, er kann doch keine Feste feiern.
Papa und Mama sind abgereist nach Berlin, und die weißblaue Fahne hält den Winterschlaf. Die Bäume trauern und lassen alle schönbunten Blätter herunterfallen: es schreien die Raben. Sie wissen, daß bald Schnee kommt. Seelchen lernt nähen und hat die allergeschicktesten kleinen Hände, die Nadel geht immer ganz von selbst dorthin, wo sie sollte. Frau von Hardenstein ist ganz erstaunt darüber und verspricht ihr, daß sie nun bald Weihnachtsarbeiten machen dürfe. Und sie weiß schon, was sie will, einen Stuhl will sie sticken für Harros Salon. Mit schönen Vorhangblumen. »Auf seinem Stuhl sind so häßliche Würmer.«
»Ornamente,« verbessert Frau von Hardenstein, aber Seelchen weiß ganz gewiß, daß es große und kleine Würmer sind, über dem hört man Harros Schritt draußen. O wie lange war er nicht mehr da. Er bringt eine sehr schlechte Laune mit.
»Gib Ruhe, Seelchen, ich bin widerwärtig heute. Ein alter, verdrießlicher, knarriger, schnorziger Höhlendachs. – Ich weiß wirklich nicht, warum ich euch eine solche Laune ins Haus trage.«
»Harro, ist Ihnen etwas Besonderes geschehen? Dieses Wetter ist zu trübselig. – Ich meine, wir machen Licht.«
Es ist sehr behaglich in der alten Lernstube mit ihren alten Empiremöbeln, die blauen Vorhänge werden heruntergelassen, das elektrische Licht glüht auf in der kleinen Glaskrone, auf dem großen Tisch steht ein weißer Rosenstrauß aus dem Gewächshaus.
»Harro, was ist Ihnen geschehen?« »Wie gütig, Frau Mutter, das noch einmal zu fragen. Ich warte ja nur, bis ich mich erleichtern kann. Nein, geschehen ist nichts, nur ein paar Einstürze unterm Steinwerk, die mich in meinem Bett zu verschütten bestrebt waren, es ist ihnen aber vorbeigelungen, – ein Balken hält noch. Maurer steigen herum und werfen Staffeleien über den Haufen... nein, geschehen ist nichts!«
»Wie traurig, Harro! Ich sorge mich um Sie.«
»Seelchen,« rief er, »mache keine rabenschwarzen Augen, wenn du eigentlich graue hast, komm erzähl uns etwas. Wir wollen unser nächstes Fest bereden, das Haselnußfest.«
»Ich war doch schon in Schloß Schweigen mit Papa und Mama.«
»Oh, du warst schon, wie schade, ich hatte mich eigentlich sehr darauf gefreut, es dir zu zeigen. Wie war's? Erzähle, Seelchen! Hast du den alten Spiegel gesehen und die schönen Linden! Wir gehen noch einmal nach Schweigen zur Efeublüte, die muß ja jetzt bald sein, und einmal muß doch wieder die Sonne scheinen. War es schön, Seelchen?«
»Ich habe aus dem Brünnlein getrunken, mit Papa aus silbernem Becher, daß ich es nie vergesse. Daran die Fee saß und der Ritter in eisernem Panzer.«
Harro lacht hell auf und schlägt sich auf die Schenkel.
»Du bist ein lebendiges Märchenbuch... Wie gemütlich ist's bei euch und wie die Rosen duften! Und Frau Mutter strickt an einem Ding, das meine Tante Uli einen Seelenwärmer nennt. Stricken Sie mir doch auch einen, ich kann's brauchen in meinem feuchten, rutschenden Dachsbau. Komm, erzähl vom Ritter und der Fee, Seelchen.«
»Ach, die Geschichte weiß man nicht mehr, und ich mag auch nichts mehr erzählen. Papa habe ich in Schloß Schweigen geärgert und ihm den schönen Tag verdorben, und Mama hat sich darüber gefreut. Und sie mag Schloß Schweigen gar nicht, weil es nach Gespenstern riecht.«
»Wie riechen denn die?« »Altmodisch, sagt Papa, und, Harro, was sind denn Gespenster?«
»Wie kann ich das wissen? – Du mußt dir abgewöhnen, immer zu meinen, ich sei allwissend.«
»Warum hat sich denn der Fürst über Sie geärgert? Sie haben mir gar nichts davon erzählt,« fragt Frau von Hardenstein.
»Ich habe mich geschämt. Ich sollte nicht auf den Zehen gehen, und als ich den Vorhang küßte, war Papa zornig ... Und das mußte ich doch.«
»Warum denn, Seelchen?«
»Ach Harro, ich mußte! Ich konnte in dem Zimmer doch nicht laut sprechen, in dem sie lag ... sie ... ach nun sind wir wieder an ihr, der Frau mit dem Silberkleid. Ein blaues Männlein hing von der Decke,« das Seelchen weint fast, »und Papa will mir's nicht glauben.«
»Das mußt du deinem Vater nicht übelnehmen, wenn ich hinübergehe, werde ich wohl auch kein blaues Männlein sehen. Wir sollten Kompagniegeschäfte machen ... deine Augen und die meinen ... Nun und sie! Wieder im Silberkleid und den ...«
»Harro, ich möchte Sie dringend bitten,« unterbricht Frau von Hardenstein.
»Entschuldigen Sie, Frau Mutter, aber das blaue Männlein, das ist doch gestattet!«
Seelchen stellt es dar mit einem blauen Regenmantel und Kapüzchen.
»Und das sonderbarste an dem Männlein war, hinten wuchs ein Hirschgeweih heraus und darauf steckten Kerzen.«
»Ach, du meinst eine Leuchterfigur ... Und darum heißt das Schloß Schweigen! Ach, wenn du's nur auch lerntest, Seelchen. Natürlich am rechten Fleck, meine ich ... Aber dein Männchen hat mich doch gefreut, das gäbe eine feine Leuchtfigur für ein Musikzimmer, Seelchen. Will mir's doch merken. Und das Männlein muß eine Laterne tragen, worin das Licht ist. Schweigen!« Auf dem finstern langen Heimweg sinnt der Thorsteiner so vor sich hin – das blaue Männlein ... Kein Mensch weiß, warum das Schloß Schweigen heißt. Wo die Herren ihre lärmenden Jagden abhielten. »Ich muß doch den Domänenrat fragen, wie lange das Schloß nicht mehr bewohnt war.«
In der Ruine lärmen immer noch die Maurer, und weder Ofen noch Wände haben Vernunft angenommen. So wandert der Thorsteiner am nächsten Tage nach Brauneck. Er erfährt nicht viel. Seit zweihundert Jahren ist das Schloß nicht mehr dauernd bewohnt, vor achtzig Jahren ist es neu eingerichtet und das alte Gerümpel hinausgeworfen worden. Der Fürst hält sehr darauf, daß nichts geändert wird. Schon im sechzehnten Jahrhundert hieß es Schweigen. Ob der Fürst wohl gestattet, daß man ein wenig da herumstöbert ...
»Herr Graf, ich fürchte, Sie finden nichts als alte Töpfe. Die Küche ist eine Sehenswürdigkeit, noch mit der ganzen Einrichtung. Hier ist das Inventar, alles bis auf den letzten Bratspieß aufgezeichnet – ja, wir halten Ordnung in Brauneck. Wenn Sie sich für alte Töpfe interessieren ... Was sammelt man nicht alles ... Sollten Sie irgend etwas Interessantes finden, so wird es den Fürsten sehr freuen.«
Harro hat kein besonderes tendre für alte Töpfe. Da es immer noch herunterrieselt ... ein grauer, farbloser Herbsttag – die Maurer in der Ruine – er hat bereits die großen Stiefel an ... An einem solchen trostlosen Tag müßte Schloß Schweigen seinem Namen Ehre machen.
Harro geht durch den tropfenden Wald, wo es rauscht und rauscht vom Regen und dem Fallen der Blätter, die wie große traurige Schmetterlinge sich langsam herabsenken. Smaragdgrün sind die Wiesen mit den letzten frierenden nackten Herbstkindlein. In Wettermantel, Kapuze und hohen Stiefeln – wie genießt man die Regenwelt. Wie jeder Baum seine Regenlast anders trägt, am schönsten die Birke, an deren feinem Gezweig die glänzenden Perlen wie Geschmeide hängen. Im Tannenwald ist's am heimlichsten, da klingt's auf dem Nadelboden, wenn das Dach den Regen hindurchläßt, da webt's von Nebelfetzen, und an den Stämmen stehen wie aus feinstem mattem Gold die Elfenringe der Pilze.
Die dunkeln Mauern von Schloß Schweigen verlieren sich in den Nebelhimmel. Der Bergfried sieht wie ein phantastisches Ungetüm aus. Harro stöhnt vor Entzücken. Ein Riesenschloß von Dämonen bewohnt! Das ist das Wetter für Schweigen! »Ich darf nur deinen Spuren nachgehen, Seelchen, so habe ich Glück! Ich könnte jetzt zu Hause sitzen, bei Staub und Mörtelgeruch. Das liegt so da, kein Mensch sieht's! Dort aus der Mauerluke müßte ein kleines rotes Licht hervorbrechen, wie ein böses Auge, daß man sieht, die Dämonen, die schlafen nicht – sie wachen. Und ich sollte nun nicht im Lodenmantel dastehen, sondern neben einem müden Schimmel mit Eisenhaube und verbeultem Harnisch ... und vor mir noch die alte Zugbrücke, dort sind die steinernen Angeln, in denen sie lief. Das Seelchen kann dazu dichten, was der Ritter vor der Geisterburg will ... sie wird es schon wissen ... Ich brauch's nur zu malen ... Herrgott, ist das eine Freud!« –
Es ist eine lange Andacht, die der Thorsteiner vor der düstern, eingenebelten Burg hält, eine gesegnete Stunde, wie sie den Glücklichen wird, die die sehenden Augen haben, den Narren und Träumern.
Endlich zerreißt ein Windstoß den Nebel und ein stärkerer Regen prasselt nieder, – und er erinnert sich, daß er alte Töpfe ansehen wollte und merkt, daß es eiskalt geworden ist. »Wenn die Dämonen mir zum Empfang einen Hexenschuß schicken, soll mich's nicht wundern!« brummt er. Die Försterin ist sehr erstaunt über den Besuch und läßt ihn freundlich mithalten an den Leberspätzlen, die sie für sich und die zwei Rotköpfchen gekocht hat. Sie wohnen noch nicht lange in Schweigen, und die Försterin weiß nichts von altem Gerümpel. Auf dem Dachboden liegt auch nichts mehr. Sie hielten auf Ordnung. –
»Ordnung, heilige Himmelstochter,« seufzt Harro über seinen festen Leberspatzen. Aber dann bekommt er alle Schlüssel und kann den kurzen Nachmittag so gut anwenden als er will. So riechen also Geister. Die Stuben, deren schmale Fenster noch durch die Efeuranken verdüstert sind, sehen so finster aus wie möglich. Die reizenden Rokokomöbel sehen ganz verdrossen drein, und die Porzellanschäferin dort muß es sicher frieren. Und nie hat Harro Spiegel gesehen, die mehr darnach aussahen, als ob sich plötzlich von hinten ein zweites Gesicht hinter dem eigenen präsentieren könnte. Die heilige Himmelstochter herrscht wirklich überall, bis zum obersten Dachboden, wo in einer vielversprechenden Kammer sich schließlich nur wohlgehaltene Gastbetten vorfinden, die auf Jagdgäste warten. Die Küche ist sehr interessant, aber Harro bringt für die schönsten ziselierten Messingmörser nur ein schwaches Interesse auf. – Nirgends ein blaues Männlein! Harro findet seine Idee, darnach zu suchen, nun sehr absurd und lächerlich. Das Schloß ist gründlich untersucht, aber es gibt noch Nebengebäude. – Dort in dem Anbau neben dem Palas die kleinen vergitterten Fenster. Das sei die Schreinerstube, belehrt ihn das rotköpfige Försterkind. Darin wären einmal Räuber gewesen, und deshalb sei Vaters Flinte immer geladen.
»Wollen wir zu den Räubern oder fürchtest du dich?« Das Rotköpfchen lächelt zu ihm hinauf, der lange Herr sieht aus, als traute er sich mit allen Räubern, und sie kennt den Schlüssel. Ein großer, finsterer Raum, der Harro der Inbegriff von all dem Düstern, das er heut gesehen, erscheint, öffnet sich ihnen, sehr groß und so nieder, daß Harro kaum aufrecht stehen kann. Die fernen vergitterten Fenster scheinen ins Unendliche zu verdämmern. Altes Handwerkszeug liegt herum, die niedrige Decke tragen rohe Holzsäulen.
»Hier kann unmöglich je etwas anderes geschreinert worden sein als Särge,« denkt Harro, »Särge für alle Braunecker. Rotköpfchen, geh und bitte die Mutter um eine Kerze ...« Er läuft herum, gebückt, die Hände in den Hosentaschen. »Haben das die Dämonen wohl zu Winterställen für ihre Lindwürmer gebaut ... für Menschen kann das doch nie gedacht gewesen sein, wie ein Saal ist's aus einem bösen Traum; immer niedriger wird er, bis man schließlich kriechen muß, – puh ... ein wahrer Alp ... der Teufel hol ...«
Die alten Säulen erfahren nicht, was der so viel Angerufene in seiner bunten Rumpelkammer versorgen soll, Harro sitzt plötzlich auf einem Sägebock, es brummt ihm wie hundert Hummeln vor den Ohren, über seine Stirne rinnt ein Blutstreifen. »Nun, ich muß sagen, ganz, was man von den Dämonen erwarten sollte!«
Da kommt die Kleine mit der brennenden Kerze herein und stellt sie auf den Boden und fängt gellend an zu jammern: »Räuber sind da ... Dein Blut läuft heraus!« und rennt, so schnell sie die Füßchen tragen, zum Eingang zurück. Harro wischt sich das Blut von der Stirne.
»Wo der Teufel hab ich mich so fürchterlich angestoßen?«
Er nimmt die Kerze, da, der vorspringende Balkenkopf, wenn man so unmöglich lang ist! Der Balkenkopf. Herrgott! ... Zu – einem hockenden Männlein geschnitzt, das den Finger an die Lippen hält, das Röcklein gegürtet, das noch Spuren blauer Bemalung trägt. Und wie er jetzt die Säulenreihe hinabgeht und sie mit seiner Kerze ableuchtet, da trägt jeder Balkenkopf das Zeichen, manchmal nur in einem Stückchen blauer Bemalung oder in einem Stück des Kopfes. Von allen Seiten haben sie herabgesehen, drohend, warnend, lächelnd auf die Knappen, die wohl in dem unheimlichen Saale tafelten.
Die Försterin kommt, von zwei weinenden Rotköpfchen, die an ihrem Rock hängen, begleitet.
»Herr Graf, Sie haben ein Unglück gehabt, Sie sehen ganz weiß aus! Es ist ein zu wüster Ort.«
»Gar nicht, Frau Försterin, man muß sich nur darin zu benehmen wissen, und Leute ohne Augen bekommen eben eins vor den Kopf. Sie geben mir ja schon eine Leinenbinde. Nimmer weinen, Klärle, die Räuber sind fort, da muckst keiner mehr ... Wenn ihr ausgeweint und eure Näschen geputzt habt, mach ich von jedem von euch ein Konterfei.« »Ach, das wäre mir eine Ehre,« sagt die Försterin errötend. »Das kann ich doch nicht verlangen! Und ich darf einen Kaffee machen; die Kälte geht heute bis auf die Knochen.« – –
Es ist schon stockfinster, die Frau Försterin hält überselig zwei feine Blättchen in der Hand. – »Ach, schenken Sie uns doch wieder einmal die Ehre, Herr Graf!« Und Harro wandert den finstern weiten Weg wieder zurück, und so todmüde er ist, so spannt er sich doch noch eine Leinwand auf in den großen Rahmen, den ihm Märt gezimmert hat.
Noch im halben Dämmer und mit schmerzendem Kopfe steht er am andern Morgen davor und bewegt den Gedanken. Sage ich's nun dem Seelchen, daß ich ihr blaues Männlein gefunden habe, oder nicht? – Sie kam niemals in die Schreinerstube, die Frau Försterin entsetzte sich über seine Anfrage ... Da müßte sie sich doch schämen vor den Herrschaften: mit dem »wüsten Gruft«. Aber der Fürst soll es sicher erfahren, er wird des Kindes Fragen nicht vergessen haben. Und er beschließt, dem Fürsten es in der Form mitzuteilen: Schloß Schweigen habe ihm die Anregung zu einem neuen Bilde gegeben und er habe dabei eine Schnitzerei entdeckt, die sich auf den Namen des Schlosses beziehe ...
Und das Seelchen! Nein, er darf Frau von Hardenstein nicht in ihre pädagogischen Maximen hineingreifen ... Also erfährt das Seelchen nichts vom blauen Männlein. Und Harro geht auch nicht wieder nach Schweigen und malt sein Bild aus dem einzigen Eindruck heraus.
Und es wird ein stiller Winter, aber der Ruinengraf feiert doch wieder Weihnachten! Der Fürst hat sich zwar nicht gedacht, daß seine kleine Tochter immer noch allein bleiben sollte in Brauneck, nun sie wieder eine Mutter hat; aber kaum ist die Kleine in Berlin installiert, bekommen die Portierskinder in Palais Brauneck Diphtherie, und der schwer erschreckte Fürst flüchtet seine Kleine nach Brauneck. Und warum sollte sie nicht dableiben den Winter über, die Fürstin findet, daß dies alles so vereinfacht!
Die Fürstin ist strahlend von ihrer Kur zurückgekehrt, findet aber bald, daß das Leben auch im Sommer in Brauneck recht eintönig sei. Eine kleine Abwechslung verspricht es ja, daß der Thorsteiner in diesem Herbste ihr Porträt malen soll. Dem Fürsten eilt es wohl nicht sehr damit, aber die Fürstin schmollt und meint – ob man damit warten wolle, bis sie alt und häßlich und nur noch als spukende Ahnfrau zu gebrauchen sei? So hat sich der Fürst gefügt, und der lange Thorsteiner ist gebeten worden. Es liegt ihm aber nicht sehr viel daran, fürstlich brauneckscher Hofmaler zu werden, und er macht allerhand Einwände. Seine Zeit ist beschränkt und Porträts wohl gar nicht seine Stärke. Er fürchte, er verstehe es nicht, ein Repräsentationsbild, wie es das der Fürstin doch sein soll, zu malen. Er könne nur seinen Eindruck wiedergeben und fürchte, er könne nicht stilisieren. Darüber reden die Herren einmal, wie sie nach dem Diner in dem langen Rosengang auf- und abgehen. Es ist schon so düster, daß man nur die roten Punkte der beiden Zigarren sieht, die sich wie freundliche Glühwürmer auf- und abbewegen. »Das ist schon möglich, Graf Thorstein, daß Sie darin recht haben, das sind Künstlerbedenken, von denen ich nicht allzuviel verstehe. Nur das eine kann Sie vielleicht beruhigen, an ein Repräsentationsbild, für den Saal etwa, habe ich gar nicht gedacht. Es ist bei uns nicht Sitte, daß die Frauen gemalt würden, ehe sie den ersten Sohn hatten ... ich hatte auch gerne noch gewartet, aber ce que femme veut – Dieu veut. Sie wissen ja. Nehmen Sie ein Ovalformat, wie das Bild von meiner Schwester im grünen Zimmer.« Harro verspricht endlich, eine Skizze zu machen und, wenn sie der Fürstin gefalle, aber nur dann, sie auszuführen. Der Toilettenrat, den Harro mit der Fürstin abhält, ist schwierig und langwierig. Das grüne Jagdkleid mit den Lederaufschlägen und dem weichen Hütchen, wie Harro vorschlägt, ist der Fürstin zu einfach. Und dem ganzen Toilettenzauber von Madame Lenormand aus Wiesbaden steht Harro mit einer Verachtung gegenüber, die zu verhehlen er sich gar keine Mühe gibt. Die Fürstin hätte ein anderes Entgegenkommen von diesem noch so jungen und unbeweibten Malerkavalier erwartet, und es reizt sie, ein kleines ungefährliches Sommerspiel mit ihm zu treiben. Er kann ja nicht nur ablehnend sein, dieser Ruinengraf, das sieht man in seinem Verkehr mit der Kleinen, die durch ihn so entsetzlich verwöhnt und anspruchsvoll geworden ist. Und die Sache ist ja so ungefährlich ... und so unterhaltend in der endlosen Monotonie dieses Braunecker Sommeraufenthalts. Die Fürstin ist also gefügig, selbst in den Dingen, in die sie sonst keinen Eingriff duldet. Sie läßt sich ein rotes Damastkleid, das sie herzlich langweilig findet, anpreisen und willigt sogar ein, daß von der Taille der ganze reiche Garniturschmuck von Perlstickereien und Fransen verschwindet. Sie spricht sogar ganz verächtlich von dem Zeug, das alle Linien verzerre und verderbe. Aber zu weiteren Konzessionen – Harro möchte über den Ausschnitt einen schönen alten Venezianerspitzenkragen legen, ist sie nicht zu bewegen, sie weiß doch, welch wunderschönen Hals sie hat, wozu also den verdecken. Spitzenkragen trägt ja doch kein Mensch mehr. »Ich merke, Sie wollen eine Ahnfrau aus mir machen – alles, nur das nicht. Ich will einmal später die Leute nicht eingraulen helfen.«
Im großen Saal, wo die Beleuchtung am besten ist, wird das Atelier hergerichtet. Seelchen hat all diese Vorgänge mit dem brennendsten Interesse begleitet. Harro malen zu sehen, gehört zu ihren höchsten Lebensfreuden. Aber sie merkt bald, daß ihre Gegenwart bei den Sitzungen nicht gewünscht wird, und sie muß sich begnügen, das Bild in seinen Fortschritten allein zu betrachten. Wenn der Gong zum Diner ertönt und Mama in ihrer Pracht davon gerauscht ist und Harro seine Pinsel und Palette verwahrt, kommt sie hereingeschlüpft. Eine Einladung zum Diner nimmt er niemals an ... es nehme ihm zu viel Zeit.
»Nun kommt die hohe Kritik,« begrüßt er sie.
»O Harro, ich habe es kaum erwarten können.« Sie setzt sich auf die Stuhllehne, stützt ihre Ellbogen auf die Knie, die Hände in den goldenen Haarwellen vergraben, ein nachdenklicher kleiner Elf.
»Nun ... schieße los, ich bin auf alles gefaßt.«
»Harro, das Rot leuchtet schön, am schönsten in den Schatten.«
»Nun, ist das Kleid die Hauptsache?«
Seelchen nickt ernsthaft. »Man kann es meinen, Harro.«
»Donnerwetter ... Du wirst doch nicht wieder recht behalten. Du wirst schrecklich, Seelchen, wenn das so weitergeht mit deiner Neunmalklugheit ... das Rot ... es war gar zu schön ...«
Es fällt ihm ein, daß die Fürstin ihn schmollend gefragt hatte, ob sie ihre Kammerfrau in das Kleid stecken solle. Leise pfeifend steht er hinter dem Kind.
»Und was hast du noch zu sagen?«
»Daß es schön ist und ein böses Rot ist. Wenn ich einmal ein Puppentheater habe, will ich die bösen Königinnen so anziehen.«
»Prinzessin,« warnt Frau von Hardenstein, »was sagen Sie? Wenn Sie jemand hörte, böse Farben gibt es nicht.«
Harro pfeift schreckliche Dissonanzen: »Verschieb deine Kritik noch, Seelchen, bis Gesicht und Händen noch mehr ihr Recht geschieht ... ich habe mich in das Rot verliebt, es ist eine wundervolle Farbe, aber ein Toilettenstilleben soll es doch nicht werden.« – –
»Rosmarie, ist Graf Thorstein nicht da und malt? Warum bist du nicht dabei – du willst doch so gerne zusehen.«
»Mama hat es gar nicht gerne.«
»Hat sie dir's gesagt?« »Nein, aber das fühlt man doch. – Papa, ich fürchte, Harros Bild gefällt dir nicht.«
»Warum nicht? Ist es nicht schön?«
»So schön, wie er noch kein Bild gemalt hat. Die anderen Bilder an den Wänden müssen sich ganz verwundern darüber und können kaum wegsehen, wenn man die Tür öffnet, und das müssen sie doch.«
Der Fürst hat längst aufgehört, sich über solche Worte zu ärgern, und heute beschäftigt, wie das leichtest vorüberwehende Spinnfädchen, seine Gedanken etwas anderes.
»Rosmarie, ich meine, das Zusehen sollte man dir nicht ganz nehmen. Geh hinein und bringe Mama die schönen Orchideen, die ich im Gewächshaus mit vieler Mühe für sie erkämpft habe.«
»O Papa, du hast recht, die Blumen passen zu Mamas Bild,« und das Kind fliegt mit den zwei abenteuerlich geformten, wunderbar duftenden Blütenzweigen davon. –
In dem großen Saal hört man eine eingesperrte Biene summen, so still ist's. Die Fürstin sitzt auf einem der alten hohen, geradlinigen Stühle, die in ihrer Steifheit zu dem weichen Fluß der Linien des Körpers so unendlich malerischer sind als die gewollt bequemen Formen. Harro steht vor seiner Staffelei und malt mit grimmigem Ernst. Daß die Fürstin, die alles Unbeschäftigte, Träumerische haßt, sich zu einem solchen Stilleben hergibt, ist sehr merkwürdig. Fast verschüchtert kommt das Kind herein, ihre Blumen als Friedenspfand vor sich hinhaltend.
»Mama, das hat dir Papa geholt, du weißt, daß der Herr Hofgärtner sie gar nicht gern hergibt. Harro, sieh einmal, wie sie schön und seltsam sind.« Die Fürstin zieht die Stirne kraus. »Ich denke, du hast jetzt deine französische Stunde.« »Schon vorüber. Harro, wie schön zu Mamas Kleid, und du warst immer mit der Hand nicht zufrieden.« Und Rosmarie schiebt der Fürstin den Blütenzweig in die Hand, und Mama ist so gehorsam wie ein Lamm.
»Durchlaucht, es ist genau, was ich mir noch wünschen möchte ...« »Ich komme mir lächerlich vor; muß es denn sein? Ich bin doch keine moderne Ästhetin, daß ich mit Blütenstengeln herumliefe! Sentimental! Gebt mir eine gelb und braune Reitpeitsche, wenn gelb und braun sein muß.«
»Mama, es ist gewiß schön, und du hältst die Zweige nicht wie Blumen, sondern wie eine kleine Gerte. Und die Orchideen sehen ja gar nicht aus wie Blumen, sondern wie Becher und kleine Tiere mit Flügeln.«
»Als ob ich eine Gerte, an der garstige kleine Kreaturen hinaufkrabbelten, in der Hand behielte ...! Graf Thorstein, sprechen Sie ein Machtwort, diese junge Dame wird zu anmaßend!«
»Sie wird es, und das Schlimmste dabei ist, daß sie meistens recht hat. Auch mit dem Blütenzweig, der aussieht wie lebendige Juwelen, und, das bitte ich Eure Durchlaucht zu glauben, durchaus nicht sentimental. Es würde mir ganz gewiß nicht einfallen, Sie mit einem Vergißmeinnichtstrauß zu malen!«
»Nun, das beruhigt mich – auch nicht mit einem Lilienstengel?«
»Auch das nicht ... Durchlaucht gestatten, die Blumen duften herrlich, es sind Gewächse aus einem Märchenwald, die die Sinne betäuben, Becher, aus denen ein bezaubernder Trank quellen könnte.«
»Graf Thorstein, Sie werden poetisch, geschieht Ihnen das öfter?«
»Nur ungern und nicht mit Willen.« –
Harro steht neben Mama, und Mama hat sehr weiße Schultern und ein Leuchten in ihren braunen Augen, und die Blumen duften sehr stark. Und Harro muß ja auf die Schultern sehen, und wenn Mama sich vorbeugt, so sieht man die weichen Linien ihrer Brust unter der glühenden Seide. Harro braucht ziemlich lange, bis er die Blumen studiert hat und zu seiner Staffelei zurückkehrt. Und wieder hat die eingesperrte Biene das Wort, und man hört ihr wehklagendes und zorniges Summen durch den Saal. Und die gemalten Augen an den Wänden starren. wie der späte Nachmittagschein über sie hinflutet. Das Seelchen ergreift eine unsägliche Traurigkeit. Von irgend woher muß sie herabgekommen sein und sich wie feines Spinnweb auf ihr Herz gesenkt haben. Lautlos sitzt sie da und sieht nach dem auf- und abfliegenden und wieder ruhenden Pinsel ... da, der Gong ... Die Fürstin erhebt sich, achtlos läßt sie die herrlichen Orchideen zu Boden gleiten. Sie lächelt und neigt ihren hübschen Kopf ein wenig, ein gnädiges Nicken – eine junge schöne Dame, die sich ausgezeichnet amüsiert hat. So rauscht sie davon. An der Türe wendet sie sich, lächelt noch einmal, es bückt sich eben der lange Thorsteiner nach den Blumen, das Lächeln sieht er nicht. Aber das Kind hat's gesehen.
»Geh, Seelchen, hol den Blumen eine Vase,« sagt Harro abwesend. Das Kind geht lautlos hinaus mit ihren leichten schwebenden Schritten, als fürchte es sich, jemand zu wecken. Als sie wieder zurückkehrt, steht Harro an der Staffelei und malt in tiefer Versunkenheit, als bewegten sich seine Hände von selbst. Wohl eine halbe Stunde malt er so, und still steht das Kind neben ihm, die Händchen auf den Rücken gelegt. Plötzlich zieht sie ihn am Ärmel.
»Du mußt aufhören, Harro, es wird ganz dunkel.«
»Laß mich, du weißt doch, daß man nicht stören darf.«
»Aber du mußt aufhören! Mein armer, armer Papa! Es ist genug.«
»Seelchen, was wandelt dich an? Was verdirbst du mir meine schönste Malfreude! Ist das auch erlaubt?«
»Aber sieh doch, was du gemalt hast! Warum hast du meinem armen Papa eine solche Frau gemalt? Sieh, das Kleid wie Blut, und die fremden Giftblumen, und wie sie lächelt in den Mundwinkeln und weiß, daß, wem sie die Blumen gibt, sterben muß.«
»Du redest baren Unsinn heute, ›Giftblumen‹, Orchideen. Es sind gar keine Giftblumen... die Orchideen,« murmelt er ... Harro legt seine Palette hin und setzt sich auf den tiefen Stuhl, in dem die Fürstin saß. Fast mit einem Schlage – es zieht vielleicht eine Wolke über den Himmel – ist es dunkel geworden. Harro greift nach den Orchideenstengeln und hält sie in der Hand ...
»Tu sie weg, die Giftblumen,« sie will sie ihm aus der Hand reißen.
»Rosmarie, du bist heute eine unartige, gewalttätige kleine Dame und hast mir die schönste Malfreude verdorben. Wenn du mich nicht gestört hättest, heute wäre mir etwas gelungen. Eine solche Stimmung, und die kommt nicht wieder, es ist schwer genug gewesen, sie herbei zu bringen, sonst hätte ich nicht so lange an dem Kleid gepinselt.«
»Es ist doch fertig, dein Bild.«
»Fertig! Es war im besten Werden, und da ist eine Minute mehr wert als sonst eine Stunde.«
»Dann sieh selbst, daß es fertig ist.«
Und Seelchen läuft zu der Nische, wo die elektrische Leitung ist. Ein leises Knacksen, aus dem Halbdämmer strömt plötzlich goldiges Licht von dem großen Kronleuchter an der Decke. Sie gleitet den Saal entlang, da glühen die Birnen auf in den alten venezianischen Wandleuchtern, alle – bis der große Saal in ein Lichtmeer getaucht ist.
»Laß doch, Rosmarie,« aber sie ruht nicht, bis auch der letzte Schatten, der sich hinter einem der Pilaster oder Nischen bergen könnte, vertrieben ist. Der große Saal erstrahlt im Festglanz. Die Ritter und Damen stehen in dem Glast wie scheue Schemen, so viel Licht sind sie nicht gewöhnt. Aber das große Bild in der Mitte, das kann das Licht vertragen. Die Frau mit den Zauberblumen, an der die glühende Seide herabfließt, wie ein Gewand von schlimmen Feen gewoben und mit dem Blute Erschlagener gefärbt. Die Frau mit dem leisen Lächeln, halb verborgen ist es noch, es steigt erst herauf, von ihm wissen die Braunaugen noch nichts ... das grausame Lächeln der Mona Lisa ... Harro steht davor, so plötzlich aus dem halben Dämmer in das grellste Licht gerissen und starrt – und schlägt sich plötzlich die Faust vor die Stirne. »Seelchen, ums Himmelswillen, was habe ich da gemacht, aus welchem Abgrund kommt das herauf!«
Seelchen legt ihm plötzlich ein kühles Händchen auf seine Hand, wortlos, da faßt er sie um die schlanken Schultern, einen Augenblick hält er sie umschlungen: »Seelchen ... Du, Seelchen ...« Dann steht er auf: »Seelchen, sollen wir mit dem Terpentinlappen darüberfahren und den Greuel vertilgen?«
»O Harro, laß – laß, es ist dein schönstes Bild ...« – – –
Am andern Morgen begleitet das Seelchen ihren Vater in den Saal, wo er das Bild sehen will. Wenn der Vater es beachtete, so konnte er fast hören, wie das kleine Herz flattert. Was wird geschehen ... wird er furchtbar zornig sein und Harro nie mehr sehen wollen, weil er ihm ein solches Bild gemalt? Ihre Hände sind eiskalt und ihre Augen dunkel. Aber nichts geschieht. Papa ist erstaunt. Er sagt:
»Verrate es niemand, Rosmarie: ich habe gar nicht gewußt, daß Mama so schön ist. Und es ahnt mir, daß es ein großartiges Bild ist. Das kannst du Harro sagen. Aber es ist mir doch lieb, daß es nicht für den großen Saal ist. Es macht die andern Bilder so fahl. Harro hatte doch vielleicht recht, wenn er vom Stilisieren sprach. Er kann offenbar nicht recht stilisieren, so wie es sich für ein Porträt in einer Sammlung gehört.«
Die Fürstin ist sehr erstaunt, daß die Sitzungen nun plötzlich ein Ende haben sollen, eben wie sie anfing sich zu amüsieren. Und das Bild gefällt ihr unsäglich. Sie kann lange davor stehen und es bewundern. So gemalt zu werden, das ist doch die schönste Huldigung, die man darbringen kann. Dieser Thorsteiner ist ein stilles Wasser.
Nach einigen Tagen fragt das Seelchen ihren Vater: »Darf Harro Mamas Porträt nach München in die Ausstellung schicken? Er hat Frau von Hardenstein erzählt, sie hätten ihn aufgefordert, und es wäre eine Ehre für ihn, er habe aber nichts, was ihm genüge.«
Der Fürst hat nicht die mindeste Lust dazu, die Fürstin ist aber Feuer und Flamme dafür. Als schöne Frau sich einer bewundernden Welt zu zeigen, dies überträfe ihre kühnsten Träume. Der Thorsteiner soll oben rechts ein kleines Wappen malen mit dem Fürstenhut, dann kann es ausgestellt werden: Porträt Ihrer Durchlaucht der Fürstin B. Und was für eine Reklame gibt das für den armen Kavalier von einem Thorsteiner! Man muß ihm doch auch etwas voran helfen. Die Fürstin wird ganz mildtätig, und sie bekommt auch ihren Willen, und das Bild tritt seine Reise an. Vor ihrer Abreise reiten Fürst und Fürstin noch nach dem Thorstein hinüber und lassen den Hausherrn herausbitten, die Pferde wollen nicht halten ... Die Fürstin sagt lächelnd:
»Sie dürfen den Winter nicht in der Einsamkeit verbringen, Sie müssen nach Berlin kommen, wo Sie doch auch Anregung haben. Alle Künstler müssen nach Berlin, sonst gelten sie nichts, habe ich mir sagen lassen. Und wie viel schöne Damen werden sich von Ihnen porträtieren lassen wollen! Sie dürfen nicht abwehren. Lassen Sie mich nur machen. Ich sage auf Wiedersehen in Berlin!«
Und nun hält der feurige Goldfuchs wirklich nicht mehr, und sie stiebt davon, der Fürst ihr nach. Der wendet sich noch im Sattel ... »Es soll mich sehr freuen!« –
Rosmarie geht dieses Mal sicher mit nach Berlin. Die Fürstin seufzt zwar: »Die Luft bekommt ihr nie gut ... und es wird Schwierigkeiten haben, sie unterzubringen, da wir ja die Zimmer zu einem Wintergarten machen wollen ...«
»Für meine Tochter werden sich doch in dem ganzen großen Haus passende Räumlichkeiten finden,« sagt der Fürst eisig und ganz ohne seine gewohnte Höflichkeit.
Schon kann man die Braunecker Tage zählen, als Frau von Hardenstein sich bei der Fürstin, die sie sonst sehr ungern stört, melden läßt: Herr Stiftsprediger habe wegen des Konfirmandenunterrichts angefragt. Wenn die Prinzessin den Winter in Berlin zubringen werde, so wünsche er den Namen des dortigen Geistlichen zu erfahren, daß er sich mit ihm in Verbindung setzen könnte. Den letzten Unterricht werde die Prinzessin ja doch in Brauneck erhalten, und es sollte irgendein Plan der Unterweisung zugrund gelegt werden. Die Fürstin hatte mit allen Zeichen äußerster Langeweile zugehört, sie flocht Zöpfe aus den Fransen ihres Stuhles und gähnte kunstvoll und höflich durch die Nase. Plötzlich war sie ganz lebendig:
»Ich bitte Sie, Frau von Hardenstein, Rosmarie ist vorher schon verwirrt genug, – was werden da zwei geistliche Herren anrichten! Natürlich ist der eine orthodox und der andere liberal – und die arme Rosmarie mit ihren schon vorher verrenkten Ideen! Nein, das kann ich nicht gut finden. Ich werde mit dem Fürsten reden.«
Der Fürst ist ganz erstaunt, wie die Sache ihm vorgetragen wird. Ist es denn schon so weit – seine Kleine! Freilich, sie ist dreizehn, und der Unterricht geht über zwei Jahre, sie wird also fünfzehn ... Nein, zweierlei Unterricht soll Rosmarie gewiß nicht bekommen. –
Also wird der Herr Stiftsprediger zum Diner gebeten, und nachher, wenn die Herren zu einer Zigarre in die Sommerstube gegangen sind, kann die Frage mit ihm besprochen werden. Der Fürst kennt seinen Hofprediger und Seelsorger noch kaum. Er ist zwar schon einige Jahre da, aber der Fürst ist ja so selten daheim. Der allsonntägliche Predigtbesuch gehört wohl zu den Braunecker ererbten Gewohnheiten. Des Fürsten Vater hat seinen Erbprinzen, der an Sonntagen hie und da gegen die altgewohnte Sitte und milde Langeweile aufmucken wollte, stets abgefertigt: »Es gehört sich.« Gar zu regelmäßiger und gezwungener Besuch des Gottesdienstes ist nicht immer förderlich für die Gewohnheit des Aufmerkens; der Fürst hat selten eine bessere Gelegenheit gefunden, seinen Gedanken Audienz zu geben, als während der Sonntagspredigt. So kennt er also den Herrn Stiftsprediger recht wenig; es liegt ihm aber sehr daran, daß seine Tochter einen befriedigenden Unterricht bekommt. Er findet, daß einer Frau ein leichter religiöser Anhauch sehr wohl anstehe. Eine freidenkende Frau erscheint ihm auch ästhetisch unbefriedigend – vulgär.
Die Unterredung mit Hochwürden verlief aber etwas anders, als sich Serenissimus gedacht. Der Stiftsprediger fragt, ob die Prinzessin wohl die Kenntnisse habe, welche die Volksschüler schon mitbringen in den Unterricht? Herr Präzeptor habe sich gleich bei seinem Antritt von jedem Religionsunterricht dispensieren lassen ... und Frau von Hardenstein habe ihm gesagt, daß sie keinen Unterricht übernommen habe, sie fühle sich nicht vorgebildet genug ...
Der Fürst wird etwas ärgerlich und verlegen. Es ist nicht angenehm, seine Tochter unter dem Bildungsniveau der Volksschüler anzutreffen. Und allerdings bleibt da nur Miß Whart übrig, die ihm als eine sehr religiöse Dame gerühmt worden ist.
»Es schien mir eher zu viel Religion damals, als zu wenig ... Freilich, was meine Kleine davon behalten hat?«
Der Herr Stiftsprediger meint, es werde das einfachste sein, wenn er selbst der Prinzessin einige Fragen stelle, und danach werde er Seiner Durchlaucht einen Plan vorlegen, wie der Unterricht am besten zu gestalten sei. Der Fürst findet, daß sein Hofprediger ein umständlicher und pedantischer Herr sei, und überdies steigen ihm die dunkelsten Befürchtungen über Rosmaries fragebereite Wissenschaft auf.
»Meine Kleine, fürchte ich, wird etwas schüchtern sein, sie gewöhnt sich schwer an Fremde. – Auch drückt sie sich zuweilen etwas sonderbar aus. Darauf müssen Sie schon Rücksicht nehmen ...« Der Herr Siftsprediger lächelt auf eine besondere Weise und sagt:
»Ich glaube, daß Durchlaucht sich darüber beruhigen können. Ich habe von Herrn Präzeptor schon gehört, wie ungewöhnlich begabt und eifrig die Prinzessin ist.«
Der Fürst selbst sieht in diesem Moment nicht überwältigend geistreich aus. Hätte ihm der Herr Präzeptor etwas Ähnliches gesagt, so hätte er ihn für übertrieben höflich und zudringlich gehalten. Aber daß er sich andern gegenüber so geäußert, verwundert ihn sehr. Seine Kleine! Seine arme Kleine mit den konfusen Ideen sollte nun mit einem Male begabt sein!
Er teilte Rosmarie die Sache nicht ohne aufrichtiges Bedauern mit.
»Er wird dich etwas fragen, Rosmarie, und wenn du nicht viel weißt, geht es nicht ans Leben ... Schließlich wird der Herr Stiftsprediger dir schon etwas beibringen ... Und wenn die Fragerei ganz bedenklich werden sollte, so mußt du eben zu dem Mittel der Cousine Amy greifen.«
»Was tat die?«
»Sie war eine Waise und wurde mit uns erzogen. Wenn sie gefragt wurde, was ihr nicht paßte, oder wenn irgend etwas herausgekommen war, was wir gemeinsam verübt hatten, so fing sie herzbrechend zu weinen an. Ihr geschah dann immer am allerwenigsten, und ich muß sagen, sie hat sich trefflich durchs Leben emporgeweint.«
Rosmarie sieht ihren Vater bedenklich an, – das Mittel der Cousine Amy setzt eine schlimme Situation voraus.
Und nun ist der gefürchtete Augenblick da, der Herr Stiftsprediger sitzt in einem der tiefen Stuhle im Lernzimmer dem Kinde gegenüber. Frau von Hardenstein hat er gebeten, ihm die Kleine allein anzuvertrauen. Er ist lang und hager und hat sehr dunkle Haare, die ihm leicht ins Gesicht fallen, und eine gelbliche Haut. Seine tief liegenden Augen sind dunkelgrau und sehr still. Merkwürdig still für einen noch jungen Mann.
Des Fürsten schlimme Befürchtungen über Rosmaries Antwortfähigkeit sind eingetroffen. Von Propheten hat sie noch nichts gehört. Von Moses weiß sie nur, daß er in einem Babykörbchen schwamm und später Frösche regnen ließ. Wie viel Bücher das Alte oder Neue Testament enthält, ist ihr auch nicht bekannt. Vierundzwanzig englische Psalmen hat sie auswendig gelernt, ist auch bereit sie herzusagen, aber der Herr Stiftsprediger kann nicht englisch. Das Seelchen sucht verzweifelt in ihren Erinnerungen und findet nichts, was auf die Fragen paßt, und hat ein dumpfes Gefühl, als ob der Herr Stiftsprediger sich darum bekümmere, daß sie so dumm sei und nichts wisse. Ach, wenn man doch nach Griechen und Römern und deutschen Kaisern fragte und nicht nach den alten Juden! Und nun sagt ihr neuer Lehrer schon mit einer milden Hoffnungslosigkeit in der Stimme:
»Können Sie mir einen Spruch oder ein Gleichnis Jesu sagen?« Rosmarie gibt keine Antwort, es fallen ihr wohl Sprüche ein, aber ob die nun von Jesus sind? Und wieder sieht sie der Herr Stiftsprediger fast traurig an. Da überwindet sie sich, sie wird dunkelrot und sagt:
»Ich weiß Geschichten von Jesus.«
»Können Sie mir eine davon erzählen, Rosmarie, es muß ja nicht wörtlich sein.«
Rosmarie erzählt. Sie hat immer noch ihr hohes feines Stimmchen, das so leicht einen feierlichen Klang annimmt: »Ich will die Geschichte von Jesus erzählen, wie er so alt war wie ich. Es ist ein Fest gewesen in Jerusalem, und alle Leute gingen in die Stadt und trafen sich vor der großen Judenkirche. Alle, die man kannte, begrüßte man und freute sich und zog die großen Treppen hinauf, und Jesus und seine Eltern waren auch dabei. Und Jesus war noch nie dagewesen, und wie er hinein kam in die Kirche, da ging es ihm durchs Herz und er dachte: Bin ich nicht schon oft und oft dagewesen? Und er konnte nicht mehr reden und mußte auf den Zehen gehen und konnte nur flüstern. Aber die andern Leute kehrten sich nicht daran und sprachen laut miteinander, und die waren doch alle schon oft dagewesen. Und Jesus mußte an den Säulen hinaufsehen und nach dem großen Vorhang, wenn der sich ein wenig bewegte, und es tat ihm weh, daß die Leute so laut sprachen, und meinte, wenn es ganz stille wäre, so müßte er etwas hören und etwas sehen und es geschähe ein Geheimnis. Und so ließ er seiner Mutter Hand los und ging hinter die großen Säulen. Hinter denen waren wieder Säulen. Und so kam er in eine kleine Halle. Da saßen alte Juden und lasen in großen Büchern und sprachen so sanft miteinander. Da dachte er: ›Ach, vielleicht wissen die es, was da ist und mit mir geht, daß ich meine, ich müßte es hören und wissen und es bedrängt mich.‹ Da sagte einer der alten Juden: ›Was machst du für Augen, Junge,‹ und der andere sagte: ›Geh fort, Junge!‹ Aber wieder einer sagte: ›Laßt ihn da!‹ Da setzte sich Jesus hin und hörte, was sie sagten, und sie sprachen vom Himmel und von Gott. Und Jesus mußte sich wundern, denn er kam doch dort her und hatte es nur ein klein wenig vergessen gehabt, weil er ja ein kleines Kind gewesen war. Und das Herz schlug ihm, denn es war ihm, als wäre er nun wieder daheim und habe doch immer Heimweh gehabt und es nicht gewußt. Und die alten Juden waren sehr lieb mit ihm und gaben ihm Antwort, wenn er fragte. Aber Jesus Mutter hatte schon lange nach ihrem Sohn gesucht, und wie es Abend wurde, bekam sie Angst, denn Jesus war immer so gut gewesen und hatte sie nie betrübt. Und sie dachte, es ist etwas geschehen. Vielleicht hat ihn jemand Fremdes mitgenommen, weil er so schön und gut ist, oder sind Zigeuner da. Und sie fragte alle Leute: ›Habt ihr meinen Jesus nicht gesehen?‹ und lief alle Wege und konnte ihn nicht finden. Endlich ging sie wieder in die Judenkirche zurück. Da war es schon ganz dunkel, und alle Leute waren nach Hause gegangen. Sie ging an all den Säulen hin, und der Vorhang bewegte sich. Da kamen ihr die Tränen. Da sah sie ein kleines Licht zwischen den Säulen, dem ging sie nach. Da waren die alten Juden, und ihr Jesus dabei, und sie sah, wie ihr Jesus froh war. Da war sie froh und betrübt zugleich und sagte: ›Oh, warum hast du mir das getan? Dein Vater und ich, wir haben dich mit Schmerzen gesucht.‹ Da sagte Jesus: ›O Mutter, ich bin ja hier daheim.‹ Und Maria antwortete: ›Soll ich nun allein sein ohne dich?‹ Da ging Jesus wieder mit ihr nach Hause, und Maria mußte immerfort daran denken, was er gesagt hatte, und daß er nicht bei ihr daheim sei. Und alles mußte sie bedenken.«
Der Herr Stiftsprediger sitzt ganz versunken da, er hat sie kaum angesehen während ihrer Erzählung, und doch, wie er den Kopf herunter hängt und auf seine Hände blickt, da fühlt man wohl, daß er jedes Wort hört und daß sein Zuhören einen nicht stört. Und nun sieht er auf, und seine Augen sind nicht mehr traurig, nein, gar nicht.
»Rosmarie, Sie müssen die Worte Jesu, auch wenn Sie die Geschichte erzählen, wie sie Ihnen im Herzen aufgegangen ist, nie verändern. Halten Sie fest an den Worten, man muß sie so wiedergeben, wie Luther oder die andern großen Übersetzer sie uns gegeben haben. Wenn Sie einmal die Matthäuspassion von Bach hören, ich möchte es Ihnen wünschen, es wird Ihnen eine ganz neue Welt aufgehen, so werden Sie hören, daß die Worte Jesu, die gesungen werden, stets von den zartesten Geigentönen begleitet, wie mit Gold umwoben sind. Da hat ein großes Herz den innigsten Ausdruck für seine Andacht und Liebe gefunden. Denken Sie daran, wenn Sie ein Wort Jesu wiederholen. Diese Worte bringen ihre himmlische Melodie schon mit sich, wir können nur daran verderben. – Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist.«
Und Rosmarie wiederholt: »Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist.«
»Und nun wollen wir uns einen Plan machen, damit Sie auch erfahren, was uns die alten Juden gegeben haben.«
Am Abend kommt das Seelchen zu ihrem Vater, um gute Nacht zu sagen.
»Und wie ist's dir heute morgen ergangen?«
»Ich war sehr dumm und Herr Stiftsprediger war sehr traurig zuerst. Dann habe ich ihm einen Aufsatz über den kleinen Jesus gesagt, den ich einmal in mein blaues Heft geschrieben habe. Das ist nicht für den Herrn Präzeptor, und da darf ich alles hineinschreiben, was mich freut. Und das liest Harro jedesmal, wenn er kommt, und fragt: ›Was steht Neues in dem blauen Heft?‹ Harro ist sehr klug, Papa, aber den argen Fehler, den ich gemacht habe, hat er nicht gemerkt.«
»Aber der Herr Stiftsprediger! – Welch ein Glück, Rosmarie, daß nun jemand noch klüger ist als dein langer Freund: ich hatte gedacht, gegen ihn komme niemand auf.« Vater und Tochter sind in dem Fürstenzimmer, der Sommerstube, die so heißt, weil sie eine sehr schöne Stuckdecke besitzt, auf der im Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts der Sommer als schöner Jüngling mit Ährengarbe und Sichel abgebildet ist. Die Sommerstube geht nach dem Tale zu, und man sieht so schön hinunter auf das Dorf, den Fluß im sanften Bogen und die Waldberge. Über des Fürsten Schreibtisch hängt nun das Bild des Seelchens, dem sie schon leise zu entwachsen anfängt und das ihrem Vater immer teurer geworden ist.
»Papa, von der himmlischen Melodie hat Harro nichts gewußt.«
»Also dein Lehrer ist eine Nummer über den unvergleichlichen Harro hinaufgekommen. – Nun, ich weiß jetzt, wie man bei dir daran ist ... dem Herrn Stiftsprediger ist es gelungen, dich so zu gewinnen, daß du an deinen alten Freunden Fehler findest.«
Rosmaries Augen stehen voll Tränen. »Hab ich das getan?«
»Ich bitte dich, Kleine, sei nicht so weichmütig. Harro ist sakrosankt, und es freut mich, daß dich der Unterricht nicht schreckt. Und laß mich auch dein blaues Heft sehen.«
»Ich habe auch ein rotes Heft, Papa, für mich ganz allein.«
»Das Harro nicht zu sehen bekommt?«
»Wenn er wollte, schon. Aber er will nicht. Er will nichts davon hören, und Frau von Hardenstein auch nicht.«
»Von dem roten Heft?«
»Nein, von dem, was darin steht.«
»Ja und ich? Will ich auch nichts davon hören?«
Seelchen sieht ihren Vater zweifelnd an. »Vielleicht wirst du auch böse sein!«
Der Fürst lacht: »Bring mir dein rotes Heft, das nicht einmal Harro kennt, wenn du glaubst, daß ich vertrauenswürdig bin. Dein allertiefstes Geheimnis!«
»Papa, aber lachen darfst du nicht. Es tut mir weh. und es ist auch den andern gegenüber nicht recht.« »Was werd ich. Nein, ich fühle mich sehr geehrt, wenn ich dein Geheimnis empfangen darf. Lege mir dein rotes Heft auf meinen Schreibtisch. Nun geh, da ist der Gong.« – – –
Die Fürstin gähnte heute besonders ausdrucksvoll und verzweifelt über ihrem Roman. Der Unterhaltungsstoff pflegte an den Abenden auf dem Lande überraschend schnell zu versiegen. In der Stadt, ja da wäre man heute in die Oper gefahren, oder noch lieber in den Zirkus, oder man hätte selbst Gäste. In Brauneck nahmen die Abende leicht etwas Bleiernes an.
Die Fürstin erhob sich plötzlich. Den Roman konnte sie eigentlich auch im Bett lesen, und schlief sie darüber ein, so war sein Zweck aufs beste erfüllt. Wenn nicht jedes Gastbett besetzt ist, so ist so ein altes Schloß ein unsagbar melancholischer Aufenthalt an einem trüben Herbsttage.
»Ich will morgen früh reiten.« Der Fürst öffnete ihr höflich bedauernd die Türe.
»Schon so früh?«
»Du weißt ja, wie es in Berlin wird. Man muß Vorrat schlafen.«
Der Fürst stand noch an der Tür, bis die glänzende Erscheinung verschwunden war. Dann knipste er sofort eigenhändig alles Licht aus und steuerte im Dunkeln nach der Tür und in sein eigenes Zimmer. Es sah wie eine Flucht aus.
»Das neue Zeug,« murmelte er, »man kommt sich ganz von Möbelhändlers Gnaden vor. Ein Glück wenigstens, daß man die Wände stehen lassen muß.«
Die Sommerstube leuchtet auf, er zündet sich eine Zigarette an. Da liegt auf seinem Schreibtisch ein rotes Heft, ein grünes Band ist darum gebunden, darin steckt ein blutroter Ahornzweig. Er lachte behaglich auf: Rosmaries Geheimnisse. – Es tat ihm wohl, daß er der einzige Empfänger war. Freilich, Harro hatte nur nicht gewollt. Aber an das dachte er nicht mehr. Ein goldenes Band unter dem grünen! Diese kleinen Damen! Etwas ganz Wertvolles muß für sie in dem Schulheft stecken! Und es ergreift ihn eine leichte Besorgnis, was er wohl alles findet. Diese Freundschaft mit dem langen Thorsteiner – dreizehn Jahre war sie jetzt alt ... Himmel, schon dreizehn. Man vergaß es immer wieder über dem Kindergesicht ... Manche jungen Damen fangen da schon mit Gefühlen an. Hatte er nicht als Fünfzehnjähriger der dreizehnjährigen Forstmeisterstochter über die Mauer hinüber die von der Tafel gesparten Bonbons in einer aus seinem schönsten Kronenbriefpapier gedrehten Tüte hinüber geworfen! Wenn er nun genötigt wäre, nach diesen Enthüllungen, der Freundschaft mit dem langen Thorsteiner ein mehr oder weniger sanftes Ende zu bereiten. – Sehr unangenehm das – aber immerhin besser. – Nun, wir wollen sehen ...
Die Freunde – das war der Titel. Sorgfältig geschrieben mit klarer Steilschrift und eingerahmt von einem Kranz aufs zierlichste und reinste aufgeklebter Gräschen und Mooszweige. »Das klingt zärtlich ... die Freunde ...«
»Es gibt ein Geheimnis. Nicht alle Leute wissen es. Manche sagen ›Lügen‹, manche lachen, manche grauen sich. Es gibt Leute im Schlosse, die auf ganz leichten Füßen gehen und keinen Schatten werfen. Aber man muß schon ganz klug und groß sein, wenn man das merkt. Denn die Freunde sind wie andere Menschen, nur schöner und freundlicher. Aber dann wollen die Leute immer nichts gesehen haben, und das Kind lügt. Oder sie sagen: Gespenster. Gespenster sind aber schreckliche tote Leute, die längst schon starr und weiß in ihren Särgen liegen und die Böses getan haben und darum nicht ruhig schlafen können, bis sie der liebe Gott wieder aufweckt. Ach, wie müßte man sich vor denen fürchten! Wenn man nur daran denkt, so graut es einem, daß man nicht sich über den Prinzessinnengang traut, wenn es dämmert und die Bilder Augen machen. So sind die Freunde nicht. Die Freunde sieht man nicht immer, auch wenn sie da sind, aber man fühlt sie. Dann ist alles auf einmal viel schöner, der Himmel ist blauer und ein Sonnenstrahl auf einem goldenen Rahmen, das macht einen so froh, daß man es nicht sagen kann. Und alle Menschen muß man lieber haben, und mit den ganz langweiligen hat man Mitleid, weil sie ja doch nichts dafür können, daß sie die Augen nicht haben. Wenn man die Freunde nicht hätte, wäre man ein böses und hartnäckiges Kind. Wenn man immer zu einem sagt: ›Lügen‹ und ›du Armes‹, da wachsen einem böse Gedanken, Brennesseln und Stechranken wachsen einem. Und es sollen einem doch Lilien und Rosen und kleine Waldveilchen wachsen. Zwei von denen, die auf leichten Füßen gehen, liebe ich am meisten. Es ist der Schönste und Sie. Wenn der Schönste da ist, muß ich immer lachen, und ich werde froh und möchte tanzen, dann sagen sie: ›Was hat die Kleine? Heute ist sie ganz lustig und ein wenig närrisch.‹ Sie wissen eben nicht, wie einem die Freude im Herzen lachen kann. Wenn Sie da ist, weine ich manchmal. Und es ist, als hätte ich in der Nacht geschlafen und da wäre die Himmelstüre aufgegangen und ein Hauch daraus gekommen über mich. Der Schönste hat einen grünsilbernen Rock und Bänder und Kettchen und Spangen. Er hat lange dunkle Haare, die sich unten ein wenig locken und über der Stirn auseinandergehen. Er sieht dem griechischen Eros im blauen Zimmer ähnlich, nur hat er ein kleines Bärtchen. Er hat ein hölzernes, angemaltes Vögelchen an einer Kette an seinem Halse hängen. Er hat auch eine Geige und ein Ding, das hinten ein rundes Bäuchlein hat. Mit all diesen Dingen macht er Musik. Wenn man sie nur hörte. Aber man hört sie nur, wenn man am Einschlafen ist und wenn Hochzeit in der Linde ist. Von ihm habe ich den Lilientanz gelernt. Von Ihr lerne ich vielleicht auch etwas. Aber es ist alles noch viel zu schwer für mich, weil ich doch noch klein bin. – Kann ich denn Mama wirklich lieben und sie nie ärgern und nie Schlimmes von ihr denken! Wenn Harro Sie sehen könnte, so würde er das schönste Bild der Welt malen. Aber Harro sieht Sie nicht, und man darf auch nicht mit ihm von Ihr reden, auch nicht von dem Schönsten, es ist verboten. Darum schreibe ich in das Geheimbuch alles, was ich weiß von den Freunden. Als ich so klein war, daß ich noch in dem gelben Gitterbett mit der Rosendecke schlafen konnte, habe ich Sie zuerst gesehen. Ich lag in meinem Bett, und es war schon ein wenig Tag und die Farben fingen schon an zu tanzen, wie sie es morgens tun, wenn man aufwacht. An meinem Bett stand ein grünseidener Schirm, er kam dann fort, weil Fräulein Braun ein Loch hineingebrannt hatte. Nach der Wand sah ich immer morgens, weil die Farben auf ihr am nettesten tanzten. Mit einem Male war die spanische Wand weg – fort. Da war eine finstere Halle mit dicken plumpen Säulen. Die Wände waren grünschwarz mit Steinen, die heraushingen. Ein kleines gelbes Licht war da und ein böses rotes Licht. An der vorderen Säule stand Sie. Sie war ganz weiß und ihre Haare waren offen und fielen über ihre Schultern bis zu den Knien. Sie hat das schönste Gesicht. Ach, niemand sieht nur ein wenig so aus, daß ich Harro sagen könnte: so ist Sie! Ihre Haare sind dunkler wie die meinen, und Harro trägt sie in seinem Ring von Gottes Willen. Er meinte, es seien die meinen und ich hätte sie ihm hineingetan. Sie ist eine Königin. Ich sah sie an, da fing ich an zu schreien. Es hingen ihr die Hände herunter und es war ein Schmerz dabei, daß sie da unten sein mußte, ein furchtbarer Schmerz. Da kam die Babette und holte mich und sagte, ich hätte geträumt, und es war die grüne Wand wieder da.
Einmal sah ich Sie auf dem Lindenstamm mit dem Schönsten, als es Mittag war und so heiß und still, und die Linde blühte. Manchmal ist Sie wohl in der Nacht bei mir gewesen, ich muß stark an Sie denken. Einmal war Sie böse mit mir. Als ich auf den Steinplatten lag. Da stand Sie einmal unten an meinem Bett, und da sah ich, daß Sie breite rote Streifen an ihren Armen hat. Die roten Streifen aber nicht, wie wir sie alle haben. Sie sehen nicht aus wie bei uns, mir und Papa. Es waren tiefe Ringe wie Narben.
Nun muß ich von Schloß Schweigen erzählen. Dahin ging ich mit Papa und Mama. Eigentlich sollte ich mit Harro gehen, und er hatte es mir versprochen. Sonst hält er immer seine Versprechungen, aber das hat er nicht gehalten. Vor dem Schloß Schweigen ist ein Brunnen, daraus müssen wir trinken, weil es der Feenbrunnen ist. Und weil Sie daraus getrunken hat. ›Gisela, Gisela,‹ rauscht das Brünnlein. Ach war ich erstaunt, als ich Ihren Namen hörte! Ihre Nähe fühlte ich, und nun kannte das Brünnlein Sie und wußte Ihren Namen. Papa trank daraus und ich aus dem gleichen Becher, und immer murmelt das Wasser ›Gisela, Gisela, Gisela‹. Da ging ich mit Papa in die große Pforte hinein. Da saß der Schönste auf dem Treppenplatze, wo es hinauf geht, unter dem kleinen Fenster, und hielt seine Geige vor sich und ließ die Beine hängen. Ich sah ihn an, aber er kannte mich nicht. Dann ging ich die Treppe hinauf und die Stufen knarrten, als wollten sie etwas sagen und könnten nicht. Als ich in die Zimmer hineinkam, da wußte ich, daß ich schon oft dagewesen war. Schon oft. Als noch die blauen Männlein über den Türen auf dem Gebälk saßen und an Stricken von der Decke hingen. Ganz leise mußte ich gehen, und es war mir schrecklich, daß Mama so laut war und sagte: ›Es riecht nach Geistern.‹ In den Stuben wußten viele Dinge von Ihr. Nicht alle. Aber der Spiegel in dem dunkeln Rahmen hatte Ihr Gesicht gesehen und wiedergegeben und vielleicht verzerrt er darum alle Gesichter jetzt, weil ihm keines mehr gefällt. Ich sollte Tee trinken, aber ich konnte nicht essen, es schlug mir das Herz. Da ging ich durch die Stuben – da war eine Tür offen, da sah ich Sie. Ich zitterte, daß ich mich an der Tür halten mußte. Es hing ein blaues Männlein von der Decke und hielt den Finger an die Lippen, als wollte es sagen: Schweige! Davon heißt ja das Schloß. Da stand ein großes Himmelbett, daran hingen die schönsten Vorhänge von sanft blauer Seide, die waren mit bunten Blumen bestickt. Auf dem Bette lag Sie und hatte eine gelbe seidene Decke über sich. Ihre langen goldenen Haare lagen auf den Kissen und fielen auf den Bettrand hinunter. Ihre Hände waren ganz weiß und fein wie die Blüten vom Waldklee und auch mit blauen Linien. An dem Handgelenk lief der rote Streifen, und man sah wohl, es waren schreckliche Narben. Sie lag ganz weiß und still da und Ihre Augen waren zu und Sie war wie ein Grabmal von Marmor und Gold. Ich dachte, Sie ist tot, da ist Sie gestorben. Sie war nicht allein. Es war da eine kleine freundliche alte Frau mit einem Spitzenhäubchen, das in die Stirne ging. Ein alter Herr mit weißem Haar, mit einer roten Narbe über der Stirne. Der alte Herr sah aus wie ein Herr Stiftsprediger, er hatte auch den weißen Kragen an und schwarze Strümpfe und Schnallenschuhe. Da gingen der Gisela wieder die Augen auf, und ich sah, daß Sie nicht tot war. Sie hob den Kopf ein klein wenig und sah nach dem Männlein hinauf und lächelte, als wenn Sie und es etwas miteinander hätten. Wenn man gesehen hat, wie Sie lächelte und zu dem hölzernen Männlein aufsah, das vergißt man im Leben nicht. Sie sah mich an und kannte mich nicht, wie mich auch der Schönste nicht gekannt hatte. Da schlug der Wind die Türe zu, und wie Papa die Türe wieder aufmachte, da war alles ganz verändert. Kein Männlein hing von der Decke, nur das Bett war noch da und der Spiegel, in dem sich der alte Herr Stiftsprediger gespiegelt hatte. Die Vorhänge waren grau geworden, die schönen Blumen verblichen. Die gelbseidene Decke war an den Rändern gefranst und die Wände nicht mehr weiß und braun.
Sehr oft muß ich denken, wie kam Sie, die doch eine Königin war, in die Halle mit den Säulen, und wer hat Ihr das Zeichen auf ihre feinen Arme gemacht? Warum saß der Schönste auf der Treppe und ließ die Beine hängen und war nicht bei Ihr? Wie kam Sie nach Schweigen? Warum habe ich Sie so oft in einem silbernen Kleid gesehen in Brauneck, das rauscht und flirrt und im Mondschein an ihr herunterfließt wie Wasser mit kleinen Wellen?« – – – Der Fürst schob das rote Heft von sich und schaute auf. Über ihm hing der schöne Sommerjüngling und wies mit seiner Sichel herunter auf den letzten fliehenden Streifen Mondschein auf dem Boden. An seinem Arme klirrte das goldene Armband, das ihm die junge Fürstin geschenkt.
»Lächerlicher kindischer Plunder,« murmelte er vor sich hin. – »Soll man die Sklavenkette auch noch sehen!« Er drückte auf das Schloß, das ging nur schwer, daß er mit seinen stählernen Reiterhänden daran zerren mußte. Es wich ein Glied, er konnte es abstreifen. Er öffnete eine kleine Kassette und warf das Armband achtlos hinein. An seinem kräftigen und doch feinen Gelenk, das so schön zu den schmalen festen Händen paßte, erschien, durch das Zerren in ein dunkles Rot getaucht, das alte Zeichen. Sollte das wirklich das Denkmal eines alten Unrechts, fast einer alten Schande sein! Es hatte immer als seltsam treubewahrtes Spiel der Natur gegolten, wie etwa die hängende Unterlippe der Habsburger. Keine Überlieferung war ihm zu Ohren gekommen, die versucht hatte, das alte Zeichen zu deuten.
»Ich muß morgen doch mit dem Thorsteiner sprechen. – Das blaue Männlein hat er mir doch aufgefunden. Ich muß ihn fragen, was er von diesen Dingen hält. Ob es wohl ererbte Erinnerungen gibt? Ich kann die Kleine und ihren Freund wohl ruhig den Winter über beisammen lassen. Es ist ja viel besser im Grunde für sie als Berlin und Charlotte, die sich gar nichts aus ihr macht!
O Wunderliches! Ich möchte dich immer mehr gewinnen. Ich danke dir für dein Geheimnis.«
Und er sah auf zu dem geheimnisvoll lächelnden Seelchen, um dessen Hände fein wie ein Hauch der rote Streifen lief, wie um die seinigen ...
Es ist ein schöner und stiller Winter in Brauneck. Rosmarie läuft Schlittschuh auf dem Fluß, wo es sicher ist, und geht mit Eifer in ihren Konfirmationsunterricht. Sie läßt ihre Haare nicht mehr offen hängen, sie werden schon zu lang dazu. Sie bekommt zwei breite Zöpfe geflochten, die mit einem Band vereinigt sind, und ein dunkelblaues Schulkleid mit Mantel und Kappe. Frau von Hardenstein begleitet sie bis an den Eingang der Kirchenstube, die hoch und dunkelgetäfert ist und in der die langen schwarzen, mit weißer Schrift bemalten Tafeln hängen. Die Namen der längst verstorbenen Hofprediger, Speziale und Stiftsprediger stehen darauf, alle mit weißen Kreuzen hinter den Namen. In Brauneck war einst ein Chorherrenstift gewesen, das die alten Braunecker Herren begründet hatten. Der jetzige Prinzessinnenbau, ein schönes, steinernes Giebelhaus, war das Stift gewesen. Nun lebte von allem nur noch der alte Titel fort. Der erste Name ist aus dem Jahre 1588.
Alte Holzkästen, roh, unangestrichen, stehen da, und es wäre sehr interessant, in sie hineinsehen zu dürfen. Auf dem Pulte, der auch von rohem Tannenholze ist, steht ein großes altes geschnitztes Kruzifix, überall an den Wänden, dem Pulte, sind ungezählte Tintenflecke und -Spritzer. Rosmarie wunderte sich im stillen, warum es wohl hier Tinte geregnet habe. Sie sitzt mit den Mädchen auf der hinteren Bank, die Knaben sitzen vorne. Rosmarie liebt bald die alte Kirchenstube aufs innigste. Es ist eine ganz besondere Luft da. Ein kleines braunes Kachelöfchen mit Löwenfüßen muß mit buchenen Klötzen gefüttert werden. Dann brummelt es vor sich hin und hat ein feuriges Äuglein und streckt plötzlich eine lange goldene Zunge heraus. Die beste Schülerin, die Erste, wie sie genannt wird, hat das Ehrenamt, den Ofen zu füttern. Es wäre Rosmaries höchster Ehrgeiz, einmal mit diesem Amt betraut zu werden. Aber mit einem Seufzer der Beschämung gesteht sie sich, daß sie dies hohe Ziel auch wohl bis zum nächsten Jahre nicht erreichen wird. Die andern Kinder, namentlich die Mädchen, wissen so viel.
Nach dem Unterricht wird gebetet, und nun kommt ein stolzer Augenblick. Rosmarie wird nicht abgeholt, sondern geht mit den andern Mädchen in breiter Reihe den Weg zum Schloß hinunter. Die Mädchen haben wohl zum Teil einen andern Weg, aber ihre Bank begleitet sie immer bis zur Schloßbrücke. Weiter trauen sie sich nicht, denn da gehen schon die Schokoladefarbenen. Zuerst sprechen sie nichts miteinander. Rosmarie wagt nicht anzufangen und die andern auch nicht. Aber einmal ist Postmeisters Eugenie so freundlich und zeigt Rosmarie in der Stunde eine Bibelstelle, die in ihrer Bibel absolut nicht zu finden war. Und nun ist das Eis gebrochen. Auf dem Heimwege sprechen schon alle durcheinander wie die jungen Vögel. Die Zöpfe fliegen und die Röckchen, und die Zungen stehen keinen Augenblick still. Rosmarie sagt am wenigsten, aber sie lächelt zu dem, was die andern sagen, und hört so eifrig zu, als habe sie im Leben nie Interessanteres gehört, als daß Apothekers Julie den schlechtesten Aufsatz gemacht habe, und daß es bei Notars ein kleines Kind gebe. Ein Kinderwagen stehe schon im Hausflur, ganz weiß mit vergoldeten Knöpfen.
Und eine ganz Kühne will wissen, ob es wahr sei, daß Rosmarie zum Frühstück immer Schokolade mit Schlagsahne und gefüllte Krapfen bekomme und jeden Tag alles frisch von Kopf bis zu Fuß anziehe. Zu der Schlagsahne will sich nun Rosmarie nicht bekennen, aber sie sagt errötend:
»Man kann doch nur frische Wäsche tragen.«
Rosmarie bemüht sich, ebenso mit den Zöpfen zu schlenkern und die Bücher hin und her zu schwingen wie die andern Mädchen. Wenn sie aber einen Spruch aufsagen soll, so grinsen die Buben und kichern die Mädchen. Es klingt so kurios. Als wollte sie zu singen anheben, und so hoch! komisch ist's. Rosmarie strengt sich sehr an, um den schulmäßigen Leierton, mit dem die andern aufsagen, herauszubringen. Als es ihr aber zum erstenmal gelungen ist, einen Spruch schier wie Postmeisters Eugenie herzusagen, da runzelt der Herr Stiftsprediger die Stirne und sagt:
»Rosmarie, wo sind Ihre Gedanken? Sagen Sie erst wieder einen Spruch auf, wenn Sie auch etwas dabei denken wollen.«
Rosmarie setzt sich glührot nieder, mit Mühe hält sie die Tränen zurück. Herrn Stiftsprediger zu erzürnen ist ihr furchtbar. Sie muß sich so bitterlich schämen, daß sie am Schluß nur nach ihrem Mantel greift, ihre Mütze vergißt und allen voranläuft in ihr bergendes Schloß. Und dreimal übergeht sie beim Aufsagen der Herr Stiftsprediger: welchen Schmerz er ihr damit bereitet, kann er freilich nicht wissen. Ihr Lehrer bekommt einen Platz in ihrem Herzen gar nicht so sehr weit unter Harro. Dem Thorsteiner wird es langweilig, immer nur von der Kirchenstube zu hören. Frau von Hardenstein bekommt den ganzen Unterricht zu Hause noch einmal erzählt, fast Wort für Wort, mit jedem Stirnrunzeln und Innehalten und wann Herr Stiftsprediger Rosmarie bei einer Stelle besonders angesehen hat. An Ostern ist leider der schöne Unterricht zu Ende. Apothekers Julie und Postmeisters Eugenie werden konfirmiert und Rosmarie wird im nächsten Jahr auf die erste Bank vorrücken. Wenn Rosmarie nicht eine Prinzessin wäre, so dürfte sie gewiß auch den Ofen schüren, meint die zweite Bank. Und dann ist alles, wie es vorher war. Rosmarie geht nicht mehr mit den Mädchen in Reihen über die Straße. Die grüßen sie scheu, und wenn sie mit Frau von Hardenstein bei ihnen stehen bleibt, so wissen sie nicht viel zu sagen.
Papa kommt und später Mama, und die bringt eine Masse schöner Toiletten mit und eine französische Kammerfrau. Und einen ganzen Vetternschwarm. Kein Mensch kann mehr Vettern haben als Mama. Harro läßt sich gar nicht mehr blicken, so wenig freuen ihn die Vettern. Die auf die Jagd gehenden, die Klavier spielenden, die Scheiben schießenden, die mit dem Kodak herumlaufenden und knipsenden Vettern, sie freuen ihn alle gleich wenig. Zum Glück bleibt wenigstens der Lindenstamm, Rosmaries eigenstes Reich, vetternfrei. Papa hat Falten auf der Stirne und müde Augen. Aber als Mama in Bayreuth ist, werden doch ein paar Feste gefeiert, der Lilientag und eine wunderbare Ausgrabung seltsamer Altertümer auf der Römerwiese. Und zum erstenmal festet Papa mit, und zu Rosmaries größtem Erstaunen gehört er zu den Menschen, die Feste feiern können. – Wenn man ihn allein hat! –
Im Herbst gehen Fürst und Fürstin nach Tirol auf die Gemsenjagd, und Harro ist auch eingeladen mitzugehen. Und er möchte sehr gern, kann aber die Einladung nicht annehmen, weil ein Hamburger Herr Fresken für seinen Saal bei ihm bestellt hat und er dorthin reisen muß. Und dann wird es wieder sehr still in Brauneck. Der Fürst hat gehofft, seine Tochter wenigstens bis Weihnachten bei sich haben zu dürfen, aber diese junge Dame hat plötzlich angefangen zu wachsen. In zwei Monaten ist sie eine Handbreit gewachsen, als der Fürst von Tirol wiederkommt, entsteht allgemeines Entsetzen. Mama will sich ausschütten vor Lachen. Rosmarie wird eine Riesendame, eine Riesendame mit Entenfüßen, wenn das so weiter geht.
Der Herr Hofrat wird konsultiert und meint, es könne sein, daß sie nun ihre Höhe erreicht habe, verlangt aber Vorsicht und größte Schonung, weil das Herz doch nicht ebenso schnell mitwachse. Rosmarie bleibt also in Brauneck und kehrt sich leider nicht an Herrn Hofrats Ausspruch, sondern wächst ruhig weiter. Und nun beginnt der Unterricht wieder. Wer den Ofen füttern darf, gegen diese einst so brennende Frage ist Rosmarie äußerst kühl geworden. Sie erzählt auch nicht mehr den ganzen Unterricht mit jedem Stirnrunzeln und Aufseufzen des Herrn Stiftspredigers wieder, sie ist ganz still darüber.
Harro ist wieder von Hamburg zurück und sehr beglückt über seinen Auftrag. »Das hebt den Bau bis zum ersten Stockwerk aus dem Boden, Seelchen.«
Rosmarie macht eine kleine frostige Miene, die man noch nie an ihr gesehen hat. »Ich freue mich gar nicht, wenn du dem Hamburger die Wände malst. Wie darf der sagen: malen Sie mir meine Wände! – Du hast selbst bald Wände, die du malen kannst.«
»Wo sind, bitte gefälligst, die Wände, die ich malen kann? Und haben vielleicht Euer Durchlaucht von einem gewissen Michel Angelo gehört, der auch Wände für Wochenlohn und freie Station gemalt haben soll?«
Rosmarie wird dunkelrot. –
»Ich mag doch den Hamburger nicht. Wenn es Bilder wären, – aber Wände, die kann man ihm nicht mehr nehmen.«
»Wer wollte das? Dieser Hamburger ist ein feiner und großartiger Mensch. Der Festsaal, den ich malen soll, liegt über der Elbe, und man sieht die Schiffe durch die weiten Bogenfenster vorbeiziehen. Und er läßt mir jede Freiheit, nur möchte er meine Skizzen zuvor sehen. Wenn er das erste nicht gewährte, möchte ich nicht für ihn arbeiten: wenn er das zweite nicht verlangte, auch nicht.«
»Wie lange wirst du in Hamburg sein?«
»Wohl den ganzen nächsten Sommer. An Ostern gehe ich nach Paris, ich brauche einige Modellstudien.«
»Ja, warum dorthin? Warum mußt du deine Modellstudien in Paris machen?«
»Das muß ich, hier gibt es keine Modelle.«
»Sind die Leute in Paris so viel schöner?«
»Hier gibt sich niemand zum Modellstehen her, und wer hat denn von den Menschenkindern hier noch einen unverkrüppelten Körper?«
»Harro, warum verkrüppelt man sich denn?«
»Weil es für schön gilt.« »Harro, ist dieses Gesprächsthema so sehr passend?« warf Frau von Hardenstein ein. »Wichtig wäre es schon, Frau Mutter, aber möglicherweise unpassend. Übrigens bescheide ich mich, ich bin nur gefragt worden.«
Aber Rosmarie ist ebenso hartnäckig wie früher.
»Bin ich auch schon verkrüppelt?«
»Du nicht, nein.«
»Dann will ich es auch nicht werden.«
Frau von Hardenstein erhob sich: »Harro, ich meine, wir gehen definitiv auf ein anderes Thema über; bitte, begleiten Sie mich ins Säulenheim, ich möchte Ihnen etwas zeigen, was mir meine Kinder geschickt haben. Rosmarie, ich glaube, Sie haben noch zu lernen.«
Im Säulenheim legte Frau von Hardenstein ihre Hand auf Harros Arm.
»Bringen Sie mir das Kind nicht in zu viel Widersprüche mit ihrer Umgebung. Sie glauben nicht, was sie um der Schuhe willen alles hat anhören müssen. Und nun noch mehr Eigenheiten.« Harro blickte schuldbewußt.
»Das möchte ich nun freilich nicht, daß sie damit geplagt würde, aber ich meine, die Erhaltung eines gesunden und schönen Körpers sei immerhin einige unangenehme Augenblicke wert.«
»Ach, Sie übertreiben! Wenn man Sie hört, könnte man meinen, wir seien alle krank und häßlich. Aber streiten wir nicht mehr. – Ich muß mich jetzt an den Gedanken gewöhnen, daß wir Sie nun nicht mehr so schön in der Nähe haben werden. Wie schnell sind die Jahre dahingegangen ...« seufzte sie.
»Für mich auch. – Bis ich nun lerne, mich wieder in einen Höhlendachs zurückzuverwandeln.«
»Harro, Sie wollen uns doch die Freundschaft nicht kündigen? Wir sehen Sie vielleicht nicht mehr in der gleichen, ach, so gemütlichen Weise, aber darum ...«
»Sehen Sie, Frau Mutter, wie Sie anfangen zu nuancieren ... Ich bin aber nicht der Mann der Nuancen, wenigstens in meinem freundschaftlichen Verkehr nicht. Erinnern Sie sich, was Sie zu mir unter demselben Säulenschatten sagten: Man wird Ihnen eines Tages zu verstehen geben usw. Nun, ich erwarte diesen Wink nicht. Ich verschwinde schon vorher. Es wäre mir entsetzlich, wenn mir der Fürst einen berechtigten Vorwurf machen könnte. Rosmarie ist noch ein Kind, das können Sie an ihren direkten Fragen sehen ... sie ist nur lang gewachsen. Es kommen die Jahre, wo sie zu leben beginnt, bis jetzt hat sie nur geträumt. Ich glaube nicht, daß sie mich vergessen wird: bin ich aber in diesen Jahren aus ihrem Gesichtskreis getreten, so werde ich in ihrer Erinnerung zu den guten alten Onkels gesellt werden, die sind ungefährlich.«
»Harro, wenn Sie recht hätten. – Freilich ist Rosmarie noch ein Kind, aber ihre Liebe zu Ihnen –«
»Warum sollte ein liebes Kind den guten alten Onkel nicht lieb haben? Liebe Frau Mutter, hätte die Rosmarie ihr Wachstum vernünftig eingeteilt und hätte sie sich nicht in den Kopf gesetzt, plötzlich emporzuschießen wie eine Hopfenranke, so wären uns diese Gedanken gar nicht gekommen. Aber da sie nun ein so langes Kind ist ...«
»O Harro, Sie haben mir das Herz schwer gemacht. Sie haben ja recht. Aber meine arme Rosmarie!« – – –
Rosmarie soll nun eingesegnet werden. Es ist schon längst kein Zweifel mehr, wer die Erste ist. Auch wenn die Rosmarie keine Prinzessin wäre, das gibt sogar die Bubenbank zu. Der Herr Stiftsprediger hat eine eigene Art, ihren Namen aufzurufen und sie anzusehen, wenn sie spricht. Sie ahmt auch nicht mehr den Schulton nach, sie hat immer noch ihre hohe Kinderstimme, aber es lacht keines mehr über sie, obgleich sie nach Ansicht der Mädchenbank zuweilen die seltsamsten Sachen sagt. Der Herr Stiftsprediger scheint es aber nie sonderbar zu finden, sondern er nickt ihr zu:
»Das ist also Ihre Auffassung, Rosmarie.«
Doktors Elisabeth, die das Lehrerinnenexamen machen will und einen brennenden Ehrgeiz hat, sagt zu der kleinen dicken Berta Schlicht neben ihr: »Die Rosmarie hat immer eine ›Auffassung‹. Das kommt, weil sie vom Schloß ist: wenn ich oder du etwas sagen, dann ist's keine Auffassung, dann ist's falsch.«
Aber die kleine Dicke schüttelt den Kopf: »So ist der Herr Stiftsprediger nicht. Das ist dem einerlei, ob sie auch vom Schloß ist, aber weil es der Rosmarie immer so arg ernst ist, deshalb heißt's eine Auffassung.«
Frau von Hardenstein schaut manchmal mit fragenden Augen nach dem Kinde, wenn es über seinen Büchern so versunken dasitzt.
Und nun sollen morgen schon Fürst und Fürstin wiederkommen. Sie wollen vor der Einsegnung noch einige Zeit da sein, obgleich es noch rauh ist und kaum die ersten Schlehenbüsche ihr weißes Kleid angezogen haben. Harros Abreise ist auch schon nah herbeigekommen ... Rosmarie hat noch so viel zu denken über den kommenden großen Tag, daß ihr die traurige Tatsache, daß Harro den ganzen schönen Sommer nicht da sein wird, etwas verdeckt ist. Aber je näher der Tag heranrückt, desto bedrückter und stiller wird Rosmarie.
Ist es Harros Abreise oder greift sie der Unterricht zu sehr an, denkt Frau von Hardenstein. Eines Abends, als sie noch neben Rosmaries Bett sitzt, fragt sie sanft:
»So sagen Sie mir doch, liebes Kind, was Sie bedrückt.«
In Rosmaries Augen steigen Tränen.
»O Frau von Hardenstein, ich habe Kummer.«
»Sprechen Sie sich aus, es wird Ihnen leichter.«
»Ich, – o, ich ... man kann mir nicht helfen ... ich möchte nicht konfirmiert werden.«
Frau von Hardenstein schaut in sprachlosem Staunen auf das bitterlich weinende Kind.
»Aber ich höre doch immer mit solcher Freude, wie Herr Stiftsprediger Ihre innige Anteilnahme an allem bemerkt, und nun wollen Sie nicht konfirmiert werden! Sind Ihnen denn böse Zweifel gekommen ...« »Ich muß Dinge versprechen ... und wollte so gern und kann's doch nicht.«
»Ihr Gelübde macht Ihnen Kummer. – Ich finde auch, man verlangt viel von den jungen Herzen ... Ich werde morgen mit Ihrem gütigen Lehrer sprechen. Er wird herkommen, er hat es mir schon angeboten, und allein mit Ihnen reden ... Sie können sich ihm anvertrauen.«
»Wie kann ich das, – ich kann ihm doch nichts sagen ... Ich will, aber ich kann nicht ...«
Bitterliches Weinen und Schluchzen.
»Warum wollen Sie und können nicht –«
»Oh, wegen Harro.«
»Was hat denn Harro dabei zu tun? Harro sagt manchmal Dinge, die leichtfertig klingen, aber er würde gewiß in nichts Ihren frommen Glauben antasten!«
»Nein, das nicht ... Aber er will nicht tun, was Herr Stiftsprediger denkt, daß alle frommen Männer tun. Er will ganz allein für sich leben, und von Jesus spricht er nie ein Wort. Und wenn er ihn sehr liebte, würde er doch von ihm reden. Er sagt immer: ›Ich verstehe das nicht,‹ und: ›Das mußt du den Herrn Stiftsprediger fragen.‹ – Und wenn er immer nicht will, so zerreißt doch das goldene Band, mit dem Gott sein Herz angebunden hat an seinen Thron.«
»Mein liebes Kind, ich sehe nicht ein, was das mit Ihrer Konfirmation zu tun hat. Das kann sich ja alles ändern, wenn Harro eine liebe fromme Frau hat.«
»Ja, sehen Sie denn nicht, wie ich immer weiter von ihm weggehe –, bis er ganz allein ist! Ich bin bei denen, die auf dem Himmelsweg gehen, und er ist allein draußen ... Und wenn die Himmelstüre zugeht und er ... – ganz allein ... in der Dunkelheit.« Rosmaries zarter Körper zittert vor Weinen und Schluchzen... »Sein goldenes Band zerrissen ... Ich kann es nicht: ich muß bei ihm bleiben.«
»Rosmarie, weinen Sie nicht mehr. Warten Sie bis morgen. Morgen kommt Herr Stiftsprediger zu Ihnen, und Sie reden mit ihm. Aber nicht wahr, ich kann mich darauf verlassen – von Harro reden Sie nichts!«
»Aber Frau von Hardenstein, das wäre ja, als wollte ich Harro verklagen.«
»Nun schlafen Sie, Rosmarie, und hoffen Sie auf morgen.«
Der Herr Stiftsprediger sitzt Rosmarie gegenüber an dem alten runden Tisch, auf dem ein Schlehdornzweig steht, der die Luft mit seinem bittersüßen Duft erfüllt. Auf den Steinplatten des Lindenstamms liegt goldener Sonnenschein. Drüben über den Waldhöhen jagen weiße Wolkenfetzen über einen blauen Himmel. Manchmal fällt auch ein Wolkenschatten herein, dann erlischt das Gold auf den Steinplatten und das hohe Gemach füllt plötzliche Dämmerung. Rosmarie schmiegt sich ängstlich und blaß in ihren Stuhl. Sie sieht fast jungfräulich aus in ihrem langen Kleide und den um den Kopf gelegten dicken Flechten. Das feine schneeweiße Hälschen steigt aus dem kleinen Ausschnitt ihres Kleides auf wie die Blüte der Herbstzeitlose aus dunklem Erdreich. Man sieht ihr immer noch an, daß sie gestern geweint hat, – scheu ist sie.
»Sie haben mir immer sehr viel Freude gemacht, Rosmarie,« beginnt der Herr Stiftsprediger. »Sie konnten nicht nur verstehen, was wir durchgenommen haben, sondern selbständig umdenken und mit Ihren eigenen Worten wiedergeben. Ich bin da manchmal überrascht gewesen. Namentlich auch darin, daß Sie, was bei Mädchen seltener vorkommt, keiner Schwierigkeit aus dem Wege gegangen sind, sondern diese immer noch ein Stück weiter verfolgt haben, als ich mit den andern Kindern schon tun konnte. In letzter Zeit habe ich bemerkt, daß Sie etwas bedrückt hat. Ich habe auch Ihrer gütigen Erzieherin, der Sie so viel verdanken, gesagt, daß ich gerne noch irgend welche Fragen Ihnen beantworten würde, wenn es in meiner Macht steht. Wir großen Leute haben auch nicht alle Fragen gelöst, Rosmarie.«
Er lächelte ein wenig und sah auf seine Hände herab und saß freundlich zuwartend da, ob Rosmarie nun Mut finden würde, ein Wort zu sagen. Aber sie schweigt. Da sagt er ohne aufzusehen: »Macht Ihnen Ihr Gelübde Schwierigkeiten?«
»O Herr Stiftsprediger, ich kann es nicht, ich kann es nicht ... ich bin still gewesen, wenn die andern Kinder es lernten.«
»Es sind alte Formen, Rosmarie. Es bekümmert mich oft selbst, daß unsere Kirche keine neuen Formen für diese so wichtige Sache findet oder gestattet. Es ist eine längst vergangene Zeit und keine der großen religiösen Zeiten unseres Volkes gewesen, die sie geschaffen hat. Ich habe Ihnen oft zu sagen versucht, wie jede Zeit ihre besondere Gotteserkenntnis hat, daß Formen immer viel länger leben als die mit ihnen verbundenen Anschauungen. Aber das ist es nicht, was Sie jetzt brauchen. Ich sehe, daß Sie dies alles sehr angreift, weinen Sie nicht, Rosmarie, wir wollen es so machen. Ich weiß, daß Sie Ihre Gedanken ganz gut schriftlich ausdrücken können. Schreiben Sie mir auf, was Sie selbst von Herzen glauben gelernt haben, in so wenig Worten wie möglich, Sie sollen ganz Freiheit haben. Schreiben Sie mir auf, was Sie auch vor Menschen bekennen würden, wenn Sie es müßten. Wollen Sie es gleich jetzt tun, so will ich warten, ich habe Zeit, und Sie können mich vielleicht doch noch um etwas fragen ... oder wollen Sie es mir schicken?«
»Ich will es lieber gleich jetzt schreiben, ich habe mich besonnen.«
Rosmarie stand auf und holte sich aus ihrer grünen Ledermappe einen Briefbogen, von den neuen, auf denen zum erstenmal eine Krone gedruckt war, und schrieb scheinbar ohne jedes Besinnen, als schreibe sie etwas ab. – Ach, sie hatte alles so oft bedacht in den letzten Tagen und Nächten und damit gerungen und sich abgequält. –
»Ich glaube an Gott, der die Welt geschaffen mit allen Erden, Sonnen, Sternen und Menschen. Ich möchte ihm danken, daß er die Erde so schön gemacht, grüne Wälder und das starke Himmelblau darauf, blanke Wasser und liebste Bäume und den Wind, der sie streichelt. Gott hat auch gemacht die feuerspeienden Berge, die wilden Stürme, den bittern Tod, die Einsamkeit, die Qual. – Damit wir ihm auch dafür danken können, hat er uns Jesus gesandt in die Welt und hat Jesus kennen lassen die Qual, die Einsamkeit, den bittern Tod. Ihm möchte ich dienen, so wie ich ihn liebe, und mein Herz ist nur traurig, weil ich ihn immer noch nicht genug liebe.«
Sie schaute zögernd auf, soll ich noch mehr schreiben? –
»Nein.«
Sie schiebt das Blatt ihrem Lehrer hin, der es nimmt und damit ans Fenster tritt. Der Wolkenschatten hat das Gemach wieder so verdüstert, oder er will nicht gesehen werden, wenn er es liest. Dann wendet er sich:
»Ich kenne ja Ihre Gedanken und sehe aufs neue, wie Sie darin leben. Sollte Ihnen wirklich die alte Form Schwierigkeit machen?«
»Es ist noch etwas dabei ... Ich will es aufschreiben, – oh, ich kann's nicht sagen.«
Sie nahm das Blatt wieder und schrieb darauf mit großen zitternden Buchstaben: »Ich will nicht in den Himmel kommen, ich will bei denen bleiben, die draußen sind in der Dunkelheit.«
Dann gab sie es wieder zurück und verbarg ihr Gesicht in ihre Hände und legte ihren jungen goldenen Kopf auf den Tisch mit seiner grünen Decke, und die zarten Schultern zuckten leise. Der Herr Stiftsprediger legte ihr sanft die Hand auf die Achsel: »Liebes Kind, trauen Sie sich selbst mehr Erbarmen zu als Gott? Wer sind die, die draußen stehen? – Meinen Sie, Gott verstünde nicht allerhand Gebräuche, Sprachen und Wesen der Menschen? Denken Sie denn, er schlösse seine Himmelstüre zu vor irgendeiner sehnenden Seele, oder verlangt irgendein Gelübde oder eine bestimmte Denkungsweise? Und kann ein Mensch vom andern seine tiefsten Geheimnisse wissen? Ist nicht, solange ein Mensch auf Erden geht, Hoffnung vorhanden, daß er sich eines Tages aufmacht und wie der verlorene Sohn zu seinem Vater zurückkehrt! Und selbst, wenn ein Mensch in unseren Augen verloren erscheint, was wissen wir, wie Gott ihn ansieht?«
Rosmarie hob ihr Antlitz auf, noch lagen Tränen auf ihren Wangen, aber ihre grauen Augen leuchteten in fast erschreckendem Glanze. Sie ergriff die Hand ihres Lehrers:
»Ich möchte konfirmiert werden! Ich lerne gewiß immer mehr lieben, und wenn Gott alles so gut versteht ... Oh, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!«
»Rosmarie, Gott wird Sie noch zum Segen machen für dieses Haus, wenn Sie treu bleiben.«
Und der Herr Stiftsprediger ging mit seinen langen, raschen Schritten zur Tür. Aber Rosmarie ging ihm nach.
»Oh, Sie wissen gar nicht, was für ein hartnäckiges Kind ich bin.«
»Und ich hoffe, daß Sie in einigen wichtigen Dingen auch hartnäckig bleiben werden.«
Und damit eilt er hinaus. Es eilte ihm aber durchaus nicht mehr, als er den langen Prinzessinnengang hinter sich hatte. Er blieb neben einer der Säulen stehen, die die steingehauenen Galerien tragen, die den Schloßhof umgehen. Er sah hinunter in den Turnierhof. Da sproßte zwischen der alten Pflasterung hie und da ein Grashalm, es jagten die Wolkenschatten darüber, daß die grauen Steine einmal goldig aufleuchteten, bald wieder düster und wettergrün blickten. Es war, als spräche er zu einer der grauen Säulen: »Hat es wohl hier schon einmal ein so schönes Herz gegeben, oder seid ihr darum immer noch eine liebe und geliebte Heimat, weil solche Herzen hier in Zeiten gewachsen sind?« – – –
Rosmarie begrüßt ihre Eltern errötend und glückselig unter dem Portal. Sogar Mama umarmt sie mit so viel Freude und Innigkeit, daß die Fürstin ganz erstaunt ist.
»Gott, wie zärtlich, Rosmarie, das bin ich ja gar nicht gewöhnt.« Und sie ist sehr gnädig und macht gar keine Einwendungen, als die Feier besprochen wird. Rosmarie darf jeder ihrer Mitkonfirmandinnen ein kleines goldenes Medaillon an goldener Kette schenken mit ihrem Namenszug. Zu dem Diner soll nur der Herr Stiftsprediger und der Thorsteiner eingeladen werden. Der Thorsteiner wird ja den ganzen Sommer abwesend sein, so ist das auch ein Abschied. Sie sind beim Essen, wie das beredet wird. Die Fürstin hatte eine Rose aus der vor ihr stehenden Kristallvase gezogen und hielt sie dann wie probend an den Ausschnitt ihres lachsfarbenen Kleides. Und nun schaut sie plötzlich auf Rosmaries blasses Gesicht und ihren zuckenden Mund, sie lächelt ein wenig und nestelt die Blume in ihren Spitzen fest.
»Der Ruinengraf in Paris! Ein unvollziehbarer Gedanke. Nun, ich mag es ihm gönnen nach seiner langen Waldmenschenzeit. Ich möchte ihn sehen, wie er sich in Paris amüsiert. Warum runzelst du die Stirne, Fried, oder wäre es wohl unpassend zu sehen, wie er sich amüsiert? Gott, es ist ihm zu gönnen. Er ist doch ein Künstler. Und hat so lange gelebt wie ein Säulenheiliger.«
Rosmaries Wangen werden wieder rot, irgend etwas in Mamas Worten macht sie zornig. Sie sagt:
»Harro geht nach Paris, weil er Modelle braucht und es so schöne Menschen bei uns nicht gibt.«
Die Fürstin lacht hell auf:
»Ach ja, daran wird es in Paris nicht fehlen.«
»Laß das,« ruft der Fürst, »du verwirrst das Kind. Erzähle mir doch von deiner Kirchenstube, Rosmarie! Hast du den Ofen nachlegen dürfen?«
»O nein, Papa, ich hätte es doch nur schlecht gemacht.«
Sie versucht zu erzählen, aber es klingt matt, und der Fürst hebt bald die Tafel auf, die schöne Stimmung ist doch irgendwie vergangen.
Wie schnell fliegen nun die Tage. Harro ist in letzter Zeit nicht dagewesen, er ist kein Freund vom Abschiednehmen. Die Einladung des Fürsten hat er angenommen, und Frau von Hardenstein hat einen Brief von ihm erhalten:
»Ich werde sogar in die Kirche kommen, was ich mir hoch anzurechnen bitte, denn die ganze Situation ist mir sehr fatal. Für andere Kinder mag ja dieses öffentliche Hersagen und Versprechen einer Sache, die sie nicht zu halten gedenken – gar nicht halten können, denn sie sind zu jung, um über sich zu entscheiden, – recht sein. Nun, die hohe Geistlichkeit mag es verantworten. – Aber das Seelchen. – Es denkt ja leider viel zu viel, und das Denken ist allemal ein Unglück. Und dann das Maschinenmäßige der ganzen Sache! So eins ums andere! Ich habe die schrecklichste Erinnerung an meine Konfirmation. Es gab ein Festmahl, und an jedem Bissen mußte ich würgen. Ich hatte zum ersten Male lange Hosen an und ein blaues, scheußliches Röckchen, und mein freigeborener Hals war in einen steifen Kragen eingezwängt. Ich schämte mich entsetzlich, aber schließlich mußte ich mich in das leere Kastenzimmer flüchten, wo allerhand Tortenreste und halbgeleerte Flaschen, die sich irgendein dienstbarer Geist daher geflüchtet haben mochte, ein anmutiges Stilleben bildeten. Dort saß ich auf einem von Vaters alten Helmkoffern und heulte wie ein junger Hund, trotz meiner langen Hosen. Also, liebste Frau Mutter, wenn es eine Quälerei gibt, so reiße ich aus, das kann ich bei dem Seelchen nicht mit ansehen. Und bitte noch eins. Bereiten Sie Rosmarie darauf vor, daß ich am Montag abreise und mich jedenfalls am Sonntag von ihr verabschiede. Wie Sie es machen wollen, Frau Mutter, ob Sie es das Seelchen am Ende gar nicht wissen lassen, und ich ohne letzte Szene in die Versenkung verschwinde, oder nicht, das überlasse ich Ihrer gütigen Weisheit. Was Sie aber beschließen, lassen Sie mich bitte wissen.«
»Nein, das geht nicht, Harro... So leicht machen wir es Ihnen nicht ...« flüstert Frau von Hardenstein vor sich hin. »Das würde das Kind nie verzeihen. Arme Rosmarie ... Er hat recht. Er muß gehen.« –
Der große Tag ist gekommen. Harro steht auf der Empore der Stiftskirche, eines Hauptes höher als alles Volk. Er ist sehr ernst und sieht mit seinen grauen Falkenaugen nach der reinen, zarten, weißen Gestalt unter den anderen schwarzgekleideten Kindern. Der Fürst steht auf seiner in den gotischen Chor eingebauten Empore, der ehemaligen Herrschaftslaube an dem schmalen Fenster, und sieht hinunter auf seine junge Tochter. Wie eine zarte schwanke Lilie steht sie da, und nun senkt sie ihren goldenen Kopf unter der Hand ihres Lehrers. Ein Zittern läuft durch die feine Gestalt. Harros Augen haben es auch gesehen und ein zorniger Blitz schlägt aus ihnen, er ballt seine Hände.
»Quälerei – warum können sie das Kind nicht lassen, es ist wahrhaftig fromm genug.«
Gottlob, sie kann wieder aufstehen und schneeweiß an ihren Platz gehen.
Harro bereut in fliegender Eile verschiedenes. Daß er da ist, daß er nicht vorher abgereist ist, daß er den heutigen Tag zum Abschied gewählt hat. Vor dem Kirchenportal drängt sich groß und klein, Kinder und Eltern, Rosmaries Mitschülerinnen, sie wollen die Herrschaften einsteigen sehen. Ach wie fern ist sie ihnen geworden ... Es legt ihr ein Diener den weißen Mantel um, sie sitzt neben der Fürstin, der Fürst sitzt auf dem Rücksitz. Sie grüßt noch sehr freundlich, es ist aber doch anders als sonst. Die Pferde ziehen an. Ja, da wird sie rot, sie beugt sich vor.
»Vater, Harro ist da, nimmst du ihn nicht mit in den Wagen?«
»Nein, Rosmarie, wir sehen ihn nachher.« Mama lächelt ein wenig und sagt: »Gewiß, es hätte sich sehr hübsch gemacht,« und der Wagen rollt weiter ...
In das Empfangszimmer kommen alle Schloßherren und der Herr Hofrat. Und Rosmarie muß sich daran gewöhnen, daß wirklich sie gemeint ist, wenn sie »Durchlaucht« angeredet wird. Schön ist es nicht. O nein. Zum Glück sagt der Herr Stiftsprediger, der später neben ihr an der Tafel sitzt, noch Rosmarie. Harros Platz ist neben der Fürstin. Die Tafel ist breit, nur hier und da hört Rosmarie das Wort: Paris ... Sie ist müde, sie hat heute zu viel erlebt, und der Tag ist lange noch nicht zu Ende. Und Harro, der durch das große mittlere Tafelstück hindurch hier und da das blasse Goldhaar sieht, denkt: Es ist doch gut, daß es heut zu Ende geht. Das Abschiednehmen ist etwas Entsetzliches und muß besser schnell und vor allen Leuten gemacht werden. Der Teufel hol die Sentimentalität! Wäre ich allein mit der guten Frau Mutter und dem Kinde, es wäre nicht durchzumachen. Schon die Fragen allein ...
»Gewiß, Durchlaucht, Versailles ist eine richtige Prachtwüste, außerordentlich melancholisch, besonders an Regentagen ... die große Oper, man verwechselt sie immer mit der Madeleinekirche: oder war's die Börse ...«
»Sie verwechseln schon zum zweiten Male die Madeleinekirche mit etwas anderem ... ich glaube, daß Sie sehr zerstreut sind, Graf Thorstein.« schmollt die Fürstin. »Ihre Gedanken sind schon ganz in Paris.«
Auch dieses Diner hat glücklicherweise ein Ende. Nachher ist ein klein wenig Herumstehens mit den Kaffeetassen – dann verabschiedet sich alles, und Harro denkt: Nun habe ich richtig kein Wort mehr als meine gemurmelten Wünsche ... Aber da faßt ihn der Fürst am Arm.
»Die Sonne ist so herrlich, ein wahrer Frühlingstag, wir wollen noch einmal ums Schloß gehen, oder lieber auf der Sonnenseite auf und ab. Machen Sie uns noch einmal die Freude, wir werden Sie jetzt lange nicht sehen.« Harro verneigt sich stumm. Die Fürstin, obgleich sie sehr müde zu sein behauptet, wird wieder munter und hat auch ein großes Verlangen nach Sonnenschein. Sie geht neben Harro, der Fürst führt seine junge Tochter am Arm.
»Ich muß mein großes Kind heute noch einen Augenblick neben mir haben.«
Sie gehen durch die noch kahlen Rosenbogen. Unten blinkt der blaue Fluß und über die Waldberge läuft schon der rosaviolette Hauch, der die jungen Blätter verspricht. Die Fürstin zieht ihre rauschende Schleppe über den goldglänzenden Kies und hält sich einen Fächer gegen die so teintverderbenden Frühlingssonnenstrahlen vor. Was sie spricht, versteht man nicht, aber lachen kann man sie hören.
»Rosmarie, du bist so still, die Feier hat dich doch recht angegriffen.«
»Ja, Vater, und es ist mir auch schwer geworden. Es ist mir, als müßte ich nun immer die allerschwersten Steine aufheben. Ob ich das können werde?«
»Aber Kind, hat dir der Herr Stiftsprediger das Herz so schwer gemacht?«
»O nein, er hat es mir immer leichter gemacht. Aber sieh, Vater, nun geht Harro fort, und ich kann kein Wort mehr mit ihm reden. Siehst du nicht an seinem Rücken, wie er sich ärgert, und an seiner Hand, die er immer auf und zu macht, siehst du so – wie wenn er etwas zerdrücke. Das tut er immer, wenn er zornig ist.«
Der Fürst lacht leise, sehr gut gelaunt. Also das Pariser Gespräch behagt dem Thorsteiner – die Kleine muß es ja wissen – nicht so sehr. Er sagt:
»Rosmarie, du sollst noch einmal die Sonnenseite entlang mit deinem alten Freunde gehen, das ist nicht mehr als billig. Heute ist ja doch dein Abschied aus dem Kinderland. Ich gehe mit Mama.« Und plötzlich sah Harro sich befreit von der Fürstin und im dünnen Schatten des Rebganges, an der warmen, sonnigen Mauer, um die ein leiser Veilchenduft schwebte, schritt Rosmarie neben ihm. Einen Augenblick gingen sie schweigend, aber die Minuten sind zu kostbar.
Rosmarie begann: »Du warst auch in der Kirche, hast du nun den Herrn Stiftsprediger gehört?«
»Nicht gerade alles. Er schien mir sehr menschlich zu sein!«
»Was könnte er denn sonst sein?«
»Nun, er könnte zum Beispiel auch geistlich sein.«
»Damit meinst du sicher nichts Schönes, Harro, ich hör's an deinem Ton.«
»Für meine Töne kann ich nichts, die Flöte ist ungeschmiert.«
»Harro, ich war heute morgen so froh, als die Sonne kam. Ich habe von der Gisela geträumt heute nacht, und das tue ich sonst nie. Im Schlafe, meine ich. Und sie ging auf der Himmelswiese, die war so grün und voll Sternblumen, und sie lächelte mir zu. Sie ging mit nackten, so schönen Füßen zu einer Quelle, die aus dunkeln, moosgrünen Steinen hervorkam und dann einen kleinen runden See bildete. Sie nahm ihr Gewand auf und ging hinein, daß die blanken Wellen über ihre Füße liefen. Ich fragte: ›Warum tust du das?‹ Da sagte sie: ›Ich bin doch über so viele Nadeln und kleine und große Schwerter und glühende Eisen gegangen.‹ ›O du Arme,‹ rief ich, ›hast du das tun müssen?‹ ›Das ist das Schlimmste nicht, viel, viel schlimmer ist, wenn der Saum nicht mehr rein ist.‹ Da bückte sie sich und nahm den Saum von ihrem Gewande, der war wie ein glänzendes Sommerwölkchen so weiß, und wusch daran. Ich sagte: ›Er ist doch so weiß.‹ Da antwortete sie: ›Von Tränen, von Tränen.‹ Und dann streckte sie ihre Hand nach mir aus und fragte: ›Wo ist denn Harro?‹ Da erschrak ich und wandte mich um, und du warst nicht da. ›Sie haben ihn nicht hereingelassen,‹ rief ich und weinte und fiel vor Weinen auf den Boden. Da kam sie zu mir und setzte sich auf einen kleinen Rain und nahm meinen Kopf auf ihre Knie und strich mir über das Haar und sagte: ›Von Tränen, von Tränen.‹ Und auf einmal war ich in einer Schlucht, wo hohe dunkle Felsen standen, da ging ein schwarzer Bach und ein Wind seufzte und immer noch hörte ich die Gisela sagen – ›von Tränen‹ – oder sagte es der Bach. Da dachte ich, es ist gewiß der Tränenbach, so viele Tränen sind schon geflossen – und die Winde seufzen dazu. Und immer suchte ich und sehnte mich und wollte zurück nach der Wiese, und konnte nicht ohne dich kommen und mußte dabei noch denken, ob ich gewiß meine Lieder für den Unterricht könnte, und suchte die zusammen. ›Gib allen denen ... die sich von Herzen sehnen, ein ...‹ Da gab es einen Stoß, und es war wie ein heller Freudenschein. Da, da bin ich aufgewacht.«
Harro hatte mit tiefstem Ernst zugehört. »Rosmarie, du hast eine Künstlerseele, ich habe deinen Traum ganz miterlebt. Du fühlst die Farben, du siehst Bilder –«
»Wovon sprechen die beiden so angelegentlich da hinten, Rosmarie hat ganz rote Wangen?«
»Nun, du hörst es doch, von Himmelswiesen, von Bildern.«
»Du hast die Farben so fein kontrastiert, die weiße Frau mit den ein wenig rosigen Füßen, die feinen Wellen, es werden nur Wasserringe gewesen sein, die schönen Wasserringe mit glänzenden Rändern, das dunkelgrüne Moos. Und was ist es denn für ein Lied?«
»Gib allen denen,
Die sich von Herzen sehnen
Nach dir und deinen Hulden,
Ein Herz, sich zu gedulden.«
»Schön ist das, Seelchen, du hast also auch schöne Dinge gelernt.«
»Viele schöne. Und ich bin so froh, daß ich konfirmiert bin, ich wollte es ja gar nicht werden, und daher kam wohl der Traum. Ich hatte Angst, Harro, ich verließe dich damit.«
Dem langen Thorsteiner gab es einen sonderbaren Stoß ins Herz.
»Du verließest mich damit ...« Hatte er es wirklich wiederholt, oder flüsterte es nur der leise, ach so duftbeschwerte Frühlingswind?
»Ich wäre auf den Himmelswiesen und du da draußen.« »Das Draußen, das ist wohl ein schlimmer Ort, Seelchen? Ich hoffe doch nicht. Es muß da auch sehr feine Leute geben. Solche, die sich nicht in die Hallelujagegenden trauen und doch nicht höllenreif sind. Es wächst Asphodelos dort und es murmelt ein Bach nach Vergessen.« –
»Ist es nicht ein wenig unpassend, dieses gar so innige tête à tête?«
»Laß sie doch, es ist ein geistliches Gespräch, nun sind sie an der Hölle – vorher waren sie am Himmel. Es ist sehr viel passender für den heutigen Tag als deine Pariser Reminiszenzen.«–
»Vergessen, Harro, will ich nicht ...«
»Oh, manchmal ein bißchen Vergessenheit nippen,« murmelt er.
»Was willst du vergessen?«
Da schrickt er auf.
»O Harro, wir haben uns nur so kurze Zeit. Mama wird ungeduldig, ich fühl's. Wie oft schreibst du mir? Jede Woche? Ich muß die Tage zählen bis Weihnachten. Und Harro, du denkst daran, daß ich nicht ohne dich auf die Himmelswiese kommen kann. So wie die Gisela mich gefragt hat: ›Wo ist denn Harro?‹ so wird Gott mich fragen. Heute habe ich mich doch Gott versprochen, daß ich ihm dienen will. Du hast es gehört: Gott und meinem Herrn Jesu dienen mein Leben lang.«
Die hohe feierliche Silberstimme dringt durch das Fliedergebüsch, das sie von den andern trennt. Da legt der Fürst eine eiserne Hand auf den Arm seiner Frau und sagt mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich will nicht, daß dem Kinde die heutige Andacht gestört wird. Hörst du, ich dulde es nicht. Der Morgen ist ein ganzes Leben lang und hat für alles Zeit.« –
»Ja, ich habe es gehört,« antwortet Harro.
Sie stehen sich gegenüber, die lange, schwanke Gestalt in dem weißen Kleide, und der hohe Mann mit finster zusammenzogener Stirn.
»Ich habe es gehört, sie versprachen alle das gleiche.« »Dann müssen sie es auch halten. Ich fühlte, daß mich etwas berührt hat. Und ich habe es einmal getan.«
»So siehst du aus,« sagte der Thorsteiner leise ... »Und ich wünsche dir von Herzen, daß du immer recht glücklich dabei sein mögest.«
»Nie ohne dich, Harro. Immer muß ich dich suchen gehen. Und wenn ich schon tot wäre, wie heute nacht im Traum, so müßte ich wieder zurück und dich suchen. O Harro, du hast mir so viel Liebes getan. Ohne dich wären mir Brennesseln und Stechranken in meinem Garten gewachsen und Giftblumen. Weißt du, wie du mein Bild gemalt hast, den Ehrensaal? Sieh, so gehe ich, so lange ich lebe, und wenn ich tot bin, und trage meine Liebe und so bringe ich sie einmal zu Gott.«
»Seelchen, hör auf. Du weißt nicht, was du sagst. Das ist nicht auszuhalten, komm herauf zu deinem Vater – du Kind – du Seele.«
Er ging voraus mit langen, stolzen Schritten. Rosmarie folgte ihm langsam und traumverloren. Fürst und Fürstin kamen durch den Rosengang, ein leichtes Abendgold lag schon am Himmel. Sie stiegen miteinander die hohe steile Treppe hinauf zur Sonnenuhr. Der Fürst sprach noch einige hastige Worte über die morgige Abreise und die besten Zugverbindungen. Sie gingen durch die Waffenhalle, wo Harro abgelegt hatte. Es war kein Diener da, und der Fürst half ihm selbst danach sehen. Die Fürstin lächelte, Rosmarie war so weiß wie ihr Kleid. Harro verabschiedete sich von der Fürstin und küßte ihr die Hand und murmelte etwas von untertänigstem Danke. Auch er sah graufahl aus, oder machte es nur der schattige Raum nach all dem Frühlingsglanze draußen?
»Nun, ich hoffe, wir sehen uns im nächsten Jahre wieder, Graf Thorstein. Und vergessen Sie uns nicht ...«
Und nun beugt sich Harro auch über Rosmaries Hand, die totenblaß und aufrecht dasteht und den größten Schmerz ihres Lebens so tapfer wie möglich zu ertragen sucht.
»Nochmals tausend Dank für alles, und nun wünsche ich Eurer Durchlaucht die schönsten Jugendjahre ... alles Gute und ...«
»So sollst du nicht sagen.« Das Wort hat sie getroffen wie ein Dolchstich – »Ich bin immer für dich, was ich war und wie ich dich bis jetzt geliebt habe, so werde ich dich immer lieben.«
Sie schlang ihre jungen Arme um seinen Hals, so weit konnte sie gerade reichen, und drückte schluchzend ihren goldenen Kopf an seine Brust.
Harro war auch totenblaß geworden, nahm sie mit sanfter Gewalt von sich weg und führte sie zu ihrem Vater und sagte leise: »Herrschaften, ich bitte tausendmal um Vergebung, ich habe dies nicht gewollt und gewußt. Und muß nun vor Ihnen, die Sie mir Güte erwiesen haben, dastehen wie einer, der Vertrauen mißbraucht hat ...«
»Harro, so sollen Sie doch nicht fortgehen, wir glauben Ihnen ...«
»Tausend Dank Euer Durchlaucht für das Wort ...« und Harro war schon die Treppe hinunter.
Die Fürstin hatte ihre Augen, in denen ein unheimliches Licht flackerte, nicht von Rosmarie gewandt, die sich auf einen kleinen Diwan geworfen hatte und bitterlich schluchzte.
O Rosmarie, warum hast du dein blaues Männlein vergessen!
Brauneck, 6. September 19..
Meine liebe Marion,
die Kieler Woche ist nun vorüber, es war höchst interessant und es gab sehr viel zu sehen. Und es gehört ja auch dazu. Leider liebt mich das Meer nicht, und ich kann Dir nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich das ewige Geglitzer und das Auf- und Abwogen nicht mehr sehen muß! Seit meinem letzten Unglück ... Gott, wenn es noch einmal so weit kommt, werde ich wohl die ganze Zeit im Bett zubringen müssen – wer das aushält – ist mir Brauneck noch verhaßter geworden. Es zieht in diesem Hofe mit den drei Galerien, der Wind pfeift und heult, daß man meinen könnte, eine arme Seele klage da herum. Nun, so in der Beschränkung wie im letzten Jahr, da läßt es sich aushalten. Ich war ja wieder in Wiesbaden, und eigentlich hatten wir, meine Schwester Fränzi und ich, uns trefflich amüsiert, bis zuletzt die Sache für Fränzi etwas ungemütlich wurde, – nun, Du weißt ja ... sie saß zwischen zwei Stühlen.
Du fragst nach Rosmarie, nun, was soll ich Dir sagen als – sie wächst und wächst! Mich hat sie schon überwachsen, und ich muß mich mit schief aufgehobenem Hals mit ihr unterhalten. Sie versprach ja einmal hübsch zu werden, daraus ist nun nichts geworden. Sie ist eine lange Latte von einem blassen Mädchen, das sich beständig irgendwo anlehnen muß und der man immer sagen möchte: Falle doch nicht ganz über mich herein! Mich macht dieses haltlose schlaffe Wesen nervös. Sie ist auch nicht munterer geworden, seit wir ihre Frau von Hardenstein, – Du erinnerst Dich doch noch an dieses Denkmal auf dem Grabe teurer Angehöriger, – mit sanfter Gewalt entfernt haben. Mir war sie unausstehlich, mit ihren weisen Reden und pietistischen Neigungen. Unter ihrem Einfluß ist Rosmarie so unerträglich fromm geworden. Die Kleine hat es dabei übrigens hinter den Ohren ... Sie hatte mit fünfzehn Jahren, und noch dazu während ihrer Konfirmationszeit, eine Liebesaffäre mit unserem Nachbar, den sie dadurch in eine heillos schiefe Situation gebracht hat, so daß er sich zu unserm Bedauern jetzt ganz von uns fern halt. Denn natürlich muß ihm das verdrehte kleine Ding nur komisch gewesen sein.
Nun, nach dieser Sache war die Frömmigkeit in Brauneck eine Weile so sehr Mode, daß es beinah nicht mehr auszuhalten war. Der Fürst, der immer ein wenig mystische Neigungen hatte, wurde so angesteckt, daß ich ihn eines Abends traf, wie er mit Rosmarie Gesangbuchlieder!!! las. Nun, diese Periode ist glücklich überwunden, und auch Rosmarie ist etwas zur Vernunft gekommen. Wir waren in Baden mit ihr, bei meiner Schwägerin Helen, die sie ordentlich in die Kur genommen hat, ihr Nietzsche und Haeckel zu lesen gab. – Gott, der Wirrwarr in ihrem Kopfe, bei ihren ohnedies schwachen Gaben! Helen war entsetzt über ihr mangelhaftes Französisch, und das war denn auch der Anlaß, daß wir Frau von Hardenstein glücklich los wurden. Den Winter hatten wir eine schicke kleine Französin, die mir über manche langweiligen Stunden hinweg half. Leider war im Frühjahr ein Vetter des Fürsten aus Österreich da, und die kleine Französin war nicht vorsichtig genug. Der Fürst nahm die Sache äußerst tragisch, und Mademoiselle de Rosemorte mußte ihre Koffer packen. Nun sind wir, da auch Rosmaries Englisch dringend eine Aufbesserung brauchte, auf eine Miß Granger aufmerksam gemacht worden, die den Fürsten dadurch gewann, daß sie dreizehn Jahre in derselben Familie war und als sehr religiös gerühmt wurde. Ich versuchte umsonst, ihm die Person zu verekeln! Aber schließlich fanden wir nichts Passenderes, und bis jetzt scheint auch Rosmarie nicht von ihr angesteckt. Diesen Winter werden wir sie in Berlin haben und mit ihr in Theater und Konzerte gehen. Selbst das bescheidenste Lämmerhüpfen hat der Arzt verboten, denn sie soll wegen ihres schwachen Herzens noch gar nicht tanzen. Nun, so brauche ich mich auch nicht mit ihr zu langweilen. –
Hast Du die Adresse der Pariserin mit dem wunderbaren Teintverbesserungsmittel erfahren? ich bitte Dich dringend darum, es bilden sich kleine Fältchen unter meinen Augen, und man darf da nicht zuwarten, bis die Sache so wird, daß jedermann es merkt. Ach, dieses Brauneck! Kein Wunder, daß sich Falten bilden in dieser Riesenlangeweile!
Vergiß nicht ganz
Deine Charlotte Brauneck:
Lieber Harro!
Du hast auch meinen letzten Brief nicht beantwortet, obgleich ich hoffte, Du werdest es tun und mir ein paar Worte schicken. Ich wäre so glücklich gewesen. Aber vielleicht hast Du es meinem Vater versprochen, mir nicht zu schreiben. So sollst Du wenigstens von mir wissen, wie ich immer mit der gleichen Dankbarkeit und Liebe an Dich denke. Wem sollte ich auch nur ein aufrichtiges Wort sagen, wenn nicht Dir? Seit Frau von Hardenstein fort ist, bin ich so sehr allein, doch das weißt Du ja alles aus meinen andern Briefen, wenn Du sie bekommen hast? Solange ich schreibe, denke ich immer, ich rede mit Dir wie in alter Zeit. Ich will Dir auch heute gar nicht vorklagen, sondern Dir erzählen, was mich so sehr gefreut hat. Ich habe entdeckt, daß man vom dicken Turm aus, wenn man in die oberste Stube geht, sie heißt die Hexenstube, über den Wald sieht. Und dort ist seit einigen Wochen ein feiner weißer Strich, wo sonst immer der Himmel blank war. Es muß das Gerüst von Deinem neuen Hause sein. Und das wäre so gewachsen! Ich gehe nun jeden Tag hinauf, habe auch ein Fernglas oben, und nun sieht man schon die Linie von Deinem Dach. Oh, wie freue ich mich! Glücklicherweise hat niemand entdeckt, was ich da oben treibe, die Hexenstube steht ja immer leer, und Miß Granger macht sehr lange Mittagsschläfe. Und in Montreux fand ich noch etwas anderes, ich schrieb Dir nicht von dort aus, es ging mir zu schlecht damals. In einer deutschen Zeitung fand ich einen Bericht über Deine Nebelburg, Schloß Schweigen. Ich habe Wort für Wort auswendig gelernt, denn herauszuschneiden wagte ich es nicht.
Ja, nun kann ich es Dir ja erzählen, da es vorbei ist. In Montreux ging es mir sehr schlecht. Mama und ich und Miß Granger und Fräulein Bergmann und Lisa und Röschen waren in einem großen Hotel, und Mama machte es Freude, an der allgemeinen Tafel zu essen. Wo alle möglichen fremden Menschen essen und einen anstarren. Papa sollte es gar nicht wissen, aber Mama fand das tägliche tête à tête mit mir beim Essen so herzbrechend langweilig, Du weißt, sie kämpft einen täglichen Kampf mit der Langeweile, und die graue Fledermaus behält sehr häufig den Sieg. Es waren Engländer und Franzosen und Amerikaner da, und namentlich die letzteren bedrängten mich sehr. Da unterhielt sich Mama immer ein wenig, Vater hätte es aber nicht gefallen. Es gab da ein furchtbares Spiel, Tennis heißt es, und jedermann war sehr entsetzt, daß ich es nicht spielen könne. Mama schämte sich auch herzlich darüber und redete von meinem schwachen Herzen. Aber es war die allgemeine Ansicht, daß ich ganz vortrefflich im Stande wäre, wenn ich von Kind an immer Tennis gespielt hätte. So mußte ich es denn lernen und habe viele Stunden täglich mit jungen englischen und amerikanischen Mädchen und Herren auf dem Tennisplatz zugebracht. Durch die Bäume leuchtete der See wie ein Stück Himmel, das heruntergefallen war, und Sonne und Wolkenschatten gingen über die Savoyerberge hin. Und man durfte nicht darauf sehen, man mußte auf den Ball achten. Und hatte man den glücklich, – meist verdarb man den andern das Spiel, – so mußte man ihn gleich wieder fortschlagen. Und all die andern wären so viel lieber ohne mich gewesen. Ich hörte die kleine Francis Gower, die über mir wohnte, sagen: »Muß ich denn mit dieser schrecklichen, steifen deutschen Prinzessin spielen, die alle Bälle verdirbt? Sie ist so dumm wie eine Kuh!« Und ihre Mutter sagte: »Prinzessinnen sind nie dumm, was tut es auch, wenn einmal ein Spiel verdorben ist und du kannst nachher sagen, ich habe mit der Prinzessin von Brauneck Tennis gespielt!« Und die schönsten Stunden, wo ich hätte sehen können, wie die weißen Schwäne über die Flut kommen, wenn Sturm ist, und aus den Schluchten die langen Nebelfrauen herausschweben, habe ich diesem Ball gedient, der mir wie mein ärgster Feind vorkam. Zu meiner größten Freude bekam ich dann jeden Tag Ohnmachten, manchmal zwei im Tage, und da hatte das Tenniselend ein plötzliches Ende.
Lieber Harro, ich muß es Dir leider sagen, daß ich häßlich geworden bin. Mama sagt es mir jeden Tag, und ich muß es selbst einsehen. Das eigene Gesicht ist man ja so gewöhnt, daß man sich allerhand einbilden könnte, wenn man sich mit andern vergleichen würde. Und all die hübschen jungen englischen und französischen Damen sehen so ganz anders aus als ich. Mama hatte recht, ich werde eine Riesendame mit Entenfüßen. Ich trage trotzdem Herrn Wurmhabers Schuhe, und meine Kleider sind ganz weich, und wenn ich mir auch die Seele verkrüppeln lassen muß, meinen Körper habe ich mir bis jetzt bewahren können. Ach, in meinem Garten wachsen wieder Stechranken und Brennesseln, lieber Harro, Du merkst es an diesem Brief. Ich habe nicht so bleiben dürfen, wie ich an meinem Einsegnungstage gehofft habe. Es ist nun wieder so, wie es in meiner Kindheit war, in dieser Welt finde ich mich nicht zurecht. Es ist mir manchmal, namentlich beim Tennisspielen, – als habe ich mich verirrt und gehöre gar nicht daher. Ach, könnte ich heimfinden, ich liefe dafür mit bloßen Füßen, wie die Gisela, auf Nadeln und kleinen Schwertern und großen Schwertern, – ob ich für das glühende Eisen auch Mut genug hätte, weiß ich nicht, ich wäre wohl zu feig dazu. Darum muß ich wohl auch dableiben. Und nun leb wohl, liebster Harro. Wenn ich noch so recht beten könnte, würde ich immer nur bitten, daß Gott Dich recht glücklich machen solle. Aber ich kann es nicht mehr. Es hängt ein dunkler Vorhang dort, wo einmal das goldene Himmelstor war, und ich kann ihn nicht aufheben so allein.
Dein Seelchen.
Unter den Linden in Berlin drängte und schob sich die hastige Menschheit. Die Linden streckten kahle dürre Zweige in den grauen Himmel, von dem leise Schneeflocken herabkamen. Wenn sie auf den Boden fielen, zergingen die glänzenden Sternchen und wurden zu einer grauen schmutzigen Masse, die viele Füße zertraten. Eine bunte Menge ist es, die da vorübereilt, und jeder Augenblick bringt neue Gruppen vor das Auge. Die Menschen tauchen auf und verschwinden wieder, und wieder neue kommen, wie das Gestiebe vom grauen Himmel. Es sind die Stunden, wo die elegante Welt Einkäufe macht; jetzt zur Weihnachtszeit trägt fast jedermann irgendein, wenn auch allerkleinstes Paket. Elegante Wagen schieben sich nebeneinander, Taxameter, fauchende Autos zittern und pulsieren vor den Juwelierläden; dazwischen fliegen kleine Zeitungsverkäufer, Apfelsinenhändler, und da ein kleines braunes Kerlchen mit dunkeln blitzenden Augen, das eben allgewandt dem Blick eines Polizisten zu entgehen bestrebt ist. Es ist wohl aus dem Süden verschlagen, das Kind, und es trägt in dieser eleganten Prachtstraße seinen heimatlichen Weihnachtskram feil. Schwarze Pflaumenkerle, auf Hölzchen gespießte getrocknete Pflaumen, wie kleine Schornsteinfeger. Es schaut mit spähendem Blick an den Herrn und Damen hinauf und lacht dazu aufmunternd mit seinen Schwarzaugen. Eben ist ja sein Feind, der Polizist, mit einem Streit zwischen einem aufgeregten Herrn und einem nicht ganz alkoholfreien Kutscher beschäftigt.
»Zwetschgenkerle, echte schwarze Krambusse,« ruft er. Da leuchten seine Augen auf, ein sehr großer Herr, ein Riese, wie's dem Büblein vorkommt, lacht ihn an und sagt: »Gib mir deinen schönsten Krambus, aber auf zwei gleichen Beinen muß er stehen.«
»Jawohl, Herr Baron,« sagt der kleine Geschäftsmann, in dem wohl ein Menschenkenner schlummert, und, oh, der aufregende Augenblick, der große Herr zieht sein Portemonnaie und hat eine blanke Mark in der Hand.
»Das andere kannst du behalten.« Ein elegantes Coupé ist vorbeigefahren und hält dort, wo um den aufgeregten Herrn und den nicht alkoholfreien Kutscher sich bereits ein Menschenring gebildet hat. Eine junge Dame entsteigt dem Wagen und drängt sich in fliegender Eile durch die Menge. Eben ist der Krambus in ein Stück Papier eingeschlagen in der Paletottasche des Herrn verschwunden, da legt sich plötzlich eine schmale Hand im grauen Handschuh auf den Arm des Herrn.
»O Harro, lieber Harro, endlich, endlich!« halb schluchzend, halb lachend. Das Interesse der vorüberströmenden Menschheit wendet sich nun schier peinlich den beiden hohen Gestalten zu, die da auf offener Straße ein Wiedersehen feiern, wobei der Herr fast sprachlos vor Überraschung ist.
»Prinzessin, verzeihen Sie, ich erkannte Sie nicht, Durchlaucht sind doch nicht ganz allein.«
»Ja – doch!«
»Ich bitte Sie, die Leute alle.«
»Das sind gar keine Menschen, das sind nur Schemen und Schatten. Sie gehen immer über diese Straßen, sie gehen einen nichts an, man spricht nie mit ihnen ... O Harro, hast du mich denn nicht gekannt?«
»Prinzessin, ich sehe dort Ihren Wagen, darf ich Sie dahin begleiten ...«
»Und dann soll ich Dich nie wieder sehen, – nein, was gehen uns die Schemen an. – Ich muß dich sprechen. All die Jahre, – ist denn kein Ort hier in der Nähe –«
Harro hat sie an den Wagen gebracht, es sind jetzt sehr viel Schemen um den Weg. Der Lakai öffnet den Schlag. Rosmarie steht davor, fast mit blitzenden Augen.
»So bist du, Harro!«
Da flüstert er ihr etwas zu, sie nickt und steigt in den Wagen und fährt fort; es kommen wieder neue Schemen und das Gestiebe vom Himmel wird dichter, und der graue Schmutz auf dem Boden klebriger und feuchter. Harro hat sich auch in einen Wagen geworfen und fährt, so schnell es geht, dem Coupé nach. Am Dom entläßt Harro den Kutscher und eilt dann gegen den Wind über den ungemütlichsten Platz Europas, wo alle häßlichen Winde sich ein Rendezvous zu geben pflegen, nach der Nationalgalerie. Das Kunstbedürfnis der Berliner und der Onkels vom Lande ist heute gemäßigt. Die Säle sind fast leer, nur eine Gruppe junger Damen umgibt eine Lehrerin, die eben über die Insel der Seligen doziert.
»Beachten Sie bitte dieses einzigartige ...« Harro entflieht eine Treppe hinauf, und da, unter der Apotheose Kaiser Wilhelms, ausgerechnet unter diesem Riesenschmarren, auf der runden Bank allein, sitzt die junge Dame mit des Seelchens Augen und Stimme und Goldhaar. Sie erhebt sich mit einem leisen Freudenschrei –. So ganz ohne jede Fremdheit und junge Damenhaftigkeit, als flöge das Seelchen den Prinzessinnengang hinunter, so leuchten die grauen Augen.
»O Harro, du bist doch gekommen und hast mich nicht umsonst warten lassen.«
Ein schläfriger blauer Museumsdiener pendelt langsam vorbei; als er sich die beiden Besucher betrachtet hat, verschwindet er wieder in dem nächsten Saal. Stelldichein sieht er zu häufig, als daß sie noch ein Interesse für ihn hätten. Harro beugt sich herab und küßt die schlanke Hand.
»Durchlaucht, ich bin in größter Sorge, daß Ihnen irgend etwas Unangenehmes erwächst, Bekannte kommen, aber ich wollte nicht – Rosmarie, weinen Sie nicht ... ich bitte Sie, soll ich gehen?«
»O nein, Harro, nein, und so lange, wie ich dich nicht gesehen habe – o Harro, warum hast du nicht einen einzigen Brief von mir beantwortet? Auch nicht den letzten, vor vierzehn Tagen!«
»Vor vierzehn Tagen? ...« So lange hat sie noch geschrieben. »Ich habe nie einen Brief bekommen.«
»Nie, – alle meine Briefe ...? Du hast gedacht, ich hätte dich ganz vergessen!«
»Nein, das habe ich nie gedacht. Nur, es sei Ihnen nicht gestattet, ich konnte es auch gar nicht erwarten ...«
»Harro, dein neues Haus steigt aus dem Walde auf. Es ist das schönste im ganzen Land. O Harro, ich möchte hundert Dinge von dir wissen. Und daß du mich gar nicht gleich kanntest, weil ich häßlich geworden bin und so überlang neben allen Leuten, nur neben dir nicht.«
»Häßlich,« sagt der lange Thorsteiner, »o Gott, häßlich!«
Und Rosmarie sieht plötzlich erschrocken und wie aus einem Traume erwachend zu ihm auf. Eine langsame brennende Röte steigt in ihre Wangen und ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen. Die Augen des Seelchens, die sanften, träumerischen Augen, die noch so feucht vom Kinderbrunnen sind. Harro ergreift die feine Hand: »Ich habe Ihnen noch nicht gedankt. Es war so gütig von Ihnen, so ganz wie das Seelchen ... Ich bin seitdem recht einsam gewesen.«
»Nicht so einsam wie ich,« sagte die Prinzessin langsam. »Nein, es ist da die große Arbeit, die Freude daran und der Erfolg – ich habe davon gelesen. Ich lese alles, auch gesehen habe ich die drei Bäume bei Schulte!«
Er lächelt. »Und die hohe Kritik, darf ich noch darum bitten ...«
Rosmarie antwortet ganz ernsthaft: »Es schien mir, als sei der Himmel zu schwer, zu drohend die Wolken, und dazu das Land zu lächelnd, als wäre das Bild aus zwei Stimmungen gemalt, aber vielleicht täusche ich mich.«
»So wenig als früher, Rosmarie, du hast immer noch das zweite Gesicht. – So ganz hat mich nie mehr etwas befriedigt, seit wir nicht mehr zusammen die Bilder malen ... ich könnte dir da erzählen, –« er stockt, es ist ihm ja wieder das alte Du entfahren, das darf nicht mehr sein, das ist vorüber. – Und Rosmarie hat wie immer den leisesten Schatten über seinem Wesen sofort gefühlt.
Sie schweigen, und da drüben pendelt der blaue Diener herum, als treibe ihn ein Argwohn. Einen Augenblick erhebt sie wieder fast scheu die Augen zu ihm auf, ihr Blick gleitet an ihm herunter und trifft den schwarzen Mann und lächelt ein wenig.
»Ich sah dich bei dem Knaben stehen, sonst hätte ich dich nicht mehr erreicht unter den vielen Schemen. Gib ihn mir, Harro, den schwarzen Mann, daß ich auch etwas zu Weihnachten bekomme!« –
Er zieht ihn aus der Tasche und drückt ihn zurecht, und das schwarze Scheusälchen wird in dem weichen Atlasfutter des Sealskinmuffes verborgen, der ihr an einer goldenen Kette vom Halse hängt. Dabei hat er gesehen, daß sie an den schönsten Füßen noch Herrn Wurmhabers Schuhe trägt. Darum dieser Gang, wie nur Königinnen durch Traumgärten schreiten können. Die goldene Krone trägt sie auch. Unter dem Sealskinbarett quillt es hervor in weichen großen Wogen und über dem Ohr hängt frei eine Locke. Eine heiße Welle fliegt über sein Herz, er erhebt sich plötzlich:
»Rosmarie, ich bin in Sorge um Sie, Sie werden gewiß erwartet, und wenn Sie jemand hier so allein sähe. – Es sind leider nicht nur Schemen, es gibt auch böse, geschäftige Zungen.«
Rosmarie erhebt sich langsam. Sie gibt ihm ihre Hand.
»So leb wohl, Harro ... Wann seh ich dich wieder – in Brauneck?« Harro küßt schweigend die Hand, die durch den Handschuh so kalt ist. Es ist, als schnüre ihm etwas den Hals zu.
»Also nicht auf Wiedersehen? Harro, doch! Auf den Wiesen, wo die gelben Blumen stehen und das bittere Wasser des Vergessens fließt. Dort. Auch ich traue mich nicht mehr in die seligen Gärten hinein. Auf Wiedersehen also – vor den Toren. Vielleicht kommt doch ein verlorener Ton heraus. – Leb wohl.«
Sie geht an ihm vorbei hinunter, langsam, wie Königinnen schreiten. –
»O du ... Königin von Thule,« flüstert er ... »O Gott ... einen Augenblick noch. Wenn du geblieben wärest... Gott sei Dank, daß es vorbei ist.« – – –
Der Kutscher Bernbacher aus Brauneck, der so tadellos neben dem Lakaien auf dem Bock sitzt und so sicher das Coupé durch das Gewirr der Autos und Wagen lenkt, bewegt doch seine Lippen dabei. Er brummt: »Es gibt Kerls, die dienen und das Maul nicht halten können ... aus denen wird im Leben nichts. Bagage! Es gibt eine leere Geschirrkammer und eine lange Peitsche und nirgends ein Zeuge. Und kann einer auf die Polizei laufen, die gute Stelle hat er verloren und die Empfehlung von der Herrschaft. – Wir halten auf Ordnung in Brauneck ... Also ein junger Kerl weiß nichts. Der Herr kann groß gewesen sein, er kann auch klein gewesen sein; ist die Prinzessin ausgestiegen oder nicht –. Er hat die Pferde gehalten wegen der dreimal verfluchten Autos ... Br!« Der Wagen hält, der Lakai reißt den Schlag auf, und die Prinzessin steigt die Treppe hinauf und geht in Hut und Mantel in ihres Vaters Zimmer. Der sitzt vor seinem Diplomatenschreibtisch, der mit allerhand Papieren beladen ist. Er sieht erstaunt auf.
»Du kommst von einem Ausgang, ist dir etwas?«
»Ich habe Harro Thorstein wieder gesehen.« Dem Fürsten steigt eine dunkle Röte auf die Stirne.
»War er hier?«
»Nein, er wäre wohl nicht hierher gekommen, ich mußte mit ihm sprechen, ich bat ihn, in die Nationalgalerie zu kommen. Und er war so gut und kam auch.«
»Dies muß ich für im höchsten Grade taktlos von dem Grafen halten, dich zu treffen wie eine Konfektionsmamsell in einer Galerie.«
»Was konnte er tun, wenn ich ihn bat, – mit Tränen gebeten habe.«
»So trifft der Vorwurf dich. Es kann dich jemand gesehen haben, es ist heillos, nur daran zu denken. Du hast dich kompromittiert, du hast alle Mädchenhaftigkeit, deine ganze Erziehung, – Gott, ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll, ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Wo ist denn Miß Granger?«
»Ich habe Miß Granger in die englische Kirche gebracht, es ist heute Saintsday, und bin dann allein die Linden hinuntergefahren ...«
»Ich habe dir vertraut, es kam mir kein Gedanke, daß du dies kurze Alleinsein mißbrauchen könntest. Du weißt doch, daß ein junges Mädchen nicht mit einem Herrn allein in eine Galerie geht!«
»Harro ist doch nicht irgend ein Herr, sondern mein alter Freund.«
»Alt, – er ist keine fünfunddreißig Jahre alt!«
»Daß ich etwas tue, was Mama nicht recht ist und vielleicht auch dir nicht recht, fühlte ich wohl, darum komme ich jetzt zu dir und sage es dir. Bereuen kann ich es nicht, Vater. Wo sind alle meine Briefe, die ich an Harro geschrieben habe und von denen er keinen bekommen hat?«
Der Fürst riß eine dunkle Kassette hervor; ein Druck auf das Schloß, und sie sprang auf. Sie war bis zum Rande gefüllt mit sorgfältig kouvertierten Briefen, alle uneröffnet.
»Glaubst du denn, ich werde das dulden? Nachdem ich eingesehen habe, und auch Mama, die es als Frau besser verstehen muß, mich aufgeklärt hat, welcher Art deine Gefühle für den Thorsteiner sind. Du wirst mir einst dankbar sein. Damals wollte ich keine noch schlimmere Katastrophe herbeiführen, da du ohnedies übermäßig erregt warst, und ich hoffte, du werdest dich mit der Zeit beruhigen und an der einseitigen Korrespondenz genug bekommen. Du siehst, daß ich nichts geöffnet habe. Und Graf Thorstein hat dir nie zu schreiben versucht. Für ihn war die ganze Periode abgeschlossen, er hat sich auch nie mehr sehen lassen. Was ich ihm auch immer hoch angerechnet habe.«
»Er mußte doch denken, wenn er nie mehr etwas von mir hörte, daß ich ihn vergessen und alles, was er mir Gutes und Schönes getan. Aber nun weiß er es ja, und ich bereue es nicht. Und du sollst ihm keinen Vorwurf machen und ihn nicht taktlos schelten ... er konnte nicht anders ... er mußte kommen. Und es war ihm nicht recht und er hatte beständig Sorge, es möchte uns jemand sehen, und es könnte mir daraus ein Schaden werden. Ich verstand es gar nicht, warum er so seltsam war. Du und Mama hätten dabei sein können und jedes Wort hören, das wir gesprochen haben, Vater, und er fürchtete sich vor mir. Ich sah es deutlich, er fürchtete sich. Bin ich denn zum Fürchten! Und er wollte nicht auf Wiedersehen sagen, so sehr ich ihn bat, er wollte nicht. Nur auf den Asphodeloswiesen im andern Land – du brauchst dich darum auch nicht zu sorgen, was ich tun werde, und kannst mir Tag und Nacht Miß Granger an die Fersen heften, oder nicht, – es ist gleich. Ich werde ihm auch nicht mehr schreiben, das ist nun auch vorüber. Das ist alles vorüber.«
Rosmarie glitt aus dem Zimmer mit ihren langsamen Schritten, wie Königinnen schreiten in Traumgärten. Der Fürst ging auf und ab und suchte seine Erregung zu bemeistern. Schließlich war ja jetzt alles viel klarer und besser als zuvor. Rosmarie war noch nicht eingeführt worden, es war wohl möglich, daß sie niemand erkannt hatte. Und der Thorsteiner hatte ihr wohl zu verstehen gegeben, daß die alte Kinderfreundschaft ein Ende habe, und sie hatte es verstanden. Es war also kein Grund vorhanden, sich jetzt noch über die Sache aufzuregen. Charlotte, dachte er, es ist besser, sie erfährt nichts davon. Takt ist nicht ihre Starke. Und Rosmarie, sie beruhigt sich, wohl am ehesten jetzt. Irgendeinen Fetzen Stolz wird sie doch haben. Nun, den raffte sie wohl zusammen, und später kann sie über diese reichlich sentimentale Kinderfreundschaft lächeln.
Alles das sagte er sich schön vor und beruhigte sich damit und kehrte wieder zu seinen Papieren zurück. Aber eine leise Angst bleibt. Rosmarie ist eben ein Sorgenkind gewesen, da haftet einem die Unruhe noch an. –
An Rosmaries Wesen ist aber nichts Besonderes zu bemerken. Sie geht am Abend mit Mama ins Theater, den nächsten Tag in eine große Blumenausstellung. Der Fürst ist erst ganz beruhigt, als ihm sein Diener, den er ausgeschickt hat, um den Grafen Thorstein aufzusuchen, da er ihn eventuell sprechen wolle, die Nachricht bringt, ein Graf Thorstein sei abgereist, unbekannt wohin. –
Nun ist also alles in Ordnung, und als er am andern Morgen Rosmarie freundlich und lieblich an seinem Frühstückstisch findet und sie ihm mit gewohnter Sorgfalt seinen Tee und seine Eier bereitet, gestattet er sich sogar eine extra gute Laune. Die Fürstin erscheint nie zum Frühstück, ihre Toilette nimmt immer längere Zeit in Anspruch. So ist diese Stunde sehr gemütlich. Rosmarie ist eine gute Tochter, findet er, sie ist nicht schlechter Laune, sie hat keine verweinten Augen, sie klagt nicht die ganze Welt an, weil ihr etwas nicht nach Wunsch gegangen ist. Sie hat alles für ihn bereit, einen Morgenkuß, ein liebevolles Eingehen auf seine kleinsten Wünsche. Wenn er bedenkt, welche Szene sie hätte machen können – Serenissimus ist ein großer Feind von Szenen –, so findet er, daß er mit Recht gerührt ist.
»Rosmarie, hast du auch alle deine Weihnachtswünsche laut werden lassen? Weißt du, erraten kann ich nicht so gut. Das ist bei Damen immer unsäglich schwierig. Oder möchtest du selbst jemand eine Freude machen? Gib mir dein Portemonnaie, ich will dir etwas hineinstecken – vielleicht macht es dir doch Spaß, etwas selbst auszuwählen.«
»Du bist sehr gut, Vater, ich danke dir. Ich gehe heute mit Fräulein Bergmann aus, Miß Granger hat Rheumatismus, und besorge nur die Dinge, die ich nach Brauneck schicken will.«
»Ob du es nun für dich verwendest oder für andere, hier mein Herz, nimm und kaufe dir ein bißchen Freude damit, wenn du kannst.«
»Oh, das werd ich tun, Vater, du bist sehr gut, ich danke dir, ich bringe dir auch einen Veilchenstrauß mit.«
»Nimmst du das Coupé?«
»Nein, ich gehe, Mama hat es nicht gern, wenn ich morgens das Coupé nehme, hie und da braucht es die Friseurin, wenn sie gerade Eile hat.«
»Dies ist ausgezeichnet, eine reizende Einrichtung. Meine Tochter geht zu Fuß, weil die Friseurin ein Coupé braucht. Was ist das für ein kostbares Frauenzimmer, daß sie nicht in der Elektrischen fahren kann?«
»O Vater, dazu ist sie viel zu vornehm, das dürfte man ihr nicht anbieten. Und ich gehe gerne. So früh sind auch die Läden nicht so voll, und es geht schneller.«
Rosmarie bietet ihrem Vater ihre weiche Rosenwange hin. »Also ich gehe mir ein bißchen Freude kaufen, das hast du so lieb gesagt.«
»Gut, Rosmarie, und vergiß den Veilchenstrauß nicht!«
Rosmarie mit Fräulein Bergmann, der vielgeplagten Kammerfrau ihrer Mutter, geht die Friedrichstraße hinunter, die ja zu jeder Tageszeit ein anderes Bild bietet. Jetzt gehen Schulkinder und eilige Lehrerinnen und ein verspätetes Ladenfräulein, eine Hausfrau, die in die Markthallen geht. Das ist die einzige Tageszeit, wo Rosmarie sich auf die Straßen wagt. Man sieht zu viel nach ihr, selbst in dem menschenreichen Berlin. Ihre hohe, schlanke Gestalt, ihr Gang, ihr leuchtendes Haar, sie ist auffallend, mag sie noch so einfach und dunkel gekleidet sein, wie jetzt in dem blauen Tuchkleid und Sealskinjackett und Barett. Am schönsten Blumenladen machen sie halt, und Rosmarie kauft zwei wunderschöne Sträuße von herrlich duftenden Nizzaveilchen. Einen Strauß bekommt in Papier eingeschlagen Fräulein Bergmann zu tragen, den andern steckt sie in das Jackett. Es ist mild heute, die Blumen werden's schon aushalten. Einige Läden werden besucht, und hoffentlich werden die Braunecker sich freuen, der Herr Domänenrat, Fräulein Berger und die andern alle.
Da ist ein großer Laden mit Kunstgegenständen aller Art, der kommt zuletzt. Nein, vorher noch der kleine Eisenladen. Rosmarie braucht eine kleine Schere. Fräulein Bergmann muß sich verwundern, Scheren gibt's doch im Überfluß. Aber auch die kleine Schere wird gekauft und wandert in Rosmaries Muff.
Nun kommt die Kunst. Da gibt es eine Menge Dinge, schöne und auch häßliche. Letztere in der Überzahl. Eine freundliche, blasse, nicht zudringliche Verkäuferin ist da, deren Augen sehnsüchtig auf Rosmaries Veilchen fallen. »Fräulein Bergmann, das ist ein schöner Laden, ich glaube, hier finden wir alles, was wir brauchen. Und Fräulein Bergmann, ich glaube, Sie möchten sich auch gerne etwas aussuchen. Darf ich Ihnen das Goldstück dazu geben. Suchen Sie doch etwas für Ihren Bruder, der solche Freude an hübschen Dingen hat. Ich sehe mir einstweilen die Kristallsachen an.« Fräulein Bergmann strahlt. – »Ach wie freundlich, Durchlaucht, tausend Dank!« und sie wendet sich einem wunderbaren Trompeter von Säckingen als Zigarrenbehälter zu. Rosmarie beugt sich zu der blassen Verkäuferin vor und sagt schnell: »Geben Sie mir Papier, ich werde eine Adresse aufschreiben. Und die Kristallvase dort mit dem silbernen Fuß.« Ihre schönheitssicheren Augen haben sofort die einzige gute Form unter all den vielen herausgefunden. Sie schreibt die Adresse mit fliegender Hand.
»Können Sie mir das besorgen, kommt das noch an? ... Mit Eilboten! ...«
»Gewiß, gnädiges Fräulein.«
»Der Preis?«
Rosmarie muß ihr ganzes Portemonnaie ausleeren.
»Wollen Sie es mir besorgen, Fräulein, und dies hineintun?« –
Sie wendet sich um, an den Pfeilern sind schmale lange Spiegel, und vor dem einen hat sie etwas an ihrem Haar zu ordnen. Die Schere blitzt auf, die Locke, die an ihrem Ohr herunterhing, ist nicht mehr da. Den Veilchenstrauß nimmt sie von der Jacke und zerteilt ihn. Das Fräulein muß auf ihre schlanken Hände dabei sehen und auf die schönen, schönen Veilchen. Solche gab's hinterm Pfarrgarten, wo sie daheim war. Freilich nicht an Weihnachten. Und plötzlich hält sie die eine Hälfte der Veilchen in der Hand.
»Für Sie, Fräulein. Sie haben mich so freundlich bedient, und ich sah, daß Sie sich daran freuten.«
Das blasse Mädchen wird rot.
»Gnädiges Fräulein, ich weiß nicht, ich darf ...«
»Oh, Sie dürfen schon« –
Gibt es denn unter den vornehmen, den ganz vornehmen Leuten auch so freundliche Menschen? Gewiß, die blonde junge Dame muß von den allervornehmsten sein! Die Locke windet Rosmarie um die andere Hälfte der Veilchen und legt sie auf den Boden der Schale. Die Schale gibt einen tiefen, feinen und doch starken Ton von sich ... Ach wie schön! Wie der singende Brunnen.
»Einen Namen?« fragt die Verkäuferin.
»Nicht nötig.«
Freilich, wer das Goldgespinst sieht, wird auch wissen, von welchem Haupte es kam. Rosmarie wendet sich lächelnd zu Fräulein Bergmann, die umringt steht von einer Reihe Trompeter, Gretchen und Königin Luisen, und sich eben entschlossen hat.
»Und nun gehen wir, Fräulein Bergmann!«
»Durchlaucht sind fertig?«
»Ich fand nur eines, es wird geschickt.«
»Ach Durchlaucht, die schönen Veilchen. Verloren?«
»Es ist gut, daß ich noch einen Strauß habe, den habe ich dem Fürsten versprochen.« Und sie bringt ihm die Veilchen.
»Ich habe mir eine, nein zwei, nein drei Freuden gekauft.«
»Hast du, Rosmarie! So bin ich recht befriedigt von meiner Tochter. Geh nun zu Mama, ach, wenn man ihr auch Freuden kaufen könnte!«
Am Weihnachtsabend steht Rosmarie unter dem großen herrlichen Baum, der auf dem niederen Tischchen steht. Die Kerzen sind schon ausgelöscht. Der Fürst betrachtet ein neues Prachtwerk über alte Schlösser, das ihm Rosmarie herausgesucht hat. Die Fürstin blättert am Klavier neue Noten um, von denen sie hie und da einen Akkord anschlägt. Rosmarie nimmt von ihrem Platz das Etui, worin auf köstlichem Samt ihr Perlenkollier geruht hat. Sie trägt es schon, Perlen muß man ja immer tragen ... ihr Vater hat es ihr um den Hals gelegt.
An dem untersten Zweige der schönsten Weißtanne aus den Braunecker Wäldern – ach das einzige diesmal von dem geliebten Brauneck, – Mama hat es durchgesetzt, daß man hier blieb, – da hängt tiefverborgen über Rosmaries Platz ein schwarzer Pflaumenkerl. Den schneidet sie vorsichtig ab mit spitzem Scherchen und legt ihn auf den weißen Samt des Etuis. Er paßt gerade hinein und nimmt sich wunderlich genug aus in dem feinen Bett. Dann klappt sie das Etui wieder zu und setzt sich auf einen der tiefen Stühle unter dem Baum und legt ihren Kopf auf die Lehne, die Hände verschränkt sie darunter; Mama dürfte sie nicht so sitzen sehen, aber sie ist ja beschäftigt. Schon seit dem Thomastage, seit sie von Harro gegangen, hat sie einen wunderlichen Druck auf dem Herzen verspürt. Das wird heute stärker, schmerzhaft ist es nicht, nur sonderbar, so daß sie eigentlich immer ein wenig daran denken muß. »Wenn es noch stärker wird, – ja dann – dann flieg ich davon, wie ich es so oft als Kind geträumt habe,« denkt sie. – »Immer vom Fliegen träumte es mir, und heute nacht fliege ich gewiß wieder im Traum mit langen weichen Flügeln. Nun wird Harro wohl das Paket bekommen, ja er hat es schon, es ist so wunderlich, ich meine, ich sehe ihn ... O Gott, ich lerne noch das Fliegen ... Harro, so sitzest du da und starrst in die Schale, und die Veilchen sind noch frisch und, nein ... ich möchte doch nicht fliegen lernen, es bedrängt ...«
Der Fürst sitzt über dem Prachtwerk, er ist gerade an einem seiner eigenen Schlösser, er hört etwas wie einen leichten Fall, aber nichts mehr, und blättert weiter. Die Fürstin hat nun endlich ein Motiv gefunden, das ihr behagt, und beginnt es etwas zaghaft noch durchzuspielen. Es ist irgend eine Walzermelodie, sentimental, ein wenig banal, und ein gewisser Schwung darin, so wie sie es liebt, und das erklingt nun etwas fremdartig in den hohen, schönen Räumen mit dem ernsten Baum, den Rosmarie nach ihren Ideen geschmückt hat. – – –
In seiner alten Stube sitzt der Ruinengraf. Vor einer halben Stunde hat ihm durch den tiefen Schnee der Bote das Paket aus Berlin gebracht. Mit großer Sorgfalt und einigem Staunen über den ungenannten Absender hat er geöffnet. Da, aus der letzten Hülle schlägt ihm Veilchenduft entgegen, der bringt ihm ein leises Herzklopfen, – es kann doch nicht sein, da – die herrliche Schale auf dem Silberfuß, der so schön in seinen Verästelungen das blanke Kristall umspinnt. Schon aus der Form, die unter hundert anderen vielleicht dem Meister so vollkommen geglückt ist, daß sie wie ein Naturerzeugnis wirkt, – schon daran allein kann er die Hand erkennen, die das ausgewählt hat. Und da liegt im Grunde der Schale der Veilchenstrauß, umwunden von dem blassen Goldfaden ... Und da sitzt er davor und starrt und starrt, und es ist, als brennten sich ihm die feinen Formen ein. –
»Seelchen – so erwiderst du den grausamen Schlag, den grausamsten für dein warmes Herz, – damit, daß du mir noch Liebes tust. O Seelchen, wenn du noch irgendwo zu finden wärest, ich liefe bis ans Ende der Welt, bis ich dir gedankt hätte. Aber du bist nicht mehr zu finden, in deine seligen Gärten bist du gegangen, es ist eine fremde junge Fee, die deine Augen trägt und sagt, sie habe dein Herz. O du Königin von Thule! – O Gott, was hat der Ruinengraf mit dir zu schaffen? Fremde, junge, blasse Königin mit deiner goldenen Krone.« –
Horch, klang da nicht die Schale, ein Ton, fein und stark und süß, entschwebte er nicht dem geheimnisvollen Rund, und hebt sie sich nicht leise vom Tisch, als hübe sie wer in die Höhe – steht da nicht eine weiße, schlanke hohe Gestalt mit der goldenen Krone, und sehen ihn nicht über den Rand der Schale große, graue sanfte Augen an. – Und noch einmal klingt das Glas, fremder noch und feiner, ferner ... – Der Ruinengraf springt auf, daß sein Stuhl umstürzt, »Seelchen, o Königin.« Er ist allein in der großen düsteren Stube mit seiner Kristallschale und seinen Veilchen. »Was war das – habe ich geschlafen, fang ich an, Hirngespinste zu bekommen? Königin von Thule, oh, was kann ich dir denn sein? Was rufst du mich ... Oh, nur dein Narr kann ich sein, – dein Narr,« und der Thorsteiner legt seinen Kopf auf die Tischplatte neben seiner Schale und seine Schultern zucken so heftig, daß nun die Schale wohl tönen mag ...
»Was ist denn mit Rosmarie, ich glaube, sie ist unterm Baum eingeschlafen, sieh doch nach ihr! Wenn sie müde ist, soll sie zu Bett gehen,« ruft die Fürstin über den Flügel herüber.
Der Fürst legt seinen Band beiseite. Das ist wirklich hochinteressant ... »Das hast du gut gemacht, Rosmarie,« – er geht in das andere Zimmer. Rosmarie sitzt nicht auf ihrem Stuhl, nein ... da liegt sie, wie sie heruntergeglitten ist, schneeweiß mit halboffenen Augen unter dem Christbaum.
»Charlotte ... o Gott. Rosmarie – sie ist ohnmächtig – o komm doch.«
Die Fürstin kommt herein, dann kreischt sie auf: »Tot ist sie ... ich kann das nicht sehen – die Augen, – decke sie zu, die schrecklichen Augen ...« Der Vater hat sein Kind schon in den Armen.
»Unsinn, ich fühle das Herz, wie es schlägt, so hilf doch! Rufe den Leuten!« Die Fürstin geht rückwärts an die Türe und drückt auf die elektrische Leitung, dann sinkt sie auf den Diwan und verbirgt ihr Gesicht in die Kissen. »Ich kann das nicht mit ansehen, sie ist tot ... Oh, tragt sie fort – tragt sie fort.«
Es stürzt alles zusammen, man trägt Rosmarie auf ihr Bett. Dort liegt sie, nun hat sie die Augen geschlossen. Der Fürst hält ihre Hand. Gott sei Dank, man hört das schwache, aber regelmäßige Schlagen des Herzens. Weil seine zitternden Finger den Puls nicht mehr halten können, drückt er seine Lippen auf das blasse Handgelenk, so fühlt er den leisesten Schlag. Da kommt der Arzt, und Rosmarie schlägt wieder die Augen auf und flüstert:
»Heute bin ich geflogen, weit – aber es ist schwer, das Fliegen – es macht müde – es bedrängt.«
Rosmarie hat doch ein recht schwaches Herz. Man muß sie sehr schonen, sie ist viel zu schnell gewachsen, und es wird gut sein, wenn sie einen recht ruhigen Sommer auf dem Lande mit möglichst viel frischer Luft und möglichst wenig seelischen Erregungen, nicht zu viel Vergnügen oder Sport verbringt.
Schon im Februar, als noch Schnee und Regen auf der Hochebene miteinander kämpfen, flattert auf dem Ecktürmchen von Schloß Brauneck die weißblaue Fahne. Finster liegt das Schloß mit seinen vier dicken Türmen unter den niedrigen jagenden Wolken. Die alten Tannen auf der Nordseite peitschen die Mauern mit ihren langen Armen. Rabenschwärme ziehen über den Park, und aus den Wäldern tönt das rauhe Bellen der Rehe. Ist das eine Jahreszeit, um in einem weitläufigen alten Bau zu wohnen, wo die Winde sich in den Galerien verfangen und nächtelang heulen und pochen und rasen, wo die Gänge finstere Rheumatismus-Gespenster entlassen, die sich auf den harmlos Dahinwandelnden stürzen? – Wo Kammerfrauen sich täglich über schlecht schließende Fenster, eisige Alkoven beklagen und bitteren Herzens sich erinnern, daß es in der großen Stadt Zentralheizungen, glänzende Läden, abendliche Theatervergnügen gibt? Der französischen Kammerfrau bemächtigt sich die Überzeugung, daß in dem Alkoven, in dem ihr Bett steht, quelqu'un s'est donné la mort, und verschwindet am achten Tag aus Brauneck. Auf der armen Fräulein Bergmann lastet die ganze Verantwortung, die Fürstin in den Stand zu setzen, in welchem sie sich der Welt zu zeigen wünscht. Schon beim zweiten Frühstück hat sie rote Augen, sie hat sehr nahe am Wasser gebaut, – aber dann kann sie sich erholen, denn das weitere ist Sache der Prinzessin, und ihren Augen sieht man nichts an. Das blaue Männlein muß sich freuen über Rosmarie, die nun so schön schweigen gelernt hat: sie kann es schier zu gut.
»Rosmarie, habe Geduld, nur noch die kurze Zeit, mein Kind, du wirst sehen, wie viel erfreulicher und besser alles werden wird,« sagt ihr der Fürst, »wir verlangen Opfer von Mama, und die müssen wir ihr zu erleichtern suchen.«
Es ist auch ein großes Opfer, das die Fürstin dem künftigen Erben von Schloß und Herrschaft Brauneck, Schweigen und Kirchhalden, und noch drei anderer nahrhafter und romantischer Schlösser und Güter bringen muß. Sie hat Berlin mitten in der Saison verlassen müssen, später wäre dem Fürsten eine Reise zu gefährlich erschienen, und der Erbe und zukünftige Herr von Brauneck wird nicht in der Fremde geboren, sondern in der Heimat. Und die lange Zeit soll die Fürstin liegen, der es am wohlsten auf dem Rücken ihres Pferdes, auf dem Kutschierbock und auf dem Schießstand ist. Arme Fürstin, wie eingekerkert und bewacht kommt sie sich vor bei aller Fürsorge, und wie nur je ein armer Gefangener seine Kerkermeister gehaßt hat, so haßt sie abwechselnd den Hofrat, den Fürsten, Rosmarie, – wer nur eben gerade an der Reihe ist.
»Die Zeit wird vorübergehen,« sagt der Fürst, wenn er sein blasses Kind ansieht; sie hat ja nun freilich all das nicht, was der Berliner Arzt für sie verlangte. Aber wo zwischen Himmel und Erde kann er ihr denn das verschaffen – schöne Ruhe, kleine Freuden, möglichst wenig seelische Erregungen! – Der Frühling wird schon Besserung bringen, er kommt nur so zögernd, und auf einen Sonnentag gibt's zehn frostige Regentage. Rosmarie könnte irgendwohin mit Miß Granger geschickt werden, aber bei der Erwähnung des Planes kommt die Fürstin außer sich. Nein, sie kann Rosmarie nicht entbehren, die Bergmann liest schändlich vor, bei allen rührenden Stellen schnüffelt sie, und es rührt sie schon, wenn sie liest: der Jüngling erblickte seine Vaterstadt im Abendglanze. Rosmarie kann wenigstens anständig vorlesen, wenn sie will, und mit wem soll sich die Fürstin denn sonst den ganzen langen Tag unterhalten? Man schlägt die zweitjüngste Schwester der Fürstin vor, diese kommt auch, reist aber schon nach einer Woche wieder ab, sie muß plötzlich einen Zahnarzt konsultieren. Aber Fräulein Bergmann vertraut es dem Nähröschen an, daß sie ein Gespräch der beiden Damen angehört hat, wobei die jüngere Schwester zur älteren sagte: »Meinst du, du könntest mit mir Katze und Maus spielen wie mit deiner einfältigen Rosmarie!«
Der Frühling kommt, und er ist unsäglich schön und herrlich, und Rosmarie kann ihn vom Fenster aus besehen. Es reicht gerade zu einem täglichen Gang in den Park und zu einer kurzen Fahrt ins Tal hinunter und wieder herauf. Die Fürstin kann nicht einmal in den Garten gebracht werden, es haben sich bei ihr allerhand beängstigende Symptome gezeigt, und so spielt sich ihr ganzes Leben in den Zimmern ab. Rosmarie hat die geschicktesten, sanftesten Hände, sie kann stundenlang vorlesen, sie kann in den Schlaf bringen durch leises Streichen über Stirn und Hände und kann wie ein Schemen hinausgleiten, wenn sie das erreicht hat. Rosmarie ist unentbehrlich geworden.
Die Felder glühen schon im frühen Juli in goldener Pracht, an den Spalieren röten sich die Birnen und Äpfel, und die Rosen verglühen an einem Tage. Und zuweilen ziehen schwere Gewitter herauf, und nie hat man von so viel Blitzschlag und plötzlichen Bränden gehört.
Heute ist wieder ein tiefblaugoldener Himmel, und am frühen Morgen ist es so still, daß sich selbst in des Fürsten Sommerstube kein Vorhang blähen will wie sonst fast immer auf der Bergeshöhe. Rosmarie sitzt auf ihres Vaters Lederdiwan, sie hat ihm eben den täglichen Rosenstrauß für seinen Schreibtisch gebracht. Der Fürst sieht sie an und seufzt. Sie verändert sich immer mehr, und es kommt ihm vor, als werde sie immer blasser.
»Du bringst ein Opfer, Rosmarie, und du hast so gar kein Vergnügen gegenwärtig – so wenig hast du von deiner schönen Jugend. Und doch bin ich froh, daß du Mama so unentbehrlich bist.«
Rosmarie lächelt ein wenig, ein Lächeln, das nur die Spitzen ihrer wunderschönen Zähne zeigt. Der Fürst wird unruhig, wenn er dies Lächeln sieht: es ist etwas darin, was ihm Gedanken macht. »Wir müssen etwas ganz Schönes für dich herausfinden, wenn nun der Sommer so hingeht. In Berlin bekommst du auch keine roten Backen. Weißt du, was ich denke? Wir suchen dir irgend einen schönen Ort an der Riviera heraus, ein Küstennest am blauen Meer, mieten dir und Miß Granger eine kleine Villa für den nächsten Winter. Da kannst du dann sehen, wie der Frühling eigentlich ist. Was meinst du? Wie geht es dir übrigens, keine Ohnmachten mehr?«
»Ich danke, Papa, – Ohnmachten, – ja hie und da einmal, wenn es so heiß ist, aber du brauchst dich nicht zu sorgen, ich erschrecke Mama nicht damit, ich gehe schon vorher, ich fühle es ja immer kommen. Mama hat ja so angegriffene Nerven und fürchtet sich vor Gewittern, – ich habe Sorge, ob wir nicht heute eins bekommen, so heiß, wie es schon ist.«
Sie erhebt sich und tritt zu ihrem Vater hin und legt ihm von hinten her ihre Arme um den Hals und küßt ihn auf die Wange und geht hinaus an ihr schweres Tagewerk. Sie denkt: Wie einsam ist der Mensch, wie sterneneinsam –, man liebt sich, man streckt die Hände nacheinander aus und kann sich doch nicht fassen, und jedes muß auf seinem Stern bleiben. –
Die Fürstin liegt in ihrem großen Himmelbett, das mitten im Zimmer steht. Um sie herum ist ein wahres Toilettenlager aufgehäuft, Fräulein Bergmann, die Klara und Rosmaries neue Jungfer, die Lisa, jedes trägt einen Arm voll Toilettensachen und legt sie irgendwo ab, auf dem Diwan, auf Stühlen, auf Kästchen, – fluchtartig sieht es aus. Jedesmal, wenn etwas Neues zum Vorschein kommt, muß es der Fürstin ans Bett gereicht werden, sie riecht daran und befiehlt: »Dieses auch.« Und dann wird das Schneiderkunstwerk wieder weggelegt. Rosmarie steht eine ganze Weile unbeachtet in dem Wirrsal seidener Röcke und Umhänge, bis die Fürstin ihr ruft: »Ich bitte dich, Rosmarie, rühre dich auch ein wenig, ich will doch nicht ewig in diesem Durcheinander liegen.«
»Guten Morgen, Mama, o gerne, wenn ich weiß, was ich soll, was geschieht denn? Darf ich dir nicht zuvor deine Kissen richten?« Sie tut's, und die Fürstin sagt: »Nun rieche einmal selbst ... Riecht es nicht unverschämt nach Rosen ... dem häßlichen Duft von alten Rosenblättern.«
»Doch, Mama, und es kommt von dem wunderschönen alten Schrank. Sie sagen, er sei innen mit Rosenholz gefüttert, Fräulein Berger ließ mich manchmal hineinriechen, als ich noch ein Kind war, das freute mich sehr.«
»Und ich hasse den Geruch. Er verträgt sich auch gar nicht mit meinem neuen persischen Parfüm, und wenn meine Kleider in den gräßlichen Kasten kommen, verlieren sie das, und die alten Rosen sind wieder da.«
»Dein neues Parfüm ist sonderbar, Mama, und stark, und freilich mit den Rosen vereinigt es sich nicht angenehm, zu laut find ich's. Willst du's nicht weglassen und bei den Rosen bleiben?«
»Ganz gewiß nicht, Rosmarie, und ich habe mich überzeugt, daß dem alten Kasten keine Raison mehr beizubringen ist, alles muß heraus und gelüftet werden, und der Schrank muß fort.«
»Aber der ist ja angewachsen, Mama.«
»Ach, dann haut man ihn ab!«
»Ist das nicht schade, es geht so viel hinein, er ist ein wahres Haus und so praktisch und bequem.«
»Ich sage, es ist ein Ungetüm, eine Arche, und der Geruch geht mir auf die Nerven, nimm ihn, wenn du ihn willst, Rosmarie, aber komme mir gefälligst nicht zu nahe, wenn du Kleider daraus trägst. Lisa, müssen Sie denn wie eine Kuh auf den Spitzen trampeln, Sie schleifen ja nach!«
Rosmarie atmet erleichtert auf. Nun ist Mama für den ganzen Tag versorgt und von der ungraziösen, langen, blassen, schlecht angezogenen, langweiligen Rosmarie abgelenkt. Die Fürstin kommandiert und besieht ihre Toiletten, und der tägliche furchtbare Kampf mit der Langeweile ist schon am frühen Morgen durch einen Sieg entschieden. Die Türe ins Vorzimmer wird zwar geschlossen, als die Diener kommen; vier reichen nicht, es müssen sechs, nein acht Leute sein, um den alten widerspenstigen Riesen von der Stelle zu rücken. Er ist wohl für eine Dame gebaut worden, die Veränderungen nicht liebte und an ihren Ruheplätzen im Garten Steinbänke anbringen ließ. Nicht einmal Füße hat das Ungetüm, es liegt mit seinen dunkel geschnitzten Leisten direkt auf dem Boden auf. Der Schrank gibt Unterhaltung für den ganzen Tag ab. Schlimm zerrissen sind freilich seine unteren Leisten, als er wie ein erschlagener Riese auf Rollen im Gang fortgeführt wird, in Rosmaries Reich hinüber. Das Gerumpel, das Gepuste der Männer, der bunte Kram, der nun so schwer unterzubringen ist, das alles affiziert Mamas Nerven nicht, im Gegenteil, sie ist dadurch ganz aufgemuntert. Nun macht Rosmarie die Türe weit auf in den Vorraum, in welchem der Schrank stand, und der zum Zimmer der Kammerfrau führt. Da sieht man, daß um den alten Herrn herum tapeziert worden ist. An der leeren Stelle ist eine graublaue Fläche mit einem zierlichen Rosenmotiv gemalt. Der Schrank hat so gut geschützt, daß die Farben noch ganz frisch sind.
»Nun muß also tapeziert werden,« entscheidet die Fürstin.
»Ist das nicht schade, Mama, das hübsche alte Rosenmotiv könnte doch fortgesetzt und der ganze Raum so bemalt werden.«
»Gemalte Wände, das hat kein Mensch.«
»Sieh doch, wie die Tapete häßlich dagegen aussieht.«
»Es ist alter Kram, Rosmarie, und darum gefällt es dir.«
»Es ist eine Türe da, das Geranke ist hier auf Leinwand gemalt. Da muß das Schloß sein.«
»Rosmarie, komm augenblicklich daher, die Türe bleibt zu. O Gott, warum muß ich in einem solchen gräßlichen Haus wohnen, überall Gänge und geheime Türen, und wer weiß, vielleicht steckt ein Skelett dahinter. Man sagt, in allen alten Schlössern sei irgendwo etwas Lebendiges eingemauert, du hast mir doch über das Bauopfer vorgelesen. Wenn das nun dahinter steckte! – Gott, darum habe ich den Schrank mit seinem alten Geruch so gehaßt!«
»Mama, Herr Domänenrat hat mir gesagt, es steckten überall Gänge in den Mauern, aber von Skeletten hat er mir nie etwas gesagt. Gewiß ist dahinter nichts Grauliches. Soll ich Papa oder den Herrn Domänenrat holen? Und sollen die nachsehen, daß du dich beruhigen kannst?«
»Nein, nein! Wenn die etwas fänden, und ich hätte die ganze Zeit neben einem Ermordeten gewohnt. – Der Geruch war doch nicht nur nach Rosen. Ich kann nicht dableiben, ich muß umziehen: wenn ich nur das alte Geranke mit seinen Dornen da sehe, bin ich überzeugt, daß dahinter etwas Gräßliches verborgen ist.«
»Mama, wenn nun nichts Schlimmes da wäre, so bist du beruhigt, während, wenn wir es nicht wissen, du dir alles mögliche Schreckliche ausdenken kannst. Mir sieht das Rosenmotiv recht schön und freundlich aus. Soll ich nicht mit Vater –«
»Rosmarie, ich verbiete dir!«
»Dann mußt du ja immer in der Angst bleiben, arme Mama.«
Die Fürstin sagt ergeben: »Ich habe es vom ersten Tage an gewußt, daß es ein Spukschloß ist, schier so schlimm wie Schweigen. Daß du mir nicht an die Türe gehst! Ich sehe voraus, du machst auf und eine Ladung alter Särge poltert herunter.«
»Mama, ich kann ja die Türe zumachen, dann siehst du nichts Schlimmes.«
»Aber ich hör's.«
»So bringen wir dich in deinen Salon, da hörst du nichts und siehst nichts, und wer weiß, was wir für Schätze finden. Einen Pack alte Spitzen für dich, Brokat zu einer Prachtweste für Vater.«
»Glaubst du, ich wollte das alte Zeug. Damit laßt mich in Frieden.«
Rosmarie sagt nichts mehr und beschließt, morgen in aller Heimlichkeit, solange Mama schläft, den Gang öffnen zu lassen. Jetzt ist's zu spät, der Fürst ist auf die Jagd gefahren, und über alledem ist's Abend geworden. Und zum Glück beruhigt sich die Fürstin wieder, denn nun gibt's einen anderen Grund zur Aufregung. Kommt ein Gewitter oder nicht? Und der Fürst ist jetzt auf dem Anstand. Die Fürstin seufzt. Wer da auch sein könnte, in der Halbdämmerung, den Finger am Hahn, das Jagdfieber im Blut. – Dort zwischen dem hohen Riedgras regt es sich, ein feiner gehörnter Kopf. – Gräßlich, dazuliegen bei der Schwüle in den heißen Kissen, mit Aussicht auf noch drei weitere Monate.
Rosmarie wird auch ängstlich, sie hat nur wenige Bissen gegessen, Vater wird allein essen müssen, wenn er kommt. Sie kann Mama nicht verlassen. – Wie sie sich herumwirft in den Kissen.
»Soll ich nach dem Herrn Hofrat schicken?«
»Er sagt doch nur: Mehr Ruhe – Ruhe ... Oh, wie ich das Wort hasse.«
Die Luft ist bleischwer geworden, die weiten Fensterflügel stehen offen, ein fernes Wetterleuchten. Wie dunkelgrüne eherne Massen liegen die Wipfel der Bäume unter den Fenstern ...
Ein langer, müder, bleierner Abend, zuweilen grollt ferner Donner, es wetterleuchtet, und man kann die dunkeln schweren Vorhänge nicht herunterlassen, sonst wird die Schwüle unerträglich. Rosmarie sitzt immer noch da mit ihrem Band Militärhumoresken, die so niederdrückend auf sie wirken, daß der Gedanke an die möglicherweise hinter dem Rosengeranke verborgenen Särge fast erheiternd dagegen ist. Es ergreift sie ein tiefer Abscheu gegen Leutnants und Majors und Burschen und Stiefelappelle, aber Mama kann immer noch nicht einschlafen, so furchtbar erregt wie sie ist. Rosmarie hat zwar lange schon die schwere Kunst gelernt, vorzulesen und den Inhalt gleichsam an sich vorbeigleiten zu lassen und sich selbst noch ein Seelenendchen zu bewahren. – Heute abend versagt sie, ihre Kraft ist am Ende. Die Schwüle hat den leisen Druck an ihrem Herzen gesteigert. Schlimmer darf es nicht werden. Sie fragt: »Mama, erlaubst du, daß ich meine Haare herunterlasse, der Kopf tut mir so weh von den vielen Nadeln, und wenn du ein klein wenig still liegen kannst, so will ich sehen, ob ich dich nicht in den Schlaf streichen kann.«
»Tue es,« sagt Mama ungnädig, »ich weiß nicht, was du hast, meine Nadeln quälen mich nie.«
Rosmarie läßt ihre langen Zöpfe herunterfallen, schwer liegen sie auf ihren Schultern, und ihr junges, blasses Gesicht ist eingerahmt von den weichen, goldenen Wellen. Sie geht nach dem Fenster und blickt in den schwarzen Park hinaus, kein Laut, kein Hauch regt sich draußen, da plötzlich flammt ein greller, blauweißer Blitz auf, der ihre ganze hohe, weiße Gestalt umloht wie ein Bild auf goldenem Grunde.
»Rosmarie,« ruft die Fürstin ängstlich, »nun kommt das Wetter doch!«
Einen Augenblick erfüllt ein Brausen und Heulen die Luft, die dunkeln Vorhänge schlagen in die Höhe wie Riesenflügel fremder Vögel, es klirrt und rauscht und dröhnt, als werde in dem ganzen Bau jedes Stück Holz lebendig und wollte noch einmal mittun im wilden Windestanz, dann wieder tiefe Stille. Ist das Gewitter schon vorüber? Nach dem wilden Lärm ist die Stille noch bedrückender. Und die Nacht lauert draußen wie ein gespenstiges Ungeheuer.
Der Fürst kommt herein, gute Nacht sagen.
»Ja, Rosmarie, bist du noch auf? Du siehst aus wie ein Marmorbild. Geh gleich zu Bett! – Charlotte, du kannst sie doch entbehren?«
»Einen Augenblick noch ... Gott, ich weiß gar nicht, warum sie noch so lange herumstand. Ihre Unterhaltungsgabe ist heute geringer als je. Gehst du zu Bett?«
»Ja, wir werden in der Nacht wohl eine Störung bekommen, da geh ich mir vorher noch ein wenig Schlaf holen. Rosmarie, in zehn Minuten bist du drüben.«
»Schrecklich, daß du das sagst, Fried. Nun werde ich kein Auge zutun können. O diese Braunecker Gewitter.«
»Zu ängsten brauchst du dich nicht, Charlotte, denke daran, wie lang der alte Kasten schon steht und wie viele Gewitter er schon ausgehalten hat. Wenn irgend etwas ist, so laßt mich rufen, bitte.«
Der Fürst geht und wendet sich an der Türe noch einmal um. Wie die Rosmarie heute aussieht, wie aus einem Bilde, und doch hat er nichts Ähnliches gesehen. Ein Lied kommt ihm in den Sinn.
»Da nahm die Königstochter
Vom Haupt ihre goldene Kron'.«
Warum ihm das nun gerade einfällt. Aus welchem Liede war das?
»Sie konnten zusammen nicht kommen –
Das Wasser war viel zu tief,« –
summt es in ihm weiter. Welch sonderbare Wege gehen die Gedanken. –
Rosmarie setzt sich wieder an der Fürstin Bett, zum Umfallen müd ist sie, aber so kann sie Mama nicht verlassen. Sie kennt nur zu gut das unruhige Flackern in den schönen braunen Augen. Sie versucht mit sanften Händen über Mamas Stirne zu streichen oder den Rücken hinabzuführen, aber heute ist's umsonst, die Gewitterangst hält die Fürstin lebendig ... oder ist's das Geheimnis hinter der Rosenwand. Ächzend und stöhnend wirft sie sich herum. Und nun ist's, als schössen an dem schwarzen Himmelsrand – man hat einen so weiten Horizont auf der Bergeshöhe – überall Lichtgarben empor. Totenstill ist's, und doch wallt und webt die Luft von zuckenden Lichtern, bald erscheint in der Ferne ein gelbes Weizenfeld und verschwindet wieder, ein Dorf, ein Kirchturm, dann ist's eine dunkle Waldkuppe, deren Rücken von blauen Flammen umspielt wird. Die Vorhänge kann man nicht schließen, die Schwüle wird immer bleierner. Hat Rosmarie geschlossen vor dem wilden Lichterspiel da draußen, so ruft die Fürstin: ich ersticke, – und sie muß wieder öffnen.
»Darf ich zu Bett gehen, Mama, und dir Fräulein Bergmann schicken?«
»O Gott, kannst du denn schlafen in einer solchen schauerlichen Nacht, Rosmarie! Andere Mädchen tanzen die ganze Nacht und sind um zwei Uhr morgens noch höchst vergnügt, und wie läßt du jetzt schon den Kopf hängen! Du bist ja gewiß unendlich salzlos und langweilig, und deine Zöpfe gehen auf, aber Fräulein Bergmann ist noch schrecklicher. Sie schnüffelt ja gleich, wenn man ihr einmal ein schnelles Wort sagt. Aber was hilft's, wenn man sie fortschickt, irgend eine ferne, fixe Person, die ein wenig Schick hat, bliebe doch nicht in diesem Waldwinkel. Wer bleibt denn hier, wen haben wir hier denn? Mit dem einzigen vernünftigen Menschen im Umkreis, bei dem man nicht vor Langeweile starb, wenn er den Mund auftat, hat man sich um deinetwillen überwerfen müssen ... das heißt, er kommt nicht mehr, aus guten Gründen.«
»Mama, sprich lieber von etwas anderem, von mir, wenn du willst!«
»Gott, ich weiß ja, du hast immer noch dein altes tendre ihn. Er lachte dich aus mit deinen kindischen Ideen ... die letzte Szene. Wie unangenehm du ihm warst! Gott, ich muß lachen, wenn ich daran denke, und es ist ein Glück, daß es noch etwas zum Lachen gibt in einem Hause, wo hinter Kleiderschränken Skelette und Särge stecken. – Wie er dich abschüttelte, wie einen Käfer, und sein Gesicht! – Starr vor Schrecken über das verrückte Gänschen.«
Rosmarie steht da wie ein Bild aus Gold und Marmor. Sie ist ja wehrlos. Es ist ihr, als stünde sie an einem Schandpfahl, und man risse ihr die Kleider vom Leibe, daß die unbarmherzigen Augen all ihre geheimen Wunden sähen. Und ihre Augen werden langsam dunkel ... es sind keine grauen Augen mehr, sie sind samtdunkel, und das Blondhaar umgibt ihr Antlitz, als bewege es ein leichter Luftzug, und ist doch keiner zu fühlen. Die Fürstin sieht sie an, und ihr Lachen, mit dem sie die Szene vollends ausgedeutet hat, erlischt.
»Du siehst so sonderbar aus, Rosmarie.«
»Ich weiß nicht, Mama, vielleicht, weil ich leide, ich habe heute einen Druck an meinem Herzen.« »Den habe ich wahrhaftig auch und mache keine solchen Gespenstergesichter. Rosmarie, du paßt zu dem alten Schrank und dem Gang dahinter! Gott, wie siehst du aus, als hättest du schon im Grabe gelegen. Wie eine gräßliche, geisternde Ahnfrau siehst du aus! Oh, wie ich dieses Brauneck hasse! Das ist nun mein Leben, hier liegen und auf die Gnade warten. Hätt' ich euch doch nie gesehen. Ich werde sterben daran, und ihr werdet euch freuen. – Nein, das habe ich nicht gesagt. – Leben will ich, hört ihr, leben! Die gräßliche Last abschütteln und wieder ein Mensch sein! Ihr habt euch zu bald gefreut, wenn ihr glaubt, ihr habt mich zu eurer Sklavin gemacht!«
»Mama, ich bitte dich, – fasse dich, ich muß gehen, glaube mir's, ich kann doch niemand deine Worte hören lassen.«
Ein blendender, züngelnder Blitz, ein Donnerschlag, als ob die Erde erbebte, wie eine Riesenwolke fährt der Sturm wieder über das Land, die dunkeln Vorhänge schlagen an die Decke. An die festen Türme wirft sich der Wind mit Riesenarmen, als wollt er sie umfassen und in die Tiefe stürzen, sie, die ihm so lange getrotzt. Um die Galerien jauchzt und tobt und klatscht und rast der Troß der Winde; in die Kamine stürzen sich die Windbuben und heulen, wenn sie nicht gleich wieder heraus finden. Blaue Flächen reißt Blitz auf Blitz aus dunkeln Wolkenbergen. Jedes von den hundert Fenstern klirrt und hat seine eigene Stimme in dem Chaos. Die Fürstin hat sich schreiend in die Kissen geworfen: »Rosmarie, die Fenster ...« Rosmarie tastet nach der elektrischen Klingel, da schlagen aus ihr blaue Flammen heraus und einen Ton gibt es nicht. Das Fenster kann sie nicht schließen, dagegen liegt ein breiter Windbub, lacht und bläst seinen feuchten Atem herein, – was können Rosmaries zarte Arme dagegen. Der Windbub faßt ihr langes Haar, daß es in die Lüfte fährt wie ein goldenes Sturmsegel, und wirft es ihr lachend wieder um den Kopf und wickelt sie darin ein und reißt es wieder auseinander. Gellend ruft die Fürstin: »Was machst du, Rosmarie, schließe zu, rufe die Leute, ich will dich nicht sehen. Du bist gräßlicher als alles, ein Gespenst bist du mit deinen lebendigen Haaren ... O wie ich dich hasse, wie ich euch alle hasse, wie ich das Schloß hasse, das mich noch töten wird. Geh doch, geh ... Ich fürchte mich vor nichts mehr, wenn ich nur dich nicht sehen muß. Du bist's! Du steckst hinter allem, du bist der Geist dieses verfluchten Schlosses hier, das mich quält und nach meinem Leben verlangt.«
Rosmarie wankt nach der Schwelle; nein, nicht Fräulein Bergmann, ihren Vater will sie rufen ... In ihren Ohren siedet's und braust's. Der tolle Sturm im Kampf am Fenster hat ihr fast den Atem genommen und den Druck am Herzen entsetzlich verschlimmert. Sie verfehlt die Richtung in dem so plötzlich veränderten Vorzimmer, das nur zuweilen die grellen Blitze erleuchten, sie hat die Hand an jenes Rosengeranke gelegt, ob ihre zitternden Finger einen Riegel berührt haben oder nicht, sie weiß es nicht. Endlich hat sie den Ausgang gefunden. Kaum ist sie im Gange, so kracht ein brüllender Donnerschlag hernieder, der selbst in dem steinernen Riesenleib des Schlosses ein Zittern und Beben verursacht. Das Klirren und Poltern und den gellenden Schrei hinter ihr verschlingt das furchtbare Getöse. In der Sommerstube ist noch Licht, vielleicht ist ihr Vater schon dort. Aus seinem Schlafzimmer muß er durch die Sommerstube kommen. Mit ihrer letzten Kraft kann sie eben noch die Türe öffnen, und als sie keinen Menschen, auch nicht den Leibjäger ihres Vaters dort findet, auf die Alarmglocke drücken, dann sinkt sie ohnmächtig neben dem Lederdiwan zu Boden. Schon stundenlang hat sie mit eisernem Willen dagegen angekämpft, nun entschwindet ihr alles. – – –
Sie erwachte erst, als ein graues Morgenlicht ins Zimmer fiel. Sie erhob sich mühsam mit großen Schmerzen in ihren Gliedern und wankte in ihrer Mutter Zimmer. Im Vorzimmer saß eine Diakonisse, die stand auf und schob sie sanft hinaus.
»Gehen Sie hinüber, Prinzessin, ich bringe Nachricht –«
Sie ging in ihr eigenes Zimmer. Halb betäubt setzte sie sich auf ihr Bett. Da hörte sie draußen Stimmen.
»Ja, es war ein Knabe, und jetzt ist wohl keine Aussicht mehr. Die Fürstin ... sie kommt über den Berg, ja, eine kräftige Natur ... in einer Beziehung gewiß.«
Rosmarie ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf ihr Bett gleiten und streckte sich aus.
»O Vater, du solltest nicht trauern. Wird dich ein Kind glücklich machen, das dir der Haß gebracht hat!« –
Als die Sonne schon hoch an einem verweinten Himmel stand, ging Rosmarie in die Sommerstube zu ihrem Vater, mit ihren leisen schwebenden Schritten. Der hatte sie hereinkommen hören, wandte ihr aber den Rücken zu und drehte sich auch nicht um. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Sei nicht mehr traurig, lieber Vater.«
Der Fürst fuhr herum. – O Gott, wie sah er aus. Als ob er geweint hätte, übernächtig, verstört, ein finsterer Zorn lag auf seiner Stirn. Wie nur sein finsterster Ahn je geblickt haben mochte, wenn er seinen Todfeind vor sich sah.
»Ich begreife nicht, wie du es wagen kannst, mir unter die Augen zu kommen! Laß deine Kammerjungfer packen, ich habe an Tante Helen depeschiert, daß du kommst. Hier in Brauneck kannst du nicht sein um deiner armen ... der Fürstin willen, und ich will dich auch nicht sehen.«
»O Vater, was soll ich – warum – ich war ohnmächtig lange, ich – ich habe hier gelegen.«
»Was redest du? Hast du dich hier versteckt, nachdem dir dein Streich gelungen?«
Rosmarie richtete sich auf: »Nun will ich hören, was ich getan haben soll!«
»Das weißt du selbst, und es ist so schändlich, daß ich es nicht wiederholen werde... Gehe jetzt und mache dich fertig. Mama wird erst ruhig sein, wenn du aus dem Hause bist. An Tante Helen habe ich geschrieben, ihr magst du sagen, was du zu deiner Entschuldigung vorbringen kannst. Ich weiß, daß Mama dich gereizt hat, sie hat es selbst zugegeben, aber diese Tat, diese schändliche Tat! Und du kommst herein, und ich sehe die Freude darüber in deinem Gesicht. Du kannst es nicht ableugnen, was ich selbst gesehen habe. Geh jetzt, oder du zwingst mich, mein eigenes Zimmer zu verlassen.«
Rosmarie erhob ihr totenblasses Haupt und ging zur Türe hinaus, ohne sich umzusehen; auch in ihr flammte der alte Braunecker Zorn. Eine Stunde später rollte der Wagen hinaus, und Rosmarie befand sich auf der Reise. – – –
Die Lichter der Villa Helena leuchteten durch das kleine Vorgärtchen, das sie von der Lichtentaler Allee trennte. Das Coupé hielt, und Rosmarie und Miß Granger stiegen aus, ein fetter Diener führte sie hinauf in ein freundliches Sälchen, wo Tante Helen lachend und rundlich stand und ihre blasse Nichte in Empfang nahm. »So, Rosmarie, da haben wir dich ja recht plötzlich. Und das ist Miß Granger. How do you do? All right, come along. Miß Granger, Sie haben einen Brief meines Bruders, der mich mächtig interessiert. Du, blasse Jungfrau im Mondenschein, machst einstweilen Toilette, nicht gar so prächtig, wir machen es uns hier Gott sei Dank recht bequem, und kommst dann herunter. Da ist ja deine Lisa, sie kann dir helfen ...«
Rosmarie ging hinauf in ein hübsches Gastzimmer, und Lisa bürstete ihr Haar und half ihr in das weiße Abendkleid. Wohl mochte die Tante sagen, blasse Jungfrau. – Dann erscholl die Glocke zum Zeichen, daß angerichtet sei und sie erwartet werde. Tante Helen empfing sie mit einem merkwürdig gespannten Gesichtsausdruck und aß für ihre Verhältnisse auffallend wenig.
»Etwas Ähnliches wäre sehr günstig für meinen Appetit, gegen den ich immer erfolglos ankämpfe ... oder nein, doch lieber nicht.«
Rosmarie berührte kaum die Speisen und brachte nur mühsam die nötigsten Angaben über ihre Reise heraus. Da erhob sich die Tante.
»Ich glaube, wir verzichten auf weiteres ... Rosmarie, komm mit in meinen Schmollwinkel.«
Das war ein reizendes kleines Gemach mit Flügeltüren auf einen Balkon, der gerade über Rosenbeeten schwebte. Die Türen standen offen, und allerhand freundliche Geräusche, ferne Musik, Wagenrollen, Stimmen der Menschen, das Rauschen seidener Kleider, Zigarettenduft drangen herauf.
»Ja, so läßt es sich leben, ein wenig über dem lieben Nächsten und doch nicht durch dicke Mauern und tiefe Gräben von ihm getrennt ... Wie bist du nur auf einen solchen hirnverrückten Gedanken gekommen, du Unglückskind! Verstand habe ich dir nie viel zugetraut, aber so viel Bosheit auch nicht. Was hast du eigentlich gewollt mit dieser Farce mitten in der Nacht?«
»Tante Helen, du mußt mir sagen, was ich getan haben soll. Den ganzen Tag warte ich darauf.«
»Da lies den Brief deines Vaters, wenn es dich nach seinem Urteil gelüstet.«
Und Rosmarie liest. »Ich bin aufs tiefste erschüttert und empört, ja ein Entsetzen hat sich meiner bemächtigt. Rosmarie hätte heute nacht beinah den Tod zweier Menschen verschuldet. Meinen Sohn habe ich verloren; was darin für mich liegt, kannst du mir ja nachempfinden. Charlotte ist, wie der Arzt jetzt hofft, gerettet. – Rosmarie ist von ihrer Mutter gereizt worden, das gibt Charlotte selbst zu, um einer alten Sache willen ... Ein schweres Gewitter kam hinzu; Charlottes Nerven sind ja leider durch das lange Liegen recht herunter. Am Tage war durch das Hin- und Herrücken des alten Rosenschranks, du kennst ihn ja, eine Tür in einen Gang frei geworden. Aus irgend welchen Gründen fürchtete sich Charlotte vor diesem Gang und sprach darüber mit Rosmarie. Als das schwere Gewitter immer mehr Charlottes Nerven angriff, muß Rosmarie es darauf angelegt haben, ihre Mutter zu erschrecken und zu ängsten. Da nun Charlotte sie flehend bat, immer wieder, ihr Fräulein Bergmann zu holen, sei Rosmarie an jene Gangtür, die frei geworden, getreten, und habe den Riegel vorgezogen. Dann erst sei sie gegangen, aber nicht zu Fräulein Bergmann oder zu mir, so daß Charlotte bei ihrer Aufregung und Furcht in dem entsetzlichen Wetter ganz verlassen war. Es krachte die alte Tür auf. Der Sturm fuhr hinein und drückte ein morsches Fenster mit bleigefaßten Scheiben ein, das sich hoch oben in dem Gang befand. Das stürzte klirrend und polternd herunter, und dazu fuhr eine Staubwolke heraus. Charlotte hielt in ihrer erregten Phantasie, – Rosmarie hatte ihr irgend welche Schauergeschichten vorgelesen – den Lärm für den Einsturz von Särgen. Genug davon, Du wirst Dich nicht wundern, daß Fräulein Bergmann, die endlich doch von selbst kam, Charlotte in Krämpfen fand. So nahm das Unglück denn seinen Verlauf! Du wirst fragen, warum ich bei einem so schweren Gewitter nicht gleich zu Charlotte, deren Ängstlichkeit ich doch kenne, geeilt bin. Beim ersten Schlag schon war der Blitz in den Glockenturm gefahren, und Krüger weckte mich mit der Nachricht. Wir hatten mit allen Leuten zu tun, die schon heftig glimmenden Balken zu löschen. Noch eins muß ich Dir sagen. Rosmaries Benehmen am Morgen, als sie das Unglück schon in seinem ganzen Umfange erfahren haben mußte, war mehr als seltsam. Sie versuchte nicht einmal Trauer zu heucheln! – Es ist mir, als hätte ich zwei Kinder verloren. Rosmarie muß ich aus dem Hause schaffen. Ich bitte Dich, versuche doch, auf sie einzuwirken ...«
Rosmarie legte das Blatt auf den Tisch und starrte vor sich hin. –
»Rosmarie ... unüberlegt, trotzig, zornig, wild in Haß und Liebe, das alles – aber gemein, grausam, feig ...! Die Arme in ihrem Elend daliegen lassen und mit ihr Spott treiben. Nein, so sind die Braunecker nicht. Die Familiensimpelei ist nicht mein Fall, aber so weit muß man sein eigenes Blut kennen. Was antwortest du, Rosmarie?«
»Mein Vater hat recht, wenn er sagt, er habe zwei Kinder verloren ...«
»Rosmarie, du gibst es zu! Du solltest dich so von deinem Zorn haben hinreißen lassen, um – nein ... Warum denn? Du warst ja als Kind eine richtige Traumliese, und eigensinnig wie – nun wie ein alter Braunecker Eckschädel, aber dieses niederträchtige ... Rosmarie, laß mich doch nicht ganz die Seele aus dem Leibe reden! Mein armer Bruder! Sie haben dich doch nicht so entsetzlich verdummt, daß du nicht wüßtest, um was alles es sich besonders für deinen Vater handelt!«
Rosmarie hob ihre schweren, starren, müden Augen: »Doch, ich weiß ... alles!«
»Rosmarie, was soll ich deinem Vater schreiben? Verteidige dich doch! Wenn deine Mutter in irgend etwas übertrieben hat, so wehr dich! Daß sie alles frei erfunden! – Nein, so angesichts des Todes, das ist unmöglich. Erzähle mir, wie es war!«
»Das hilft ja doch nichts mehr, Tante Helen. Sie werden es mir nicht glauben ... Du hast gelesen, wie mein Vater über mich denkt ...«
»Das ist geschrieben im ersten Schmerz und Schrecken, Rosmarie. Das Blut kühlt auch wieder ab. Dein Vater, so höflich er ist, kann seinen Zorn haben, so gut wie einer von uns! So wehr dich doch, Rosmarie! Was du verlierst ...«
»Was ich verloren habe, weiß ich ... Meine Ehre habe ich verloren. Wie kann ich mich verteidigen, wenn Mama und mein Vater das von mir glauben wollen. Kann ich beweisen, daß ich jene Türe nicht geöffnet habe, daß ich Mama nicht vorher mit meinen Augen und Haaren erschrecken wollte! Ihr müßtet mir euer Vertrauen schenken! Ich will kein geschenktes Vertrauen, das man jederzeit wieder zurücknehmen kann, wenn noch einmal die falsche Türe aufspränge ...«
Die Tante warf sich ganz erschöpft in einen Fauteuil und jammerte: »Gott, ich bin keine Katastrophen mehr gewöhnt! Seit ich ganz aus dem alten Brauneck gezogen ... Ich kann sie nicht mehr ertragen, sie bekommen mir nicht, die Katastrophen ...«
»Laß mich in mein Zimmer gehen, Tante Helen, ich bitte dich, ich bin müde, müde, – ich ...«
»Soviel habe ich jetzt doch herausgebracht, Rosmarie, daß du die Sache bestreitest. Ich muß ein Wort an meinen armen Bruder schreiben, heute nacht noch. – Nur noch eins, Rosmarie ... Dein Verhältnis mit deiner Mutter, – ich weiß, es war nie sehr warm, von beiden Seiten nicht; ihr seid Gegensätze ...«
»Ich hasse sie, hasse, hasse, mein Herz ist ganz ausgebrannt vom Haß! Und Haß tut weh. Ich habe gehaßt in jener Nacht ...« Rosmarie verbarg ihr Gesicht in ihre Hände... »Oh, mein armer Garten! Giftblumen, wilde rote, Dorngeschlinge, Brennesseln. Sie haben mich so weit gebracht, daß er es trägt. Nein, wie darf ich das sagen. Es ist mein Garten! Und wenn Vater da hineinsieht. – Er glaubt, daß ich ehrlos sei, ehrlos ...«
Prinzessin Helen hat sich erhoben und beugt sich über Rosmarie, die wie zerbrochen über ihrem Stuhl liegt. Ihr rundliches Gesicht zuckt und sieht kläglich, fast kindlich drein in ihrem Schmerz. Endlich schüttelt sie sich zusammen; das in langen Jahren, die auch ihre verschwiegenen Schmerzen gehabt hatten, erworbene Phlegma kommt ihr zu Hilfe.
»Rosmarie, Kind, geh zu Bett. Du hast die Türe nicht aufmachen wollen, soviel habe ich doch herausgehört. Wenn es mir schon lieber wäre, du hättest alles rund und deutlich gesagt. – Fräulein Bergmann, warum hast du sie nicht geholt?«
»Ich wollte sie nicht hören lassen, was Mama sprach.«
»Waren das so schlimme Dinge – das sollte dein Vater wissen ... das ist doch ein Grund – was sagte sie denn?«
»Wie kann ich das jetzt Vater sagen? Nie kann ich das, sie sagte die schlimmen Dinge, und ich dachte sie ... Nichts davon, Tante Helen, nein.«
»Närrchen, du bist im Unglück, nicht sie!«
»Ich will es nicht sagen, nein. Ich will das doch nicht sein, wofür sie mich halten.«
»Wie du willst, Rosmarie, denn schließlich kann deine Mutter das auch bestreiten, und deine Sache wird dadurch nicht besser. Nein, vielleicht hast du recht. Nun, sagen wir, Mama sei so erregt gewesen, daß du lieber gleich nach deinem Vater gegangen wärest. O Gott, die Sache hat doch ein Loch, Rosmarie: nun, vielleicht merken sie es nicht, du kannst ja auch den Kopf verloren haben. Geh zu Bett, arme Rosmarie, heute nacht erlösen wir dich nicht mehr, ich weiß jetzt doch, was mein armer Bruder zuerst wissen muß.«
Eine Tragödie in ihrer hübschen, kleinen, molligen Villa. Prinzeß Helene sieht nicht einmal im Theater Tragödien an, wo man doch das beruhigende Gefühl haben kann, daß die Heldin, so tot sie auch daliegt, sich nachher zu einem mehr oder weniger bescheidenen Souper erhebt ... Die rundliche Dame weiß nicht ein und aus mit ihrer blassen apathischen, schweigenden Nichte. Denn auch am nächsten Tage hat Rosmarie keine weiteren Worte über die Vorgänge in jener Nacht gefunden. Warum sie an jenem Morgen ihrem Vater nicht mit dem Mitgefühl begegnet war, das sie jenem großen Schmerz doch schuldig war, darüber schweigt sie auch. Und das treibt den Stachel immer wieder in ihres Vaters Herz.
Zum großen Glücke erholt sich die Fürstin rasch, ja mit fast unerwarteter Schnelligkeit. Es ist, wie wenn ihre Natur von einem unheimlichen Druck befreit wäre. Sie geht nach Wiesbaden zur Kur und blüht dort auf wie eine Rose.
Rosmarie blüht nicht auf. Sie hat öfters die schweren Ohnmächten, die Tante Helens Entsetzen sind. –
Sie läßt einen bedeutenden Nervenarzt, der zugleich Leiter eines Sanatoriums ist, kommen, und Rosmarie wird ihm vorgeführt. Der kluge und feine Geheimrat, der so viele menschliche Nöten und Leiden kennt, steht ja bald, daß in diesem weißen, apathischen Kinde irgend eine Feder zersprungen sein muß, eine Krankheit, gegen die weder er noch andere Ärzte ein Mittel haben. Vielleicht ist ihr eine Liebe, die ihren Eltern nicht paßte, genommen worden, doch sieht sie fast zu jung und zu passiv kühl aus für eine große Leidenschaft. Und Prinzessin Helen suggeriert ihm das hilfreiche Wort: Luftveränderung. Rosmarie soll den Winter in Italien zubringen, und Prinzessin Helen will sie in langsamen Etappen dahin begleiten. Miß Granger geht ja auch mit und Lisa und Prinzeß Helens erprobte Frau Waren und der fette Diener. »Miß Granger ist eine Mehlamsel,« klagt die Brauneckerin in einem Briefe an ihren Bruder, »aber schließlich ist sie hochanständig und in einem Alter, wo der Mensch seine meisten Dummheiten gemacht zu haben pflegt. Für Rosmarie hat sie nichts Aufmunterndes, aber wer hat das? Ich habe es süß und bitter, kalt und heiß, zart und grob bei ihr versucht, sie hört alles an, und läßt man sie einen Augenblick allein, so fällt sie ganz zusammen.«
Auf der Reise lebt Rosmarie fast ein wenig auf, hie und da fliegt sogar ein rasch wieder schwindender Rosenschein über ihr Gesicht, und sie äußert einen Wunsch, was Prinzessin Helen alles sofort nach Brauneck berichtet. Es ist noch viel zu früh im Jahre, als sie an die sonnenheiße, ausgestorbene Riviera kommen, die Stechmücken leben noch alle, und die Villen und Hotels stehen mit geschlossenen Läden tot und öde da, und ein fußdicker Staub liegt auf allem.
In Bordighera, wo es immer noch verhältnismäßig am grünsten ist, findet Prinzessin Helen alles Wünschenswerte beisammen. Eine kleine Villa mit Marmorbalkon und Treppe in einem verlassenen, sehr großen Garten. Darin wird Rosmarie installiert. Tante Helen mietet eine mit den besten Zeugnissen versehene Köchin, die etwas Französisch versteht, und ein Hausmädchen, das nur Italienisch kann, das über Rosmaries Anblick so erstaunt ist, daß es den Finger in den Mund stecken und sie regungslos anstarren muß.
Leider sind alle Stechmücken noch lebendig und haben eine unheimliche Freude an dem Braunecker Blut. Tante Helen steht wie tätowiert aus, und beinahe hätte sich ein schweres Unglück ereignet.
Eines Abends stieg nämlich die rundliche Dame mit einer Kerze in der Hand zwischen den Musselinvorhängen ihres Bettes herum, um nach den dort verborgenen Untieren zu suchen. Dabei kam sie mit dem Licht den dünnen Vorhängen zu nahe, zwischen denen sie doch eingeschlossen war, und diese fingen hellauf zu brennen an. Die Dame schrie auf, Rosmarie kam herein und riß sofort die Vorhänge herunter, warf eine Reisedecke darauf, und im Nu war das Feuer erstickt.
Prinzessin Helen schrieb einen langen Brief voll Lobens und Rühmens nach Brauneck. »Rosmaries Zustand hat sich entschieden gebessert, und, was mich besonders wunderte, als sie alles und jedes Recht gehabt hätte, in Ohnmacht zu fallen, tat sie dieses nicht, sondern rettete ihre Tante wie ein gelernter Feuerwehrmann!«
Aber die Zanzaris nehmen keine Vernunft an und bezeigen immer die gleiche Vorliebe für das Braunecker Blut, so verläßt Tante Helen das ungastliche Gestade, einen wohlgeordneten kleinen Staat hinterlassend, in dem jedes Glied feierlich hat versprechen müssen, niemals mit Kerzen hinter Vorhänge zu steigen. Es ist ja das beste, daß Rosmarie nun den Winter hier bleibt und über diese traurige Geschichte Gras wächst. –
Rosmarie und Charlotte müssen ja doch auseinander gehalten werden ... »Nur keine Katastrophen mehr!« rät Prinzessin Helen ihrem Bruder, dessen Zorn auch schon leise zu verrauchen beginnt.
Tante Helen hat das Hauswesen gut geordnet. Die Köchin stiehlt nicht mehr, als ihr Stand und ihre Nationalität es ihr als anständig gestatten, Miß Granger hat beim englischen Pfarrer Besuch gemacht, und der deutsche Pfarrer bei Rosmarie. Miß Granger hat eine alte Freundin aus England wieder getroffen, und ihr farbloses Wesen hat darüber wieder etwas Leben bekommen. Jeden Tag gehen Rosmarie und Miß Granger zum Capo, wo die uralte kleine Kirche steht, und sitzen an einer windgeschützten Mauer und sehen den Wellen zu, wie sie an die Felsen herankommen. Und als Rosmarie zum ersten Male sieht, wie die Wellen vom gestrigen Sturme aufgewühlt daherkommen, sich donnernd in die Höhe heben, daß blaukristallene Wundergrotten sich auftun, und dann wieder herabsinken und klirrende weiße Schaumschleppen nach sich ziehen, bis wieder neue Berge kommen, – da hat sie sich überfreut, und Miß Granger hat die größte Not, mit ihr nach Hause zu kommen.
Abends geht die Engländerin sehr früh zu Bett, eigentlich gleich nach dem gemeinsamen Diner, das die beiden Damen in einsamer Pracht und feierlichen Abendtoiletten miteinander einnehmen, – diese Gewohnheit hat sie bald nach Prinzessin Helens Abreise angenommen, und sie bleibt ihr treu. Auch mehren sich Miß Grangers englische Bekannte wie der Sand am Meer, und fast jeden Tag ist sie zu einem »afternoontea«, eingeladen, von dem sie erst kurz vor dem Diner zurückkommt. Rosmarie hat Zeit in Hülle und Fülle, zu grübeln und vor sich hinzustarren, es stört sie keine immer muntere und originelle Tante Helen darin.
Sie sitzt da den langen Nachmittag und sieht auf die verstaubten, sonnenmüden, zerschlissenen Palmen hinaus und auf den blauen Streifen Meer, der durch sie sichtbar wird. Sie nimmt langsam eine der Rosen nach der andern aus den Vasen und dreht sie zwischen den Händen und zieht an den feinen weichen Blättern, bis sie herunterfallen und das gelbe Herz der Rose herausscheint. Sie ist immer ganz umgeben von hingestreuten Rosenblattern. Manchmal hält sie die Blätter in Häufchen in der Hand, dann läßt sie vom Balkon aus eins nach dem andern herunterfallen auf die Mandarinenbäume darunter, und sieht ihnen nach, wie sie fallen, gleiten, sich drehen und daliegen wie offene kleine Schalen. Ihre kleine Stickschere, die sie in Berlin gekauft, liegt neben ihr, und sie nimmt sie zuweilen in die Hand und freut sich daran, wie spitz und scharf sie ist.
Es wohnen schlimme Gedanken hinter deiner weißen Stirn, Rosmarie!
Sie schreibt nun jede Woche ihrem Vater, sie erzählt vom Capo, von Palmen und Blumen, von Miß Granger, von dem italienischen Dienstmädchen, der Angelina, von allem, nur nie ein Wort von einer Rosmarie Brauneck.
An dem Fürsten nagt das Heimweh, je mehr sein Zorn verraucht. Seine Tochter fehlt ihm überall. Niemand kennt wie sie seine Hoffnungen und Pläne, und versteht sie, kann so angenehme Morgenstunden bereiten, hat eine so feine, reine Luft um sich, als käme sie aus einem anderen Lande, wo die Menschen zarter und reiner fühlen und woraus das Gemeine auf ewig verbannt ist. Alles ist so schal ohne sie. Wenn sie nur ein Wort schriebe, ein einziges, noch so armes Wort: vergib mir, ich bin gereizt, gekränkt worden, ich wußte nicht, was ich tat, – irgend einen Grund angäbe, den fadenscheinigsten, – nur nicht dieses trotzige Schweigen.
Die Zanzari sind endgültig verschwunden unter Strömen von Regen, die die staubigen Palmen so schön reingewaschen haben. Dem Nordlandskind gehen die Augen auf für die Schönheit der Palmen, nun sie die im Regen sieht. Wie die Dattelpalme dort ausgerüstet ist, den köstlichen Regen zu empfangen. Die großen, mächtig breiten, gefalteten Blätter, die jeden Tropfen sorgsam in tiefen Rinnen entlang leiten, dann die Blattstiele, die die Wasseradern sammeln und an den Stamm leiten und dort in kleinen Bechern festhalten. An den Blättern die zarten braunen Fangschnüre, an denen jede Perle hängen bleibt. Dann die andern Palmen, die so verdrossen dastehen, wie müde Ballschönheiten, und doch nur auf ihren Freund, den Mond, warten. Wie gleitet das Mondlicht an ihnen herunter und zeigt ihren herrlichen Bau und das wundervolle Gegeneinander ihrer Fahnen! Da hat jede Form ihr eigenes Funkellicht, gegen den Himmel gesehen lösen sich die Massen in lauter unendlich schöne Formen auf. Da schießt der Stamm, der am Tage so überschlank aussieht, majestätisch in die Höhe und trägt stolz die feingefiederte Krone.
Ach, wenn man nur jemand hätte, mit dem man die Schönheit genießen könnte, all das allein, ach, das bedrückt noch das arme, so schwer beladene Herz. Und immer wieder wendet Rosmarie ihrer Tante Worte in ihrem Herzen, und eines tritt grell aus den andern heraus.
Im Angesicht des Todes lügt man nicht! – Das galt von ihrer Mutter, sollte das nicht auch von ihr gelten? Und eines Tages geht sie an ihre Truhe, die alle ihre geheimsten Schätze enthält. Seit sie zum zweiten Weihnachten – ihre Weihnachten zählen von der Waldweihnacht an – Harro einen Stuhl gestickt hat mit den Federnelken und bräunlichen Gräsern der lichten Eichen daran, hat sie diese Kunst immer betrieben. Seit sie nun von Harro getrennt ist und nicht mehr in seinen Farben herrschen kann, hat ihre leidenschaftliche Schönheitsliebe und ihr feines Kunstverständnis in diesen Stickereien seinen Ausdruck gefunden. Ganz ohne jede Anweisung, nur ihrem eigenen Formen- und Farbensinn folgend, hat sie gelernt, einen Natureindruck mit Nadel und Seidenfaden wiederzugeben. Niemand störte sie darin; wenn sie an ihrem Stickrahmen saß, so galt sie als geborgen und versorgt. Eine Zeitlang war das eiserne Verbotsystem auch daran gekommen; sie sollte nicht so viel über die Arbeit gebückt sitzen, dekretierte ihre Mutter, das verderbe die Haltung.
Sie hatte sich aber die einzige Freude nicht nehmen lassen und hatte es gelernt, die Arbeit nur lose in der Hand haltend, doch die feinsten Stiche zu ziehen; sie hatte wahre Feenhände.
Und nun holt sie sich ein weißes Atlasstück von zart bläulicher Tönung heraus und bedeckt das mit ihren Zeichen und Punkten. Als sie nun zu sticken anfängt, wird Miß Grangers Leben noch behaglicher.
Und Rosmarie ist sehr fleißig, auf ihren blassen Wangen steigen rote Flecken auf, und sie stickt, als gälte es ihr Leben.
In einem Südzimmer eines der kleineren Hotels in Bordighera liegt auf dem Marmorbalkon im schönsten Sonnenschein, in einem Korbstuhl, ein junger, blasser Mann, sorgfältig in Tücher und Decken eingehüllt. Neben ihm sitzt eine freundliche, behäbige Gestalt, seine Mutter, an einem Tisch und schreibt emsig Briefe. Der junge Mann hat sein Buch sinken lassen.
»Bald fertig, mater? und weiß der pater nun, was wir treiben, und hast du ihm gewiß von Professor Schwarzen erzählt? Das freut ihn doch am meisten. Da lacht er wie ein Schneekönig, da kommen ihm die alten Tübinger Erinnerungen.«
»So gut ich konnte, Albrecht, aber all die Weisheit, die ihr miteinander redet, und die Welträtsel, die ihr löst und nicht löst, das konnte ich ihm nicht alles mitteilen.«
»Daß er mir so viel Zeit opfert; er will doch schreiben, hat seine Bücherkiste hier, – aus der ich ja auch lebe,« und er hob sein Buch in die Höhe. »Hör einmal, Mutter, den Spitteler:
Ich habe da in meinem Herzgänsespiel
Noch zwei Weltvoll Liebe zu viel,
Weiß nicht, wohin damit ...«
Die mütterliche Frau lacht auf: »Albrecht, kein Wunder, daß dir das gefällt ... o da kommt der Herr Professor.«
Der Herr Professor, dem man überall unschwer Stand und Nationalität angesehen hätte, tritt ein. Unter den schärfsten Brillengläsern glänzten hellblaue Augen, sein graublonder Bart wuchs ihm, wo und wie er wollte, sein Überzieher war in den Taschen weitläuftig geworden – von hineingesteckten Broschüren. Kurz, das heimatlichste Bild an der fremden Meeresküste. Jetzt schwenkte er seinen Hut, seine Stirne war ein wahrer Palast für all die Gedanken, die darin wohnten.
»Ei, Frau Mama und Herr Sohn, wie geht's! Die schöne Sonne! Und Herr Albrecht liest Spitteler.«
»Mein Sohn freute sich eben daran.«
»Heute müssen wir Korsika auftauchen sehen, es ist heute ein ganz besonderer Tag!« sagte der Professor und deutete mit seinem Stocke nach der schimmernden Meeresfläche.
»Herr Professor, erzählen Sie, was gab es diesmal am Capo? Keine himmelblauen Meereskornblumen?«
Der Herr Professor setzte sich behaglich in den ihm angebotenen Korbsessel. »Es freut mich, daß Sie es mir sofort ansehen, daß mir heute etwas ganz Außerordentliches geschehen ist. Was ich gesehen habe« – der Herr Professor schwenkte seine Hand wie auf dem Katheder gegen seine Zuhörer. – »Ein besonderer Tag heute und verdient ein rotes Kreuz im Kalender. Ich gehe das Capo entlang: blaue hüpfende Wellen, die letzten am Horizont mit weißen Kronen. Und alles voll Menschen, Herr Albrecht, old England for ever – Damen und wieder Damen, kurze, dünne, lange, und Kinder, sehr hübsche Kinder. Aber im ganzen doch die Menschheit etwas zu reichlich vertreten – mir sind ja immer die einzelnen Exemplare lieber.«
Dabei nickte er mit einem so guten Ausdruck dem blassen Jüngling zu, daß dem ein feuchtes Aufleuchten in die Augen kam. –
»Nun also, gegen Norden, wo die Steine größer werden und die Fischernetze zum Trocknen liegen, ist die Menschheit dünner gesät. Und ich bedachte bei mir, welch außerordentliches Rätsel dieser Strand der nachgrabenden Nachwelt wohl bieten würde, wenn wir durch eine jener plötzlichen unterirdischen Erdeinstürze verschüttet würden.«
»O Herr Professor, wir wollen nicht hoffen.«
Der Professor wehrt mit heiterer Ruhe die Wahrscheinlichkeit eines solchen plötzlichen Eingreifens der unterirdischen Mächte ab. –
»Herr Albrecht, bedenken Sie, die Engländervilla an der Marina und die Wohnungen in der Altstadt, der Englishstore und die Bäckerei am Kirchplatz. – Die Herren Kollegen werden behaupten, daß sie auf mindestens drei Kulturstufen gestoßen seien – daß das alles friedlich nebeneinander nur wenige Meter entfernt gleichzeitig bestanden haben soll, darauf werden sie nicht kommen.«
»Herr Professor, Mutter bekommt ganz dunkle Augen ... und wenn heute nacht das Meer wieder so donnert! Erzählen Sie uns, was Sie am Strande gesehen.«
»Doch nicht Anzeichen nahen Bebens?« »Alles so fest wie möglich, meine Gnädigste. Nein, ich sah etwas Wunderbares. Schon vorher war's, als lenkten freundliche Genien meinen Weg. Ich stolperte nicht über die ungleichen Steine, ich verfing mich in kein Netz, und wie ich nun um einen Felsblock mich herumschwinge, da öffnet sich eine Felswand, das Meer wird nach Osten frei. – Da sitzt auf einem gelben Steine, zum Hintergrund das Meer, vor sich das Meer, mit feinen ewig unruhigen Wellen, wer meinen Sie? – Ich reibe mir die Augen, ich zwicke mich in den Arm, ich schließe die Augen und zähle auf drei und mache sie wieder auf, – das Bild bleibt da!
Da saß still und ruhig, in einem weißen Gewand, Iphigenie, Goethes Iphigenie, nicht die Griechin. In einem weichen, weißen Gewand, notieren Sie, Herr Albrecht, nicht in einem Kleide. – Sie sah hinaus aufs Meer, auf die eine Hand ein wenig gestützt, mit blassem Goldhaar, von dem der Meerwind eine Strähne hinauswehte. Sie trug sogar Sandalen oder etwas Ähnliches. – Ich stand da und dachte: Darum habt ihr mich hergeführt, ihr Kleinen von den Meinen! Ich stand und sah und dachte an meinen Herrn Albrecht, und wie sehr ich ihm ein paar Augen voll gegönnt hätte. Ich sah nur die schöne Kopfform und den wundervoll hingegebenen jungen Körper, in jeder Linie beseelt und wie vorgeneigt in unsäglicher Sehnsucht. Feuerbachs Iphigenie liebe ich sehr, diese war jünger und jungfräulicher und ebenso königlich!«
Des jungen Mannes Augen strahlten.
»Und ihr Gesicht haben Sie nicht gesehen?«
»Nein, ich wagte mich nicht weiter, ich wollte ihre Andacht nicht stören. Und dann: Ich bin kein Zergliederer meiner Freuden. Wenn sie nun das Antlitz gewendet hätte und das hätte nun irgend einen kleinlichen Zug gehabt – oder das ist's nicht einmal: Man sagt auch nicht zu dem Engel, der auf Rembrandts Bild den Propheten berührt: bitte, wenden Sie sich nach rechts! nein, man genießt ihn so, wie ihn der Maler hingestellt. Ich ging ganz leise und bescheiden zurück.« »O Herr Professor, gehen Sie doch bald wieder ans Capo und erzählen Sie doch gewiß dem Herrn Doktor nichts von der Iphigenie, er sagt sonst nur, es sei eine der vielen überzähligen Damen gewesen, die ein Rendezvous erwartete.«
»Geographisch unmöglich, sie sah nicht rechts, nicht links, und anlegen, das gibt es dort nicht einmal für Fischerboote. Und das ist Herrn Spittelers Herzgänsespiel. Freuen Sie sich nur recht daran.«
»Und wenn Sie die Iphigenie wiedersehen –«
»Das ist mir höchst unwahrscheinlich. Ich kann mir diese Gestalt mit dem besten Willen nicht unter den Britinnen an der Table d'hôte vorstellen, den Oberkellner mit der Weinkarte hinter sich, – ein unvollziehbarer Gedanke! Sie wird ins Land der Träume verschwunden sein – ein Mondnachen kam und holte sie ab, oder wie Sie das sonst bedichten wollen, mein lieber junger Freund ...« – – –
Aber nun kommen Regentage, und Iphigenie zu sehen wird unmöglich sein. Da, eines Tages kommt der Herr Professor wieder.
»Heureka, Herr Albrecht! Sie sehen es mir ja an. Die Iphigenie!«
»Oh, wenn ihr Gesicht nicht so schön war wie ihre Haltung, so sagen Sie es mir nicht. Mutter ist ausgegangen, es drücken sie ihre anderen Jungen, die Weihnachten ohne sie zubringen müssen, und sie sucht jetzt schon jedem ein Pflaster auf seine Wunden. Und die Iphigenie?«
»Herr Albrecht, ich sollte Ihnen doch die portugiesischen Liebeslieder von Elisabeth Barrett Browning aus der Bibliothek besorgen. Ich halte eben die sehr achtungswerte Dame in etwas verschabtem Ledereinband unter dem Arme und gehe durch den Garten hinauf, da begegnet mir langsam schreitend Iphigenie, eine graue, offenbar untergeordnete Weiblichkeit neben sich, und, sollte man es für möglich halten, trägt wirklich ein Gewand, und, wie habe ich Ihre verehrte Frau Mutter herbeigewünscht, daß sie es mir bestätige, sie geht in Sandalen oder etwas dem ähnlichem. So geht man nicht in Schuhen von Schusters Gnaden. Sie kam so sanft daher und hatte, was ja für eine Iphigenie etwas merkwürdig ist, aber trotzdem recht gut aussah, einen Federhut auf. Wiegen Sie sich noch nicht in rhythmischen Gedanken, Herr Albrecht, warten Sie ab, es kommt noch manches, es kommt das reine Märchen!
Also ich wollte doch nicht nur die Barrett Browning versorgen, sondern hatte auch eine Broschüre vom Kollegen Leonhardi bekommen, und nun, um die guten Fliegenden Blätter doch mit weiterem Stoff über uns neben den Schwiegermüttern zu versorgen, muß mir diese Broschüre, mit der mir so wohlbekannten, von manchen aber bestrittenen Tücke des Objekts, entgleiten. Ich schritt weiter, Elisabeth um so fester unter dem Arme haltend, je dünner mir die Gute zu werden schien. Plötzlich berührt mich jemand. Da steht die Holdselige und sagt mit der lieblichsten hohen Stimme: »Mein Herr, Sie haben dieses verloren,« und gibt mir den Gilgamesch. Wie ein kleines Schulmädchen, so freundlich und ordentlich ist sie mir nachgelaufen.«
»Und ihr Gesicht, Herr Professor?«
»Das war das Schönste von allem. Ich reiße also meinen Hut herunter, dabei muß mir nun diese Elisabeth entgleiten, und wahrhaftig, sie bückt sich, die junge Königin, und hebt sie mir auf. Und nun habe ich das Recht, wenn ich sie sehe, den Hut herunterziehen zu dürfen. Und Herr Albrecht, sind Sie nun, der Sie mich nach der Bibliothek geschickt haben, mein Wohltäter oder nicht? Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. –
Nun, ich höre noch, wie die graue Dame sie wegen ihrer holden Güte in englischen Quetschlauten schilt. Die Damen gehen aus dem Garten, ich in respektvoller Entfernung hinten drein. Und nun entdecke ich in mir einen Sherlock Holmes. Ich folge ihren Spuren, nicht wie ein Jüngling, sondern wie ein Polizist. Sie verschwinden in einen Park, ich merke mir die Nummer, ich eile zu Schulte und studiere alle Fremdenlisten.«
»O Herr Professor, Sie wollten auch den Namen wissen!« »Nein, aber ein Gefühl hatte ich, als ob ich einer Gestalt aus unserer deutschen Vergangenheit nachginge. Herr Albrecht, ich erkannte sie, – die deutsche Kaiserstochter aus der Hohenstaufenzeit.«
»Aber Sie waren doch an der Griechin.«
»Herr Albrecht, ich vermisse genauere Geschichtskenntnisse. – Heirateten die Hohenstaufen nicht byzantinische Prinzessinnen, also möglicherweise griechischen Blutes? Sie ist eine Prinzessin von Brauneck und gehört einem unserer edelsten Geschlechter an. Mit den Hohenstaufen verwandt und verbunden kämpften sie mit ihnen gegen Papst und Guelfen; auf unzähligen deutschen Schlachtfeldern hat ein Brauneck geblutet. Jetzt ist die Familie in den meisten Linien ausgestorben. Sie sind jedem europäischen Herrschergeschlecht ebenbürtig. Die Iphigenie kann eine deutsche Königin werden.
Und so wenig neues Weib ist sie,« – der Herr Professor lachte hell auf, – »so wenig neues Weib, – hebt wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften einem Herrn das Buch vom Boden auf! Nun, genügt das nicht für einen lyrischen Erguß, Herr Albrecht? Diese Enkelin hoher Ahnen, die so bescheiden und demütig ist ... oder nicht ... Doch das müssen Sie besser wissen.«
Es ist stark zu befürchten, daß Tante Helen, wenn sie nun ihren kleinen, wohleingerichteten Staat sähe, nicht sehr zufrieden wäre! Die Déroute fängt ganz unten an, bei dem kleinen italienischen Hausmädchen, deren Familie sich jeden Tag vermehrt und an der Hintertüre gespeist wird. Der Braunecker Lakai Adolf, der dem kleinen Haushalt beigegeben ist, damit nicht ganz der männliche Schutz fehle, steht die meiste Zeit an dem Drahtzaun, der die nächste, von einer englischen Familie bewohnte Villa umgibt, und treibt Sprachstudien mit einer kleinen, hübschen englischen Nurse und läßt deren Pflegebefohlene auf den Knien reiten und spielt ihnen den angenehmen deutschen Onkel. Die Köchin ist unwirsch und schlampig und verbraucht so viel Fleisch, daß eine zehnköpfige Familie reichlich davon leben könnte. Miß Granger erklärt der Prinzessin eines Abends, daß der Arzt ihr das späte Diner verboten habe, daß sie es als große Güte ansehen würde, wenn ihr abends einige leichtere Speisen aufs Zimmer gebracht würden. Rosmarie legt es der Köchin ans Herz, ja recht leichte Sachen herauszusuchen!
Jeden Tag geht Miß Granger in ihre teas, an der Hand einen schwarzseidenen Riesenbeutel, der seltsam schwer aussieht. Da englische Damen doch nicht wie gute deutsche Hausfrauen mit dem Strickbeutel zusammen kommen, so muß der Beutel einen andern Inhalt haben. Als Rosmarie sie eines Tages schüchtern danach fragt, bekommt sie die Antwort, daß der Mensch stets ein gutes Buch bei sich haben müsse, um durch einige vorgelesene Sätze der Unterhaltung einen höheren Schwung zu verleihen. Die guten Bücher scheinen alle recht voluminös zu sein, rechte Wälzer und Tröster. Rosmarie hat nach dem Inhalt des schwarzen Beutels kein Verlangen. So geht Miß Granger denn mit ihrer Geistesnahrung bewaffnet fort und kehrt um sieben sichtlich aufgemuntert zurück, dann verschwindet sie für den Abend in ihre oberen Gemächer. Des Morgens geht sie in die englische Kirche und kehrt da eben so gedrückt und niedergeschlagen zurück, wie sie aus den teas erheitert heimkam.
Rosmarie fürchtet ihre Kirchenstimmung und macht scheue Trostversuche. Mit unerwartetem Erfolg. Miß Granger gesteht ihr, daß sie täglich flehe, ein drohendes Schicksal von ihren Angehörigen abzuwenden. Sie gibt zu verstehen, daß das Schicksal durch eine kleine pekuniäre Hilfe gebessert werden könnte. Rosmarie holt schnell aus ihrer Kassette drei deutsche Goldfüchse, die ihr Vater ihr für die eigensten Bedürfnisse gegeben. Die Rechnungen werden ja nach Brauneck geschickt und von dort aus bezahlt. Miß Granger dankt würdevoll im Namen der Angehörigen und heitert sich sichtlich auf.
Aber Miß Granger macht sehr viel mit ihren Angehörigen durch, und seltsamerweise immer des Morgens, nach ihrem Kirchgang. Die Goldfüchse werden immer weniger, und eines Tages starrt Rosmarie der blaue Samt des Bodens entgegen.
Nun ißt Rosmarie auch das Diner allein, denn Miß Granger ißt ihre Puddings und Hors d'oeuvre oben.
Rosmarie sitzt allein in ihrem feierlichen Abendkleide an dem etwas nachlässig gedeckten Tisch, die Fenster, die mit Heliotrop, Rosen und Glycinien umwachsen sind, stehen offen. Der schokoladefarbene Adolf hat eben die Schüsseln aufgedeckt und ist entlassen worden, denn nur in seiner Gesellschaft zu essen ist zu trübselig. Die Schüsseln haben meist recht fremdartigen Inhalt, – Rosmarie betrachtet sie mit einem Seufzer.
Daß man sich so hinschleppen muß, essen und trinken, damit die Tage vergehen – die Tage eines nutzlosen und entehrten Lebens. Da macht sie ein Laut aufsehen. Durch das Blättergewirre am Fenster, das nicht sehr hoch vom Erdboden entfernt ist, schiebt sich eine kleine, magere, braunschwarze Hand und klammert sich an die Fensterbrüstung: dann ein schwarzzotteliger Kopf, ein elendes Körperchen in einem groben zerschlissenen Hemd folgt nach. Mit großen, runden, schwarzen Augen sieht das kleine Menschenwesen nach den guten Dingen da auf dem Tisch und flüstert mit gutturalen, Rosmarie ganz unverständlichen Tönen immer wieder das gleiche. – Rosmarie erhebt sich, das Kind erschrickt, so daß es beinah herunterfällt. So etwas Großes und Weißes hat es wohl noch nie gesehen.
Rosmarie lächelt ihm zu und häuft Gemüse und ein Kotelette zierlich auf einen Teller, Messer und Gabel daneben und stellt alles mit einer einladenden Handbewegung auf die innere Fensterbrüstung. Die schwarzen Augen des Kerlchens leuchten, Messer und Gabel braucht er nicht, die schmutzigen Finger und die Mauszähnchen verrichten das Geschäft allein. Rosmarie versucht ihn zu bewegen, den schwebenden Sitz zu verlassen, aber wenn sie ihm zu nahe kommt, hebt er seinen Arm in Augenhöhe, wie es überall in allen Landen verprügelte Geschöpfe machen. Was hat das Kind Hunger! Wenn er sich doch hereinnehmen und ein wenig waschen ließe! Aber an sich herankommen läßt er sie nicht, und sein Kauderwelsch versteht sie nicht. Endlich ist er gesättigt und klopft sich, jedenfalls als Dankeszeichen, auf sein wohlgefülltes Bäuchlein, dann ist er ebenso blitzschnell verschwunden, wie er gekommen ist. –
Rosmarie läutet und läßt abtragen, und Adolf mag sich billig über ihren Appetit verwundern. Am nächsten Abend schickt Rosmarie gleich wieder den Diener fort, und sie braucht nicht lange zu warten. Mandarinenbäume umgeben diese Seite des Hauses, unter den tief herabhängenden Zweigen konnten wohl kleine Gestalten hindurchkriechen. Da kommt schon die Hand. –
»Spätzchen, bist du da?«
Aber es sind zwei Spätzchen diesmal. Zu dem Spatzen ist eine magere, noch elendere und womöglich noch scheuere Spätzin gekommen. Heute werden alle Schüsseln leer. Wenn nur die Kinder nicht gar so scheu wären. Halb tierisch kommen sie ihr vor, vielleicht werden sie sich gewöhnen. Sagt Rosmarie es der Köchin, so wird die sie wegjagen, wie sie es schon einmal mit einer armen Frau gemacht. Rosmarie kann auch am Tage nicht entdecken, wie die Kinder heraufkommen, vielleicht ist eine Leiste in dem Schlinggewächse verborgen, worauf sie ihre Füße stellen. –
Rosmaries Hauptmahlzeit ist abends, und für die ist nun gesorgt, doch empfindet sie nicht, daß ihr etwas entgangen ist. Nein, es ist ihr leichter und freier zumute, nun sie die sonderbaren Dinge nicht mehr essen muß. Es ist zu schön zu sehen, wie es den Kindern schmeckt, und vielleicht gelingt es doch, sie ein wenig zu zähmen. Und eines Abends sagt das Bübchen »Spatz.«
Er hat begriffen, daß die weiße Frau ihm den Namen gegeben hat. Das Wort ist ihm nun Ausdruck für alle Gefühle, wie er es bald flehend, bald ängstlich, bald fröhlich sagt, je mehr seine Sättigung fortschreitet. Sonderbar ist's, wie das Menschenwesen das Wort sagt, fast als ob ein Tier zu reden anfinge.
Leider genügt dies eine Wort schon, um die ganze Skala seiner Gefühle auszudrücken. Die Spätzin kommt überhaupt nicht so weit. Und schon nach wenigen Tagen sieht man ihnen an, daß sie rundlicher werden. Doch bleiben ihre Tischmanieren noch dieselben urwüchsigen, und berühren lassen sie sich immer noch nicht. Und doch freut sich die einsame Rosmarie jeden Tag auf die Zaungäste. Und es ist so seltsam, etwas hergeben zu können. Rosmarie hat noch nie etwas hergegeben, was ihr nicht sofort ersetzt worden wäre. Und der Tag hat so wenig Freuden. Jeder Tag bringt einen neuen Druck auf ihr Herz mit. Mag sie noch so schön auf weißem Marmorbalkon zwischen Palmen und am blauen Meere wohnen, es ist doch eine Verbannung. Ihr Vater wird sich daran gewöhnen, daß er eine Tochter hat, die heimtückisch, verlogen und trotzig ist, und er wird sie aus seinem Leben streichen. Er wird froh sein, wenn sie ihm keine neuen schlimmen Dinge bereitet.
Wie ein täglich niedergehender giftiger Meltau senkt sich das auf sie. Wenn sie ausgeht, – es geschieht nur noch selten –, kann der Professor seinem jungen Freunde nichts Gutes von der Hohenstaufin berichten. Ans Capo geht sie gar nicht mehr, es sind zu viele elegante Menschen da, die auftauchen und verschwinden, Schemen. Am besten ist's noch, auf der grün umsponnenen Marmorveranda zu liegen, durch die drolligen kleinen Marmorlöwen, die sie bewachen, durchzusehen nach dem Stück Meeresblau. Dann wird es Rosmarie so seltsam leicht zumute, namentlich seit das Diner wegfällt. Dann tauchen allerhand Bilder vor ihr auf, glänzend liebliche, heimatlich vertraute.
Jeder Festtag aus der wundervollen Zeit der Kindheit, der Lilientag – sie sieht Harro durch den Wald gehen am kalten Brunnen, wie er durch das Riedgras streicht, die Hand über die Augen hält, um nach ihr auszusehen im Sonnenglast, wie er neben ihr am Rain unter den Federnelken und nickenden Gräsern liegt. Wie der Thymian duftet, mit dem sie ihm die Rocktasche füllt. Und all die Leute mit leichten Füßen, wie sie durch die Gänge und Wendeltreppen der alten Heimat schritten, sie kommen wieder.
Wie schön, daß Miß Granger hinter ihrer Riesenzeitung eingenickt ist und nicht mehr von da aus ihr eine Information zukommen lassen kann.
Und noch eine Entdeckung macht sie, – je weniger sie den Tag über fremde Eindrücke in sich aufgenommen hat, desto glänzender, deutlicher und klarer werden die Bilder. Sieht sie denn wirklich in die Ruine? Warum steht Harro neben einer gelben Marmorsäule, und warum gibt es ihr einen solchen Stoß ans Herz, wie das Bild plötzlich verschwindet?
Rosmarie sinnt darüber nach, wie sie an ihrer Rosendecke stickt. Und unter ihren Händen entsteht Stich für Stich ein seltsames Kunstwerk. Rosmarie hat aufgehört, etwas anderes zu frühstücken als ein wenig Tee, Honig und Brötchen. Das zweite Frühstück braucht um ihretwillen gar nicht aufgetragen zu werden, sie schickt es unberührt wieder fort. Die getreue Lisa würde sich ängsten, wenn nicht Adolf ihr von dem wundervollen Appetit der Prinzessin bei ihrem einsamen Diner berichtete.
Und Rosmarie stickt ihre schlimmen Gedanken in die Decke, und manchmal lächelt sie ganz seltsam vor sich hin. – »Ich mache es fein, sehr fein, Vater, und es ist besser für dich, du hast keine Kinder, als die dir der Haß geboren und die mit einem Schrägbalken herumlaufen müssen. Und du wirst es nie wissen, nie.«
Wenn sie einmal, sehr selten ist es noch, ausgeht, und dem Herrn Professor begegnet, – er hat etwas, das sie an den Stiftsprediger erinnert – so schrickt sie zusammen. Und Weihnachten kommt näher. Ihr Vater schreibt ihr.
»Es ist mir ein unbehaglicher Gedanke, daß Du Weihnachten so allein verbringst. Wenn Du es dringend wünschen würdest, könnte ich vielleicht doch auf einige Tage nach dem Feste abkommen. Dein Wunschzettel war recht bescheiden, und ich weiß nicht, ob ich es diesmal treffe –« Rosmarie erschrickt. Nein. Vater soll noch nicht kommen. Er würde neben ihr sitzen, sie würde seine Hand halten, seine Stimme hören und doch so sterneneinsam, so fern von ihm sein. In ihren Briefen, da tun sie ja, als ob die schreckliche Wand nicht zwischen ihnen sei. Und sie schreibt sehr freundlich und fast munter von den italienischen Bettlerkindern, die sie ernährt – daß es mit dem eigenen jungen Leben geschieht, kann er ja nicht ahnen –, und erwähnt sein Anerbieten, zu kommen, mit keinem Worte.
Mit einem tiefen Seufzer legt der Fürst den Brief beiseite. So weit ist er ihr entgegen gekommen, viel zu weit. Er ist ein schwacher Vater. Könnte er überhaupt einen Sohn erziehen, wenn er seinen Kindern gegenüber so schwach ist! Und sich so sehr nach seinem trotzigen, schuldbeladenen Kinde sehnen muß, und zu allem bereit wäre, wenn sie nur ein einziges Wort, eine einzige Bitte ihm gewähren wollte!
Aber an ihrem Weihnachtsgeschenk soll trotz alldem nichts abgebrochen werden.
Und die Braunecker Weißtanne macht allen Zollscherereien zum Trotz ihren Weg, und da steht sie nun in der Villa Riposa zwischen den vielen goldenen Spiegeln, dunkel, streng und einfach, denn Rosmarie hat nur Lichter aufgesteckt. Alle möglichen schönen und kostbaren Dinge hat Lisa der Kiste entnommen und auf dem Tisch ausgebreitet, und Miß Granger hat mit etwas zitternden Händen – in der letzten Zeit ist sie recht zitterig geworden – daran herumgezupft. Es kamen auch die köstlichen Braunecker Lebkuchen, die nach uraltem Rezept in der Schloßküche bereitet werden und einen so heimatlichen Duft verbreiten.
Die Post hat noch eine Kiste gebracht an Ihre Durchlaucht aus Rom. Soll man das auch öffnen?
Lisa macht alle möglichen wilden Zeichen mit einem Stemmeisen in der Luft und schreit: »Open, open!« Miß Granger ist erst fünfzehn Jahre in Deutschland, und man kann es ihr daher nicht zumuten, daß sie die schwere Sprache beherrscht, und namentlich, wenn sie, wie bei der guten Lisa, etwas dialektgefärbt ist. Miß Granger erschrickt, »no, no« und setzt sich konfus und jämmerlich auf einen hellen Morgenrock der Prinzessin.
»Die wird immer einfältiger,« denkt Lisa ärgerlich.
Und Rosmarie kommt zu ihrer Bescherung herein, langsam und mühselig, und die Lisa erschrickt heftig. Sie sieht ja ihre Herrin jeden Tag, und darum bemerkt sie es nicht so sehr. Aber nun ist's, als sähe sie zum erstenmal genau, wie sie aussieht. Kaum daß sie noch auf den Lippen einen blassen rosa Schein hat, und sie hängt ganz vorne herein. Und die Hände! Wie hat Lisa das übersehen können? – ganz kraftlos und weiß hängen sie herunter mit dicken blauen Adern wie Schnüre darauf.
O wenn wir zu Hause und in Brauneck wären! Und da fällt auf die arme Lisa eine schreckliche Last herein. Sie sieht nach der zittrigen schnüffelnden Miß Granger, den braunen Knopfaugen der kleinen Angelina. Der verliebte Adolf ist schon wieder außer Sehweite. –
Was werden sie in Brauneck sagen! Lisa ist dafür angestellt, daß sie Kleider instand halten, frisieren, bei der Toilette helfen soll, und, wie ihre gute Mutter ihr noch aufgegeben hat, nicht, was unter den Nagel geht, von fremdem Gut sich aneignen und den Mund halten. Kein Mensch hat der Lisa Lader, Schlosserstochter von Brauneck, die Prinzessin Rosmarie von Brauneck anvertraut. Und doch, die Lisa ist kaum imstande, all die guten und schönen Dinge anzusehen, die sie bekommen hat. Sie muß so viel Gedanken in ihrem Kopfe wälzen, wie im Leben noch nicht. Die Prinzessin hat im Augenblick niemand, der sich um sie kümmert, außer ihr, der Lisa. Und der Fürst, der Herr Domänenrat, sogar der Herr Stiftsprediger tauchen vor ihr, der einen Lisa Lader, auf und sagen: »Ja, hat denn kein Mensch es gesehen und niemand geschrieben und es wissen lassen und beizeiten einen Doktor geholt?«
Es muß ja auch in diesem Lande einen deutschen Doktor geben, es gibt ja hier alles, auch eine deutsche Kirche, in der sich Lisa freilich nie recht heimisch fühlt. Die Prinzessin liegt schon wieder in ihrem Korbstuhl, gottlob; an ihrer schrecklichen Decke, die Lisa haßt, stickt sie nicht. Sie sieht an ihrem Christbaum hinauf. Ihre schönen Geschenke hat sie kaum angesehen. Miß Granger, noch zittriger als sonst, bedankt sich mit einem angreifenden Geschnüffel und geht zu ihrer geheimnisvollen abendlichen Unterhaltung. Die Köchin und die Angelina ziehen mit ihrer Beute ab, und Lisa hat keine Veranlassung mehr dazubleiben.
Und doch ist der Kopf ihr so voll und das Herz so schwer. Sie bleibt noch stehen und schaut verlangend und wie hilfesuchend nach ihrer jungen Herrin.
Die greift nach ihrem Baume hinauf und läßt die Zweige durch ihre dünnen Hände gleiten.
»Lisa, ist das nicht schön, daß der Fürst uns den Braunecker Baum geschickt hat, daß wir hier nicht allein sind? Du hast wohl auch Heimweh, Lisa?«
Die Lisa seufzt aus voller Brust: oh, daran darf man nicht denken! Daß man jetzt in Brauneck wäre, und die andern sagten zu einem: »Dumme Lisa, mußt du Prinzessinnen hüten und versorgen?«
»Durchlaucht, es ist noch ein Paket angekommen, soll ich's aufmachen?«
Sie fühlt, wenn die Prinzessin jetzt noch ein Wort sagt, muß sie weinen.
»Von wem ist es denn?«
Und plötzlich wird die Prinzessin dunkelrot, sie hat die Aufschrift gelesen: »Roma.« Lisa öffnet mit Mühe, und Rosmarie nimmt mit zitternden Händen einen Brief, der oben auf liegt. Es sind nur wenige Zeilen, sie hat ihn gleich überflogen. Und nun schält sich aus vielen Hüllen ein schwerer Gegenstand. Eine holzgeschnitzte Gruppe, etwa drei Hände groß. Eine lange schlanke Mädchengestalt. – Lisa denkt, man könnte meinen, sie sähe der Prinzessin ähnlich. Mit ausgestrecktem Arm hält sie eine lange Flechte von sich, an der sie mit feinen Fingern flicht, die andere Hälfte des Haares fällt auf die Schultern und um die schwanke Gestalt, die barfuß nur mit einem Hemde und dünnem Röckchen bekleidet ist. An das Mädchen schmiegt sich eine köstliche Gans mit ausgebreiteten Flügeln, die sie zu verteidigen scheint. Eine zweite Gans streckt zischend den Hals gegen einen Buben, der mit gelüstigem Gesicht mit einer Hand nach den Flechten tastet. Die schönste Gans ist die vorderste, die mit unglaublich drolliger Würde, wie die Gänse sie zuweilen haben, der ganzen Gruppe vorangeht.
Der Prinzessin große Augen strahlen: »Kennst du das, Lisa? Die Prinzessin, die die Gänse hüten mußte, im fremden Lande, und schweigen und erleiden, wie man ihr alles nahm, ihren Namen, ihre Liebe.«
Nein, die Lisa kennt es nicht. Und darum erzählt es ihr die Prinzessin. Es ist eine wunderschöne Geschichte, aber beinahe zum Weinen. Denn die Prinzessin sagt:
»O Falada, da du hangest,
O Jungfer Königin, da du gangest,
Wenn das deine Frau Mutter wüßte!«
Und zum großen Glück kommt alles zu einem guten Ende. Die Lisa heitert sichtlich dabei auf. Und als sie geht, küßt sie der Prinzessin die dünne Hand. Die anderen Kammerfrauen, die ausländischen, die richtige Kammerfrauen sind und nicht nur Garderobemädchen wie die Lisa, tun das immer. Aber die Lisa ist ein Braunecker Kind, wo man keine Handküsse gibt und die Leute, die das tun, lächerlich und etwas verächtlich findet. Und die Prinzessin läßt's geschehen und sagt nur:
»Du liebe Lisa, wie bin ich froh, daß ich dich habe, und nun haben wir etwas so Wunderschönes zu Weihnachten bekommen.«
Und Lisa geht hinaus und beschließt: »Also morgen lasse ich der jämmerlichen Miß keine Ruhe, bis sie nach einem Doktor schickt, und wenn sie's nicht tut – dann –, dann schreibe ich dem Herrn Stiftsprediger!« Und der Lisa wird ganz leicht zumute, wie sie ihren duftenden Braunecker Lebkuchen ißt. –
Rosmarie liegt unter ihrem Tannenbaume und sieht nach ihrem schönen kleinen Kunstwerk, und ihre Augen liebkosen jede Linie!
»O du Kluge, du Graue! Die Leute heißen dich dumm, die dich noch nie hinter einem Hund drein lachen und schwatzen haben hören und dir nicht auf deinen nachdenklichen Schnabel gesehen haben! O Harro, und diesmal habe ich dir nichts, und nur so arme, leere Worte hast du mir zu schreiben getraut. Aber ich verstehe ja deine Linien und daß du mich nicht vergessen hast. Und daß du mir dieses schickst! Weißt du denn, daß ich in der Verbannung bin und alles verloren habe ... Meine Liebe, meine Heimat, meine Ehre ...«
Lisa dringt am Morgen unter Schwierigkeiten zu Miß Granger vor. Sie läßt ja niemand außer der kleinen Angelina – wie kann eine solche Schlange Angelina heißen! – in ihre Gemächer. Und Lisa verlangt unter vielen Gesten und eingestreuten englischen Worten, daß man den Adolf nach einem Doktor schicke. Miß Granger ist zittriger als je und härter von Verständnis, aber sie sagt endlich: Yes, yes, und geht zu der Prinzessin hinunter. Dort gibt es eine Szene, Lisa hört es durch die Türe. Die Miß ächzt und stöhnt und wimmert, und die Prinzessin muß trösten. Was geschieht denn ums Himmels willen der Miß, wenn zu einem Doktor geschickt wird! Sie hört, wie die Prinzessin aufsteht und sich mit ihren Sachen zu schaffen macht. Miß Granger kommt heraus, eine goldene Kette mit einem Riechflakon, schön mit Edelsteinen besetzt, in der Hand.
»Doktor?« fragt Lisa, aber die Miß schießt unwillig kopfschüttelnd an ihr vorbei und in ihren Bau. Später sieht sie die Miß bei Adolf stehen und den fortschicken, aber das müssen langsame Doktoren sein. Bis zum Abend erscheint keiner.
Und in der Nacht hört Lisa plötzlich einen hellen Schrei. Sofort ist sie aus ihrem Bett heraus, wirft ihren Morgenrock um sich und geht zu der Prinzessin hinein.
Greller Mondschein, ein ganz anderer Mond als der gute alte Braunecker Mond, erfüllt das Zimmer. Die Prinzessin liegt zusammengekauert in ihrem Bett und starrt mit wilden, weit offenen Augen nach der Wand.
»Sieh mich nicht an, o geh hinweg, – ich kann nicht mehr zurück. Wie kann ich leben mit dem schwarzen Balken über meinem Herzen?«
Die Lisa schüttelt das Grauen: »Durchlaucht, es ist niemand da, es ist nur das weiße Kleid, das da hängt.«
Sie macht Licht mit zitternden Händen und läßt schnell Vorhänge herunter, daß der schreckliche, der fremde Mond draußen ist. Die Prinzessin sieht sie mit wirren Augen an.
»Durchlaucht, ich bin's, die Lisa, es war ja nur ein Traum.«
Sie glaubt es ja selber nicht. Sind jetzt nicht die heiligen Nächte, in denen alles umgeht?
»O Lisa, bist du's? Bleib bei mir!«
Lisa muß sich aufs Bett setzen, die Prinzessin schmiegt sich an sie, und das ganze Zimmer hört das arme Herz klopfen. Sie sind so einsam, so schauerlich einsam in dem fernen Land, und der Lisa fallen alle die fremden, dunkeln, kahlen Berge ein, durch die sie gefahren sind. Sie fühlt jetzt jeden einzelnen. So weit ist's von dem alten Brauneck und der Mutter Nachtlämpchen. – Und es hat sich gemeldet! Wer oder was, das weiß sie nicht, aber: Es hat sich gemeldet! Und sie darf nicht von der Prinzessin fort, sonst würde sie jetzt noch den faulen Adolf zu einem Doktor schicken. –
Wenn sie sich nur rührt, so bittet, fleht, befiehlt die Prinzessin: »Bleib bei mir. Lisa, kann man denn solche Schmerzen haben? Und wenn du nur bei mir bleibst – es ist alles nicht so schrecklich wie die Augen.« Die Lisa sagt: »Durchlaucht, ich mache Tee, hier im Zimmer auf der kleinen Teemaschine mache ich ihn, und für Schmerzen sind warme Tücher gut, das schadet niemals.«
Und bei alledem kommt doch ein wenig Trost für beide heraus.
Zuletzt holt Lisa ihr Konfirmationsgesangbuch. »Soll ich ein Lied lesen?« Es steckt aber ein dünnes Heft darin, das sind Lieder, die man sich noch extra beim Herrn Stiftsprediger hat abschreiben dürfen, wenn man gewollt hat.
»Ja, lies nur, Lisa.«
Und Lisa liest in der fremden, einsamen Mondnacht in dem Palmengarten, durch den das Meeresrauschen geht, ein altes Lied. Weil es ja Nacht ist:
Wo willst du hin, weil's Abend ist,
Geliebter Pilgrim Jesu Christ?
Komm, laß mich so glückselig sein
Und kehr in meinem Herzen ein.
»O Lisa, das ist schön.«
Laß dich erbitten, liebster Freund,
Derweil es ist so gut gemeint,
Du weißt, daß du zu aller Frist
Ein herzenslieber Gast mir bist.
Erleuchte mich, daß ich die Bahn
Zum Himmel sicher finden kann,
Damit die dunkle Sündennacht
Mich nicht verführt noch irre macht.
Bevorab in der letzten Not
Hilf mir durch einen sanften Tod ...
Lisa stockt. Ach, nun ist's ein Sterblied geworden, das hat sie nicht gewollt.
Die Prinzessin flüstert: »in der letzten Not ... Lies den Anfang noch einmal, Lisa.«
Und die Braunecker Kinder sind nicht mehr in der Fremde, das Lied hat sie mit weichen Schwingen hinübergetragen in die ferne Heimat ... – – – Am andern Morgen sagt Lisa zu Miß Granger »Doktor« und erhebt fast drohend die Hand, aber die flieht in ihre Kirche. Lisa flüchtet zu dem verliebten Adolf:
»Die Engländerin ist nimmer zur Raison zu bringen. Sie müssen gehen und einen deutschen Doktor ausfindig machen und ihn gleich herbeibringen.«
»Habe schon Gegenordre, Fräulein Lader.«
»Von wem?«
»Von Ihrer Durchlaucht.«
Lisa geht hinauf. Die Prinzessin sieht sie ganz fremd an, der armen Lisa kommt es wie ein Traum vor, daß sie sie heut nacht im Arme gehabt. Die Prinzessin, wie sie nun ihre Sache vorstammelt, hebt ihren feinen Kopf und sieht sie mit ganz königlichen Augen an:
»Ich wünsche keinen Doktor. Ein fremder Mann kann mir doch nichts nützen. Und ich habe zu tun, du siehst doch, daß ich schreibe. Du kannst gehen.«
»Durchlaucht, wenn aber die Nacht ...«
»Oh, die wird ganz gut sein, du brauchst dich nicht zu sorgen, Lisa ... Morgen wollen wir sehen,« und sie schreibt weiter.
Lisa geht hinaus mit der ganzen bittern Last auf dem Herzen. Sie geht in ihr Zimmer und holt ihr bestes Briefpapier heraus und schreibt mit vielem Seufzen und ängstlichem Überlegen einen Brief an den Herrn Stiftsprediger. Und die Nacht und der fremde Mond kommen wieder, aber so leise Lisa schläft, sie hört nichts, keinen Ton. Und Gott sei Dank, daß der Brief fort ist, und ihre Gedanken begleiten ihn über die vielen Berge und durch die schwarzen Tunnel, nach dem lieben alten Brauneck. –
Am Nachmittag ist der Adolf im schönsten Herrenanzug zum englischen Dienerball, zu dem ihm seine kleine Nurse eine Einladung verschafft hat, abgezogen, – vor Mitternacht wird er wohl nicht zurückkommen. Und die Prinzessin fragt Lisa:
»Gehst du nicht auch auf den Ball, bist du nicht eingeladen?« »Nein, Durchlaucht. Und es wäre mir auch keine Ehre, hinter dem Adolf herzulaufen. Aber, wenn ich dürfte, einen kleinen Ausgang machen? Den Tee richte ich zuvor, und zum Servieren bin ich wieder zurück. Vielleicht kann Miß Granger doch ein einziges Mal nicht in die Visite gehen?«
Lisa hätte sich sonst keine Kritik erlaubt, aber die Engländerin haßt sie. – Was sie da oben nur immer treiben mag, und mit wem sie da laut spricht und lacht? und dann klingt's wieder wie Gebete, es kann einen schaudern.
»Liebe Lisa, du kommst ja gar nicht heraus ... Geh doch, und gewiß bis zum Capo. Und wegen des Diners eile dich nicht, Angelina kann servieren.«
Lisa geht, noch entrüstet darüber, daß die Angelina mit ihren schwarzen Händen die Schüsseln hereintragen soll. Nein, bis dahin ist sie längst zurück. Sie hat keine Ruhe mehr, sie will sich in dem kleinen deutschen Laden am Strand nach einem deutschen Doktor erkundigen. Jedem kann man ja die Prinzessin nicht anvertrauen.
Und nun geht sie den Palmengang hinunter, und die Prinzessin sieht ihr nach. Nun ist alles fort. Miß Granger ist fort, die Köchin hält wohl ihren Mittagsschlaf, nur Angelina singt gellend in der Küche unten. Und auch die Prinzessin will ausgehen. Es ist ein schöner, sonnglänzender Tag, nur kalte Winde wehen, und im Schatten ist's empfindlich kühl. Zum erstenmal muß die Prinzessin sich selbst bedienen. Sie nimmt ihren festesten Schirm, ach, der ist nur ein zartes Gebilde, und geht leise die Marmortreppe hinunter, wo auch zwei Miniaturlöwen dräuen, so gut es ihnen möglich ist. –
Ach, wie ist der Weg so weit den Garten entlang, so mühselig. – »Wie gut, daß Lisa nicht da ist, sie hätte mich nicht gehen lassen ...«
Die Gartentüre ist zum Glück offen, nun geht es zwischen hohen Mauern entlang ein schmales Sträßchen, so schmal, daß kein Wagen hindurchkommt. Über die Mauern schauen die schwanken Palmen und dunkelgrünen Zitronenbäume und hohe düstere Zypressen, zu denen Rosmarie nun schon eine Liebe gefaßt hat. Sie nickt ihnen auch heute zu und lächelt ein wenig.
Das ist die Marina, die das Sträßchen kreuzt, und dort eine Bank schön in der Sonne. Dorthin, nur bis dorthin. Es gehen nicht viel Menschen auf der Straße, sie würden erschrecken vor dem Anblick dieser weißen, schwankenden Gestalt. Die Bank ... nur noch ein paar Schritte ... Wie ein dunkler Schleier fällt es vor ihren Augen, da fühlt sie den Griff einer Hand an ihrem Arm.
»Ich führe Sie, Durchlaucht.«
Nun sitzt sie auf der Bank. Der Schleier weicht langsam, und vor ihr steht mit abgezogenem Hut der ältere deutsche Herr, der sie so sehr an den Herrn Stiftsprediger erinnert.
»Durchlaucht sollten nicht allein gehen!«
Dann verneigt er sich und sagt: »Geheimrat Schwarzen aus Gießen,« – was Rosmarie sehr verwundert. Erst nach einigem Besinnen kommt ihr, daß das wohl der Name des freundlichen Herrn sein könnte; vorgestellt hat sich ihr noch nie jemand.
»Kann ich vielleicht Eurer Durchlaucht einen Wagen besorgen?«
»O nein, Sie sind sehr gut, Herr ... Herr Geheimrat ... Ich möchte auch nur bis an die Ecke gehen, wo der Briefkasten ist.«
»Kann ich Euer Durchlaucht nicht den Brief besorgen?«
»O nein, ich danke, ich muß das selbst tun.«
Rosmarie trägt einen dicken Brief in der Hand.
»So gestatten mir Durchlaucht, daß ich Sie bis dorthin begleite.«
Dem armen erschöpften Wesen, das wohl seinen letzten Gang macht, muß man den Willen tun.
»Ja, bitte, wenn Sie so gütig sein wollen, aber ein wenig ausruhen muß ich zuvor, bitte setzen Sie sich doch auch.«
Der Herr Geheimrat setzt sich auf die Bank und fängt an, sehr freundlich und ruhig mit ihr zu reden. Er kennt Brauneck, auf einer seiner Wanderungen hat er es daliegen sehen, von dem gegenüberliegenden Berge aus, mit seinem Renaissancegiebel und den vier dicken Ecktürmen, dem schlanken, hohen Schloßturm und dem grünen Parkgürtel.
»Oh, wie wohl tut das, von der Heimat zu hören unter den fremden Bäumen hier.«
»Durchlaucht haben keinen guten Winter gehabt. Es taugt auch nicht jedem, das Sonnenland.«
Rosmarie stürzen schnell ein paar Tränen herunter. Welch gute Stimme hat der fremde Herr, und nun sieht sie ihm in die hellblauen Augen unter dem dunkeln, weichen Hut, der die herrliche Stirn verbirgt.
»Die Tage, das ist nicht das schlimmste, aber die Nächte und der fremde Mond und die Meeresstimmen, die einen keinen Augenblick vergessen lassen, daß man so ferne ist von Brauneck. Und die Angst, die furchtbare Angst, die entsetzlicher ist als alles.«
Sie starrt mit dunkeln Augen vor sich hin in ein Entsetzen hinein.
Dem priesterlichen Herzen neben ihr wird es weh zumute. Wer an diesem Leid vorüberginge, wäre schlimmer als jener Levit, dem ein göttliches Auge auf seinem eiligen Wege durch ein einsames Land nachsah.
»Angst ist furchtbar. Aber warum die bittere Angst? So viele Ängste zerrinnen, wenn man ihnen nicht entweicht, sondern sie mit festen Augen ansieht.«
»Ich habe es auch versucht. Ich habe die Augen aushalten müssen, ganz allein –«
Sie sieht ihn nicht an, sie spricht wie im Traume, sie antwortet nur der guten, guten Stimme. – »Und nun weiß ich, ich fürchte Gott.«
»Fürchten ist etwas anderes als Angst haben.«
»Dann will ich sagen, ich habe Angst vor Gott.«
»Um das dürfen Sie keine einsame schreckliche Nacht mehr haben. Prinzessin, geben Sie mir doch Ihren Brief, ich trage ihn dorthin und bringe Sie dann nach Hause.« Sie sieht ihn mit ihren großen sanften Augen an: »Alle meine Briefe, wohin ich sie auch sende, sie landen immer in meines Vaters Schreibtisch, da liegen sie dann in Stößen, und das darf mit diesem Brief nicht geschehen.«
»Durchlaucht, wenn ich diesen Brief in den Kasten werfe, wird er auch ankommen. Aber wenn Ihr Vater es nicht wünscht ...«
Rosmarie lächelt. »Bis der Brief ankommt, – ja dann wird er es wünschen.«
Und der Herr Professor geht mit langen Schritten zu dem Briefkasten, vorher sieht er die Adresse an. Das arme Kind kommt ihm so weltunbekannt vor, daß sie vielleicht ihre Briefe gar nicht richtig adressieren kann? Nein, die Adresse wird wohl richtig sein. An einen Grafen Thorstein in Rom, sogar die Straße fehlt nicht. Und nun kommt er wieder zurück und schiebt der Prinzessin seinen festen Stock in die Hand und bietet ihr seinen Arm an. Und sie gehen langsam, sehr mühselig, zurück in den Palmengarten. Sie sprechen kein Wort, das Gehen ist Arbeit genug.
Verlassen liegt das Marmorhäuschen in grüner Sonneneinsamkeit. Niemand rührt sich darin, die Türe steht weit offen. Der Professor hilft Rosmarie aus dem Mantel heraus und trägt behutsam den Federhut an einen sicheren Ort, und nun kann sich Rosmarie in ihrem Korbstuhl ausstrecken. Er deckt sie sorgfältig mit ihrer seidenen Decke zu und meint: »Es wäre doch gut, wenn jemand sofort zum Arzt ginge.«
»Ich habe gar keinen Arzt.«
»Keinen Arzt!« Was gibt es für sonderbare Menschen! Dem Herrn Professor schießen alle möglichen Heilmethoden, bis zum Gesundbeten, durch den Kopf, denen die fürstlich Braunecksche Familie wohl huldigen könnte ...
»Mein Vater weiß gar nicht, wie krank ich bin.«
»Ja, Durchlaucht, ist es nicht das allerbeste, hier ist eine Glocke, ich läute jemand herbei, und Durchlaucht setzen ein Telegramm auf, daß es Ihnen so wenig gut geht. Durchaus nicht, daß der Fürst erschreckt würde ... Das muß ein Vater von seinem Kinde wissen, mag er sonst mit ihm stehen, wie er will.«
Eine Glocke ertönt, aber es erscheint niemand.
Die Köchin ist wohl zu ihrer Familie gegangen, und Angelina? Ja, wenn alles seinem Vergnügen nachläuft, sollte da die arme Angelina allein tugendhaft bleiben, und für den geringsten Lohn? Angelina ist auch fort.
Da ist vorderhand nichts zu machen. Die Prinzessin kann man nicht allein lassen. Ein barmherziger Samariter muß es eben auf sich nehmen, daß er in allerhand konfuse Lagen gerät. Der Levit ist der weitaus taktvollere Mann, das fremde Elend geht ihn nichts an, und es ist besser, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Man weiß ja gar nicht, ob die einem dafür dankbar sind und sich nicht mit einem: »Was unterstehen Sie sich, mein Herr?« erheben. Nein, um die Ecke, und die Sache ist abgetan.
Die Prinzessin lebt ein wenig auf, nun sie liegt, und bittet: »Ach, sprechen Sie doch mit mir. Ich habe niemand – niemand.«
»Warum müssen Sie sich vor Gott ängstigen?«
»Ich wußte nicht, was ich tue; aber nun weiß ich es. Ich habe eine große Sünde auf mir, und darum muß ich mich ängsten. Was ich tue, wußte ich nicht –«
»Gottes Willen erkennt man ja manchmal erst, wenn man ihn übertreten hat.«
»Ach, daß Sie das sagen. Ja. In den letzten Nächten da wußte ich es, als die Augen mich ansahen. So vorwurfsvoll. Ich mußte mich krümmen vor den Augen –«
»Wessen Augen?«
»Ich weiß es nicht. Oder vielleicht weiß ich's. Es wandte sich einmal jemand um ... Und darüber weiß ich's nun, und ich zittere, und nun ist's zu spät, gut machen kann ich es nicht mehr.«
»Was kann man auf Erden gut machen? –« sagt leise der weise Mann dort am offenen Fenster, durch das schon der Abendschein hereinflammt.
»Und ich kann nicht mehr zurück. Mein Vater glaubt von mir, daß ich eine Tat begangen habe, die feig und tückisch und grausam war.«
Der Herr Professor ruft mit heller Stimme: »Nein, das nicht, Prinzessin ... das nicht. Aber Ihr Vater hatte wohl Gründe, um das je von Ihnen glauben zu können.«
»Er hat sie. Es ist alles so verwoben und verwachsen, ein Dorngeschlinge, und die Dornen zerstechen mein Herz. Und als sie ihr Urteil über mich sprachen, da haben sie – nicht von mir – gesagt: Im Angesicht des Todes lügt man nicht!«
»Prinzessin. Sie haben doch nicht ...«
»Es ging ganz leicht zu Anfang. Und es war die letzte Liebe, die ich meinem Vater tun wollte, er sollte es nie, nie wissen. Ich habe ein schwaches Herz, an dem kann man auch sterben. Ich hätte es sehr viel leichter haben können, da ist mein kleines Scherchen. Aber es wäre so entsetzlich gewesen – rachsüchtig! Und hätte ihnen allen recht gegeben. So würden sie es gar nicht wissen. Und zuerst war es leicht. Die vielen, vielen Tränen, schön und schrecklich und lieblich. – Und daß meine Seele frei wurde und hingehen konnte, wo sie wollte. Zu meinem Vater, und ihn sehen, und daß er mein Bild immer noch über seinem Schreibtisch hat.«
Das arme Kind, es träumt wohl wieder, oder es ist so schwach, daß es Traum und Wachen nicht mehr unterscheidet.
»Und dann kamen die Augen und sahen mich an, da wußte ich, daß ich an der Liebe gesündigt. Und ich hätte müssen meinen schwarzen Balken auf mich nehmen und meinen Vater weiter lieben und nicht verlassen, denn wer liebt ihn wie ich? Und nun ist's zu spät, ich habe es versucht. Ich kann nicht mehr zurück.«
»Es ist nicht zu spät, Prinzessin, niemals zu spät, Gott sei Dank, da höre ich jemand!«
Es war Lisa, die mit ziemlich verweinten Augen hereinkam. Sie hatte unterwegs das Heimweh bekommen. Die Sorge, das fremde Weihnachtsland, man weiß nicht, ist's Sommer oder ist's Winter?
»Prinzessin, wir tun das nächste. Ich gehe einen Arzt zu holen und Sie, Fräulein, bringen Ihre junge Dame zu Bett. Prinzessin, der Wille tut viel, ungeheuer viel. Ich könnte Ihnen Dinge sagen! Und Sie haben ja den besten Willen. Wenn man einmal den Weg weiß, kann man ihn auch gehen.«
Und der Professor eilt mit seinen langen Schritten hinaus und findet in der Marina einen leeren Wagen, der ihn zum Doktor führt.
Der junge, patientenlose Doktor erhebt sich verdrossen ...
»Herr Geheimrat, Sie sehen so menschenfreundlich aus, als brächten Sie mir eine kleine Pockenepidemie mit ... O gewiß, ich komme so schnell wie möglich, wüßte nicht, was mich abhalten könnte. Wohin?«
»Sie fahren, so schnell der klapperige Wagen es gestattet –«
»Zu wem?«
»Zu einer Prinzessin von Brauneck, Doktor. Ich bitte Sie, seien Sie recht zart gegen das arme Kind.«
»Eine Prinzessin, unmöglich! Eine Prinzessin gebietet von vornherein über jede vorhandene Zartheit, ich werde zerfließen.«
»Es ist schlimm, Doktor! Ich muß es Ihnen sagen, sie hat irgend etwas mit sich getan, hat sterben wollen.«
»Gott, natürlich! Wenn es nichts Verzweifeltes wäre, hätte man den deutschen Doktor nicht geholt.«
Der Doktor brummt etwas, und der Wagen hält. Vor dem Gartentor steht ein großer Herr, dem man auch im Halbdämmer den deutschen Offizier ansieht, im Reisemantel und schaut sich den Eingang an. Als er die Herren sprechen hört, zieht er den Hut und kommt herbei:
»Entschuldigen Sie, wohnt in diesem Part die Prinzessin von Brauneck?« »Gewiß, in der Villa Riposa.«
»Ich danke sehr –« und der Herr verneigt sich und geht das Sträßchen hinunter; er hat sich offenbar nur erkundigen wollen. Den Doktor begleitet der Herr Professor bis zu den Löwen.
»Ich erwarte Sie hier, Doktor, und bitte, bewegen Sie die Prinzessin sofort nach der Untersuchung, daß sie an ihren Vater telegraphiert, oder tun Sie es ... Dies ist ein verzauberter Garten, ein verzaubertes Haus, und wieder kein Mensch da. Gehen Sie nur die Treppe hinauf zu der mittleren Tür.«
Dann wandelt der Professor den langen Palmengang hinunter in der plötzlich abgekühlten Luft. Er wird sich einen Katarrh holen, den er doch hier loswerden sollte. Der Herr aus Samaria säße jetzt schon längst in Jericho, oder der Herr Professor bei Schulte und einem Glase Wein, wenn er sich nicht auf dem Wege Ängste, Kümmernisse und Verlegenheiten aufgeladen hätte. So wandelt er denn auf und ab, und die Sache währt lange. Einmal kommt er wieder an den Eingang. Da steht schon wieder der deutsche Herr in seinem Reisemantel. Und weil der Herr Professor doch vorher mit ihm gesprochen hat und ein sehr höflicher Mann ist, so zieht er den Hut, und der andere auch. Und der sagt: »Dieser Garten enthält wohl keinen öffentlichen Durchgang?«
»Eine beschränkte Öffentlichkeit vielleicht doch. Es wohnen verschiedene Familien in diesem Park. Wenn Sie hereinkommen wollen, können Sie es mit demselben Rechte tun wie ich. Es ist ein gastliches Land ...«
Der große Herr kommt wirklich herein ...
»Geheimrat Schwarzen aus Gießen.«
»Graf Thorstein.«
Dem Herrn Professor gibt es einen kleinen Ruck.
»Graf Thorstein aus Rom? Via Settimo Settembre?«
»Aus Rom, soeben angekommen.«
Da kommt der Doktor den Gang heruntergestürzt.
»Bester Herr Professor, seien Sie so gütig, Sie haben doch den Wagen warten lassen – besorgen Sie mir dies in der Apotheke. Nein, noch nichts zu sagen, und die Depeschen. Eine an den Fürsten, eine an einen Grafen Thorstein. Und kommen Sie mit den Dingen aus der Apotheke wieder hierher. Die Prinzessin möchte Sie dringend sprechen.«
Und der Doktor wendet sich schleunigst wieder der Villa zu, den andern Herrn hat er in der schnell anbrechenden Düsterheit gar nicht bemerkt.
»Herr Geheimrat, die Depesche ... Sie verzeihen, ich hörte meinen Namen. Ich bin der einzige Thorstein, dem die Prinzessin depeschieren könnte. Ich kann mich legitimieren.«
Und er reißt seine Brieftasche heraus und entnimmt ihr adressierte Briefe, schließlich einen Paß.
»Sie entschuldigen, Herr Graf, es ist anvertrautes Gut.«
Und der Herr Professor geht zum nächsten Laternenpfahl und prüft mit wissenschaftlicher Akribie den Paß und übergibt dann mit einer Verbeugung dem Grafen die Depesche.
»Ein Brief an Sie ist auch unterwegs.«
Die Depesche enthält nur wenige Worte.
»Lieber Harro, wenn Du meinen Brief gelesen hast, so tue mir die Liebe und rede mit meinem Vater. Rosmarie.«
Der Thorsteiner springt auch mit hinein in den Wagen. Apotheke und Postamt sind nebeneinander.
»Die Depesche handelt von einem Briefe –«
»Den ich selbst in den Schalter befördert habe.«
»Die Prinzessin ist krank?«
»Ja, und noch nichts Gewisses zu sagen – Sie haben es gehört. Versuchen Sie den Brief wieder zu bekommen, vielleicht ist er noch nicht fort.«
»Sehr gütig, Herr Geheimrat. – Sie nehmen sich wohl ein wenig der Prinzessin an, sie ist gewiß sehr einsam hier? Ist Prinzessin Helene noch bei ihr?«
»Leider kann ich Ihnen fast keine Auskunft geben. Ich selbst habe heute zum ersten Male mit der Prinzessin gesprochen. Und wenn Sie mir helfen wollten, so könnten Sie die Apotheke und ich die Depesche besorgen ... es geht schneller.«
Die Herren besorgten alles, der Brief ist aber schon auf dem Wege nach Rom. »Gestatten Sie, daß ich Sie noch einmal zum Garteneingang begleite, Herr Geheimrat.«
Als sie fahren, fragt der Professor: »Könnten Sie nicht besser mit heraufkommen?«
»Unmöglich, nein. Ich verkehre schon seit Jahren in Brauneck nicht mehr, übrigens habe ich durchaus keine Differenz mit dem Fürsten gehabt, der mich stets aufs gütigste und mit der ganzen Noblesse seines Wesens behandelt hat ... Doch – wenn ich mit Ihnen hinaufginge – vielleicht tue ich's doch – so hätten wir die schönste Differenz fix und fertig. Ich habe in die Rezepte hineingesehen, es steht eine Kamphereinspritzung darin, – daß der Doktor das Schlimmste befürchtet, habe ich daraus entnommen. Gott, so schrecklich können Sie doch das Seelchen nicht quälen! – Ich kenne das. Es hilft ja doch nichts! Es verlängert nur. Herr Geheimrat, so stehen Sie ihr doch bei! Wer ist denn um des Himmels willen mit ihr?«
»Soviel ich weiß, nur eine grämliche Engländerin, die ich eines Abends in einem für eine prinzeßliche Duenna höchst eigentümlichen Zustande wanken gesehen habe, einem Zustand, der uns, die wir mitten im akademischen Leben stehen, nicht so ganz unbekannt ist.«
Harro murmelt: »Die Herrschaften haben ein so unbegreifliches Pech mit den Britinnen ... Ich verstehe nicht ... Und sonst niemand?«
»Ein brauner Lakai und ein sehr zuverlässig aussehendes Fräulein, jung, bescheiden. Allerdings, als ich die Prinzessin nach Hause brachte, war kein Mensch da. Sie kennen die Prinzessin schon lange?«
»Als sie noch so klein war,« Harro zeigt im Wagen eine unmögliche Kleinheit, »nur so ein Hauch von einem Kind. Ich habe sie auf den Armen getragen. Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, Herr Geheimrat, wenn es wirklich zu dieser Einspritzung kommen sollte, so lassen Sie mich es wissen ... Ich komme herauf ... Es wird ebenso stark wirken.«
»Herr Graf, ich kann Sie unmöglich in ein Haus holen, in das ich selbst eingedrungen bin. Ich kann es Ihnen freilich auch nicht verwehren, zu kommen.«
»Aber mir ein Zeichen geben, das können Sie. – Ich habe mir das verzauberte Haus angesehen. Es ist eine Veranda da, zwei Löwen liegen auf der Brüstung. Stellen Sie eine Lampe zwischen die Löwen, dann ist höchste Not. – Dann würde der Fürst selbst dringend wünschen, daß ich käme, dann gelten die Konventionen nichts mehr. Wenn die Prinzessin ins Wasser fiele, dürfte ich auch die Ehre haben und sie herausziehen.«
»Warum Sie aber nicht gleich heraufkommen, verstehe ich nicht, – es steht schlimm genug.«
»Ich muß doch noch ein weniges für den Harro Thorstein, mit dem ich doch einmal leben muß, sorgen, und nur im äußersten Notfall werde ich den Braunecker Bannkreis überschreiten.«
Mit diesen etwas rätselhaften Worten sprang der Thorsteiner aus dem Wagen. Sie waren am Eingang.
»Die Lampe, Herr Geheimrat, – von einer Stelle in der Straße kann ich sie sehen. Komme ich nicht, so erretten Sie mich gütigst aus der Hand der einheimischen Polizei, die mich vielleicht wegen nächtlichen Herumstreifens aufgegriffen hat. Ich kann zwar schon schön italienisch fluchen ...« – – –
Der Herr Professor sitzt dem finstern jungen Arzt gegenüber in dem kleinen Wohnzimmer.
»Sie hätten auch den Doktor Aquili holen können –. Wenn der Deutsche nur dazu geholt werden soll, daß er einen gewissen Schein schreibt ... Nun, man ist ja ein kalter Rohling, ein gefühlloser Leichenschneider ... ein Fall ist nur lukrativer als der andere ... Es gibt etwas zum Dabeistehen und Zusehen ...«
»Doktor, warum lästern Sie –«
Da kommt Lisa herein: »Herr Geheimrat, wenn Sie bitte zu Ihrer Durchlaucht kommen wollten.«
Der Herr Professor fühlt nach etwas in seinen vielen Taschen: Ja, es ist da – und folgt dem Mädchen. Die Prinzessin liegt auf einem weiß umhängten Bett starr ausgestreckt. Die seidene Daunendecke verhüllt ihre Gestalt ganz, sie ist bis unter die Arme heraufgezogen. Zu beiden Seiten ihres Gesichtes liegen die langen, schweren, blaßgoldenen Flechten. Sie sieht fast erschreckend vornehm aus. Wie ein Marmorgrabmal mit strengen frühgotischen Linien. Sie rührt sich nicht, nur ihre Augen leben. Die Fenster sind offen ... es weht ein leiser Rosenduft, es sind aber keine Rosen da ...
Sie flüstert: »Sie haben mit dem Doktor gesprochen. Werde ich sterben?«
Welch eine Frage! Und wie entsetzlich schwer, die rechte Antwort zu geben.
»Es steht in Gottes Hand. Aber Sie können auch etwas dazu tun, Prinzessin, daß Ihrem Vater das einzige Kind – das sind Sie doch – erhalten bleibt. Nehmen Sie allen Mut zusammen! Denken Sie an die alten Braunecker! Sie können hier in der stillen Stube ebenso viel Mut und Willenskraft beweisen, wie nur je einer Ihrer Ahnen auf dem Schlachtfeld.«
Was für ein feiner Menschenkenner der Herr Professor ist. Es steigt etwas wie eine leise Röte in das weiße Gesicht ...
»Und Sie wissen ja, was Sie wollen ... Sich nicht mehr an der Liebe versündigen ...«
»Ich bin zu weit gegangen, ich kann nicht mehr zurück. Ich kann ja nicht mehr mit meinem Vater leben ... immer einsam muß ich sein. Meine Mutter wird mich nicht bei ihm dulden.«
»Und Ihre Mutter – kann sie nicht überzeugt werden?«
»Unmöglich – sie wird das Schreckliche von mir glauben, so lange sie es glauben will ...«
»Sie sagen selbst – so lange sie es glauben will! Wenn Sie aber Ihre Mutter durch Ihre Güte überwinden können. Es ist wohl ein langer mühseliger Weg. Vielleicht ist es nach Jerusalem, auf schlechten, vollgepfropften Schiffen, durch glühenden Wüstensand und durch Sarazenenpfeile und Durst und nagendes Heimweh nach grünen Waldbergen – ein leichterer Weg. Nur an die großen Seelen kommen die großen und schweren Dinge.«
Rosmarie sagt: »Ich möchte Harro noch ein einziges Mal sehen. Wenn ich meinen Eltern in allem zu Willen sein werde, darf ich es nicht mehr. Und nun habe ich ihn doch gerufen.«
»Den Grafen Thorstein ... Wie wußten Sie?«
»Ich sah ihn bei Ihnen stehen unter der Zypresse.«
»Sie konnten ihn gesehen haben, Prinzessin ... Er wollte nicht heraufkommen.«
»Ich weiß es. Er denkt an meinen Vater, und daß der sagen würde: Taktlos. Und er fürchtet sich vor mir. Und meinen Brief hat er noch nicht bekommen.«
Der Doktor erscheint wieder mit einem Kelchglas in der Hand. Rosmarie erschrickt. »Muß das sein?«
»Ja, Durchlaucht.«
Und sie trinkt ein wenig, und dann werden ihre Augen starr und groß, und ihre Hand greift nach der des Mädchens.
»Doktor, bitte, kommen Sie,« ruft der Herr Professor.
»Hier, ich habe das schon erwartet. Ich muß eine Einspritzung machen.«
»Einen Augenblick, Doktor, wenn Sie noch warten wollten.«
Und der Professor trägt die Lampe aus dem Wohnzimmer auf die Veranda.
»Was machen Sie denn da, Herr Professor, ich brauche doch Licht.«
»Doktor, die Prinzessin hat einen Freund hier, auf den sie wartet. Ich versprach ihm das Zeichen zu geben, ehe Sie die Einspritzung machen. Er meinte, wenn die Prinzessin ihn sähe, werde das ebenso stark wirken. Um Gottes willen, wo ist denn eigentlich das englische Frauenzimmer?«
»Oben in ihrem Zimmer – sie sei gleich hinaufgegangen, ohne auf die Reden des Mädchens zu achten. Ich habe einen unglaublichen Radau oben gemacht, um sie herbeizubringen. Umsonst. Entweder muß sie taub sein oder ...?«
»Dann wird sie freilich nicht viel nützen ... Eine peinliche, eine sehr peinliche Sache, Doktor!«
»Wo haben Sie den geheimnisvollen Freund? Ohne Einspritzung kommen wir doch nicht über die Nacht hinweg ... aber wir können es auch mit dem Freund versuchen. Wir sind nicht in der Lage, uns irgend eine Chance entgehen zu lassen.«
An der Tür stand der lange Thorsteiner.
»Graf Thorstein.«
»Doktor Vogt ...«
»Kann ich Ihre Durchlaucht sprechen?«
»Bitte, kommen Sie!«
Einen Augenblick bleibt der Thorsteiner an der Schlafzimmertüre stehen wie ein Pfahl, und dann – nein, du finsterer Doktor, es geschieht nicht, was du erwartest.
Nein. Der Thorsteiner nimmt sanft die arme Hand und legt sie wieder hin.
»So krank bist du, armes Seelchen?«
Sie hat ihre großen sanften Augen auf ihn gerichtet und versucht ein Lächeln: »Oh, wie froh bin ich, daß du da bist, Harro. Ich danke dir, daß du mir das schöne Werk zu Weihnachten geschenkt hast. – Ich freute mich sehr. Am schönsten ist die würdevolle Gans, die vorderste.«
»Wenn es dir nur Freude gemacht hat. Es dürfte mir besser geraten sein. Du lobst auch die Gänse mehr als die Prinzessin.«
Wie gute alte Freunde reden sie, die sich vor wenigen Tagen getrennt haben, und zwischen denen alles so klar wie möglich ist.
»Und du willst für mich mit meinem Vater reden! Du wirst meinen Brief bekommen, und ich habe es auch alles in meine Decke gestickt. Sie muß neben meinem Stuhle liegen. Sie ist nun freilich nicht ganz fertig geworden. Sie gehört dir, die Decke. Aber leider, ein Weihnachtsgeschenk ist sie nicht. Ich hatte dir nichts diesmal, es hat mir recht weh getan.«
»Und noch viel anderes, Seelchen.«
Der Herr Professor findet, daß er überflüssig ist, und will sich erheben: aber Harro hält ihn fest: »Bitte, bleiben Sie!«
Und die Prinzessin sagt: »Du bist so groß über mir, Harro, – setze dich doch dorthin.«
Dieser Graf ist der vernünftigste Mensch, den der Doktor je in einem Krankenzimmer gesehen hat. Nun setzt er sich hin, nicht zu nahe, nicht zu ferne von dem Bett und versteht da zu sitzen, daß man ganz beruhigt wird, wenn man ihn nur ansieht. Ruhig und nicht lässig, so wie es die Leute tun sollten und es meistens nicht fertig bringen. Und die Prinzessin sieht mit ihren großen sanften Augen nach ihm, als wärme sie sich an seinem Anblick. Sie schweigen beide. Aber es ist kein bedrücktes Schweigen, kein Schweigen, wobei man das Gefühl hätte, als warte eines auf irgend ein Wort, wie es nun fällt, – ein Schweigen, das gutmütige und nervöse Menschen zu den törichtsten Reden zu verführen pflegt. Nein, es ist ein gesättigtes Schweigen, wenn man so sagen kann. Wozu das Zungenwerk? Wir verstehen uns auch so. –
Aber dem Doktor gefallen ihre schöne Ruhe und die Stille und ihre sanften Augen, in denen beinahe ein Lächeln liegt, nicht. Nun darf sie sich noch ganz sanft, nur ein wenig, ausstrecken, ihre Hände etwas heraufziehen –.
Und dieser sichere Mann da wird wohl auch etwas aus seiner beneidenswerten Ruhe kommen. Den Berg hinauf geht es jetzt sehr viel schwerer als hinunter.
Und der Doktor kommt wieder mit seinem Trank und gibt ihn dem Grafen ... er kann sie wohl am ehesten dazu bewegen.
Harro steht sofort auf. »Fräulein, helfen Sie, schieben Sie den Arm unter das Kissen. – Seelchen, das sollst du nehmen.«
»Ach, Harro – nein – du weißt nicht ... ach, könnt Ihr mich nicht lassen? Muß ich denn durch die Glut und die Hitze und die Pfeile nach Jerusalem –«
»Sie müssen, Prinzessin! Sie werden doch nicht jetzt schon den Kampf aufgeben ...« flüstert der Professor.
»Muß ich, Harro?«
»Du wirst wohl müssen ... ich ... nein ... ich zwinge dich nicht. Wenn du nicht willst, so stell ich das Glas fort, und wir lassen dich in Ruhe. Und ich bleibe noch bei dir, wenn du es wünschest. Vielleicht kannst du ein wenig schlafen ...«
»O wie gerne ... aber ich darf nicht. Sieh ... die Augen –«
»Es ist niemand da, quäl dich doch jetzt nicht damit.« »Ich muß, ich muß – Harro gib mir das Glas. Ich danke dir, daß du es mir erlassen hättest. So gut wie du ist niemand. Und nun mußt du gehen. Und Herr Geheimrat auch. Bitte. Ich danke sehr, sehr. Lebwohl.«
Ja, sie müssen gehen. Der Doktor zuckt die Achseln und begleitet sie hinaus. Ja, es kann die Nacht so hingehen.
»Ich wohne im Hotel Angst, Herr Doktor, und bin dort zu erreichen, wenn man mich in der Nacht noch wünschen sollte.«
»Wenn ich Leute hätte in diesem verwunschenen Hause,« ruft der Doktor ärgerlich. »Es muß ein Diener da sein, aber er sei auf einem englischen Dienerball.«
»Beruhigen Sie sich, Herr Doktor, ich werde ihn schon an den Löffeln nehmen, wenn nicht leiblich, so durchs Telephon, in einer halben Stunde haben Sie ihn,« sagt der Thorsteiner.
Wie sie hinausgehen, sieht Harro neben dem Stuhl der Prinzessin eine zusammengelegte Arbeit liegen. Das ist wohl die Decke. Er öffnet die Rolle ein wenig ... Dann schlägt er sie sorgfältig zusammen und nimmt sie mit.
Und nun gehen sie zusammen, zuerst in Harros Hotel, denn in seiner Pension wird der Herr Professor nichts mehr zu essen bekommen. Und Harro bittet sehr, der Geheimrat möchte ihm doch die Ehre erweisen, sein Gast zu sein. Dann gehen sie mit einer Zigarre in den Rauchsalon, wo zwischen hohen Palmengruppen bequeme Korbstühle stehen. Nur wenige Menschen sind da. Ein runder Platz am tiefen Fenster, von wo aus man ein ungewisses Blinken vom Meere her sieht, ist noch leer. Harro raucht eigentlich nur zum Schein, auch der Herr Geheimrat hat sich eine sehr blonde Zigarre angesteckt. Die Unruhe bemeistert sich so leichter.
»Warum die Prinzessin uns plötzlich fort haben wollte?« beginnt der Professor.
»Das kann ich mir denken, sie leidet. Ich sah es an ihren Händen.« Er seufzt. »So dasitzen – ich wäre lieber geblieben, nun ich doch einmal da war.« »Herr Graf, wie kam es, daß Sie nun so plötzlich dastanden, da man Sie herbeiwünscht? Haben Sie das immer so an sich?«
»Nein, leider nicht. Und können Sie mir einen Anhalt geben, was ich nun mit dem Fürsten bereden soll?«
»Die Prinzessin hofft Hilfe bei Ihnen zu finden. Ich kann Ihnen nichts Genaueres sagen. Irgendwelche Umstände müssen zusammen gekommen sein, daß der Fürst seiner Tochter eine schlimme Tat zuschreiben zu müssen glaubt. Sie sagt: Ich habe meine Ehre verloren, ich muß meinem Vater als grausam, feig und heimtückisch gelten.«
»Unmöglich, ganz unmöglich, das kann der Fürst nicht glauben.«
»Die Prinzessin sagt, er hat gute Gründe.«
»Was kann das sein? Was kann es nur sein?«
»Kann es vielleicht mit dieser Mutter – eine Stiefmutter ist es doch – zusammenhängen ... Wie ist sie denn?«
»Nun, oberflächlich, ein wenig ungeeignet für die Braunecker Herrschaft. Ich meine, sie hätte ebensowohl eines reichen Schlächtermeisters Sohn heiraten können, so in der zweiten Generation, wo das Geld schon etwas gewaschen ist. Ich habe einmal einen wahren Greuel von Bild von ihr gemalt. Und die Leute machen erst noch eine Menge Aufhebens davon. Ich schämte mich dabei. Der Fürst hat auch den guten Geschmack gehabt, das Bild nicht in seinen Ahnensaal zu hängen, es treibt sich irgendwo herum – auf Ausstellungen. Nein, wie ihr Bild ist sie nicht ... Ihre Stieftochter liebt sie ja nicht gerade innig, was man auch kaum von einer jungen lebenslustigen Dame ihrer heranwachsenden Tochter gegenüber verlangen kann. Auch ist das Seelchen durchaus nicht leicht zu verstehen, und wenn man nicht den Schlüssel zu ihrem Wesen hat, reichlich geheimnisvoll. Versteht sich auch auf den passiven Widerstand bei aller Sanftmut. Sie ist darin wie Wasser, weich und sanft und stark. Das alles empfiehlt sie ja einer Stiefmutter nicht sehr. Von irgend welchen Grausamkeiten, welche die Fürstin an ihr verübt hätte, habe ich nie das mindeste gehört.« »Und der Fürst?«
»Oh, ein durchaus vornehmer Mensch. Grand Seigneur, sehr sogar. Er kann darin so wenig aus seiner Haut wie wir alle. Seine Tochter hing ihm sehr am Herzen, ohne daß er sie darum besonders gut verstanden hatte. In seiner Ehe hat er eine Reihe Enttäuschungen erlebt. Haus Brauneck wartet immer noch auf einen Erben.
Die Aufgabe, die mir die Prinzessin zugeteilt, mit ihrem Vater zu reden, ist so ziemlich die peinlichste und schwierigste, die ich mir denken kann. Ich habe den Fürsten seit Jahren nicht mehr gesehen, bin unter Umständen von ihm geschieden, die es mir nahelegten, meine Persönlichkeit für einige Zeit aus seinem Gesichtskreis verschwinden zu lassen. Und tauche nun plötzlich hier auf, wo man mich am allerwenigsten wünscht oder erwartet ...
Ob der Fürst mich anhören will. Ob er nicht von vornherein sich jede Einmischung in seine innersten Angelegenheiten mit mehr oder weniger Höflichkeit verbittet ...
Ich sehe mich schon in Situationen!
Zum erstenmal reut mich bitter, daß ich immer noch weder verheiratet noch verlobt bin. Ich würde mich auf der Stelle verloben, wenn nur irgend ein verlobungsmöglicher Gegenstand in der Nähe wäre. Dem Seelchen muß ich zu Hilfe kommen.«
Der Herr Geheimrat lächelte ein wenig: »Nun, ein solches Opfer, das immerhin seine Konsequenzen hätte, wird doch nicht nötig sein.«
»Wenn ich nur dem Fürsten klar machen könnte, daß kein Mensch sich des Abstandes zwischen mir und seiner Tochter so klar bewußt ist wie ich.«
Harro stand auf. Das ferne Blinken auf dem Meere wurde deutlicher, irgendwo mußte ein Mondschein hinfallen. Ferne Lichter leuchteten auf. Da zog wohl ein stolzer Lloyddampfer vorüber, fern, ganz fern ... Er seufzte auf. »Ich halte Sie auf, Herr Geheimrat, ich hänge meine Unruhe an Sie.«
»Ich gehöre, wenn ich einmal anfange, zu den Hockern, wie man in Tübingen sagte. Ich möchte solche späte Abendstunden, wo der Mensch sich immer mehr von seinem Alltagsgetriebe entfernt und man tiefer in die Seelen eindringt, nicht aus meinem Leben streichen.
Und es ist ganz unmöglich, nicht den allerherzlichsten Anteil an dieser Psyche zu nehmen. Ich habe noch nie ein so adelig vornehmes Mädchen gesehen. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Es gibt in jedem Stand vornehme Seelen, – wobei ich allerdings sagen muß, daß mir unter der modernen Arbeiterbevölkerung, so wie sie sich jetzt heimatlos in großen Städten herumtreibt, noch nie eine begegnet ist. Doch da ist wohl meine Erfahrung beschränkt, und es ist mir vielleicht zu wenig gelungen, mich in diese Denkungsweise hineinzufinden. Es wäre schlimm für unser Volk, wenn es so wäre, – aber dies ist nun wieder etwas anderes. Die Prinzessin – sie muß einmal wertvolle Söhne bekommen. Dieser bei einem Mädchen doch ungewöhnlich hohe Begriff von Ehre. Um das, was man sonst Mädchenehre nennt, kann es sich ja nicht handeln.«
»Die Ehre, Herr Geheimrat, das ist ein Kraut, in ihrer innersten Herzkammer gewachsen. Mit elf Jahren hatte sie schon ein Ehrenwort. Kein Mensch wußte, wie sie zu dem Begriff kam. Ihre Erzieherinnen waren nicht geeignet, Seelenkräfte zu entwickeln, sie dressierten nur.«
»Das muß man wissen, Herr Graf. Ich freue mich, daß Sie Künstler sind. Ich sah es Ihren Augen an, – sofort, aber ich wußte nicht, ob Sie der Kunst auch leben.«
»Mit dem allergrößten Teil meines Herzens. Nur einen Winkel habe ich noch für meine Heimat übrig behalten. Es gab da manchmal schmerzliche Kollision der Pflichten. – Ich weiß, Herr Geheimrat, daß es die im höchsten Sinne nicht geben soll, es sieht aber manchmal verzweifelt so aus. Und nun fangen sich ja die beiden Herzensteile zu versöhnen an.«
»Wie mich das freut, Herr Graf ... Ihre Augen ... Gott segne Ihre Augen.«
Der Doktor und der Herr Geheimrat saßen bei ihrem gemeinsamen Frühstück in der kleinen Pension am Strande beisammen. Sie waren allein, die anderen Gäste noch nicht erschienen oder schon fertig. Nur der französische Kellner ging auf und ab. Draußen glänzte ein goldener Sonnenschein auf dem blauen Meere.
»Nun, ich habe nichts anderes erwartet, lieber Doktor, die Prinzessin ist in den besten Händen und gibt sich selbst alle Mühe,« begann der Professor.
Der Doktor klopfte sich ein Ei auf. »In der Medizin sind Sie eben doch Laie, Herr Geheimrat.« »Sie müssen doch mit dem Willen rechnen, der Seelenstimmung überhaupt.«
»Der Fürst hat übrigens schon depeschiert, daß er komme.«
»Sehen Sie, das wird auch gut getan haben, das leugnen Sie nun auch nicht.«
»Ach, hätten Sie den Aquili geholt, was für schöne Reden könnte er jetzt an den Herrn Papa halten ...«
Der junge Doktor verneigte sich gegen einen imaginären Fürsten. »Die besten Aussichten, Durchlaucht, nur eine Frage der Zeit bis zur völligen Genesung. – Herr Geheimrat, Sie haben so gute Zuversicht, Sie müssen mir das Geschäft abnehmen.«
»Bis wann kann der Fürst da sein?«
»Einen Tag und eine Nacht noch.«
»Die Engländerin, hat sie sich blicken lassen?«
»Ja, nach ihrem Kirchgang, den dürfte man ihr nicht nehmen, behauptete die Prinzessin. Ich horchte an der Türe, man muß manchmal horchen ... Sie versicherte, daß sie nur noch in der Religion Trost finde, über die plötzliche ...«
»Plötzlich ist gut.«
»Erkrankung der Prinzessin. Und daß es sicherlich mehr Wert habe, wenn sie ihre Knie beuge ... Die Kniebeuge hörte ich deutlich. Auch ihr Zustand schien mir einer Diagnose bedürftig. Ich möchte auf etwas schließen, was wir in Tübingen das heulende Elend nannten.«
»Und Sie werden wohl damit die Sache getroffen haben. Mit ihr ist nichts zu wollen.«
»Herr Geheimrat,« rief der Doktor mit plötzlicher Wärme, »wenn ich Sie nicht hätte! Ich bin Ihnen sehr dankbar. Und die Prinzeß hat einen Glauben an Sie. Der Freund, der geheimnisvoll wie aus der Versenkung auftauchte, – den möchte ich auch alle Stunden einmal verschreiben. Ich dachte zuerst: Es ist eine Liebesgeschichte, und die Sache kann hochdramatisch werden ... Ich überlegte mir schon: ›Vierter Akt, fünfte Szene, eintritt der hocherzürnte Vater: Treffe ich Sie hier, mein Herr, – wir sprechen uns nachher!‹ – Ich überlegte mir schon: in diesem Falle lade ich alles auf den Herrn Professor der Theologie, Geheimrat Schwarzen, ab. Ich habe niemals Lampen zwischen Löwen gestellt ...«
»Und nun haben Sie eingesehen, daß es keine Liebesgeschichte ist.«
»Wenn überhaupt, dann eine einseitige –«
»Es ist eine alte Freundschaft.«
»Der Graf ist doch nicht alt.«
»Aber die Prinzessin sehr jung.«
»Er versteht die Prinzessin zu behandeln. Ich komme mir dieser jungen Dame gegenüber beständig wie ein blöder Bauernjunge vor.«
»Warum schüchtert Sie eigentlich die Prinzessin so ein – das bin ich von Ihnen gar nicht gewöhnt.«
»Weil ich eine solche Schnauze habe. Nein, Herr Geheimrat, Sie verkennen mich – in mir schlummert die Demut. Prinzessinnen bin ich auch nicht gewöhnt. Es gab die weder auf meinem äußerst nahrhaften väterlichen Bauerngut noch im Jenenser V. C. Auch hat mich meine Praxis noch nicht an Europas Höfe geführt – ich fand die Stellen zu meinem Erstaunen schon besetzt. Aber das ist es nicht. Wenn hohe Damen krank sind, so ist da ein Fall wie der andere – nur der eine vielleicht lukrativer.«
»Ach, damit kommen Sie mir nicht: Sie, mit Ihrem nahrhaften väterlichen Hofe im Hintergrund können sich jede Noblesse leisten. Und müssen's. Wer von diesem Planeten einen großen oder kleinen Teil besitzt, gehört zu den Feldherren.«
»Daß Sie so denken, freut mich riesig, Herr Geheimrat, in der Stille meiner Seele denke ich auch so. Nur darf man's nicht überall laut werden lassen. Bitte, fragen Sie Fräulein Zittelmann – dort geht sie – sie hat wieder ein wahres Ungetüm von Hut auf – ob sie einen Bauernschwiegervater wünscht.«
»Mit einem solchen Gänschen müssen Sie gerade nicht exemplifizieren. Aber ich erfahre immer noch nicht, warum Sie die Prinzessin so einschüchtert. Mir kommt sie bescheiden und fast demütig vor. Sie hebt ja wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften den Herren die Bücher auf.«
»Das wird sie wohl tun. Und sehr anspruchslos. Aber es ist immer, als spreche ich eine andere Sprache ... Ich entschuldige mich fortwährend und wegen allem – der reine Lakai! Sie ist vornehm, sie ist so entsetzlich vornehm! Sagen Sie, ist sie vielleicht zu einer Königin bestimmt?«
»Unmöglich ist es nicht.«
»Also! Nun müssen Sie doch einen kleinen Abstand zwischen einer Majestät und einem Bernhagener Bauernsohn gelten lassen. Meinen Sie, sie verliere auch nur auf Sekunden ihre Hoheit? – Meinen Sie, ich vergäße mich je an der mir so ungewohnten Titulatur? – Sie ist jetzt so schwach, ihren Kopf bringt sie nicht mehr in die Höhe, – ich habe sie quälen müssen. Keinen Augenblick ist sie weniger königlich als den andern. Ich habe mir im Leben nicht ausgedacht, wie Königinnen in solchen Situationen nun wären. Aber ich fühl's immer wieder: So sind Königinnen. Der lange Graf, – der kann mit ihr umgehen. Haben Sie gesehen, wie er ihr den Willen ließ, als sie die Arznei nehmen sollte, und ihr zuredete, sie brauche es nicht zu nehmen, wenn sie nicht wolle ...«
»Ich fand das seltsam. Ich dachte mir, er weiß gar nicht, wie viel daran hängt, ob sie es nimmt oder nicht.«
»Sie haben nur seine Augen nicht gesehen. Ich sah sie zufällig. Die sagten jedenfalls für sie deutlich genug: Du weißt, was du sollst, aber du sollst wissen, daß du deine Freiheit hast.«
»Und gerade in dem Freiheithaben bringt man die schönen und großen Herzen an ihre Pflicht,« sagte der Geheimrat. »Und nun leben Sie wohl, Herr Doktor, ich meine, Sie verstehen recht gut mit Prinzessinnen umzugehen.«
Der Gotthardexpreßzug rast durch tief verschneite Täler, in die die schweren Wolken hineinhängen. Dunkelschwarze Tannen, dunkle Seen mit vereisten Ufern, Krähen und Rabenzüge, frierende Stationsmeister, die auf und ab stampfen, und denen der Rauch aus dem Munde mit ihren Worten geht. Und die Räder haben alle eine Melodie und die singen sie unaufhörlich. Klirrende Fenster und stöhnende Windstöße, die ihre Flügel an die Fenster schlagen, alle kennen sie die Worte und wiederholen sie dem Fürsten, der allein in seinem kleinen dahinfliegenden Gefängnisse sitzt. Wie eine Zelle ist's, in der er nun schon eine Ewigkeit lang fährt, seit er sich in Berlin hineingeworfen hat, als der Zug schon beinahe in Bewegung war. Die Worte hatten ihm aus dem blaugesiegelten Papier entgegengestarrt, als er mit der Fürstin zum Balle des englischen Gesandten hatte fahren wollen. Er hatte es schon dem zusammengefalteten Papier angesehen, daß es einen Dolchstoß enthalte, noch ehe er es geöffnet. Und er bekommt ja so viele Telegramme. So viele, daß die Fürstin sagen kann:
»Muß das jetzt sein?«
Er reicht es ihr wortlos: Ich bin sehr trank und bitte Dich, lieber Vater, zu mir zu kommen. Rosmarie.
Die Fürstin: »Ach, wie unangenehm! Ob es denn wirklich so schlimm ist? Dann hätte doch Miß Granger depeschiert. Vielleicht ist's nur eine von ihren Phantastereien. Ich meine, wir telegraphieren zurück an Miß Granger, wir bäten um weitere Nachricht. Die schrieb mir doch heute, Rosmarie sticke sehr fleißig an einer Decke. Und du weißt, wen wir heute abend treffen wollten, und wie viel daran liegt.«
Der Fürst hört schon längst nicht mehr, er stürzt hinauf, und sie hört ihn nach seinem Leibjäger und dem Kursbuch rufen. Da steigt die Fürstin in ihrer rauschenden diamantflimmernden Pracht in ihr blauatlassenes Coupé. Einen Augenblick wartet sie noch, aber es dringt eine Eisluft herein, – sie winkt dem Lakaien, der Schlag fliegt zu, und das Coupé rollt davon. – Der Fürst hat sich um nichts mehr bekümmert, als daß er den Nachtexpreß noch bekomme, und nun fährt er dahin, und die Worte begleiten ihn. Eine Nacht und einen Tag und wieder eine Nacht, immer die gleichen Wände, ob der Zug durch eisige Winterwüsten oder nun am Meeresbrausen neben Palmenkronen hinfährt. Was kann in einer Stunde geschehen – was in so langer Zeit! Ach, wie die alten Ängste aufleben! Und was sie getrennt in letzter Zeit, das ist zurückgetreten, oder nein, es ist, als habe es sein Kind mit noch mehr Ketten an sein Herz verfestigt. Wenn er ihr unrecht getan hätte? Nein, das hat er nicht – nun wieder haben die Worte ihr Spiel mit ihm.
Und nun graut der letzte Morgen über einem fremden wilden Meere, aus dem gelbe kahle zerrissene Felsen aufsteigen. Der Fürst geht in seinem Abteil wie ein unruhiges gefangenes Tier hin und her. Jetzt eine Station, hohe, morgengraue Palmen, ein blaues Leuchten auf dem Wasser. Da ist die Braunecker Livree. –
Nein, sie könnten den Mann nicht mit der schlimmsten Nachricht ihm entgegengeschickt haben. Das gibt ihm Kraft auszusteigen. Wie wenn er aus einem Schiff stiege, so zittert der Boden.
Der Diener hat sogar ein kleines Briefchen: »Ich begrüße Dich, lieber Vater, als Deine dankbare Rosmarie.«
Der Fürst braucht nicht den Diener zu fragen, das Billett sagt ihm genug. Bei den Löwen, etwas nervös und übernächtig, erwartet ihn der Doktor.
»Kann ich meine Tochter sehen?«
»Gewiß, Durchlaucht.«
»Bitte, begleiten Sie mich, ich muß doch ein wenig Toilette machen.«
Ein Zimmer ist für den Fürsten gerichtet.
Der Kammerdiener, den der Fürst mitgebracht hat, hat mit blitzartiger Schnelligkeit verschiedenes ausgepackt, und der Doktor sieht mit Erstaunen, wie sich das kleine Zimmer füllt mit Gegenständen, die man jetzt und in den verschiedensten Umständen brauchen könnte.
Der Fürst macht sorgfältig Toilette, der Doktor wundert sich ein wenig. Will der den Moment des Wiedersehens hinausschieben, oder darf man nicht ohne sorgfältige Vorbereitungen einer jungen Königin nahen?
Er erstattet Bericht, einen Bericht, den er sich vorher sorgfältig mit dem Geheimrat überlegt hat.
Ja, – er ist erst vorgestern zu der Prinzessin geholt worden. Hat sie sehr elend gefunden, namentlich recht schwachen Puls. Auch sehr schlecht ernährt. Ein organisches Leiden hat er nicht entdecken können. Die große Schwäche des Herzens –
»Meine Tochter ist sehr schnell gewachsen, sie ist ein ziemliches größer als ich. Daher das schwache Herz. Die italienische Kost hat ihr nicht zugesagt. Ich war dagegen, daß meine Schwester eine italienische Köchin engagiert hat.
Und Sie hoffen, Herr Doktor, daß wir bald wieder über den Berg kommen?«
Ja, der Herr Doktor hofft. »Wohl nicht so ganz schnell. Auch ist der Schwächezustand eine tägliche Gefahr.« Doktor Vogt findet in sich ein schlummerndes Talent zum Hofarzt.
»Nun, wird meine Tochter mich erwarten? Wollen Sie die Güte haben, nachzusehen ...«
Aber auch dem Fürsten gibt es einen Herzstoß, wie er sein Kind sieht. Und doch ist ein schwaches Rot auf den Wangen, und wie schön sind die Augen in ihrem feuchten Glanze.
Der Fürst schiebt seinen Arm unter ihren goldenen Kopf und hebt sie sanft empor.
»Vater, liebster Vater, verzeihe, ach verzeih!«
Er zuckt zusammen. Ach, er hatte alles vergessen.
»Du wußtest nicht, was du tatest.«
»Vergib, Vater, o vergib, ich habe gekämpft, oh, bitter habe ich gekämpft.«
Er legt sie auf ihre Kissen zurück und gewöhnt sein armes Herz an ihren Anblick. Sie hat gelitten!
»Harro ist hier, Vater.«
»Harro hier?«
»Ich habe ihn gebeten. Er will mit dir reden –«
»Hast du ihn empfangen, Rosmarie? Das kannst du unmöglich getan haben. So allein und krank wie du bist –«
»Er wollte nicht kommen, aber als ich beinahe gestorben wäre, holten sie ihn. Sie wußten ja, daß er mein Freund sei. Und so ganz allein, Vater ...«
»Liebe Rosmarie ...«
»Nicht ›taktlos‹ sagen, Vater. Du sollst den Doktor fragen, ob ich so nahe am Abgrund war oder nicht. Und Herr Geheimrat Schwarzen, das ist fast eben so gut, wie wenn es der Herr Stiftsprediger wäre, – war auch dabei.« »Und Miß Granger.«
»Sie ist so sonderbar geworden. Ich hätte es dich wissen lassen müssen. Sie sagen nun, sie hätte eine schlimme Krankheit.«
»Lieber Himmel, warum erfahre ich das jetzt erst?«
»Es war zuerst nicht so schlimm. Und dann war ich so bitter. Ich dachte, das gehört ja auch zu meiner Verbannung, daß ich mit Menschen leben muß, die nichts, gar nichts von mir wissen.«
»Reden wir jetzt nicht mehr davon. Rosmarie, du hast dich gegrämt. Deine armen Hände ... Nein, schweigen wir davon. Schweigen wir immer davon, Rosmarie.«
»Vater, wenn es sein muß. Ja. Schweigen.
Aber ich flehe dich an! Höre zuerst einmal Harro! Und dann schweigen, Vater. O Vater, ich will auch darunter dein liebes Kind sein.«
Der Fürst hat sich in dem engen kleinen Zimmer etwas manövermäßig, wie er sagt, einquartiert, und seine schönen Zimmer im Hotel Angst bewohnt sein Kammerdiener.
Er geht in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab und kennt jede Dielenritze und die Silhouetten sämtlicher Löwen. Er wagt kaum bis zum Strande vorzudringen, so ängstigt ihn der Gedanke, Rosmarie könnte eine der schweren Ohnmachten bekommen. –
Wenn er dabei ist, – nein, das tut sie ihm nicht an. Daß aber ihr Befinden nicht besser wird, das kann ihm kein Mensch verschleiern. Der Doktor ist auch von seinem kurzen, viel versprechenden Anlauf als Hofarzt zurückgesunken und kann durchaus keine Besserung finden. Wenn der Fürst auch hundertmal am Tage danach fragt.
Und wie kann es Rosmarie auch besser gehen? Sie wartet ja. Sie wartet jeden Morgen bis zum Abend. Und das Warten, wenn die Stunden ohnedies so schmerzbeladen schleichen, ist eine Qual.
Und schwer genug ist es gewesen, ihrem Vater das Versprechen abzuringen, daß er mit Harro reden will; so wagt sie es nicht, ihn durch Erinnern daran zu betrüben.
Miß Granger muß auch besorgt werden. In eine Heilanstalt, wo sie von ihrem schweren Leiden, das sie in ihrem durch lange Heimatlosigkeit und Dienstbarkeit zermürbten Leben überfallen hat, geheilt werden kann. Wohl zuerst nur ein wenig Vergessenheit, – bis die Last immer schwerer wird und keine morgendlichen Reu- und Bußtränen den abendlichen Taumel verhindern können. Und Rosmarie hat auch ein leises Schuldgefühl gegen Miß Granger in ihrem feinen Herzen. Sie hätte die Arme nicht so ohne Hilfe hinuntergleiten lassen sollen. Sie erreicht auch, daß für sie gesorgt wird und daß man ihr all die Dinge läßt, die sie in Angst vor dem immer näher heranschreitenden Unheil von Rosmarie erbeutet hat. –
Wenn der Fürst unruhige und ängstliche Tage verbringt, so geht es Harro nicht besser. Er hat sich in Rosmaries Kunstwerk hineingesehen, bis ihm von all den Dornen das Herz geblutet hat. Und immer ferner steht die Hoffnung am Horizont, daß er irgend etwas wird bessern können. Als Rosmaries Brief zurückkam, hat ihn nur die Geschichte jener Gewitternacht überrascht. Das andere haben ihm die Rosen auf dem weißen Grunde alles erzählt. Und aus dem Brief schlägt ihm ein so felsenfestes Vertrauen entgegen und immer dies selbe Gefühl für seine Kunst, die sie in all ihrer Not nicht vergißt.
Und sie hat ja fast Unmögliches von ihm gefordert. Harro wendet die Sache in hundert imaginären Gesprächen mit dem Fürsten hin und her, bis ihm der Kopf davon brennt und eine müde Trostlosigkeit sich seiner bemächtigt.
An die Ereignisse jener Nacht nur zu rühren verbietet ihm sein Zartgefühl. Es wäre da ja auch manches zu sagen. Zum Beispiel, warum Rosmarie nicht Fräulein Bergmann holte. Aber damit befindet er sich zwischen zwei Ehegatten als Mitwisser ihrer tiefsten Geheimnisse. Wenn er jetzt doch so weit wäre, daß der Fürst ihn mit gewohnter Liebenswürdigkeit nach seiner Gemahlin fragen könnte.
»Danke, Durchlaucht. Und er wog sieben Pfund und gedeiht ganz prächtig.« Warum hat er seine Zeit nicht besser angewendet, solange sein Herz noch ihm gehörte? Freilich, Rosmarie hätte er dann nicht wiedersehen dürfen. Aber doch ihr beistehen!
Er richtet sich im Hotel Angst stets auf sofortige Abreise ein. Packt jeden Morgen seine Sachen sorgfältig zusammen, – dann erst wird ihm leichter. So kann er jeden Augenblick abfahren, es gehen ja immer Züge. Schon in San Remo ist er sicher. Bei all dem lernt er die Tapete und jedes Ornament seiner Zimmerdecke auswendig. Und wiegende Palmenkronen und fernes Meeresblinken verbindet sich unlöslich mit dem Gefühl ängstlichen Harrens und Grübelns in seiner Seele.
Nur abends trägt er seine Unruhe zu dem Herrn Geheimrat und dem verdrossenen Doktor hin. Die wissen ja alles von der Villa Riposa. Der Doktor ist auch zumeist von dem anstrengenden Dienst, den er bei Serenissimus hat, ganz erschöpft. Dreimal am Tag bringt er den Doktor zur Verzweiflung mit seiner Angst und seinem Verlangen nach einem neuen Heilmittel. Sämtliche nur mögliche Heilmethoden muß der Doktor mit ihm durchsprechen. Längst hätte er alle italienischen und englischen Ärzte in Bordighera zu einer Beratung aufgeboten, wenn nicht Rosmarie flehentlich gebeten hätte, daß man sie mit ihrem Doktor allein lasse, der sie so gut verstehe.
»Sie allein kann den Fürsten ein wenig beruhigen. Wenn sie nun auch aufgeregt würde! Ich brennte durch, Herr Geheimrat ...«
Heute geht nun ein Landregen herunter mit deutscher Gründlichkeit und südlicher Lebhaftigkeit, über dem Meere liegt eine graue Nebelmasse. Nur die triefenden Palmen sehen munter aus und die Pfefferbäume, die ganz fein beperlt sind. Harro steht am Fenster mit dem Gefühl, daß heute etwas geschehen muß. Unmöglich, den ganzen Tag so hinzubringen. Er will in den englischen Store hinunter und sehen, ob nicht ein paar Schnitzmesser und etwas altes Holz zu haben ist. Er sehnt sich nach dem härtesten, zähen, knastigen, splitterigen Eichenholz.
Da klopft es. »Herein!« Es ist der Leibjäger des Fürsten, der ihn überall begleitet, ein alter Braunecker, mit einem intelligenten Ledergesicht. »Durchlaucht läßt anfragen, zu welcher Zeit der Herr Graf zu sprechen sei?«
Harro schießt eine dunkle Röte ins Gesicht.
»Jederzeit,« will er sagen, besinnt sich aber – nein – noch einmal überlegen.
»Wenn es Seiner Durchlaucht um elf Uhr passen würde.«
Also der Fürst will zu ihm kommen. Freilich, in der Villa ist es sehr gehorsam. Rosmarie würde ihn kommen hören und, solange die Unterredung dauert, sich aufs peinlichste absorgen.
Geschwind sammelt er noch seine Argumente zusammen. – Was er sagen könnte und was – noch viel wichtiger – er um Himmels willen nicht sagen darf!
Alles umzäunt und umdrahtet. Überall Verbotstafeln. – Wege, die plötzlich aufhören! – Seelchen, du sollst deine Sache selbst führen!
Der erste Blick auf den Fürsten, wie er nun kommt, genügt, um ihn aufs tiefste zu überzeugen, welch schwierige Aufgabe er vor sich hat. Der Fürst ist gemessen und niedergedrückt. Kaum eine Spur seiner früheren Liebenswürdigkeit. Er sieht aus, als mache er einen Besuch beim Zahnarzt. Notwendig, aber unangenehm. Er setzt sich auch ganz ergeben auf einen der bequemen Korbstühle.
»Sie haben wenigstens Stühle, auf die man sitzen kann. In der Riposa sucht man vergeblich nach einem, der auf vier gleichen Beinen stünde.«
Harro erklärt, daß ihm die Behaglichkeit seiner Stühle noch nicht aufgegangen sei, dagegen wolle er die Tapete und das Plafondornament blindlings nachzeichnen.
Da lächelt der Fürst plötzlich: »Ein greulich unbequemes Nest, dies Bordighera, und das Haus in einem wahren Irr- und Zaubergarten.«
Aber seine Stimmung ist eine merklich bessere geworden. Also der Thorsteiner hat sich auch abgequält, das gibt doch eine gewisse Gemeinsamkeit. Und auf Harros höfliche Frage:
»Meiner Tochter geht es noch nicht viel besser. Ich werde nach München um einen Spezialisten telegraphieren, wenn bis morgen keine Besserung eintritt.«
Harro klopft das Herz bis in die Schläfen. Nun muß er etwas sagen. Sie sind doch nicht zusammengekommen, um über Stühle und Doktoren zu sprechen.
»Ihre Durchlaucht hat sehr viel durchgemacht und war recht einsam hier.«
»Sie will sich an niemand anschließen. In Baden gab es Leute genug, meine Schwester hat sich die größte Mühe gegeben, alles umsonst.«
»Unter einem schweren, tief empfundenen Drucke schließt man sich auch nicht leicht an fremde Jugend an.«
Harro springt heftig auf, des Fürsten Gesicht ist wie eine Verbotstafel ... Achtung, Vorsicht, kein Weg!
»Ich möchte Eurer Durchlaucht etwas zeigen, was mir die Prinzessin gegeben hat. Es ist ein Kunstwert und zugleich ein Dokument. Es hat sich ein Herz mit seinem Schicksal auseinander zu setzen versucht.«
Und Harro holt die Rolle herbei und breitet das Bildwerk auf der Mahagoniplatte aus, die er vorher von ihrer bunten Decke befreit hat. Der Fürst sah ihn äußerst erstaunt an. War er denn hergekommen, Stickereien anzusehen?
Aber sofort erkannte er an den leuchtenden Farben und den eigentümlichen Linien, daß er eine Arbeit seiner Tochter vor sich habe.
Harro atmet tief: »Es ist eine große, große Arbeit, und ihre Schönheit spricht für sich selbst. Es sind gewiß Tausende und Tausende von Stichen dazu nötig gewesen.«
»Sie ist sehr geschickt. Ja, es ist schön. Aber etwas Düsteres hat es doch. Sie nennen es ein Kunstwerk, – Sie müssen das ja wissen – ich finde das schwarze Band in der Mitte seltsam hart.«
»Durchlaucht, zuerst die Einfassung.
Die einzelnen Rosenblätter, dunkle samtne, zarte rosige, fröhliche gelbe, warme rote wie junges Blut, sie alle fallen, gleiten, tropfen von den goldenen Herzen und schneien herab auf den Rand. Die eine Rose dort, ein Blättchen scheint sie noch festzuhalten, – aber wenn man genau sieht, so ist sein grünlich weißes Ende auch schon gelöst, mit den andern wird es heruntergleiten. Alle Freude, alle Liebe, alle Fröhlichkeit verweht, vergangen, verglüht, wie welke Rosenblätter, die jetzt noch leuchten und dann am Boden vergehen. Es hängen Tauperlen daran wie Tränen. Wo die leeren Rosenkelche mit ihren noch so goldenen, noch gar nicht entfärbten Herzen sitzen, das Dorngeranke.
Wie die Zweige mit ihren spitzen langen Dornen ineinander gewunden, gebogen, geschlungen sind. Und da ist der kleine, – man sieht ihn zuerst kaum – der blaue, zarte Schmetterling, man nennt ihn Bläuling und in der Schweiz Seelchen, weil er so zart und lieblich ist. – Wie er eingeschlossen ist, dort wo die Zweige sich begegnen und einen dornenbewehrten Ring bilden. Dort noch einmal das Seelchen und dort wieder. – Hier hängt es noch zuletzt. Es ist kaum mehr zu sehen, zerfetzt die feinen Flügel, das schöne wundervolle Blau, das tiefe, freundliche, getrübt.«
Der Fürst folgt ihm mit den Augen.
»Der arme Schmetterling, man wird ihn kaum gewahr in dem Linienreichtum.«
Er braucht nun nicht mehr zu fragen, warum er das ansehen muß, und darf den Mann da vor ihm nicht mehr aufdringlich und taktlos schelten.
»Und das schwarze Band?«
»Ich habe einmal mit der Prinzessin ein Bild angesehen, in einem orbis pictus, den Herr Domänenrat ausgegraben hatte. Es war ein englischer Ritter mit blauweißer Helmzier, der auf seinem Schild einen schwarzen Schrägbalken trug.
Die Prinzessin rief: ›O der Arme! Er hat seine Ehre verloren, und nun will er noch kämpfen, und niemand will seinen Handschuh aufnehmen.‹
Ich weiß nicht, warum ich damals nicht erklärte, was das Zeichen auf einem englischen Wappen – die Bastarde tragen es – bedeutet. Es wäre auch etwas schwierig gewesen. So blieb der Schrägbalken für die Prinzessin das Zeichen verlorener Ehre.
Durchlaucht erinnern sich der Geschichte vom Ehrenwort ...
Da liegt nun der Schrägbalken, es ist nicht ein aufgenähtes Band, wie man meinen könnte, es ist mit unzähligen feinen Stichen hineingenäht.
Jeder Stich hat wohl weh getan.
Und darauf liegt der Rosenkranz.
Weiße Rosen fest aneinander gedrückt, nun ohne Blätter und Dornen zum Kranz gebunden, so wie man ihn als letzten Liebesgruß jemand mitgibt. Der Kranz ist nicht geschlossen, gottlob nicht, eine Handbreit fehlt noch, es hängt noch die Nadel mit ihrem Seidenfaden daran. Das arme Herz hat sich seinen eigenen Totenkranz gewunden.
Sie kann nicht leben ohne den goldenen Schmuck ihrer Ehre – und den hat ihr das Dorngeschlinge, das unbegreiflich verworrene, geraubt. Darüber müssen die Freuden welken, darüber müssen die Blätter von den noch so goldenen Kronen herabfallen.«
Draußen strömt der Regen und schlägt ein hohler, klagender Wind. Der Fürst hat seine Hand aufgestützt und sieht zu den herrlichen Farben auf dem blassen Opalgrunde herab. Die Stimme über ihm, wie sie leise auf ihn eindrang, sie gehört jetzt keinem Fremden, dem er widerwillig ein paar Worte gestattet. – Die Jahre sind zurückgerollt, und der Thorsteiner, der das wunderlich feine Seelchen kennt wie kein anderer, ist ihm wieder einmal beigesprungen in höchster Not. Wie damals, als er ihm das Kind aus dem vereisten Winterwald zurückgebracht hat.–
»Harro, ihr erstes Wort, als ich sie wiedersah, war: Vergib mir. Ich sehe alles, den tiefen Schmerz um das, was sie ihre Ehre nennt, ohne die sie nicht leben will ...«
»Ist ein solches Herz, das so tief empfindet und seine Ehre höher einschätzt als das eigene Leben, überhaupt fähig einer gemeinen grausamen Handlung?« »Unüberlegt – unüberlegt.«
»Das Dorngeschlinge, in dem das arme Seelchen sich gefangen hat. – Wie die Linien, eine jede ist durchgeführt, sich ineinander verweben.« –
»Aber die Bitte um Vergebung?«
»Ist der Totenkranz nicht ein großes Unrecht an Ihnen, Durchlaucht! Sie erhofft nichts mehr von Ihrer Einsicht. Ist das nicht doch mangelndes Vertrauen in die Größe Ihres Herzens? Darf sie denn die Hoffnung aufgeben, daß Ihre Hand einmal das Geschlinge zerreißen werde, wenn es noch so sehr mit Dornen bewehrt ist? Und darüber macht sie sich jetzt Vorwürfe. Sie hat ihren Vater gerufen, ehe der Kranz sich geschlossen hat.«
»Gott, mein Kind, mein Kind! – Ich hätte ihr eine solche Tat zugetraut! Eine Tat phantastischer Herzenskälte. Sie hat es freilich bestritten, doch in so gewundenen Worten, – aber Schmerz über das Unglück, das mich und ihre Mutter betroffen, hat sie nie gezeigt.«
Harro schwieg, über das, was er ahnte, stand ihm nicht zu, ein Wort zu sagen.
Der Fürst seufzte tief. Endlich sagte er: »Und nun, Graf Thorstein, kommen Sie mit mir. Rosmarie wird Ihnen danken wollen. Ich habe es so eingerichtet, daß sie von dem Gespräch hier nichts erfährt, nun wird sie sich doch wundern, wo ich so lange bleibe. Ich lebe ja sonst förmlich in der Riposa.«
»Durchlaucht, darf ich bitten, der Prinzessin meine Grüße zu bringen. Durchlaucht sehen, daß meine Sachen schon gepackt sind. Ich darf meinen Portemanteau nur zuschnallen.«
»Unmöglich! Ich sollte ohne Sie kommen?«
»Ich habe schon, ohne jede Erlaubnis freilich, eines Abends die Prinzessin gesehen. Es stand so schlecht, daß ich es mir nicht denken konnte, daß Sie es mir nicht gestattet hätten. Ich konnte die Prinzessin doch nicht mutterseelenallein unter fremden Menschen lassen, wenn es so stand.« »Nein, Harro. Ich danke Ihnen dafür. Nun bitte ich Sie ja, daß Sie mit mir gehen.«
Aber Harro bleibt unverrückt da stehen, seine beiden Hände an die Rücklehne seines Stuhles geklammert.
»Ich habe damals Abschied genommen. Euer Durchlaucht. Der Riß geht jetzt leichter. Und was hat mir die Prinzeß zu danken – nichts! Ihre Sache hat sie aufs beste selbst geführt.«
»Ein Riß! Ich bitte Sie, wie können Sie von einem Riß reden! Als ob Rosmarie noch einen Riß ertragen könnte! Womit könnte ich Sie denn verletzt haben?«
»Mit nichts. Ich bin stets Eurer Durchlaucht zum herzlichsten Dank für viel Güte und Verständnis verpflichtet. Ja und eben darum. Ich möchte nicht, daß Sie an einem schönen Tage denken, daß ich zu lang geblieben wäre.«
»Aber ich kann nicht ohne Sie kommen, verstehen Sie doch! Ich bin doch bei meiner Tochter etwas schuldig geworden. Sie hat immer noch die alte Kinderfreundschaft für Sie ... Mit nichts kann ich sie so sehr erfreuen.«
Fast naiv ist der Fürst in seinem Drängen. Aber Harro beißt die Zähne zusammen. Geht er jetzt mit, so ist er verloren, an die Braunecker verloren, kann ihnen den Narren machen, den gehorsamen Narren mit der Schellenkappe. Den man herrufen und fortschicken kann. Wir haben dich genug, – wir wollen einen fröhlichen Narren, der mit unsern Kindern spielt und sie erfreut, und du bist ein trauriger Narr geworden.
»Durchlaucht werden gestatten, daß ich mich jetzt verabschiede.«
»Ich begreife Sie einfach nicht.«
So sollst du es deutlicher haben, denkt der Thorsteiner.
»Die Prinzessin ist jetzt kein Kind mehr, und ich kein Spielgefährte für Kinder mehr.«
»Aber ihr Freund sind Sie doch geblieben.«
»Die Prinzessin hat die Güte, mich immer noch so zu nennen –« »Harro, können Sie wirklich in diesem Augenblick etwas erzwingen wollen!«
»Ich will nichts erzwingen, ich will nur jetzt schon etwas tun, was man in Wochen oder Tagen von mir verlangen wird. Und vielleicht nicht mit so viel Güte und Wärme wie jetzt. Und ich traue mir nicht zu, daß ich den Moment errate, wo ich anfange, Eurer Durchlaucht überlästig zu werden.
Ich denke dabei durchaus nicht nur an mich, wie es den Anschein haben könnte, ich denke an die Prinzessin. Sie ist sich in all den Jahren immer gleich geblieben, sie wird sich auch in diesen nächsten Wochen nicht verändern. Sie ist sich selbst so treu.
Und Durchlaucht einen Moment noch –
Wie denken Sie sich den Mann, der neben so viel Freundschaft, Zartgefühl, Verständnis für sein Allerinnerstes stehen kann und ruhig und kalt sich alle Blumen auf seinen einsamen und dornigen Weg streuen läßt? Der die schönste Seele ihre schöne Hülle langsam sich wieder aufbauen sieht, den blauen Schmetterling, den befreiten, wieder im Sonnenschein seine Flügel breiten –, und der das alles in der richtigen Distanz, wie sie nun einmal zwischen ihm und der jungen Königin besteht, – genießen könnte –!
Wie möchte der beschaffen sein? Haben Durchlaucht schon so einen gekannt?«
»Harro, wollen Sie wirklich in diesem Augenblick, wo ich Ihnen so gut wie ausgeliefert bin, – ich mag nicht und ich will nicht ohne Sie zu meiner Tochter zurückkommen, – ich wiederhole es, sie erträgt keinen Schmerz mehr, wollen Sie mich zu einem Versprechen zwingen!«
»Durchlaucht, nein. Ich weiß, daß ich der größte Narr zwischen hier und Paris bin, – aber ich komme Euer Durchlaucht sofort nach –«
Der Fürst eilt hinunter, plötzlich ist die Sonne hervorgebrochen, tiefblaue Wollen wallen von dem herrlich wogenden Meer hinweg. Wie das funkelt und blitzt von Wellenkämmen zu Wellenkämmen, die Palmen schaukeln ihre Perlengehänge in einem frischen Winde. Eine nasse, weiße Rose bricht der Fürst von einem der Büsche, als er durch den Garten eilt ... Meine Rose, meine weiße Rose.
Leise tritt er herein in das halb dämmerige Gemach, durch dessen Vorhänge die Sonne Pfeile schießt, einer trifft das goldene Haar, das aufglänzt um das weiße Gesicht, wie Goldgrund auf alten Bildern.
Rosmarie fragt nichts. Sie sieht mit einem Blick, was geschehen. Als ob sie nicht gewußt hätte, warum ihr Vater, der sie sonst kaum eine Viertelstunde verließ, so lange blieb. Und nun sagt es ihr ein Blick. Harro hat einen schlimmen Drachen erlegt, der sie in seinem Griff hielt.
»Lieber Vater.« Ihre dünnen Arme legen sich um seinen Hals. »Ach, vergib, vergib. Ich hatte nicht genug Geduld, ich habe gesündigt an der Liebe. O sag, daß du mir vergibst.«
Der Fürst hält ihren Kopf an seiner Brust und küßt ihre Haare, ihre weiße Stirne.
»Meine Rose, meine weiße Rose. Es ist alles vergeben, nur sollst du gesund und froh werden. Willst du deinen Freund sehen?«
Aber Rosmarie will selbst das nicht mehr. Sie fühlt die lange Qual, die jetzt von ihr weicht, noch einmal: wie dem Reiter übern Bodensee, so ist's ihr. Nein, sie muß still liegen und kann nur die weiße Rose, die ihr der Vater gebracht, an ihre schmale, tränennasse Wange drücken und still sein, ganz still.
»Sie hat sich überfreut,« sagt Harro, als er es hört.
Es ist sonnig heute, und Rosmarie kann auf die Veranda gebracht werden und dort in der Sonne liegen, warm eingebettet. Harro hat sehr kunstvoll einen roten Seidenschal so aufgehängt, daß nur Rosmaries Gesicht beschattet ist und sonst die herrliche Sonne auf sie wirken kann. Sie hat ein weißes wollenes Kleid an, und auf ihr weißes Gesicht fällt ein rosiger Schein von dem sonndurchglühten Tuch. Harro hat im ganzen Hause segensreich gewirkt, den Fürsten in Miß Grangers Zimmer einquartiert, ihm neben der Veranda ein kleines Lesezimmer eingerichtet. Er hat Rosmarie nur auf kurze Augenblicke gesehen, und der Fürst hat sich nicht genug wundern können, wie einfach und ruhig es dabei herging, ganz wie bei alten Freunden, die sich gar nie getrennt haben.
Heute soll nun Harro bei Rosmarie sitzen, und der Fürst will in der kleinen Stube nebenan seine Post erledigen, die immer mehr anschwillt. Aber selbst die wichtigsten Dinge fesseln nicht sein bedrängtes Gemüt. Rosmarie sollte jetzt eine Mutter haben. Eine Mutter, die fühlt und ahnt, wie es um ihr Kind und diesen langen Menschen, diesen sicheren Mann steht, dessen Schatten immer mehr auf ihn zu fallen beginnt. Rosmarie hat ihren Freund vor seinen Augen begrüßt, wie wenn er keine acht Tage von ihr getrennt gewesen wäre. Wie das Seelchen redet sie mit ihm. Sie reden Kunst, sehr viel Kunst. Harro nennt es zwar ›Terpentin reden‹, scheint aber doch darin zu schwelgen. Rosmarie ist unheimlich über alle möglichen Kunstfragen unterrichtet, der Fürst hat nicht leicht so wenig jungmädchenhafte Gespräche gehört. Sind das alles wirklich vor ihm drapierte Blender und reden sie eine andere Sprache, wenn sie allein sind? Eine Mutter würde ja fühlen, würde aus all diesen Luftperspektiven, Stimmungs-, Kirschharzgesprächen sofort den richtigen Ton heraushören. Ist Rosmarie wirklich noch ein Kind und liebt sie den großen Mann eben aus alter Gewohnheit weiter, so wie sie ihn liebt? Der Fürst seufzt und kann dem Memorandum des Domänendirektors keinen Sinn abringen. Und noch andere nicht ganz gelöste Fragen bestürmen sein Herz.
Und er geht mit zögernden Schritten nach der Glastüre, die ihn von dem Vorzimmer trennt, das auf die Veranda führt. Und dann macht er doch geräuschvoll auf. Sie werden es gehört haben, die beiden da draußen, aber wenn er doch ein Wort erhaschen sollte. Die beiden haben es wohl gehört, aber das Zimmer ist erst eingerichtet worden, die fremde Tür sagt ihnen nichts. Sie denken gar nicht daran. Der Fürst ist bei seiner Post ...
Harro sitzt auf einem der grünen Stühle, die in allen Gelenken krachen und deren man sich, wie er sagt, nur auf Kündigung bedienen kann. Er hat sein Skizzenbuch vor sich und zeichnet einen Lazertenkampf, den sein rasches Auge auf dem grünen Dach des Gewächshauses, das unter der Veranda liegt, erspäht hat, und den Rosmarie nicht hat sehen können.
Der Fürst hört das leise klingende Lachen seiner Tochter über der Skizze, wie sie sich freut an der Stellung der beiden erbosten Miniaturdrachen. Also Kunst und wieder Kunst, denkt der Fürst und ergreift das Memorandum mit bedrücktem Gemüt.
Da plötzlich klingt der seltsam eindringliche Ton von Rosmaries Stimme an sein Ohr.
»Ja, bist du morgen noch da, Harro?«
»Oh, morgen noch gewiß. Ja, morgen noch.«
»Ich möchte es zuvor wissen, du darfst nicht nur verschwinden, denn ich sehe dich nun viele Jahre nicht mehr. Wenn ich bei den Eltern leben und der Mama in allem zu Willen sein soll ... Und eins mußt du mir versprechen: Du mußt mir immer zu Weihnachten etwas schenken. An Weihnachten sah ich dich zuerst. Du weißt, ein abgerissenes Blatt aus deinem Skizzenbuch, das beglückt mich schon sehr. An Weihnachten muß man sich auf etwas freuen können.«
»Ja, an Weihnachten,« sagt Harro, und seine Stimme klingt seltsam umschleiert. »Ja, da kamst du zu mir.«
»Und vorher. Als du die Prinzessin schnitztest, in dem Zimmer, wo das goldene Geschlinge an der Decke war.«
»Das weißt du, o das weißt du auch!«
Serenissimus hat seine Zeitung fallen lassen, ihn haben sie wohl vergessen, – oder soll er es hören?
»Ich war oft dort und sah dir zu, warum hobest du deine Augen nicht?«
»Ich bin blöde und dickfellig und du bist ... aber wie ist's möglich? Bist du denn nicht in das Gehäuse von Fleisch und Bein eingeschlossen wie ich und die andern? Wer hat dich das gelehrt?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht meine große Sehnsucht, die Einsamkeit. Und du wirst es nur nie versucht haben.«
»Wie ist es denn möglich ...«
»Es ist ganz einfach. Sieh, wenn ich liege, strecke ich mich aus, so lang ich kann, ich schiebe meine Hände unter mein Haar, so – siehst du, und nun fange ich an, mit meinem Geist zurückzugehen in mein Kinderland. Da bist du doch auch dabei. Ich darf an nichts anderes denken, ich muß stark wollen, ich darf nur wenig gegessen haben, ich muß ganz still sein. –
Und nun nehme ich einen Tag, eine Stunde, wie ich sie im Gedächtnis trage, auf die stelle ich mich ein. Dann liegt mir ein Druck auf der Brust, der wird stärker und stärker, dann ein Rauschen, als flöge ich durch Luftmeere. – Harro, hast du mich gesehen, vor einem Jahre?«
»Du hobest die Schale. Ich habe mir einzubilden gesucht, ich sei eingeschlafen und habe geträumt.«
»Da gelang es mir zum erstenmal. Und ich war bei dir in der Ruine ... aber es bedrängte mich so stark, daß ich ohnmächtig wurde. Und dann suchte ich dich, als ich hier in der Einsamkeit und in der Schmach war, und fand dich nicht. Nie fand ich dich, nicht in der Ruine, nicht in den Wäldern, wo wir so oft zusammen waren. Da war ich sehr traurig. Und endlich fand ich dich doch in der Stube, wo das goldene Geschlinge an der Decke war.«
»Ja, es hatte einer mit mehr oder weniger Glück Leonardo da Vincis goldenes Schnurornament nachzuahmen versucht.«
»Es war ein weiter Weg gewesen, schrecklich die vielen dunkeln Ströme, über die man so schwer hinüber kommt. Immer sind sie schwarz und groß und in wildem totenstillem Ziehen, und an ihren Ufern erschauert die Seele, die so zart ist. Aber man muß doch. Und dann fand ich dich. Aber es war wie bei der Königstochter vom gläsernen Berg, du schliefest.« »Und ich war so roh und schlief weiter. Nein, ich weiß, ich träumte von dir ...«
»Und einmal sah ich dich, wie du an den Gänsen schnitztest ... und wie ich wiederkam in die Stube, da war sie leer ... und ich mußte wieder suchen gehen ... Aber ich fand dich nicht.
Und dann konnte ich auch nicht mehr dich suchen gehen, denn ich war krank und litt, und der Leib hielt seine Seele in eisernen Klammern fest.
Aber am Weihnachtsabend, da ließen plötzlich die Leiden von mir, ich lag unter der Braunecker Tanne und war allein und es war auch früher als sonst. Da dachte ich, nun suche ich dich zum letztenmal. Denn ich ahnte, nun kommt die Freiheit, die goldene, und wenn ich bei den andern bin, die mit leichten Füßen gehen, dann wirst du mich nicht mehr sehen und nicht fühlen.«
»Wie hast du's gemacht, daß du endlich meine blöde eingeschlossene Seele berührt hast,« flüstert er.
»Ich fand dich – Harro; vielleicht, weil es Weihnacht war, dachtest du an mich und bist mir ein weniges entgegengekommen. Und meine Augen trafen die deinen ... wie damals über den Rand der Schale hinweg.«
»Ich war wie ein Narr. Ich suchte den Hof mit dem Efeubrunnen ab, der doch keinen Ausgang hatte. Ich lief auf die Straße. Ich kam wieder in mein Atelier zurück und rannte hin und her, bis mein Fuß an meinen Koffer stieß. Da kam ich zur Besinnung. Ich warf meine Sachen in den Koffer hinein. Ich wußte ja, wo du seiest, du bist ja unseren Zeitungen so wichtig. Ich bekam einen Zug, einen Bummelzug schlimmster Sorte, mit dem es ein Elend war zu fahren. Ich weiß selbst nicht, wie mir zumute war, als mich der Zug hier aussetzte. Was wollte ich denn hier? Aber wissen, wo du wohntest, das wollte ich wenigstens. Und da trafen mich die Herren. – O Seelchen, was hast du getan? Das hat dich ein Stück Leben gekostet. Und du findest dich noch nicht recht zurück.«
»Ein wenig Freiheitsluft habe ich gekostet – und nun ist's schwer, und was vor mir liegt, auch.« »Rosmarie, warum? Tut dir dein Vater nicht alles zuliebe? – Der hat ja so an dir gehangen. Sieh doch die schöne Sonne, und wie das warme Rot auf deinen Händen glüht. Und in ein paar Wochen kommt der Frühling übers Meer, dann kannst du ihn sehen, wie er bei sich zu Hause ist.«
»So viel Schönes. Aber ich muß mich erst wieder freuen lernen. So viel Schönheit allein sehen, das bedrängt auch. Und ich überfreue mich gleich, weil ich nichts mehr gewöhnt bin. Und ob ich wieder gesund werde? Es ist mir nicht so zumute. Das wäre ja das schlimmste nicht. Ich müßte dann nicht auf die schrecklichen Bälle und Gesellschaften, vor denen ich mich schon jahrelang fürchte, und bliebe immer in Brauneck. Harro, nicht die mindeste Taille ist an mir zu finden, wo die Schneiderin auch mißt, und meine Entenfüße –!«
Plötzlich lacht Harro sein gutes schallendes Lachen, und ganz fein stimmt ihr klingendes Feenglöckchen mit ein.
»Mama sagt zwar, an Tänzern würde es mir nie fehlen; weil ich eine Prinzessin bin, dürfte ich die Herren befehlen, daß sie mit mir tanzen. Und dann müßte ich doch von jedem denken, wie er sich nun ärgert. Du lachst, Harro, aber wenn du es nicht aus Mitleid tätest und alter Freundschaft, wolltest du denn mit einer Dame tanzen, die keine rechte Mitte hat und auf Entenfüßen geht?«
»Du konntest recht gut tanzen auf deinen Entenfüßen, weißt du nicht mehr, das Finkentänzchen und den Lilientanz?«
»Ja, und, Harro, auf Mama muß ich mich auch wieder einrichten.«
»War sie unfreundlich gegen dich ... ich meine vor der schlimmen Geschichte?«
»Du hast sie gemalt, Harro. So wie sie ist, hast du sie gemalt. Weißt du nicht mehr, das kleine grausame aufsteigende Lächeln? Sie spielt eben Katze und Maus mit mir.«
»Ach, das ist schlimm. Sehr schlimm. Davon wußte ich nichts. Sie kümmerte sich ja nicht gerade viel um dich, aber deinen Willen ließ sie dir doch in erstaunlicher Weise.« »Du meinst, meinen Schuhen und Kleidern? Ja, weißt du, sie fand sie selbst so häßlich und lächerlich, und ich habe alles auch immer mehr ins Plumpe getrieben; so war ich am ehesten vor ihr sicher. Und ich bin ja auch häßlich genug geworden, nur meine Haare sind schön, und wie sie die haßt!
Über meinen Haaren ging es auch an in jener Nacht. Ich hätte sie auch nicht herunterlassen dürfen, wenn mir der Kopf auch noch so weh tat: ich wußte ja, wie das sie reizt.
Und das wird nun mein Leben: wenn ich bei meinem Vater bleiben will, muß ich die arme Maus sein. Und übel zerkrallt und zerzaust werd ich da in meinem Winkel sitzen. Und doch muß ich's versuchen, dem Vater zulieb.
Denn leidet er nicht selbst? Hat man je eine Freude oder ein Interesse an den Dingen, die ihn freuen? Ich habe doch von dir einiges gelernt über das schöne Bauen und viele Bücher darüber gelesen und noch mehr sehen gelernt. Und Vater hat von jeher Freude gehabt an seinen alten Schlössern. Aber immer, was ihm gefiel, sollte dann ein Anbau und stillos sein, und da wurde er unsicher, und seine Freude traute sich nicht mehr heraus. Und nun, seit ich mit ihm studiere, – du würdest dich wundern über sein feines Verständnis.
Aber Mama kann nicht von alten Schlössern hören. Alte, häßliche, zugige, geldverschlingende Gespensterburgen sind's. Und alles, was ihn freut, muß ihm vergällt werden. Und so zart ist er mit ihr. Wenn sie einmal zufrieden ist, wie froh ist er. Er bringt auch jedes Opfer und hat immer dabei die stille Hoffnung, es komme mir zugut. Denn er ahnt schon hie und da, wie es mir geht. Aber dann wieder, wenn Mama mit mir zornig ist, so ist's, als gehe das auf ihn über, und das tut mir am allerwehesten. Und er hat ja auch Grund, denn natürlich wäre es ihm lieber, ich wäre wie andere junge Mädchen und hätte Freude an dem, was die freut – an Bällen, und wollte zu Hofe gehen und nicht immer im Winkel sitzen und das häßliche Entlein sein.«
»Was aus dem geworden ist, weißt du?« Rosmarie lachte. »Aus dem nie ein Schwan wird. – Vielleicht wäre doch einer aus ihr geworden, der armen Rosmarie; denn sie ist, – sie hat, – o Harro, nun werd ich rot. Bitte, sieh mich nicht an oder lache wenigstens nicht, Harro ... Sei so lieb!«
»Sie hat, Rosmarie ...?« Aber Harro sieht nicht hinweg, gewiß nicht.
»Nun ...?«
»Es klingt so anmaßend von einem häßlichen Entlein, aber können nicht häßliche Menschen zuweilen auch schön aussehen?«
»Das ist sehr leicht möglich,« versichert Harro ernsthaft.
»So ist's, du weißt immer alles am besten, und darum sage ich es dir. Denke, wie ich erstaunt war, als ich das zum erstenmal merkte. Es war Nacht, und Lisa hatte mir meine Haare gewaschen: das währt immer ein wenig lange, bis sie trocknen, und darüber schickte ich sie zu Bett. So saß ich denn allein da und las und wartete, bis mein Haar trocken genug wäre, daß ich es flechten könne. Ich las ein schönes Buch, das ich liebe: Mörikes Gedichte. Da las ich:
›Augen, was habt ihr, ihr Augen ...
Und du Geist, jetzt noch so wohl behauset da drinnen –‹
Da sah ich plötzlich in die Höhe, denn ich fühlte, daß ich vor meinem Spiegel saß. Und da trafen mich meine Augen, wie die Augen jenes griechischen Mädchens. Und nie lieb ich es, mein Spiegelbild zu sehen, immer bedrängt es mich. Als sähe ein Geist heraus, der ich bin und doch nicht bin. Als öffne sich eine Kluft, in die nicht gut hineinsehen wäre. – Es sind dumme Gedanken.
Und diesmal erschrak ich. Es glitt mir kein dunkler Todespfeil an der Schläfe herunter wie der Sappho. Ich sah, daß ich schön sei. Mein Haar, das so leicht und flaumig war, bauschte sich zu beiden Seiten von meinem Gesicht und floß an den Wangen herunter. Damit es mir nicht ganz über die Augen kam, hatte ich eine alte goldene Spange, die ich mir aus Herrn Domänenrats Schränken geholt hatte, aufgesetzt. Sie ist sehr alt, ganz glatt, und Herr Domänenrat sagte mir, daß in früheren Zeiten die Fräulein um diese Spangen Kränze gewunden hatten. War es nun die Form meines Kopfes, die durch die Spange noch mehr herauskam, oder was es nun war, – ich saß und starrte mein Bild an und verwunderte mich. Und damals fing auch gleich mein Unglück an.
Plötzlich kam Mama herein in ihrer prachtvollen Hoftoilette, Federn und eine Diamantentiara auf dem Kopfe – eben kam sie zurück und fragte, warum ich noch Licht hätte? Und was ich für verrückte Dinge mit goldenen Kronen triebe?
So böse hatte ich sie nie gesehen! Sie war noch schlimmer als dein Bild. Sie riß mir die Spange vom Kopfe herunter und sehr viel Haare mit und warf die Spange auf den Boden und zertrat sie, obgleich ich nicht ein einziges Wort gesagt hatte, als: ich hätte meine Haare gewaschen. Meine arme Spange! In der Mitte war sie zersprungen, aber ein sehr geschickter Mann in Berlin hat sie mir wieder zusammen gemacht, ein Band darauf gehämmert, denn er wollte sie nicht verderben.
Und Mama weiß ganz gut, daß die Diamantentiara mir gehört von meiner Mutter, und ich gönne sie ihr gern, wenn ich nur meine alte Spange habe. Und seither ist es nie mehr auch nur ein wenig gut geworden.«
»Seelchen, das alles darfst du nicht für dich geheim halten.«
»O nein, ich habe es dem Herrn Geheimrat geklagt. Und er sagte mir, wenn er nun meinen Beichtvater abgeben sollte, so müßte er immer alles im Herzen behalten, was ich ihm sagte. Ich fragte nur, was soll ich tun? Ich muß mit Menschen leben, denen meine Qual Freude macht. O Harro, ich habe das rote Feuer mehr als einmal flackern sehen. Und wehren kann ich mich nicht, ich muß es dulden. Ich habe gefühlt, je mehr ich leide, desto mehr wächst die Lust am Quälen.
Aber der Herr Geheimrat – er sieht ein wenig so aus wie der Herr Stiftsprediger, weil sie beide etwas Priesterliches haben – und er sagt mir, daß es nur ein Mittel gäbe zwischen Himmel und Erde, den Haß zu überwinden. Und daß Haß nur mit Liebe überwunden werden könnte.« »Heuchelei, Rosmarie, Heuchelei. Was ist da zu lieben dabei? Wenn die Herren Bibel zitieren, zitiere ich auch: sie legen unerträgliche Lasten auf und rühren sie selbst mit keinem Finger an ... Lieben!«
»Ich habe auch bisher immer nur Haß gehabt. Oh, wie habe ich gehaßt, Harro! Mein ganzes Unglück hier kam doch von meinem Haß. Und der Haß macht so töricht. Ich dachte in jener Gewitternacht, Harro, – als ich am schlimmsten haßte, jenes Kindlein müsse werden wie sie und ihren ganzen Abscheu gegen uns und die alten lieben Dinge mitbringen. Und Vater sagt immer: Wenn nur ein einziges Glied nicht treu ist, so ist die goldene Kette zerrissen, namentlich in unsern Tagen. Alles geht verloren, um was die Alten gekämpft und gelitten haben. Du weißt, Harro, das rote Licht, es muß erlöschen! Und weil ich so schlimme Gedanken gehabt hatte in jener Nacht, konnte ich Tante Helen, die mich ausfragte, nicht in die Augen sehen, und alles, was ich hätte zu meiner Entschuldigung sagen können, blieb mir im Halse stecken. Nein, hassen will ich nie wieder – nie ...«
»Verschwör es nicht. Wer lieben kann, muß auch hassen können. Haß mit Liebe zu erwidern, damit gibt sich niemand ab ...«
Rosmarie unterbrach ihn. »Wenn sonst niemand, so hat es doch Jesus getan. Und du mußt sagen, daß er gesiegt hat. Wenn sie ihn auch haben verschmachten lassen. Und nun knien wir vor ihm, Harro –«
Aber Harro antwortet nicht.
»Und der Herr Geheimrat sagte auch, daß es sehr schwer sei, und darum auch die höchste Ehre dabei, die doch nur bei den ganz schweren Dingen zu holen sei.«
»Nun, du kannst mir ja sein Rezept sagen, da wäre ich doch gespannt, oder ließ er dich mit der allgemeinen Vermahnung sitzen?«
»Nein, aber so schön und gelehrt wie er mir das sagte, kann ich es dir nicht sagen. Ich habe es mir ausgedacht.«
»So höre ich es auch lieber, Rosmarie – also dichte wieder!« »Zuerst muß man den Haß begraben. Er macht doch recht unglücklich, der Haß.«
»Findest du? Er kann auch wärmen, so ein rechter, solider Haß.«
»Mich macht er unglücklich. Hat man ihn aber begraben, er liegt noch ziemlich lebendig in seinem Grabe, jeden Augenblick bereit, wieder aufzustehen ...«
»Du hast bereits einen Fehler gemacht, Rosmarie, in deiner Dichtung, und hast eine Etappe übergangen, – aber ich bescheide mich – weiter –«
»Aber auch solange er da unten liegt – ja die Leere, die es dann gibt. Und dann muß man suchen, wie man auf dem Grab ein Kräutlein Liebe pflanzen kann. Zuerst steht's recht jämmerlich. Am besten ist's, man pflanzt ein kleines Mitleid. Das geht am leichtesten auf in dem Boden, unter dem der Haß liegt. Ist der nicht sehr unglücklich, der andere nicht sehen kann, ohne daß es ihn verlangt, sie zu quälen?«
»O warum? Es gibt solche, die sich vergnüglich am Höllenfeuer wärmen.«
»Vielleicht doch nicht so viele. Und dann. Kommt denn nicht jeder Stein, den man nach einem andern wirft, zurück auf den, der ihn wirft?«
»Kommt er wirklich zurück, Rosmarie? Es ist mir doch zweifelhaft. Es gedeihen manche in ihrem Bosheitselement ganz gut.«
»Ach, nie für immer, Harro. Du kannst sicher sein, auch in kleinen Dingen kommen die Steine zurück. Sieh, Mama ärgert sich, weil ich eines Abends in meinem Morgenkleid und meinen offenen Haaren nicht häßlich bin, sie muß mir meine arme Spange herunterreißen. In dem Augenblick wird sie so häßlich, eine Furie, die doch so schön war in all ihrem Schmuck. – Und in jener Nacht! Ach Gott, wie sind die Pfeile zurückgekommen. Eine Wolke von Pfeilen. Ihr Kind hat sie verloren, es hätte vielleicht ihr Herz auch weicher gemacht. Und so wächst das Kräutlein Mitleid, man muß es freilich mit Tränen begießen. Und allein ist man auch nicht. Es kommt einmal ein goldener Regen auf das Grab.«
»Seelchen, ich lasse dich nicht mit Gewalt zu einer Heiligen machen, ich will mit deinem Vater sprechen, – ich ...«
»Aber, Harro, sei doch nicht so ungestüm! Wer tut mir denn jetzt etwas zuleide! Und willst du ihm nicht sein bißchen Seelenfrieden hier gönnen die kurze Zeit?«
In seinem sonnigen Winkel sitzt der Fürst regungslos, die beiden Seelen da draußen müssen ihn vergessen oder gar nicht gewußt haben, daß er da war. Seine Zeitung ist ihm entglitten.
Ach, sein armer Seelenfriede.
Die Sonne meint es in diesem Jahre selbst für die Riviera gut. Wenn sich des Abends die seltsamen dunkelblauen Wolken hinter den Bergen häufen und des Nachts der Himmel Ströme vergießt, am andern Morgen blitzt wieder Sonnenschein auf den hüpfenden Wellen, und ein leuchtend grüner Schimmer liegt schon unter den Olivenwäldern. Im Garten der Villa Riposa fliegt ein Veilchenduft, und die Mandarinenbäume lassen ihre kleinen goldenen Früchte zu Hunderten fallen. Ganz wie es sich für einen verzauberten Garten gehört, hebt sie kein Mensch auf, so daß sie verfaulen. –
»Man darf überhaupt hier nur auf Meer und Landschaft sehen,« sagt der Fürst zu Harro auf einem der weiten Gänge, die sie nun miteinander machen. »Sieht man darauf, wie es die Leute betreiben, das beelendet einen zu sehr –«
Die beiden Herren sitzen auf einem Felsblock, der da unter dichtem Myrtengestrüpp in der Sonne liegt. Sie sehen weit hinunter auf die Meeresflut, die weiße Strandlinie und die herrlichen Bergformen in ihren wundervollen blauen Abstufungen.
»Blau, blauer, am blauesten!« ruft der Fürst. »Man wird sie jetzt ein wenig gewohnt, die blaue Welt. Man bringt von unserem lieben Deutschland das Vorurteil mit, daß die Welt grün sein müsse. Hier ist sie gelb und blau. Sehen Sie dort die blauen Bäume.«
»Oliven sind's, wie die sich an die Berghalden schmiegen und sie auskleiden. Diese Olivenwälder, – auch in sie muß man sich hineinsehen lernen. Diese zerrissenen Stämme, diese feinen, gedrehten, ineinander verbogenen Zweige. Jeder Baum eine Individualität. Am schönsten, wenn die Abendsonne hindurchscheint und die innersten Geheimnisse des Baumes offenbart. Denn der Baum bleibt immer durchsichtig, die feinen schmalen Blätter lassen jeden Lichtstrahl hindurch.«
So schön ist's da oben in der sonndurchglühten Luft unter dem Duft der tausend fremden Kräuter, mit dem Blick über die weite funkelnde Meeresfläche, deren ferne Ränder von da oben fast bedrohlich aussehen, als wollte sie hereinstürzen: die Höhe des Meeres.
Und irgend etwas muß des Fürsten Seele hineingezogen haben nach seinem noch tief verschneiten Brauneck.
»Ihr Haus soll ja fertig sein, Harro.«
»Nur im Rohbau, Durchlaucht. Es ist zu groß geworden, viel zu groß.«
»Der geringste Fehler. Bis wann kann es denn fertig werden?«
Harro lacht hell auf: »Niemals. Niemals wenigstens, solange ich lebe. Es wird immer noch etwas daran zu tun sein. Als ich zu bauen anfing, hatte ich gerade Geld, ich weiß nicht, was mich da geritten hat. – Sogar einen Festsaal hat das Haus. Man sieht darin nach Brauneck hinüber.
Einen Festsaal, das allernotwendigste für den Ruinengrafen! Aber man baut doch nicht nur für sich!«
»Sie haben recht, Sie haben tausendmal recht. Brauneck ist auch nicht an einem Tage entstanden.«
»Ich hatte Platz, auch viel Material, das noch zu brauchen war. Schöne alte Kapitäle, und die neuen sind darnach gemacht. Auch die neuen können sich getrost neben den alten sehen lassen. Auch habe ich daran den Meißel führen lernen.« »Harro, das ist nicht Ihr Ernst! Sie können doch unmöglich selbst Steine behauen haben!«
»Und ob. Alle meine Kapitäle habe ich selbst fertig gemacht. Manche vom rohen Block an, später nur noch die letzte Hand daran gelegt.«
»Aber ich begreife einfach nicht ...«
»Meine Liebe zieht mich ebenso zur Plastik wie zur Malerei, und da möchte ich von der Pike auf dienen. So konnte ich auf die einfachste Weise dazu kommen, mir auch Materialkenntnisse zu erwerben.
Es ist etwas Feines, vor so einem rohen Block stehen, in dem nun alles mögliche stecken kann, und dem Burschen zu Leibe gehen, daß er seine Seele herausgibt. Und manches lernt man nur so.«
»Gewiß, gewiß.« Aber den Fürsten ergreift doch ein aristokratischer Schauder, und er fragt etwas ängstlich: »Das machen Sie wohl in Ihrem neuen Atelier?«
»Das ist keine Atelierarbeit, das macht man im offenen Schuppen. Ich brauchte auch noch Hilfe von den Leuten. Einen sehr geschickten Italiener hatte ich – bis ich dem nachkam! – Nun könnt ich mein Brot finden.«
Dem Fürsten zieht es die Stirne kraus. Er macht ein Gesicht, als schlucke er eine sehr bittere Pille. Wer hereinkam, konnte den langen Schloßherren in seinem Hofe an den Steinen herumhämmern sehen. Endlich sagte er:
»Wäre es nicht besser, Sie konzentrierten sich auf eines – Ihre Malerei, die Ihnen doch schon manche Erfolge gebracht hat?«
»Ich sagte mir das auch, namentlich wenn mir einmal ein Meißel entglitt oder etwas zersprang. Schikanen gibt es dabei – Schikanen! Durchlaucht müssen aber einmal die Kapitäle an meinen Rundbogen ansehen. Ehe die Fensteröffnungen mit Brettern verschlagen wurden, war ich oft oben. Wie wunderschön sieht so ein Stück deutscher Heimat aus, grüner Wald, blauer Himmel mit ziehenden Wolken, Wiesengründe mit glitzernden Bächen, eingerahmt von dem grauen Steinwerk. Noch einmal so schön ist das gerahmte Bild, wärmer das Grün, blühender das Himmelsblau.
Und der Saal wird gemalt. Fresken! Das wird eine Farbenfreude geben! Die alten Thorsteiner sollen hindurchziehen ... Bilder hatten wir nicht viele, sie sind auch verbrannt. Aber was tut's. Mein Vater und seine Brüder, das gibt schon einen feinen Zug alter Thorsteiner. Ich reite auch mit!«
Diese Wendung des Gesprächs behagt dem Fürsten ein gutes Teil besser. Er klopft mit dem Stock an seine gelben Ledergamaschen:
»Köstlich, die Meeresbrise. Man fühlt sie hier oben viel mehr als am Strande. Wenn wir Rosmarie da oben hätten, das müßte sie noch schneller vorwärts bringen. Aber sagen Sie, Harro, Sie wohnen doch immer noch in der Ruine?«
»Sie ist abgerissen, es ging nicht anders. Ich wohne in meinem Atelier. Die Wohnung dort genügt mir vollständig. Das ist ja fertig. Später wird es mit dem Hause durch einen Gang verbunden. – Einen schönen Abschluß gewinnt der Hof dadurch, auch werde ich die warme Mauer zu allem möglichen Blumenzauber benützen. Der Gang wird heizbar und soll zugleich mit Pflanzen geschmückt als kleiner Wintergarten dienen.«
»Sehr guter Gedanke,« lobt der Fürst, den die Sache außerordentlich zu interessieren scheint. »Und die Einrichtung?«
»Unten die Schlaf-, oben die Wohnräume. Ganz oben über dem Festsaal die Küche. So macht man es jetzt, man wird nirgends von Gerüchen belästigt. Speiseaufzug, Zentralheizung und so weiter.«
»Harro, wir müssen uns verstecken mit unseren alten Kasten.«
»Mein alter Kasten tut mir noch immer weh, und ich gäbe alle Festsäle, Aufzüge, Empfangshallen darum, wenn ich ihn noch hätte.«
»Empfangshalle! Das gibt es auch! Harro, wollen Sie denn Majestät empfangen?« Der Fürst ist plötzlich in der glänzendsten Laune.
»Warum nicht, wenn Majestät gerade des Wegs zu kommen geruhen? Ich meine, was man zuerst an einem Hause sieht, macht den tiefsten Eindruck. Übrigens, es ist ja alles Zukunftsmusik, was ich da blase.
Wenn dieses Haus nun doch meine Lebensarbeit darstellt, so soll man auch sehen, wer oder was sein Erbauer war. Darum habe ich den Treppenaufgang zur Rotunde gestaltet. Es muß einem gleich ein Atem entgegenwehen von dem Geiste, der darin wohnen sollte.
Eine weiße, feierliche Rotunde, Licht von oben, wenig Gold, irgend etwas Grünes, ein Marmorbecken. Den Block dazu habe ich in Rom erworben, es wird meine nächste Arbeit sein.
Ich meine, ein klein wenig lebendiges Wasser gäbe einem solchen Raume eine köstliche Frische und ein liebliches Leben, wenn er auch sonst verlassen ist. Die vorhandenen Wände möchte ich am liebsten mit Goldmosaikfeldern haben. Teuer, leider teuer! Aber von ewiger Dauer. Die Zeichnungen dazu habe ich schon gemacht. Drollig, daß ich mit diesem Raum beginne, ehe ich nur ein einziges Wohnzimmer habe. Aber ich lebe für mich ganz wohl und behaglich in meinem Atelier nebst Schlafzelle.«
»Die Goldmosaiken, das imponiert mir; und teuer! Lieber Harro, darauf kommt es wohl nicht mehr an, wenn es dauerhaft ist.«
»Darauf kommt es noch sehr an, Durchlaucht. Unsere Bauern haben ein Sprichwort: Geld macht nicht glücklich, nur muß man es zuvor haben.«
»Harro, ich habe Ihnen doch schon früher gesagt –«
Aber der Thorsteiner lachte nur. »Ich habe ein Glück, seit ich angefangen habe, das Geld, das ich verdiene, mit vollen Händen wieder fortzuwerfen! Das ist mir in den letzten Tagen widerfahren. Die amerikanischen jungen reichen Damen, die, wie man sagt, die nobelste Pürsch betreiben sollen, auf die Prinzen – und Grafenjagd gehen, sie sind morgens beim Frühstück von überwältigender Liebenswürdigkeit. Die wittern wohl, weil ich Graf und Maler bin, ein angeschossenes Wild, sie müssen sich leider ja mit derartigem begnügen. Nun, wie ich am Strande male, eine Felswand mit hängenden roten Geranien, kommt die Hübscheste auf mich zu und bietet mir Dollars an für meine Skizze. Was kann ich als höflicher Mann anderes tun, ich beende die Skizze rasch und überreiche sie ihr mit meinem besten, durch die Frühstücksunterhaltungen aufgefrischten Englisch. Die junge Dame macht die blauesten Augen, deren sie fähig ist, verlangt aber meinen Namen auf dem Bild. Vergeblich mache ich sie auf das H. T. aufmerksam, mit dem sich später ein echter Thorstein der bewundernden Nachwelt legitimieren wird. – Sie verlangt meinen ganzen gräflichen Namen. Nun, so kam ich von der Idee zurück, daß meine Kunst so viel gelte.
Am andern Tag kommt der Vater, ein Mr. Legington aus Milwaukee, ein sohlledertrockener, eisgrauer Herr, zu mir und fragt mich, ob ich ihm eine größere Arbeit machen wolle, und fragt nach der Adresse meines Bankiers. Im ersten Erstaunen nenne ich den, muß ihm aber gleich sagen, daß ich weder Zeit noch Stimmung zu einer größeren Arbeit hätte. Darauf lädt er mich zu einer Fahrt in seinem Auto ein, das dampfend und zitternd dastand.«
»Mir kommt niemals eine solche Benzinkutsche in meinen Umkreis,« ruft der Fürst.
»Ich würde es doch nicht verschwören, Durchlaucht. – Wir rasen dahin, es wirbeln die Staubwolken, die Häuser und Bäume machen Verbeugungen vor uns, sie kommen uns höflich entgegen und biegen sich wieder zurück. Ein breites Flußtal, in dem ein kleines Wasser ein sehr breites Bett in Windungen durchfließt. Die ersten rosigen Mandelbäume, ein großartiger Gebirgshintergrund. Auf einem vorspringenden Berge eine schwarze Geisterburg. Eine Stadt, die sich, zusammengewachsen wie eine einzige Hausanlage, mit steilen Gassen, wie Felsabstürze und überhängende Bögen, den Berg hinaufzieht. Als hätte der Berg die Stadt geboren! Vor der Stadt eine Brücke, ein hoher gotischer Bogen, so führt sie über den dunkelschäumenden Fluß. Aus der Brückenmitte, da wo der Bogen sich schließt, ergießt sich ein Silberstrahl Wasser auf den Strom hinunter. Dieser Silberstrahl, so wunderlich er gerade an der Stelle war – das war der Punkt auf dem i. Der Hintergrund, die Berge mit ihren Schneehäuptern, die Burg, die Stadt wie eine fünfaktige Tragödie. Die steile Brücke mit ihrem Silberstrahl über dem dunkeln ziehenden Wasser. Und zwischen Strom und Stadt auf finstern Felsen ein Trüppchen rosa Mandelbäume, wie holde junge Königskinder, die herausgetrippelt sind aus des Vaters finsterer Burg.
Wenn er nicht gar so trockenes Sohlleder gewesen wäre, ich hätte meinen Amerikaner umarmen mögen. Ich machte gleich eine Skizze, und als er merkte, wie ernst es mir war, ließ er, während wir angenehm aus einem Picknickkorb frühstückten, durch das Auto meine Malsachen holen. Das Wetter war beständig, die Misses, die auch mitkamen und zu stören wußten, wurden von dem Vater sehr höflich, aber bestimmt unschädlich gemacht.
Nun, heute bekomme ich ein Telegramm von meinem Bankier, – drei Vormittage hatte ich allerdings mit Hochdruck gemalt, – es seien zweitausend Mark für ein Bild Dolce Aqua bei ihm eingezahlt worden. Seither sehe ich überall Goldmosaiken.«
Der Fürst erhebt sich: »Harro, es ist aber doch nicht recht von Ihnen. Rosmarie wird todunglücklich sein, wenn ich ihr von dem Bilde erzähle, das nun nach Amerika geht. Meinen Sie, daß der Amerikaner mir das Bild überließe? Wissen Sie keinen Juden, – im Handeln wird der Amerikaner mir wohl über sein. – Ich brauche einen Juden!« –
»Aber Durchlaucht. Ich bin ja bereit, den ganzen Tag für die Prinzessin zu malen. Durchlaucht machen mich ganz unglücklich. Ich werde doch der Prinzessin ein Bild schenken dürfen?« »Aber die Goldmosaiken? Und nun wissen wir, was Ihnen ein Tag wert sein kann.«
»Das ist einmal und nicht wieder. Das wäre gerechnet wie jenes Büblein, das sagte: Mein Vater verdient im Tage hundert Mark. Aber nur einmal im Monat, die anderen Tage schafft er umsonst.«
»Sie haben das Dolce Aqua zu schön beschrieben,« klagte der Fürst, »und entweder: Rosmarie erfährt gar nichts davon, oder sie bekommt es. Harro, lassen Sie mit sich reden, wir gehen ja nun doch zurück.«
»Durchlaucht, nur wenn ich das Bild der Prinzessin schenken darf. Sonst gerät es nicht. Ich muß Freude an jedem Strich haben ...«
»Und für den Amerikaner?«
»Da dachte ich gar nicht daran, ich malte eben, aber jetzt müßte ich daran denken, das ist der Unterschied.«
»Schön eigensinnig sind wohl die Thorsteiner immer gewesen, Harro?«
Rosmarie läßt heute ihren Vater länger auf sich warten in dem kleinen Wohnzimmer, in dem abends ein kleines Kaminfeuer brennt. Denn die Abende sind kühl, und es ist traulicher so, und die Fenster können dabei offen sein in die liebliche Nacht hinaus, durch die das leise Rauschen des Meeres kommt. Der Tisch ist in dem anstoßenden Speisezimmer gedeckt und mit hohen Kelchgläsern geschmückt, in denen dunkelblaue Iris stehen, wie sie jetzt zu Tausenden die Gartenwege umsäumen. Und nun kommt Rosmarie ein wenig langsam noch und wie schüchtern, und begrüßt ihren Vater und steckt ihm eine herrliche Nelke an seinen Rock. Er liebt es, die zarten Hände seiner Tochter an sich herumnesteln zu lassen. Und heute muß er sie mit leiser Verwunderung betrachten: »Sag einmal, Rosmarie, es fällt mir irgend etwas auf.«
»Hoffentlich angenehm, Vater. Vielleicht daß du keine Negligés mehr sehen mußt, wie so lange.« Und Rosmarie flüchtet sich hinter ihres Vaters Stuhl. Zu genaues Ansehen liebt sie nicht, sie ist zu viel abfällige Kritik gewöhnt. Aber ihr Vater zieht sie sanft wieder hervor:
»Warum versteckst du dich denn, Rosmarie, wenn ich dich bewundern will?«
»Bewundern willst du, dazu komme ich gerne. Ich habe einen schüchternen Versuch gemacht, mich zu verschönern, und es freut mich, daß du es gleich als das erkannt hast.«
»Nun, ich habe doch auch noch meine Augen. Sag, Rosmarie, ein wenig anders als sonst junge Damen, das ist es doch ... Auch als Mamas Pariser Toiletten ... Sie hat nie so etwas Schönes, obgleich sie seit der letzten Mode in allen Regenbogenfarben schillert. Die Rechnungen sind auch darnach. Die letzte versteinte den Herrn Domänenrat förmlich. Und zweimal im höchsten Falle trägt sie dann so etwas. Wie wird es mir gehen, wenn ich zwei Pariser Damen habe!
Wenn Harro nicht heiratet, kann er sich ruhig seine Goldmosaiken gestatten. Kleinigkeit das ... Nun, schön ist dein Kleid! Wie es so weich an dir herunterfällt, und die schönen Stickereien. Laß sehen, die Spange, die dein Kleid zusammenhält, ist ja ein großer Schmetterling!«
»Nun, ich hoffte, daß du es selbst sehen würdest, es ist mein Schmetterlingskleid, und ich komme mir ein wenig darin vor, als ob ich aus meiner Raupenhülle geschlüpft wäre. Glaubst du, daß es Harro gefällt?«
»Eine Kabinettsfrage. Ja, die Herren Künstler!«
»Wenn du mich nicht verrätst, Vater, und ein lieber ...«
»Gehorsamer Vater bist ...«
»Ja, so werd ich dir sagen, wie ich zu dem Kleide kam.«
»Höre auf von Kleidern, Rosmarie, ich bin krank von dem Flitterkram. Wenn es sein muß, so muß es sein. Und du hast ja keine Ahnung, was das Pläne zerstört, Wichtiges und Notwendiges hinausschieben macht, dieser Pariser Wahnsinn.«
Rosmarie sah ihren Vater erstaunt an. Es hatte sich da etwas ans Licht gedrängt, was sie noch nie vernommen hatte. Sie setzte sich auf die Armlehne seines Stuhles, trotz ihrer Größe so schlank und leicht, und legte ihre zarten Arme, die nur ein dünner Flor bedeckte, durch den leuchtend die weiße Haut hindurchschimmerte, um seinen Hals und strich über seine heiße Stirn.
»Vater, mein Kleid, ich wollte es dir nur nicht gleich sagen, eine Rechnung dafür bekommt der Herr Rat nicht. Ich habe es gezeichnet, und Lisa hat's genäht, und die Stickereien sind aus meiner Truhe. Ich sticke ja immer nach schönen Dingen, die mich freuen, und weil ich nicht immer etwas damit anzufangen weiß, so stecke ich sie in meine gelbe Truhe, und daraus habe ich sie hervorgeholt. Und die Seide ist japanisch, Tante Helen hat sie mir geschenkt, und sie hält sehr lange, hat sie gesagt.«
»Aber Kind, das ist doch unmöglich! Das kann man doch nicht. Ein Kleid selbst machen?«
»Lisa hat es genäht, und nun darfst du es nicht zurücknehmen, du hast gesagt, es sei schön! Und meine Überärmel, sieh, das sind meine Schmetterlingsflügel. Und wenn ihr es erlaubtet, Vater, so sollst du keine zwei Pariser Damen haben.«
»Du wirst eine gute Frau für einen armen Mann geben, wenn dich nicht der Pariser Wahnsinn doch noch überfällt. Hat dir Harro übrigens schon von seiner Empfangshalle in seinem Haus erzählt?«
»Das weiß ich schon seit vielen Jahren, wir sprachen ja so oft von dem Haus und bauten in die Luft und machten alles so schön, wie wir wollten. Und daß es nun doch wahr werden soll! Und bei den Goldmosaiken ist er auch geblieben! Ach, wenn wir Harro dazu helfen könnten, Vater! Im Leben wollte ich nichts Pariserisches tragen!«
»Da hätte ich mit Harros Goldmosaiken ein Geschäft gemacht, Rosmarie. Wollen wir es ihm vortragen?« »Ach. er tut's ja doch nicht! Er ist viel zu stolz darauf, daß er sich alles allein erarbeitet hat.«
»Rosmarie, du bringst mich auf etwas, das muß man ihm abgewöhnen. Er behaut Steine in seinem Hofe! Jeder, der hereinkommt, kann ihn sehen, wie er da jedenfalls im weißen Kittel dasteht und Steine behaut!«
»Bildhauer haben immer weiße Kittel, Vater.«
»Gut und schön, wenn sie die haben. Aber Harro steht im offenen Schuppen bei den Arbeitern! Denke dir, wenn Mama da vorbeifährt.«
»Das versteht sie nicht, man kann es auch nicht von ihr verlangen.«
»Eine unmögliche, eine ganz unmögliche Situation!«
»Ach, das schöne Haus,« flüstert Rosmarie, »an dem selbst die Steine von seinen Händen behauen sind. Einmal darf ich's doch sehen, Vater! Und etwas habe ich ihm versprochen für sein Haus, und das wird er vielleicht doch annehmen.« Und sie erzählt:
»Ein Zimmer heißt der Schmollwinkel. Wir gaben ja den Zimmern Namen. Eine Tantenstube gab es auch, wo Harros Tanten, die strengen Stiftsdamen, wohnen sollten, wenn sie einmal zu ihm kämen.
Und der Schmollwinkel bekommt Wandbespannung und schmale Panneaux. Und die darf ich sticken. Das hat mir Harro versprochen, als ich sticken lernte. Und lauter fröhliche Dinge sollten darauf sein, daß der, der sich mit einer schlechten Laune dahin zurückzöge, ganz strahlend wieder zum Vorschein käme.«
»Was meinst du, Rosmarie, wenn wir Mama ein solches Zimmer machen ließen!«
»Ich will es dir gestehen, Vater, eine ganze Reihe von den Panneaux habe ich schon gestickt. Eins ist auf blauem Seidengrund. Frischgrüne Buchenzweige, dazwischen dunkle Tannenarme, die sich neigen über einen schmalen grünen Weg, auf dem die Sonnenflecken liegen. Da muß man doch an einen Maienwald denken. Das Liebste, was es auf Erden gibt, einen deutschen Maienwald mit weichen seidigen Blättern. Eins ist auf ovalfarbigen Atlas mit Silberfäden und kleinen Kristallen gestickt. Ein Dornbusch im Rauhreif, und aus all dem Silber und Weiß und blauen Grau leuchten noch ein paar rote Beeren. So war der Wald, als ich Harro zum erstenmal sah.
Dann gibt es eines, das heißt die Wasserfreude. Da ist ein stilles, gründunkles Eckchen Weiher. Ein Stück von unserem Wach, Vater. Hohe Schilfstauden stehen so schön mit ihren dunkeln Federkronen ... Darüber huschen blauschillernde Libellen, viele, viele, und an einer Stelle spiegelt sich ein Stück Himmelsblau im Wasser.«
»Und das hast du alles schon fertig, Rosmarie?«
»Ich sticke doch so gerne; seit ich niemand mehr beim Malen zusehen kann, ist das meine größte Freude gewesen. Mama habe ich von meinen Sachen schon angeboten, aber sie macht sich nichts daraus, weil es zu bunt sei und nicht zu ihren Möbeln passe.«
»Hast du die Sachen denn da?«
»Gewiß, ich schleppe sie überall mit mir herum. Soll ich sie dir zeigen? Ach, da kommt schon Harro, ich höre die Gartentüre.«
»Du mußt seine Ohren haben, oder du hörst wohl mit dem Herzen. Weiß denn Harro von den Panneaux?«
»Ach nein, Vater, und ich weiß nicht, ob wir es ihm sagen wollen. Er ist so verändert. So seltsam. – Ich würde mich scheuen, es ihm jetzt anzubieten. Findest du nicht, daß er seit einiger Zeit gar nicht mehr unser alter Harro ist?«
»Alt! Ist er nun auf einmal alt, der Harro?«
»Ach, ich meine, wie er früher war. So ruhig und gleichmäßig. Frau von Hardenstein nannte ihn doch im Scherz den sicheren Mann nach dem Märchen von Mörike. Nun fängt er etwas an, dann läßt er es liegen, ich komme gar nicht zum ruhigen Zusehen.
Und es ist, ja Vater, wie soll ich es denn sagen, wie wenn er eine Scheu vor mir hätte. Ach und geheimnisvoll ist er, und das ist mir das allertraurigste.
Habe ich je ein Geheimnis vor ihm gehabt?« »Nein, das hast du nicht. O Rosmarie, du solltest eine Mutter haben!«
Rosmarie erhob sich und stand einen Augenblick lauschend da. Das Lampenlicht floß an ihrer zarten, hellen Gestalt nieder und erglänzte auf ihrem Haar und ihrer kleinen Krone, denn sie trug die alte Spange.
So lieblich, so poetisch sah sie aus mit ihren hängenden Haaren und dem anschmiegenden Gewande, als käme sie aus Meister Schwinds Skizzenbuch, und als fehlten ihr nur ein Paar Raben und ein weißer Hirsch, und das deutsche Märchen, wie es nur je die Großmutter im Westerwalde erzählt, stünde da in seiner holden Schönheit. Der Fürst sah zu ihr auf. Nun erwartet sie ihren Freund und wundert sich noch dazu, daß er ihr nicht mehr den guten Onkel spielen kann ...
Da kam der Erwartete und stand an der Türe, wie wenn er da Wurzeln zu schlagen gedenke, und brachte kein Wort hervor.
Rosmarie erschrak: »Ach, Harro, was ist dir? Hast du eine schlimme Nachricht bekommen, oder ist etwas geschehen?«
»Nichts weiter – und guten Abend, Durchlaucht ... ich muß um Entschuldigung bitten ... eine Nachricht ... ich dachte ...« stammelt er. Was ist aus dem sicheren Mann geworden! Endlich faßt er sich, und als sage er etwas auswendig Gelerntes her:
»Ich werde wohl in den nächsten Tagen abreisen müssen. Nach Rom. Es ist da wegen des Ateliers –« Nun stockt er schon wieder. Der Fürst hat plötzlich ein ganz kleines Lächeln gefunden.
»Ach wie schade!«
Rosmarie ist weiß geworden, sie muß sich an einen Stuhl lehnen und sagt mit einer Stimme, die seltsam fremd klingt: »Du sagtest ›morgen noch nicht‹, Harro?«
Es ist wie ein leises Aufatmen, das durch die beiden geht. »Morgen noch nicht. Nein. Noch einen Tag lebe ich,« denkt Rosmarie, und sie sagt fast freundlich:
»Und nun gehen wir zu Tisch, wir haben nur auf dich gewartet.« Harro stammelt Entschuldigungen, heute kann man ihn beim besten Willen keinen anregenden Gesellschafter nennen. Und Rosmarie sieht er kaum an, so daß sie betrübt denkt, mein Kleid gefällt ihm nun doch nicht. Und sie strengt sich an, so munter und liebenswürdig zu sein wie möglich. Und so geht die Mahlzeit leidlich vorbei. Nach dem Essen sitzt man wie gewöhnlich noch ein wenig in dem kleinen Wohnzimmer zusammen, und Rosmarie, die noch immer etwas bläßlich wird, wenn sie zu lange sitzt, legt sich auf ihre Chaiselongue. Die hat einen schönen Platz am offenen Fenster, in das die Rosenranken hängen. Die Lampe beleuchtet die weißen Blüten, die geheimnisvoll lieblich aus der blauen Nacht hereinsehen. Rosmarie hat ein großes, flaches, grünseidenes Kissen von einem ein wenig harten Grün mit Goldverschnürung, und da liegt sie nun darauf wie eine Wasserrose, weiß und gold auf grünen Gewässern, und die lichten Flechten fließen über das Kissen. Der Fürst legt ihr eine seidene Decke über die Füße, und sie lächelt zu ihm auf und sagt:
»Vater, was meinst du, wenn Harro nun doch nicht mehr lang bleibt, sollen wir es wagen und von den Panneaux sprechen? Ich darf nur Lisa läuten, so wird sie die bringen!«
»Was soll gewagt werden? Verzeih, ich hörte meinen Namen.«
Harro versucht einen scherzhaften Ton anzuschlagen, der ihm aber schmählich mißlingt.
»Wir sprachen von Ihrem Hause, Harro, und möchten beide, Rosmarie und ich, bei den Goldmosaiken als Stifter auftreten, mit unserem vollen Namen natürlich; können Sie Rosmarie nicht als frühgotischen Engel darauf brauchen, die Länge und Schmalheit hätte sie dazu! Wir Braunecker wollen doch auch in dem Haus Thorstein vertreten sein. Also mir lassen Sie die Mosaiken, und Rosmarie hat schon gestiftet. Hast du geklingelt?«
Lisa erschien mit einem Arm voll in Seidenpapier eingeschlagener Rollen.
So viel hatte der Fürst nun doch nicht erwartet. Rosmarie mußte sehr fleißig gewesen sein. »Lieber Harro, sei mir nicht böse! Du erinnerst dich an das Schmollzimmer und was wir uns ausdachten für die Wandbespannung. Du wolltest eine graugrünliche Leinwand als Grund nehmen, die sollte durch schmale Goldleisten gegliedert und durch die gestickten Felder belebt werden.«
»Das hast du alles behalten, die Jahre lang, Rosmarie!«
Rosmarie reichte ihm eine Rolle.
»Öffne, Harro, und sieh, ob es geworden ist, wie du dir gedacht.«
Harro öffnete. Es war der bereifte Dornbusch mit seinem Gewinde von breiten, silbernen Bändern auf einem mattopalfarbigen Grunde. Und wie Rubinen leuchteten die Beeren aus all dem Weiß, Silber und bläulichen Grau.
Harro hielt die Rolle in der Hand und schaute darauf nieder. Das war ein Stück jenes heiligen Abends, an dem er das Kind auf seinen Armen aus dem Wintertod getragen.
»Und das wäre für mich, für mein Haus?«
»Es paßt nur dahin, Harro.«
Der Fürst stand hinter Harros Stuhl und schaute herein und dann hinüber auf seine Tochter. Das schöne blasse Haupt war jetzt mehr denn je der Wasserrose ähnlich. Er legte die Hand auf Harros Schulter.
»Eine Künstlerin ist sie doch, Harro, das müssen Sie ihr lassen!«
»Sieh dir den Maientag an, Harro,« bat Rosmarie, »oder nein, hier kommt der Schlehenzweig mit den Zitronenfaltern. Wir nannten das die Frühlingsahnung. Denn es schneite doch immer auf die Schlehenblüten, und du meintest, es sei besser, zu sagen, man ahne den Frühling. Denn beim richtigen Frühling dürften einem nicht die Schneeflocken auf den Händen vergehen!«
Aber Harro streckte seine Hand nicht nach der nächsten Rolle aus und bat leise: »Laß das, Rosmarie, heute abend noch ... ich ... einen Augenblick ...« –
Der Diener trat ins Zimmer, ein Telegramm auf einem Teller, den er dem Fürsten reichte. Der Fürst runzelte die Stirne und riß es auf. Es schien eine Menge Text zu enthalten und sehr komplizierten Inhalts zu sein. Rosmarie sah traurig und fast scheu zu ihrem so veränderten Freund empor und flüsterte:
»Harro, habe ich dir wirklich damit weh getan? Wie konnte ich das ahnen!«
Harro beugt sich über ihre Hand: »Rosmarie, ich danke dir. Aber es überwältigt mich. All die Arbeit, – das Versenken in eine Stimmung, die du so treu festgehalten hast, durch all die Kleinarbeit ...«
Der Fürst war aus dem Zimmer gegangen und hatte eine Entschuldigung gemurmelt. Er wollte wohl eine Antwort schreiben.
Eine Weile war es so still, daß man durch die Nacht den leisen Atem des Meeres hören konnte, über Rosmaries blasses Gesicht liefen langsam große Tränen; sie zuckte nicht dabei, es war ein lautloses Weinen, wie es nur Menschen weinen, die das stolze einsame Leid kennen.
Harro starrte hinaus in die Sternennacht, die durch Palmen funkelt. Und nun flüstert sie leise: »Harro, sag mir, was habe ich dir denn zuleid getan?«
Über seine mächtige Gestalt geht ein Zucken, er beugt sich, – nun liegt er auf den Knien neben ihrem Lager, und seine Küsse brennen auf ihrer Hand und seine Tränen. Ihre Augen werden groß und dunkel. Ach, was ist ihm? Sie legt wie ein halbscheues Kind eine Hand auf seine Schulter:
»Laß mich es wissen, was dir ist, Harro, ich will doch auch mit dir leiden.«
Da erhebt er sein tränenüberströmtes Antlitz: »Vergib mir, Seele, meine Seele!«
Ach, was ist in seinen Augen? Eine heiße Flamme schlägt über ihr Herz, so schnell, so atemraubend plötzlich, wie ein Sonnenstrahl eine festgeschlossene Knospe trifft und sie öffnet. Aus ihren Augen leuchtet es, und die süße Scham treibt ihr das Blut in die Wangen. Sie macht ihre Hände frei und schlägt sie vor ihr Gesicht. Harro erhebt sich langsam.
»Laß mich deine Augen noch einmal sehen, Geliebte, Holdseligste, und dann will ich gehen ...«
Da läßt sie langsam ihre Hände sinken und schaut zu ihm auf: »Oh, nun gehst du nie wieder von mir, Harro ...«
Er faßt ihre Hände. »Seele – du weißt, daß ich gehen muß.«
Es nahen Schritte ... der Fürst kommt herein. An der Wand lehnt Harro, fahl mit dunkeln Augen, – Rosmarie glühend wie eine Mohnblüte, von der in einem Augenblick die grüne Hülle gefallen, die ihre zarte Herrlichkeit verhüllte ...
»Durchlaucht,« stammelt Harro.
So verklärt, so strahlend von innerer Seligkeit, wie ein junger perlbetauter Morgen, sieht der Fürst sein Kind, seine arme, weiße Rose, die noch vor kurzer Zeit den langsamen schrecklichen Tod ihrem armen Dasein vorgezogen hätte. Was er in den letzten Wochen durchgekämpft, an stolzen Hoffnungen begraben und mit sich allein ausgetragen hat, das wissen die beiden nicht. Er legt seine Hand auf Harros Schulter, der darunter zusammenzuckt, und sagt:
»Lieber Harro, ich finde, daß du Rosmarie eigentlich recht lange hast warten lassen!«
»Durchlaucht, das ist unmöglich, das ist ...«
»Harro, wir wollen alles ganz schön und ruhig abmachen. Das Kind dort: Sieh sie dir nur einmal an, wie sie jetzt ihre Flügel in der Sonne breitet, wie du mir damals gesagt. Es ist nichts mit ihr zu wollen ... Aber eines bitte ich dich: Im offnen Hof klopfst du mir keine Steine mehr – –«
Über den Thorsteiner hat sich das Glück wie ein schwerer, lastender, goldener Regen ergossen. Er kann es noch nicht fassen, man muß es ihm erst sagen, daß der Fürst sich schon wochenlang mit dem Gedanken getragen hat, ihm sein Kind, wenn er es nur wollte, zu geben. Wie ihm das klar geworden, daß er nie seine Tochter von dem Thorsteiner werde losreißen können, das erfuhren sie nicht; sie sollten nicht wissen, daß er ihr Gespräch belauscht. Und noch ein Gedanke war es gewesen, der ihn fast wünschen ließ, Harro möge endlich aus seiner Zurückhaltung herausgehen.
Das war die Erkenntnis, daß er seiner Tochter keine Heimat mehr zu bieten habe. Wie ein Blitz hatten Rosmaries Worte ihm sein häusliches Dasein erhellt. Was er sich selbst immer noch verschleiert und verborgen hatte, das stand nun klar vor ihm. Nie würde sein Kind glücklich sein können und gedeihen neben seiner Frau. Wie hatte Charlotte sich verändert, wie war sie hart und anmaßend geworden, hatte sich geweigert, irgend ein Leid mit ihm zu teilen, hatte ihn mit ihrem täglichen Einfluß immer tiefer in die Erbitterung über Rosmarie hineingesteigert.
Eine traurige Jugend für seine Tochter, noch trauriger für ihn selbst, der sie immer missen würde. Er hatte Pläne gehabt, glänzende Pläne, aber daß Rosmarie sich niemals zwingen lassen würde, das war ihm auch klar geworden. Jene Geschichte von den sich begegnenden Seelen, die keine körperliche Trennung scheiden konnte ... Die eine Seele ging suchen, durch weite Länder, und die andere hatte die Botschaft empfangen. Ihren Leib konnte er halten, ihre Seele niemals. Die entschlüpfte ihm und ging auf ihre Reise und fand vielleicht nicht mehr den Weg zurück. Und wie Rosmaries Kerkermeister wäre er sich dabei vorgekommen, wenn er einmal einen wirklichen Zwang auf sie hatte ausüben müssen.
Und zu all dem war noch das Leben in jener warmen und leichten Luft gekommen, die seine Tochter umgab, und die ihm viele irdische Dinge in anderem Lichte zeigte. Nie noch war er so lange und ausschließlich mit ihr zusammen gewesen und noch dazu mit einem von großer Sorge erschütterten Herzen.
Wenn nun sein Geschlecht, sein alter Name doch mit ihm zu Ende gingen, so sollte dem letzten Sprossen noch einmal ein Glück beschert sein. Und bei dem Gedanken war es ihm so wohl geworden, als schaffte er sich noch ein letztes Eckchen Glück und Freude, und einen Winkel, wohin er aus den Stürmen und der Eisluft der eigenen Ehe flüchten könne.
Es waren auch andere Stunden gekommen, wo es einen harten Kampf mit seinem Stolze galt und er Harros Leben nicht ohne brennende Qual überdenken konnte.
Die bösen Zungen, die sich auf ihn stürzen würden, der Hohn und Spott seiner Welt, die es nie begreifen würde, daß er die einzige Tochter freiwillig einem armen Manne gegeben. Aber alles ward überwunden unter dem Einfluß der holden Nähe und in der Entfernung von seiner gewohnten Umgebung, seiner Beschäftigung. Wie das Getriebe der Menschenwesen sich in hoher, reiner Bergluft so anders ausnimmt.
Und nun war eine Ruhe über ihn gekommen, die nicht einmal das eingelaufene Telegramm zerstören konnte, das ihm für den nächsten Morgen mit sehr viel unnötigen Worten die Ankunft der Fürstin anmeldete.
Irgend etwas mußte sie in Berlin erzürnt haben, daß ihr der Einfall gekommen war, zu entfliehen und ihren täglichen Kampf mit der Langeweile von Berlin nach der Riviera zu verlegen.
Sie konnte dabei so gut die Sehnsucht nach ihrem Manne und die Pflicht, nach der genesenden Tochter zu sehen, hervorheben. – Ein ganz anderer Hauch weht dem Fürsten aus den Worten entgegen, und nun ist es gut, daß alles entschieden ist.
Auf dem Thorsteiner lastet das Glück. Es ist ihm fremd, es ist bedrängend, er wagt kaum Rosmaries weiße Hand zu halten und in ihre selig träumenden Augen zu sehen. Und er sieht sie blasser und blasser werden, er, der die feine Seele kennt wie kein anderer, er weiß, daß bei ihr nur zu schnell die Freude das arme, daran so ungewohnte Herz überwältigt. Und er geht, ehe sie sich überfreut, und küßt noch die weiße kühle Hand und flüstert ihr das selige Wort zu: Auf morgen! Wie ein Träumender geht er dahin unter dem südlichen Sternenhimmel.
Hinunter ans Meer, über ihm funkeln die Sterne, und die Flut atmet leise, wie er über den knirschenden Kies schreitet.
Dunkel liegen die Berge und Palmenhaine, ganz von ferne schimmern noch ein paar Lichter.
Und die plötzliche Wendung seines Lebens überwältigt ihn aufs neue. Noch ist alles so märchenhaft, so traumähnlich.
Nicht das Äußere, Rosmaries hohe Stellung, ihr Reichtum ist das Wunderbare, nein, wenn er daran denkt, kann er sich eines Schauders nicht erwehren, – wenn er sich das ganze Braunecker Zeremoniell in seine Heimat verpflanzt vorstellt. Das Wunderbare ist, daß gerade auf ihn, den verrückten Thorsteiner, den Ruinengrafen, sich alles Glück der Erde herabsenken will. Er muß seine erschütterte Seele fragen in der einsamen Nacht am Strand des fremden Meeres ...
Seele, meine alte Seele, bist du's wirklich? Bist du es, die so lange in der Einsamkeit gehungert hat, die nun die Fülle haben soll, die du nie in den kühnsten Träumen erhofft. Du sollst die höchsten Güter des Lebens besitzen, dir soll die hehre Kunst gedeihen, dir soll eine neue Heimat erstehen, und darin wird die Holdseligste walten, mit ihren feinen Händen täglich an dem Goldgespinste deines Glückes weben.
Warum das alles für dich, das in seiner Fülle auf drei hungernde Seelen fallen dürfte, und keine könnte sich beklagen: ich stehe leer da.
Und seine Seele hebt die Hände nach den funkelnden Lichtern da oben, dorthin, wohin es immer das Kind der Erde zieht, wenn es »seines bleibenden Teils ewigen Frieden bedenkt«.
Oh, könnt ich jetzt danken, könnt ich mein Glück aus einer Vaterhand nehmen und mich vor ihr beugen. Wie ein blöder Tor steh ich da, der nimmt und nimmt, als wäre es sein gutes Recht, das ihm vor Tausenden und Tausenden geworden ist.
Aber fremd und feindlich schauen des Himmels Heere auf ihn herab. Was ist dem, der da oben seine Sonnen und Sternenheere weidet, eine einzige Menschenseele?
Wie verworrenes Getöse, so mag wohl das Seufzen und Klagen, das Flehen der Menschen von der dunkeln Erde aufsteigen.
Wie könnte eine einzige Stimme hoffen dürfen, das millionenfache Stimmengewirre zu durchdringen?
Seltsam, wie eine halbverwischte Erinnerung plötzlich wieder in ihm auftaucht. Aus einer alten feierlichen Bilderbibel des Thorsteiner Schlosses. Der nächtliche Kampf einer Seele vor Jahrtausenden und dieselbe Bitte, die jetzt in seiner Seele aufsteigt: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Immer stehen die Worte vor ihm; die dunkeln, nur von matten Lichtern erhellten Wellen tragen sie ihm aus nächtlicher Ferne zu, in den glitzernden Himmelslichtern stehen sie geschrieben: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Und aus der Tiefe seines Herzens steigt etwas auf, formlos noch, ein Hauch, ein fremdes Gebilde unter den gewohnten Dingen seines Innern ... es ist, als durchglühe es ihn – die Tränen stürzen aus seinen Augen ...: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Und ist es nicht, als ob sich eine leise, zarte Welle von goldenem Lichte auf ihn herabsenkte, als überströme etwas Fremdes, Herrliches, unsäglich Geheimnisvolles ihn, daß der ganze Körper es mitempfindet, was die Seele, die »Einsame«, in ihm erlebt.
Einen Menschen erschüttert das Leid, der Tod in seinen Tiefen. An diesem Manne hat es die Freude getan.
Die in sein Leben eingetretenen, in alle Winkel ihre bunten Strahlen geworfen hat und der Seele mit ihrer frohen Silberstimme zugerufen hat: Nun bin ich da!
Der Fürst fuhr am andern Morgen zum Bahnhofe, nicht ohne die sichere Erwartung, daß der Tag ihm einige recht wenig angenehme Stunden bringen würde. Es fröstelte ihn jetzt schon wie einen, der lange in der Sonne gestanden hat und nun in den Schatten treten muß.
Die Fürstin hat im Schlafwagen eine sehr gute Nacht gehabt, und ihre plötzliche, unerwartete und, wie sie wohl ahnt, unerwünschte Ankunft macht sie freundlicher und geschmeidiger. Freilich, in ihres Mannes Augen ist ein gewisser Blick, der ihr nicht gefällt. – Das wird Rosmaries Einfluß sein.
»Nun, diese graue Luft könnte man zwar auch in Berlin haben, aber ich bin froh, daß ich dem alten Nebel- und Regenneste entflohen bin. Du freust dich auch, daß ich komme; nichts als Scherereien und Ungemütlichkeiten wirst du gehabt haben.«
Der Fürst lächelt ein wenig. »Recht sorgliche Tage hatte ich, und Rosmarie ist noch sehr zart, aber sie hat in der letzten Zeit Fortschritte gemacht. Große Fortschritte!«
Sie stehen in dem schön mit Palmen geschmückten Vestibül des Hotel Angst, und mit großer Schnelligkeit zieht der Fürst seine Gemahlin in den Lift; er hat oben den nichts ahnenden Harro gesehen, der mit einem Blütenzweig in der Hand die Treppe hinauf steigt. Die Fürstin hat aber schnelle Augen.
»War das nicht der Thorsteiner? Wie ist das möglich?« Aber der Fürst zieht vor, ihre Frage zu überhören, und nun sind sie schon in den Räumen, die er für sie bestellt hat. Es sind nicht die besten Zimmer, die sind schon vergeben, aber die Fürstin findet vorderhand nichts auszusetzen. Sie darf nur ihren Reisemantel abwerfen, sie hat schon Toilette gemacht.
»Nun also, Fried, was macht die arme Rosmarie heute, sie wird noch elender geworden sein.«
»Du wirst dich sehr verwundern, wenn du sie siehst, Charlotte.« »Ich kann es mir schon denken, größer und fahler als irgend ein Mensch sonst. Diese unglückselige Länge.«
»Sie ist sehr schön geworden.«
»Schön, die Rosmarie?«
»Sie schlägt damit vollständig aus der Art. Wie ein Schwan im Hühnerhof wird sie unter den andern Brauneckern aussehen. Ich muß ein Bild von ihr haben.«
Die Fürstin starrt ihren Mann an. Was hat er denn nur? Etwas ganz Fremdes, fast Fröhliches ist an ihm!
»Es macht die große Freude, Charlotte, die verschönt auch, und du hast recht gesehen, der Thorsteiner ist da.«
»Der Thorsteiner – er ist dir nachgereist?«
»Er war schon da, als ich kam.«
»Fried, was soll das heißen, ich bin sprachlos, ich verstehe dich nicht mehr.«
»Nun also, die Rosmarie ist Braut, seit gestern. Und wen sie liebt und immer geliebt hat, das weißt du ja auch; du hast ihn ja mit seinem Blütenzweig gesehen.«
Die Fürstin stieß eine fast gellende Lache aus.
»Der Ruinengraf! Der Harro Thorstein, der mit seinen Schildereien handelt, und die Rosmarie! Ja will er sie denn? Sie war ihm doch so lästig mit ihrer lächerlichen Verliebtheit, schon als kleines Mädchen!«
»So wird sie wohl mit Rosmarie gehandelt haben,« denkt der Fürst.
»Es wird das beste sein, Charlotte, du suchst dich so bald als möglich mit dem Gedanken auszusöhnen. Harro ist mir stets sehr wert gewesen, und ich war ihm immer dankbar für seinen Beistand.« »Du willst sagen, er habe sich, als Rosmarie allein mit dieser Person, dieser Miß Granger, war, an sie wieder herangepirscht. Nun, ein Goldvogel ist ja die Rosmarie für einen armen Raubritter wie den Thorsteiner!«
Der Fürst stand mit dem Rücken gegen das Fenster, und sein Gesicht hatte einen merkwürdig starren Ausdruck angenommen, den sie gar nicht an ihm kannte.
»Ja, hast du dir denn nicht überlegt, was die Vettern, was deine Schwester dazu sagen werden, daß du die einzige Tochter einem Abenteurer gibst?«
»Zu welch verschiedenen Dingen der gute Harro, dessen Leben so offenbar neben dem unsrigen hergegangen ist, sich entwickelt hat. Ein Raubritter ... – ein Abenteurer –«
»Von seinem Leben in Paris – wie es die Herren Künstler mit ihren Modellen treiben, das weiß man ja, – wirst du auch nichts erfahren haben. Und jetzt in Rom – du glaubst doch nicht, daß die Rosmarie, die sich ihm schamlos in den Weg warf ...«
»Beendigen wir dies Gespräch, Charlotte! Erhole dich ein wenig von deiner Reise und suche dich mit dem Gedanken auszusöhnen. Harro Thorstein schien dir früher nicht unangenehm zu sein; du mußt dich jetzt, da er doch ein Glied der Familie wird, mit ihm aussöhnen.«
»Fried, du verbirgst mir irgend etwas! Meinst du, ich hätte es dir nicht sofort angesehen, wie ich aus dem Zuge stieg? Dieser Mensch hat sich hier eingeschlichen, hat Rosmarie kompromittiert, unmöglich gemacht – du kannst nicht mehr anders!«
»Strenge deine Phantasie nicht gar zu sehr an, auf das Richtige kommst du in Ewigkeit nicht. Und jetzt bitte ich dich, mich zu entschuldigen, ich habe mit Harro zu sprechen.«
Und dabei ging er so ruhig hinaus, als ob ihr Gespräch aufs liebenswürdigste geschlossen hätte.
Die Fürstin sah ihm nach, sprachlos, dann sank sie auf einen Stuhl. »Der Harro Thorstein – von allen Menschen! Der soll Rosmarie gehören. Nun, man wird sie ihm auf dem Präsentierteller angeboten haben, und er wird es sich haben gefallen lassen.« –
Es zuckt durch ihre Seele wie ein wildes brennendes Weh. Als ob ihr das Leben alles, alles versagt und es jener andern gegeben habe. »Alles, alles hat sie!« stöhnt sie, und es kam ihr nicht zum Bewußtsein, wie sinnlos das war. Sie ging in ihr Schlafzimmer, schickte ihre Kammerfrau mit ärgerlichen Worten hinaus und warf sich auf ihr Bett. Ein Bild steht ihr vor Augen: Der lange Thorsteiner, wie er mit dem schönsten Lächeln, das seine Elfenbeinzähne aufblitzen macht, zu der kleinen Rosmarie aufsieht, die über ihm auf einer Mauer steht und sich einen Blütenzweig über den Kopf zieht. Sie muß es immer wieder sehen. Wenn er das Lächeln für jemand anders gehabt hätte ... ja ...
Und in immer neuer Bitterkeit dreht und wendet sie ihr jetziges Leben herum, ein müßiges Genußleben mit auf das allergeringste Maß beschränkten Pflichten. Daß das keine Befriedigung gewähren kann, weiß sie nicht. Denn leben nicht andere noch rauschender, noch glänzender und amüsieren sich offenbar trefflich dabei?
Ihrem verlorenen Kinde hatte sie nicht nachgeweint. O nein, als die schlimmsten Tage vorüber waren und die lockende Freiheit sich zeigte, da hatte sie in der Tiefe ihres Herzens nur aufgejubelt. Es mochte wohl nicht ganz unbegründet gewesen sein, daß sie ihren Zustand als werdende Mutter so quälend und beängstigend empfand, vielleicht hätte sie einmal die Geburt eines lebensfähigen Kindes mit ihrem eigenen Leben bezahlen müssen. Das war aber nun vergessen.
Jetzt warf sie sich weinend und wimmernd herum: »Mein Sohn, mein Kind! Wenn ich es hätte, müßte ich mir dann eine solche Nichtachtung gefallen lassen? Daß man über mich hinwegsieht, als wäre ich gar nicht da, die wichtigsten Dinge beschließt und mir nachher allergnädigst mitteilt, daß ich mich damit abzufinden habe. Aber das ist Rosmaries Einfluß. Sie ist wieder Herr geworden über den schwachen Vater. Die Heuchlerin! Wie wird sie jetzt triumphieren. Von ihrer Untat ist wohl gar keine Rede mehr. Sie hat sich hinausgelogen, und mit solchem Erfolg, daß es nun wohl heißen wird, sie, die unglückliche und beraubte Mutter habe das alles erfunden!«
Mit unsäglicher Bitterkeit wühlen ihre Gedanken darin.
Und schön soll Rosmarie geworden sein! Die arme Fürstin muß sich schon die glänzenden Siege vorstellen, die Rosmarie erleben wird. Sie kennt ja die Welt. Wenn der Thorsteiner Prinzgemahl geworden ist und auf einem der Braunecker Schlösser lebt, so wird seine Ruinenvergangenheit nur mehr ein Gesprächsthema für Stiftsdamen und männliche und weibliche Klatschbasen werden. Die »Welt« wird sich nicht daran kehren. Wird auf seine Feste gehen, seines Schwiegervaters köstliche Weine trinken, ein wenig medisieren und im übrigen der schönen Frau den Hof machen.
Alles, was sie selbst besitzt, ist plötzlich wertlos geworden, wie ein armes Stückchen Glas neben einem Diamanten.
Und das allerbitterste ist: Rosmarie hat den Diamanten. Ach, der unerträgliche Triumph, den sie jetzt verstehen wird, auszustrahlen!
Die Fürstin hat sich im Leben nicht so todunglücklich gefühlt.
Und ja – sie hat wohl Grund dazu.
Der Fürst war in Harros Zimmer gegangen.
»Ich muß dich um etwas bitten. Du mußt womöglich heute noch abreisen.«
»Heute – Vater?«
»Rosmarie muß sich auch darein finden. Ja, ich hätte euch gerne noch ein paar schöne Tage gegönnt, aber so ist das Leben, – es macht jeden Tag ein anderes Gesicht. Ich habe eine nicht gerade angenehme Szene mit der Fürstin gehabt, und ich halte es für besser für das zukünftige Verhältnis, daß sie dich erst begrüßt, wenn sie in anderer Stimmung ist. Ich denke dabei an dich, Harro. Und wäre es nicht am besten, du gingest nach Thorstein und beschleunigtest den Bau?«
»Du wolltest mir Rosmarie schon bald geben?«
»Ich habe nicht an eine lange Wartezeit gedacht.«
»Du vertraust sie mir an – ich weiß ja, wie sie geschont werden muß – ich verspreche dir.«
»Nicht so stürmisch, es ist noch nicht alles spruchreif. Ich will, daß das Kind in die Ruhe kommt. Und ich meine, im Hinblick darauf sollte auch Rosmarie es verstehen, daß du gehst.
Ich habe mir gedacht, du gehst jetzt in die Villa Riposa, frühstückst mit Rosmarie und bleibst bei ihr, ich will sagen bis elf Uhr, und verabschiedest dich dann gleich von ihr. Glaube mir, es ist alles wohl überlegt.«
»Lieber Vater, wenn du mich doch dir danken ließest!«
»Harro, du weißt, wie du allein mir danken kannst. Und wohin gehst du?«
»Nach Rom, um dort abzubrechen, und dann sofort nach dem Thorstein. Ich wünsche mir sechs Arme, zwei Köpfe, – ich kenne ja Rosmaries Wünsche, und nun ich für sie arbeite!«
»Harro, mach deine Sache gut bei Rosmarie.« –
Harro trägt seinen Blütenzweig, und ehe er fortgeht, muß er noch einen Blick in den Spiegel werfen, wobei er rot wird. Die paar Silberhaare an den Schläfen machen ihm wenig. Alt fühlt er sich nicht, und wie er die Treppe hinunterspringt mit seinem Blütenzweig, ist's ihm, als sei er seit seinem zweiundzwanzigsten Jahre, wo er zugleich Vater und Heimat verlor, nicht mehr so jung gewesen.
Rosmarie kommt ihm entgegen bis zu dem Palmengang, welch eine liebliche Röte liegt auf ihrem Angesicht.
»Und du bist allein – ohne Vater und Mama?«
»Die Fürstin habe ich noch nicht gesehen, sie muß wohl erst mit mir versöhnt werden, das heißt mit meiner neuen Würde. Und ich darf mit dir frühstücken.«
Nicht einmal ihre Lippen berührt er, die schönen feingeschwungenen Lippen, die sich so gleich geblieben sind. Und nun kann Rosmarie Hausfrau spielen und ihm wieder wie in früheren Tagen Tee bereiten und seinem Blütenzweig ihre Wartung zukommen lassen. Eine verklärte Feierlichkeit liegt auf ihnen, und kaum wagt eines das andere anzusehen, als fürchteten sie sich vor dem Überschwang der Gefühle. Und die feinen Formen, in denen sie sich beide ihr Lebtag bewegt haben, geben ihrem Beisammensein eine vornehme Würde und Ruhe. Sie sprechen auch nur von Vergangenem. Auf der Gegenwart liegt ja noch ein morgenweicher Flaum, und die Zukunft ist ein so wunderbares Goldland. Darf man es denn glauben!
Ist es denn möglich, daß ihre kühnsten Traume wahr werden könnten! Ach, alles ist noch so unwahrscheinlich, so unmöglich selig für ihr leidgewohntes Herz!
Und nun stehen sie auf der kleinen Loggia und sehen in den blauen Morgen hinaus. Ein leiser Morgenwind rauscht in den Palmen, und fern liegt ein so unsäglich blauer Schein dazwischen, ein Stück auf den Boden gefallener Himmel, – das Meer. Wie die Rosen duften und dort die Veilchenbänke.
»Nun kommt der Frühling, Rosmarie.«
Es sind ja nur so kurze arme Worte, aber welch ein tiefer Sinn liegt jetzt in allem, an diesem Morgen, wo die Welt so neu ist, als wäre heut ein Schöpfungstag. War der Himmel je so blau, und kann das ein irdisches Meer sein?
Da nimmt er sanft ihre Hand, und leise, schüchtern legt sie den Kopf an seine Schulter, beinahe, wie sie es als Kind getan. Und ein seliges Schweigen.
Als flögen kleine Engel im holden Reigen um sie, als sängen Nachtigallen von allen Zweigen, als wäre zum ersten Male in diese Welt die holde Liebe herabgestiegen.
Es tönt ein Schritt, Harro fährt zusammen, ach, die Paradieseszeit vergeht, und schon klopft das alte Leben an ihre Türe.
»Rosmarie, wir müssen scheiden heut, nur für eine kurze Weile. Ich muß dir dein Haus, das schönste im ganzen Land, bauen, Liebste. Dein Vater wünscht, daß ich heute gehe. Ich habe ihm so unsäglich viel zu danken. Wir müssen gehorchen. Nicht erbleichen, Liebste! Sind wir je so hoffnungsvoll auseinander gegangen. Sei stark, Seele. – Hast du je zu hoffen gewagt, was uns gestern beschert wurde? Nun trag dein Glück in festen Händen, Liebste! Jetzt nicht trauern!«
Rosmarie lehnt wortlos an seiner Brust.
»Sieh auf, Holdseligste, kannst du jetzt nicht dein ganzes Herz zusammennehmen!«
Oh, die lieben, lieben Worte, sie hat sie auf ihr Herz herabtauen lassen wollen. Nun flüstert sie:
»Harro, ich will gar nicht, daß du jetzt hier bleibst. Und ich danke es dem Vater tausendmal, daß er dich jetzt fortschickt. Und all das – das Häßliche ganz allein auf sich nimmt. Und ich habe Mut, Harro. – Und alle meine Kerzen brennen.«
Und Harro beugt sich herab und küßt zum erstenmal ihre reine weiße Stirne. Sie ist ihm so heilig in ihrer erst gestern erwachten Jungfräulichkeit. Und seine Schonung zeigt, daß er ihrer wert ist. Noch bebt sie ja wie ein schwaches Schilfrohr in seinem Arm, es ist noch Frühling, allererster Frühling in ihrem kaum dem Tod entrissenen Herzen, und der Sommer mit seiner Strahlenglut ist noch ferne.
Und so scheiden sie. In Harros Herzen schlagen alle Lerchen zusammen, und ein Glanz und eine Weichheit ist in seinen Augen, wie er durch den strahlenden Morgen geht an jenem ersten Schöpfungstag. –
Fürst und Fürstin speisen in bedrückendem Schweigen in ihrem hohen, sonndurchstrahlten Hotelzimmer. Der Fürst macht auch nicht den geringsten Versuch, das Morgengespräch zu wiederholen. Die Fürstin will nicht beginnen, zum ersten Male fürchtet sie sich ein wenig vor ihm, und das tut ihr ganz außerordentlich gut.
Endlich erhebt sich der Fürst: »Ich werde jetzt nach Rosmarie sehen, Harro ist abgereist, und ich denke, wir werden ihn erst in Brauneck wiedersehen.«
Die Fürstin sagt fast unterwürfig: »Ich werde mitgehen.« »Um so besser.«
Und die beiden gehen den kurzen Weg, in das Gäßchen hinein kann man doch nicht fahren.
Rosmarie kommt ihnen entgegen mit blühenden Wangen, wie zarte Kletterrosen, die nach innen hold erröten. Der Fürst ist sehr erstaunt, das hat er nicht erwartet nach dem Abschied heute morgen. Sie küßt ihrer Mutter, die ganz blaß geworden ist, die Hand: »Mama, ich danke dir, daß du kamst. Ach, wie hast du so Schlimmes von mir denken müssen!«
Die Fürstin erwidert: »Du gibst also noch nichts zu und willst meine eigenen Augen nun ins Gesicht Lügen strafen!«
»Ich meine, wir lassen diese Erörterung,« warf der Fürst nervös ein.
»Lieber Vater, es muß doch gesagt sein. Mama hat das Recht, es zu erwarten. Ich kann freilich auch jetzt nicht mich zu etwas bekennen, was ich nicht getan habe. Aber daß Mama sonst allen Grund hatte, mit mir unzufrieden zu sein ... O Mama, ich habe darum gelitten, sehr.«
»Ich bitte dich, Charlotte, laß das genug sein,« rief der Fürst mit so gequälter Stimme, daß selbst die Fürstin nun sich mit einem stummen Achselzucken begnügte.
So wurde denn zur großen Erleichterung des Fürsten vorderhand die Geschichte begraben, es ahnte ihm allerdings, daß sie wohl noch einmal umgehen würde.
Am Nachmittag ließ er sogar die beiden Damen allein, während er seine Post erledigte. Von dem großen Ereignis des gestrigen Tages war nur in jener Andeutung die Rede gewesen.
Die Fürstin saß in Rosmaries Korbstuhl, sie sah aus, als ob sie des Runzelmittels der Pariserin bedürfte. Man sah ihr den anstrengenden Berliner Winter mit Diners und Soireen, das ganze aufreibende Dasein einer Mondaine an. Die beständige Jagd nach dem Vergnügen, die, wenn man sie mit der nötigen Inbrunst betreibt, zur allerhärtesten Arbeit wird. Sie klagt auch beweglich.
»Berlin war mir über. Dein Vater ist ja so riesig exklusiv, wie es jetzt gar nicht mehr Mode ist, und da trifft man immer die gleichen Menschen. Und schließlich mögt ihr euch in Brauneck als noch so große Herren fühlen, was sind wir denn in Berlin, wo jeder Amerikaner-Eisenbahnaktienmensch es uns zuvor tun kann! Du solltest sehen, wie die leben! Nicht einmal ein Auto habe ich und muß mich mit den heiligen Gäulen behelfen, die ewig geschont werden müssen. Wenn ich denke, was dein Vater an seine alten Geisterburgen vergeudet! Wir können doch auch nur in einer wohnen. In Weitersberg kracht jeder Stuhl, wenn man sich darauf setzt, und in die Gobelins sind die Motten gekommen. Ich wollte die Gobelins in Berlin haben; es hätte in der Zeitung gestanden. Sie sollen ja jetzt einen fabelhaften Wert haben. Aber nein – in Weitersberg müssen sie bleiben.«
»Liebe Mama, sie werden wohl nirgends so gut hinpassen, sie sind ja für die Wände gewebt worden.«
»Nun, daß du in allem deinem Vater recht gibst, weiß ich ja, und ich denke, ihr werdet dort wohnen wollen.«
Es ist das erstemal, daß sie die Zukunft erwähnt. Rosmarie wird dunkelrot: »Nein, Mama, daran haben wir nie gedacht.«
Die Fürstin richtet sich steil in die Höhe: »Doch nicht in der Ruine, das kann dein Ernst nicht sein!«
»Nein, aber in dem neuen Haus, das Harro baut.«
»Ein Haus, nun ja, er kann es ja mit deinem Gelde ausbauen!«
»Oh, es ist ganz recht, wie es ist. Es wird sehr schön, du wirst erstaunt sein. Harro hat so viel selbst gemacht. Es wird noch lange nicht ganz fertig sein. Der Festsaal oben.«
»Ein Festsaal!«
»Und noch viel anderes Schöne. Harro arbeitet doch seit Jahren daran.«
Rosmarie erschrak. Hatte sie nicht schon zu viel gesagt? Das Gesicht ihrer Mutter veränderte sich fast erschreckend. Rote Flecken sprangen auf unter ihren dunkel umränderten Augen, in die ein unstetes Flackern kam, das Rosmarie immer als Vorboten von schlimmen Szenen kannte. Aber diesmal ging noch das Wetter an Rosmarie vorüber. Ganz unvermittelt brach die Fürstin in die bittersten Klagen aus über ihr eigenes Leben. Wenn Frauen zu klagen anfangen, pflegt die Logik in unerreichbare Gefilde zu entfliehen. So erweckte die Vorstellung von dem schönen Haus Thorstein die Erinnerung an irgend welche gesellschaftliche Brüskierung, die die Fürstin erlebt zu haben glaubte. Und damit war eine bunte Pyramide umgestoßen.
Rosmarie mußte mit Erstaunen hören, welch leidensvolles Dasein ihre Mutter führe. Wie sie sich nun vor Berlin ekele, vor der preußischen Steifheit und Langeweile, und vor dem Geisterschloß Brauneck fürchte. Rosmarie müsse selbst zugeben, daß sie Grund dazu habe! Aber um Gottes willen nicht davon reden, sonst würde die Sache schlimmer, und keine Kammerfrau der Welt bliebe trotz noch so hohen Lohnes bei ihr. Ob Rosmarie nicht selbst zugeben müsse, daß es wahrhaft entsetzlich sei, sein Leben täglich unter so vielen toten, gemalten Augen zubringen zu müssen und nie für voll angesehen zu werden und das beständig zu fühlen bekommen, daß noch kein Sohn da sei.
Natürlich nur bis jetzt. Sie sei überzeugt, wenn man ihr das letztemal nicht mit Verordnungen und Verboten das Leben vergällt hätte, so wäre alles gut geworden. Allein diese altmodischen Ärzte, die man in Brauneck konserviere, wie alles andere, bis sie abgestanden geworden, seien schuld daran. Niemals würde sie sich denen wieder ausliefern lassen. Auch über die ganze Zeit Brauneck nicht wieder betreten, wo sich Türen, Menschen, Bilder gegen sie verschworen hätten.
»Ja, das haben sie, Rosmarie, und du kannst nichts dagegen sagen.«
Und Rosmarie schlang ihre Arme um ihre heftig schluchzende Mutter.
»Arme Mama!« flüstert sie und streicht ihr über die zuckenden Achseln und hört die immer wieder ausbrechenden Klagen und Anklagen mit solch zarter Teilnahme an, unter der ein sanftes Mitleiden liegt für die tiefe Zerrissenheit, die all diesen Worten zugrunde liegt. Sie ist ja so reich. Alle ihre Kerzen der Liebe und des Erbarmens brennen.
Und seltsam, mehr als seltsam, der Fürst findet seine beiden Damen in einer ihm ganz wunderbaren sanften Stimmung vor.
Noch immer darf er das große Ereignis nicht berühren, Rosmaries Augen warnen ihn davor. Aber welche Wohltat, daß sich der Eiswind vom heutigen Morgen gelegt hat.
Bordighera, sechsten April.
Mein liebster Harro!
Heute habe ich den Frühling gesehen. Er kam übers Meer, und wo er den Strand betrat, da lief unter den Palmen ein grüner Hauch. Da standen zwischen dem Grün weiße, gelbe und feuerrote fremde Lilien, wie Flammen schlugen sie aus dem weichen Grase auf. Hohe Zypressen schauten auf sie herunter, und damit sie nicht so einsam blieben in ihrer Höhe, schlangen sich Teerosen an ihren Stämmen hinauf und drückten ihre sanften Blumenwangen an die rauhe Rinde und verbanden sie mit ihren Ranken und ketteten sie aneinander und lächelten dazu mit ihren deinen, blassen Gesichtern. Kennst Du die Olive, die auf der gelben Felswand ihre feinen Zweige in hundertfältigem Schattenspiel abzeichnet? Und die so alt und zerklüftet und zerrissen ist, daß Maßliebchen in ihren Stamm hineingewandert sind und da wohnen und leben?
Nun kennst Du sie aber nicht mehr, die alte Seele. Sie blüht über und über von rosa Rosen. Bis zum Wipfel sind sie gestiegen, ihr Grün sieht man nicht, nur die rosa Köpfchen und das silbergraublaue und das leuchtende Rosa zusammen, wie lachen einem da die Augen!
Die liebe, alte, feine Seele mit ihren Rosenkränzen!
Dann ging wohl der Frühling mit seinen leichten Füßen die Schlucht hinauf, wo hinter der Felswand die Palmen stehen. Die grüßen ihn ein wenig, ihr Freund ist ja der glühheiße Sommer, der ihnen die alte Heimat wieder bringt, sie rühren sich nicht viel. Da verfängt sich des Frühlings blauer wehender Mantel an einer Mimose.
Wie flammt sie auf! Ein Berg von purem Gold ist sie geworden, der herausschießt aus dem Gestein und alles ringsum mit seinem Goldstaub und Duft erfüllt. Wie ein Wunder steht die Mimose da, als wäre sie heute verpflanzt worden aus dem Paradiesesgarten. Und der Frühling mag wohl eine Weile bei ihr stehen und mit seinen strahlenden Augen um sich sehen. Und da steht zwischen den stolzen abweisenden Palmen ein schlanker dunkler Baum. Ein Hauch darüber, und nun steht er in weißen Blüten, der Kirschbaum, und trägt seine Last von Blütennestchen auf den schwanken Zweigen.
Wie ist er so traut, der Baum aus der Heimat. Ach, nimm einen Zweig davon, holder Frühling, und steck ihn dir auf deinen Hut und trage ihn über die sieben, sieben Berge und die Schnee- und Eispaläste nach der geliebten Sonnenhalde, wo jetzt erst die schüchternen Maßliebchen und die gelben Hungerblümchen stehen zwischen den Steinen. Und laß den bittersüßen Hauch hereinwehen, daß er aufsehen muß von seiner Arbeit und hinausschlendern und ins Tal sehen!
Du hast gewiß nicht gewußt, Harro, daß es so viel Nachtigallen in der Welt gibt, wie sie hier beisammen wohnen? Es scheint zurzeit ein großer gelber Mond, vor dem sich die Lisa fürchtet, weil er so gar nicht ist wie der Braunecker Mond. Und dazu singen die Nachtigallen. Und die Baumfrösche plappern, die kleinen, grünen, wer es am lautesten kann. Sie klappern wie Hunderte von kleinen Mühlen, und auch die mahlen lauter Liebe die ganze Nacht. Man kann gar nicht schlafen vor lauter Liebe.
Vater ist nun in Brauneck angekommen und Tante Helen hier. Wie ist sie so gut und wunderlich. Sie meint, in allem schlage ich aus der Art, und ich dürfe mir nicht einbilden, das Leben werde mich stets wie Biskuitporzellan behandeln, wie bisher.
Und dann küßt sie mich wieder und sagt: »Dir vor andern gönne ich es, daß es nach deinem Herzen geht. Ich möchte wissen, in wieviel Jahrhunderten du die einzige bist von Braunecker Töchtern, die sich nicht vor ihrer Hochzeit die Augen halb ausgeweint hat oder mit Stickrahmen, Papagei und Schoßhund im Prinzessinnenbau hat vorlieb nehmen müssen! O du Biskuitporzellan!«
Und ich muß mich so nennen und mir erzählen lassen, wie man mit dem gewöhnlichen Geschirr, als solches rechnet sich Tante Helen, die doch auch Original Brauneck ist, verfahren hat. Und ich liebe sie innig, die Tante Helen.
Mama ist in Wiesbaden, und es wird schwer sein, sie wieder nach Brauneck zu bekommen, gegen das sie nun immer erbitterter ist.
Und das kränkt Vater, der doch denkt, daß es auf der Welt keinen besseren Ort zum Leben und Sterben gibt als Brauneck.
Deine schöne Gruppe von der Prinzessin als Gänsemagd macht allen große Freude. Der Herr Professor setzt sich jedesmal so, daß er sie ansehen kann, und rückt ein wenig daran mit behutsamen Händen, daß er eine andere Silhouette davon bekommt und endlich mit sich im reinen ist, von welcher Seite sie am schönsten ist. Auch findet er, daß er sich noch nicht genug mit diesen interessanten Tieren, den Gänsen, befaßt und ihnen menschlich näher zu kommen versucht habe. Er habe sie bisher nur in gebratenem Zustand geschätzt. Aber dies sei nun ein vollständig überwundener, weil beschämend roher Standpunkt. Er ist überzeugt, daß die vordere Gans die ganze Situation, die dem Kürdchen erst dämmert, längst vollständig durchschaut hat. Darum wandelt sie auch so preislich voran. Und die zweite zischt verächtlich nach dem dummen Jungen, dem Kürdchen, und ist bereit, allerhand Angriffe, sei's von täppischen Bubenhänden, sei's von andern Kreaturen, von ihrer Prinzessin abzuwehren. Ist es nicht lieb von ihm, daß er sich so hinein vertieft hat? Und wie sehr wünscht er ein Bild von Dir zu sehen. Am liebsten den Ehrensaal. Und denke, er hat mir versprochen, uns in Thorstein zu besuchen.
Ach, das fällt mir aufs Herz. Wie ich das zu sagen wage, – es will mir fast bange werden. Weißt du, so:
»Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein –«
Liebster Harro, kann es denn wahr sein!
Deine Rosmarie.
Thorstein, den zwanzigsten Mai.
Liebste, Holdseligste, o du mein blauer Himmel!
Heute solltest Du den Brunnen hören mit seinem Amsellied. Die Amsel sitzt oben auf der alten Tanne und singt und singt. Und was der Brunnen daraus macht, das ist so, wie das, was Du aus meinen Bildern machst. Sein alter grüner Samtmantel leuchtet plötzlich auf, wie berührt von einer Lichtwelle, unsäglich schön ist das! Und zuerst kommt es mir vor, als müsse er leuchten über seiner Musik, wie beseelt sieht er aus. Schließlich wird es mir doch zu merkwürdig, abends schlafen seine Farben ja immer. Da finde ich, daß es der Reflex von dem Sonnenglast auf den neuen Fenstern vom Hause her ist. Eine kindische Freude habe ich darüber, es muß ihn ja auch freuen, daß er nun so beglänzt wird, aus der Sonnenhöhe herunter.
Nun, das wirst Du auch einmal sehen. Und ich verspreche ihm jeden Tag, daß die Holdseligste einmal auf seinem grüngrünen Rande sitzen wird, ihre langen Flechten herunterhängen lassen, und sein dunkles Auge das Weiß und Gold widerspiegeln wird. Dann ist ja die Fee von Schloß Schweigen wieder zu sehen. Weißt Du die Geschichte immer noch nicht?
Gestern war Vater da, und wir stiegen wohl zwei Stunden lang überall herum zwischen Kübeln und Leitern und dem lieblichen Duft der Maurerspfeifen und -Koteletten. Was das letztere ist, wage ich meiner Mondscheinprinzessin nicht mitzuteilen. Es scheint den Leuten ein Lebensbedürfnis zu sein, und auch Vater hat großmütig über das eigentümliche Parfüm hinweggesehen. Er war zum Glück recht befriedigt, und ich habe ihm schwören müssen, alle Arbeiten, die nicht mit Pinsel und Palette gemacht werden können, wie Bildhauen, Schnitzen, nur unter strengstem Ausschluß der Öffentlichkeit zu verrichten. Freilich, das Schmollzimmer, das Deine Panneaux bekommt und in dem ich die Decke male, – ich will doch auch bei Deinen Kunstwerken vertreten sein, kann ich eben nur an Ort und Stelle malen. Ich verklackere mich noch entsetzlich bei der Plafondmalerei. Auf dieses wagte ich ihn nicht aufmerksam zu machen. Ich werde eben die Türen schließen.
Als ich neulich ganz verkleistert und ein Anblick zum Erschrecken in mein Atelier kam und eine halbe Stunde brauchte, das Zeug aus meinen Haaren zu kriegen, – natürlich hatte ich beständig meine Kappe verloren – da erquickte es mich ordentlich, abends von Michel Angelo selbst zu lesen, wie er seine Qualen beschreibt, als er die Sixtina ausmalte. Die betreffende Schilderung habe ich markiert, damit ich, wenn je Vater etwas von den Farbenorgien auf meinem Kopf, Kittel und Händen erfahren sollte, es ihm gleich vorhalten kann. Er muß dann wenigstens die gute Gesellschaft anerkennen, in der ich mich befinde.
Aus dieser abendlichen Lektüre darfst Du übrigens nicht schließen, daß ich über Büchern sitze. O nein, ich arbeite wie ein Pferd, bis zwei Uhr nachts zuweilen, und wie ich auf meine Lagerstätte komme, weiß ich am andern Morgen gar nicht mehr. Es ist eine Wonne, so zu leben. Es fliegt mir auch alles. So habe ich noch nie in Farben und Formen geschwelgt.
Ach Liebste –, eine Bitte von Deinem demütigen Harro! Versuche Dir auszudenken, daß das Braunecker Zeremoniell in mein Haus, fast hätte ich gesagt, meine Ruine, verpflanzt, Deinen untertänigsten Diener tief unglücklich machen würde. Die langen Mahlzeiten in der Zeit, wo die Arbeit am meisten fördert, das beständige Auf- und Abflirren von unbeschäftigten Lakaien in Schokolade- oder andern Farben! – Weißt Du, bei Euch sah ich sie gar zu oft, wie sie die Kastanien krummlehnten. Überlege Dir, Liebste, ob Du dies alles zu Deinem Glücke für unbedingt nötig findest. Ob Du Dir deklassiert vorkämest, wenn Dir einmal ein nettes, sauberes, freundliches Mädchen in einem weißen Häubchen die Schüsseln hereinbrächte? Wenn Dich aber nur die leiseste Furcht anwandelt, in diese Niederungen herabzusteigen, so will ich mich bescheiden. In einigem aber ahnt mir jetzt schon, daß ich stets hartnäckig bleiben werde. Das liegt schon daran, daß Du einen um sein Brot arbeitenden Mann haben wirst. Ich weiß wohl, daß Du mich gerne auf Daunen betten möchtest und jede Plage und Sorge von mir fernhalten und kein rauhes Lüftchen an mich heranlassen, wie Du ja jetzt schon Versuche machst.
Aber in mir ist etwas, was nur bei dem Knechtsschragen, auf dem ich immer noch liege, und im Kampf mit dem Sturmwind gedeihen kann. Laß Dir das alles durch Dein liebes Herz gehen, und das wird Dir das Rechte schon zeigen. Du hast ja von allen Menschen mich immer am besten verstanden, schon als Du ein kleines Kind warst und eigentlich das alles, was Du von mir hörtest, weit über Deinen Horizont gehen mußte.
Aber Du hattest eben den sechsten Sinn! Und namentlich für mich. Was sagst Du zu dem Plafond im Schmollzimmer? Ich habe mir Deinen Brief vom Frühling noch einmal geholt und habe daraus die Idee genommen. Den Frühling selbst zwar, in seinem blauen Mantel, so lieb mir das Bild ist – aber ihn an der Decke aufzuspießen, das widerstrebte mir. Er könnte einem doch da oben zu viel werden. So ist's eine Symphonie in blau geworden. Blau, blauer, am blauesten, sagte Dein Vater bei unsern Morgengängen an der Riviera. Blauer, abgetönter Himmel und darüber ein Flug Zugvögel, gegen die dunkeln Schwingen wird das Blau erst recht leuchtend. Und der Abschluß ein leichtes Goldgitter, über das ein Frühlingsregen emporquillt, Goldregen, Flieder, Apfelblütenzweige, ein glutiger Rotdorn. Ist Dir das nun so lieb? Um Deine Panneaux, soweit sie fertig sind, bitte ich, es wird gut sein, wenn ich sie zuweilen hinhalte, sie zu befestigen wage ich nicht, von wegen meiner Klackerei. Und nun meine ich, die Stücke schließen immer schmale holzgeschnitzte Bäumchen ab, nur wenig erhaben, die sich nach oben verästen, alles in Gold, und damit zur Decke überleiten. Dazwischen immer wieder die graugrüne Wandbespannung, damit alles nicht unruhig wird.
Wenn wir in den fertigen Räumen einmal halb so viel Genuß haben werden, wie es mir die Arbeit daran gibt, so werden wir nie nötig haben, länger als eine halbe Stunde zu schmollen.
Ich sehe mit Stolz, daß ich bereits den vierten Bogen ergreife. Nie habe ich noch an irgend wen einen Brief auf die dritte Seite des ersten Bogens gebracht.
Nimm's nicht allzu tragisch. Liebste, um was ich dich gebeten habe. Du sollst ja glücklich sein. Das ist die große Hauptsache. Und zeigt es sich, daß es ohne Schokoladene nicht geht und ohne den ganzen Train, den Du von Kind auf gewöhnt bist, so wird sich das auch finden. Nur in einem kann ich nicht nachgeben. Was meine Arbeit betrifft. Das wirst aber Du am allerwenigsten verlangen.
Leb wohl, Holdseligste, Süßeste! Wenn ich doch einen blauen Himmel malen könnte, so blau, so blau, wie ihn deine Liebe über mein Leben ausgespannt hat.
Dein Harro.
Brief der Fürstin von Brauneck an ihre Freundin Gräfin Effie Thara.
Meine liebe Effie!
Also Du hast auch schon ein Gerücht gehört und fragst nun, wie es denn möglich sei! Nun, ich muß Dir leider alles bestätigen ... Du wirst mir zutrauen, daß es mir darin wie in andern Dingen gegen die Einsicht gegangen ist. Du sagst, die Sache habe die Herrschaften so peinlich berührt, daß Du Dich beeilt habest, sie vorerst zu dementieren, bis sie sich an den Gedanken etwas gewöhnt haben. Nun, ich sehe nicht ein, was dabei herauskommt. Denn an der Sache selbst wird nichts mehr zu ändern sein. Der Fürst ist ganz verändert seither. Ganz eisern starr, und wie ich bemerke, kommt er immer mehr unter den Einfluß dieses zielbewußten Intriganten. Daß ich traurige Tage verlebe, wirst du mir glauben. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, nach Brauneck zurückzukehren, wo es mir jeden Tag geschehen kann, daß ich diesem Mann begegnen muß. Er sei zwar noch nicht in Brauneck gesehen worden, aber der Fürst reitet ganz offen jede Woche hinüber. Du hast mit Recht gesagt, daß es eine schwer erklärliche Kurzsichtigkeit war, daß wir Rosmarie nicht eine einzige Saison in Berlin gegönnt haben, wo sie doch andere Menschen kennen lernen, überhaupt hätte vergleichen können. Nun ist sie mit ihren neunzehn Jahren, wo andere erst aus der Kinderstube treten, schon fürs Leben festgelegt.
Ja, meine liebe Effie, nur eines möchte ich dazu sagen... Du ahntest nicht, wie schwer es gewesen wäre, Rosmarie nur wenigstens annähernd in eine gesellschaftsfähige Form zu bringen. Ihre Taillenweite beträgt achtundsechzig Zentimeter. Ich sage nichts weiter. Dann ihre Füße. Sie behauptet, nur sandalenähnliches Zeug tragen zu können, und so wandelt sie mit breiten, formlosen Latschen herum. Die Herrschaften sollen gesagt haben, sie habe einen wundervollen königlichen Gang. Wenn ein solcher Gang nur mit diesem Schuhwerk zu erkaufen wäre, so möchte ich darauf verzichten. Die Dame, die Ihrer Majestät Kleider schneidet, verriet mir auf flehendes Bitten ein Geheimnis, wie ich Rosmarie noch in erträgliche Form bringen könnte in kurzer Zeit. Sie müßte wenigstens sechs Wochen lang Tag und Nacht eine Corsage aus allerfeinsten Gummischnürchen tragen, das sei das einzige nach so langer Vernachlässigung. Aber wie brächte ich Rosmarie dazu? Sogar schwerlich nach einer gesellschaftlichen Niederlage, wenn sie die überhaupt merkte. Du ahnst also ein wenig die Schwierigkeiten, die ich mit meiner Tochter habe. Nun, als Künstlerfrau kann sie ja aussehen, wie sie will, und ihrem Manne wird sie ja auch so genügen. Er ist ja ganz verbauert. Es ist eigentlich schade um ihn. Früher war er trotz seiner Wunderlichkeiten doch ein Kavalier. Aber nun dieser lange Umgang mit Künstlern, Modellen oder wer weiß was, es ist ja wohl zu begreifen. Früher pflegte ihm auch etwas anderes zu gefallen. Im Juli soll die Verlobung veröffentlicht werden, bis dahin soll Rosmarie in Baden bei meiner Schwägerin Helene bleiben. Du kennst sie ja und ihre Originalitätssucht und wirst Dich nicht verwundern, daß sie der Sache bei ihrem Bruder auch gar keine Schwierigkeiten machte. Die Gute wird immer dicker und bekommt den Anflug eines tüchtigen Schnurrbärtchens. Augenblicklich steht sie sich sehr gut mit Rosmarie, die ihren Eigentümlichkeiten zu schmeicheln versteht. Darin ist Rosmarie überhaupt groß, sie hat sich sogar an mich gemacht, aber ich durchschaue sie eben doch zu gut und kann zu wenig vergessen, was sie mir alles hinterrücks zuleid getan. Und ins Gesicht. Das beliebt sie aber vollständig vergessen zu haben.
Hier bin ich ja eine Weile vor ihr sicher, ich habe Lenette bei mir, ihre Verlobung ist nur noch eine Frage der Zeit, allerdings erleben wir immer noch manches Aufregende. Ich habe die Pferde da und reite viel, Lenette und ich verkehren viel mit den Schwelms, die hier in der Nähe ihren Sitz haben. Dorthin reite ich, meist in Begleitung des jungen Arno Schwelm, der sehr amüsant ist. Er ist auch ein guter Schütze, und in Schwelm ist eine sehr schöne Schießbahn. Wir schießen oft, und ich komme ihm immer mehr nach. Neulich habe ich ihn sogar übertroffen. Wir schossen lange, ich ohne besonders gute Resultate. Da meinte er, ich schieße zu temperamentlos. Die Scheibe interessiere mich offenbar nicht genug. Ich sollte versuchen mir vorzustellen, daß ich anstatt nach der langweiligen Scheibe nach etwas schieße, was mich bedrohe, oder, lachte er, was ich hasse. Dem Betreffenden schadet es ja nichts. Er hat manchmal solche Einfälle. Du weißt, daß er großes, ja fast unheimliches Glück bei den Frauen haben soll. Von mehreren Duellen, die er gehabt hat, weiß man. Einmal saß er ja ein ganzes Jahr auf der Festung, die Geschichte wird aber nicht weiter erzählt. Er ist sehr hübsch, nur hat er zweierlei Augen, eins blau, eins braun, was seinem Gesicht etwas Zerrissenes gibt. Ich wundere mich, wie außerordentlich eifrig er auf seine täglichen Ritte ist, und ich muß sagen, ohne das Anregende und ein wenig Aufregende seines Umgangs käme ich hier um vor Langeweile und Herzenskummer. Lenettes Fata sind auch manchmal ermüdend mit zu genießen.
Aber ich vergesse zu sagen, daß ich nun nach seiner Anweisung mit Phantasieanschluß schoß und Treffer über Treffer hatte.
Meine neuen Pariser Frühsommerkostüme sind eingetroffen und im ganzen befriedigend. Zu manchem wird man freilich in Brauneck scheel sehen, wo man das Altväterische, Biedere liebt und einen am liebsten auf das Matronenhafte festnagelte. Nun, ich hoffe, nur kurz in Brauneck zu bleiben. Die Luft ist dort so tot und schwer. Jeder Gegenstand von Pietätsstrahlen umgeben und unverrückbar dort, wo er einmal sitzt. Und nicht einmal ein Auto habe ich noch, mit dem ich mich doch schnell einmal dieser Atmosphäre entziehen könnte. Und dann kommen die Verlobungsfeierlichkeiten und vermutlich einige offizielle Empfänge (fürchterlich langweilig und angreifend!). Ach, habe nur ein wenig Mitleid mit Deiner Charlotte.
Im Braunecker Schloß sind wieder festliche Vorbereitungen im Gange. Die Fürstin ist zurückgekehrt mit der Prinzessin, die sich im letzten Jahre so verändert hat, daß die Leute sie ungläubig anstarren, als sie nun mit ihrer Mutter vorüberfährt. – Kann das die Prinzessin Rosmarie sein, die wunderschöne junge Dame!
Und was noch seltsamer ist, die feinsten Nasen in Brauneck haben nicht bemerkt, was geschehen ist, bis ein schokoladebrauner Lakai bei den Honoratioren die Runde macht und ausrichtet: »Seine Durchlaucht lassen den Herrschaften mitteilen, daß sich Prinzessin Rosmarie mit dem Grafen Thorstein auf Thorstein verlobt hat.«
Dies ist eine überwältigende Neuigkeit. Dem Schokoladebraunen folgt bald ein Kindertrüppchen von Haus zu Haus, und die Frau Apotheker sieht man sofort im Visitenanzug zu der Frau Präzeptor, ihrer Intimsten, stürzen.
Fürst und Fürstin und die Verlobten nehmen am Dienstag, dies erzählt der Schokoladene auf Befragen, Besuche an.
Also das war das große Los, das der Ruinengraf gezogen! Von dessen Baueifer sich schon in der ganzen Umgegend Legendenkreise gebildet haben. Alles in Thorstein solle ja Gold und Marmor sein. Mit Gold sogar die Wände belegt, und eine ganze Horde Italiener arbeite drüben, die im Tag zehn Mark bekämen. Kein Mensch hat zwar noch den Bau gesehen, aber dadurch wird er nur noch großartiger.
Bisher war man geteilter Meinung gewesen. Entweder der Ruinengraf habe zwischen dem Steinwert einen in den Kriegsläuften verborgenen Goldschatz gefunden. Ja, diese Ansicht ist entschieden die populärere.
Andere, mehr realistische Naturen neigen zu der Annahme, der Thorsteiner habe das große Los gezogen. Denn woher sollte der arme Teufel von einem Ruinengrafen plötzlich das Geld haben?
Und ihm selbst hat man keine Verbesserung seiner Lage angesehen. Seine Lodenröcke waren noch genau so grün, und sein alter Filzhut schlug schon bald zum drittenmal in eine andere Farbe über.
Auch wollte man wissen, daß er bei dem Bau, selbst bei dem Behauen der Steine, geholfen habe, auch überall dabei sei, wo es eine besonders schwere oder heikle Aufgabe gebe.
All die vielen kleinen Fenster in den spitzgiebeligen Häusern sind zu Augen geworden, und jedem vorbeieilenden Lakaien folgt ein Kinderschwarm, und die Kühnsten schreien: Hochzeit! Hochzeit! Die sämtlichen Damen machen einander Besuche an diesem schönen, heißen Julimorgen, an dem die Sonne mit so goldenem Glanze die vier dicken Türme von Brauneck überschüttet. Und an keinem Fenster bleiben die kleinen Vorhänge, die man dort zu Lande Neidhammel heißt, unverrückt, als nun um zehn Uhr auf einem hohen leichten Kutschierwagen, dessen zwei schöne Goldfüchse er selbst lenkt, der Ruinengraf hereinfährt. Die meisten erkannten ihn übrigens erst, als er vorüber war. Denn auch der treue alte Filzhut und die Lodenjoppe war verschwunden, und in dem Diener, der hinten auf saß, konnte kein Braunecker den treuen Märt erkennen, der mit seinem Herrn nun so manche Wechselfälle mit erlebt hatte. Das Gefährt mit den Füchsen war ein Geschenk des Fürsten zum heutigen Tage; der Fürst wollte, daß sein Schwiegersohn im eigenen Wagen angefahren komme.
Der Fürst war Harro entgegengegangen – bis zur großen Pforte, die in die Waffenhalle führt und die nur bei Festlichkeiten benützt wird. Die Herren sehen sich ja jede Woche, aber mit dem heutigen Tag tritt doch ein Neues in ihr Leben ein, und als sich Harro herabneigte, um dem Fürsten die Hand zu küssen, legte der ihm die Hand auf die Schulter, und seine schönen dunkeln Augen wurden feucht.
»Du weißt, Harro, wie du mir danken kannst.«
Gestern hatten sich Rosmarie und ihre Stiefmutter erst wiedergesehen. Rosmarie war der Fürstin mit klopfendem Herzen, aber doch mit einer leisen Zuversicht entgegen gekommen. Mama mußte doch bemerkt haben, welch unsägliche Mühe sie sich gegeben hatte, ihr in allem entgegenzukommen und es bei ihrem Vater so viel als möglich nach ihren Wünschen einzurichten.
Und die Fürstin war auch fast liebenswürdig gewesen. Wie sie sich mit Harro stellen würde, das wußte freilich noch niemand. Weder Rosmarie noch ihr Vater sind ganz ohne Sorge darüber.
Und dann hat die große Freude bei Rosmarie alles andere verschlungen. Heute kommt er, das schreibt ein goldener Sonnenpfeil an die Wand ihres Schlafzimmers, das rauscht in der Linde, jedes glitzernde Wellchen des Flusses im Tale trägt es auf seinem Rücken und gibt es dem nächsten weiter. Die Schwalben, die wie dunkle Pfeile zu vielen Hunderten die Schloßmauern umschwirren, rufen es einander schrillend zu.
Wie der Morgenwind heute mit dem grünen Busch auf dem roten Turm spielt, daß es aussieht, als habe er seine Feder noch einmal so keck aufgesetzt, und dazu blinzelt sein glänzendes Auge unter dem schweren Lid hervor: Ich weiß, wer kommt! Die ganze Luft ist so voll Freude, daß man meint, man atme sie ein, die Seligkeit. Ach, daß es heute auch traurige und einsame Menschen gibt, die auf niemand warten können als vielleicht auf den Tod!
Lisa muß sich reichlich beschenken lassen, denn ein bißchen Freude soll doch jedermann haben, mit dem Rosmarie heute in Berührung kommt, sonst bedrückt sie die eigene Seligkeit zu sehr.
Und so kam sie zum Frühstück, wo ihre Eltern sie erwarteten, in ihrem lichten, zarten Batistkleid, das unter der Brust von einer blauen Seidenschleife zusammengehalten wird. Sie kam, als bringe sie den ganzen Sommertag in das hohe, schattige Gemach, in dem die Vorhänge gegen die Sonne heruntergelassen sind.
Die Fürstin sah auf, sie sieht fahl und verlebt aus und abgespannt. Bei Rosmaries Anblick wird sie fast graugelb. Des Vaters Augen leuchten auf. Haben denn die alten Wände wohl je so etwas Schönes gesehen? Die vielen, gemalten Augen schauen von den Wänden herab, manche in tiefem Schatten, manche von einem Sonnenpfeil erhellt.
Es ist eine Dame da im steifen Silbermieder, mit imponierender Hakennase, deren Augen so gerichtet sind, daß sie den Beschauer verfolgen. Hat sie denn je so gestarrt wie heute, die alte Brauneckerin, die die kalkweißen Hände so feierlich auf ihr silberbeschlagenes Buch gelegt hat? Sieh sie dir an, alte Dame, das letzte, das holdeste Kind von Brauneck! Rosmarie küßt ihrer Mutter die Hand und lächelt sie an mit dem suchenden Blick, der nach ein wenig – nicht Liebe, nur Duldung verlangt. Was sie aus den Augen trifft, ist etwas Unergründliches, etwas, was sie noch nie gesehen hat.
Dann beut sie ihrem Vater die Wange dar, daß er sie küsse, ein wenig muß sie sich zu ihm herabneigen, sie ist ja größer als er.
Es trägt ihr sofort die Bemerkung ihrer Mutter ein: »Rosmarie, du bist wieder gewachsen, nun mußt du dich nur mehr vor den Kronleuchtern in acht nehmen!«
»Das will ich tun, Mama; ich kann ja Harro vorausgehen lassen. Wo er durchkommt, komme ich auch durch.
Vater, hast du schon den Duft von der Linde gespürt, er hüllt das ganze Schloß ein, sie blüht auf der Nordseite, o wie es darin summt und orgelt.«
Sie setzt sich an ihren Platz ihrem Vater gegenüber neben der Fürstin und fängt an, den goldschimmernden Honig auf ihr Brötchen zu streichen, und ihr Vater sieht ihr mit Freuden zu, wie es ihr so herrlich schmeckt.
»Iß recht viel davon, der Honig paßt so recht für dich, dann wirst du recht klar und süß.«
Keins hat noch mit einem Worte des großen Ereignisses von heute gedacht, bis die Fürstin beginnt.
»Nun, also um zehn Uhr soll der Bräutigam kommen, und um halb zwölf ist der Empfang. Gott, wie langweilig werden die Leute sein in ihrem Bestreben, immer dasselbe mit ein bißchen andern Worten zu sagen.«
Der nörgelnde Ton verstimmt den Fürsten. Er steht sehr schnell auf: »Ich habe mit dem Herrn Domänenrat zu sprechen. Nun, Rosmarie, ist das schon der ganze Toilettenzauber, oder kommt noch etwas Schöneres?«
»Das ist nur mein Morgenkleid, Vater, es kommt noch etwas Schöneres.«
Die Fürstin sagt: »Es hängt ja doch alles an dir herunter, da ist schwer unterscheiden. Dein Vater ist in Toilettendingen sonst nicht so kindlich. Nun, jetzt habe ich ja nicht mehr nötig, mich so darum ansehen zu lassen, wie du mit dir umgehst.«
Der Fürst verschwindet eiligst. Wie er diesen Ton haßt! Kann sie das Kind denn nicht heute in Ruhe lassen!
Rosmarie ist rot geworden, sie weiß nur zu gut, wie sie ihre Stiefmutter mit ihrer Hartnäckigkeit geärgert hat, die das ja doch nicht einsehen kann, was sie all die Jahre im tiefsten Herzen bewahrt hatte.
»Mama, ich kann dir doch nicht dankbar genug sein, daß du mich gewähren ließest! Ich habe erst so recht begriffen, wie unangenehm das dir sein mußte. Und ich möchte jetzt nicht anders sein.«
Die Fürstin zuckte die Achseln: »Nun, meine Aufgabe ist ja jetzt zu Ende.«
Es ist sehr still in dem hohen kühlen Raum, nur ein großer Nachtfalter, den die Sonne aufgestöbert hat, schlägt mit seinen Flügeln gegen die Vorhänge.
Rosmarie zerbricht sich den Kopf, was sie Mama Versöhnendes sagen könnte. Sie ist ja heute die Goldmarie, und wie undankbar wäre es, wenn sie nicht versuchen würde, von ihrem Glücksreichtum andern mitzuteilen. Und Mama sieht heute so seltsam aus, ganz fahl, mit roten Flecken unter den Augen. –
Rosmarie denkt an den Empfang, der Harro wohl bevorsteht, wenn Mama so ungnädig bleiben wird. Da klopft es, ein Lakai bringt einen großen in Seidenpapier eingeschlagenen Gegenstand. »Für Ihre Durchlaucht Prinzessin Rosmarie abgegeben worden.« Rosmarie entfernt die Hüllen. Es ist ein großer taufrischer Strauß. Es entfährt ihr ein leiser Freudenschrei. Es sind nur rosa Federnelken und zarte, bräunliche und grünliche Gräser, von einem alten, blauseidenen Band umwunden.
Sie kennt die Stelle, wo die Blumen standen, die lichten Eichen, wo sie am vergrasten Wege stehen, das Haarband, das das Seelchen verlor und Harro irgend wann einmal gefunden haben mußte, denn es war abgeblaßt und mit Tauflecken bedeckt. – Und jene Stunde des Lilientages, als sie ihm ihre kindliche Liebeserklärung auf Erdbeeren aufgespießt hatte.
So muß er denn am frühen Morgen dort gegangen sein und hat sie gesammelt, die Kinderfreuden, von dem ersten, großen Festtage ihres Lebens. Rosmaries graue Augen werden feucht. Die ganze Welt hat sie vergessen, vergessen, daß neben ihr der lauernde Haß sitzt und der blasse, quälende Neid. Sie hält ihre Blumen in der Hand und neigt sich darüber, die Federkronen mit ihren Lippen zu berühren, und über ihre Wangen fliegt der süßeste Rosenhauch. So schön, so selig still ist sie, wie sie den Gruß aus dem Kinderland in ihren bräutlichen Händen hält.
Plötzlich schreckt sie zusammen, die Fürstin hat der Teemaschine, unter der immer noch das bläuliche Flämmchen steht, einen Ruck gegeben und beugt sich darüber, das Wasser herauszulassen. Sie selbst trinkt ja immer viele Tassen Tee stärkster Sorte, dessen Bereitung sie niemand anvertraut: »Du hast ja noch gar keinen Tee gehabt, Rosmarie.«
Die Prinzessin legt ihren Strauß vorsichtig auf den Tisch: »Wenn du so freundlich sein willst, Mama, aber nicht so stark, gib mir Wasser hinein.« Und dabei lächelt sie noch einmal und errötet, es mag sie irgend ein Gedanke gestreift haben, und hält ihre Tasse hin. – Die Fürstin beugt sich vor, und in der nächsten Sekunde schießt ein siedender Wasserstrahl auf ihre beiden nackten Arme, über die sofort ein dunkelrotes breites Band läuft. Sie stößt einen Schrei aus. Die Fürstin hebt ein aschfahles Gesicht, in dem zwei Augen in rötlicher Glut funkeln:
»Ach, es ist die Maschine umgekippt.«
Rosmarie ist weiß geworden, nur ihre Augen sind dunkel, sie muß die Zähne zusammenbeißen vor Schmerz und bringt kein Wort hervor, nur einen Blick der stolzesten Verachtung. Die Brauneckerin, die stolze, königliche ist plötzlich aus der sanften, träumend seligen Jungfrau erwacht. Sie ergreift mit zitternden Händen ihre Blumen mit einem letzten Blick, als wollte sie sagen, ich vertraue dir nicht einmal die armen Blumen an, – dann geht sie hinaus.
Die Fürstin, die aufgesprungen war, sank wieder in ihren Stuhl zurück und starrte mit zuckenden Lippen vor sich hin. Einen Augenblick brannte noch ein wilder Hohn auf ihrem Antlitz, dann verzuckte die Glut, und sie schlug die Hände vors Gesicht in einem plötzlichen Erwachen.
Die alte Brauneckerin schien sich in ihrem ganzen Körper nach ihr herumzuwerfen, mit samt ihrem silbernen Buch. Ein seltsam fremder Hauch war in das vorher so morgenfreundliche Gemach gekommen. Auf ihrem Rücken fühlte die Fürstin noch die gemalten Augen ihr folgen, als sie mit wilden Schritten das Zimmer verließ.
Rosmarie war zu ihrer getreuen Lisa geeilt, die eben ihr weißes Seidenkleid über den Arm hängen hatte: »Lisa, kannst du mir helfen, – ein Ungeschick – ich leide sehr... den Herrn Hofrat dürfen wir nicht holen, sonst merken sie es alle... Nimm mir die Blumen ab, o Gott, weißt du, was man tun könnte?«
Die Lisa entsinnt sich zum Glück, daß sie die Schwester Eva hat ins Schloß hineingehen sehen, die Lene hat sich ja gestern in der Küche gebrannt, und sie eilt schreckensbleich davon.
Rosmarie hat sich auf ihr Bett geworfen und ihr Gesicht in die Kissen gedrückt. Da kommt schon die junge, schüchterne Diakonissin, die Gemeindeschwester, die in ihrer blauen Schürze alles Nötige trägt.
»Schwester, hat Sie gewiß niemand gesehen? Sind Sie die hintere Treppe gekommen?«
Nun ist Rosmarie nicht mehr blaß, ihre Wangen sind dunkelrot, ihre Lippen zucken fortwährend, und in einer Stunde soll der Bräutigam kommen.
Schwester Eva macht mit geschickten energischen Händen den Verband.
»Aber den Herrn Hofrat muß man es doch sehen lassen, Durchlaucht, ich wäre sonst nicht ruhig.« »Heute abend, ja.«
Und so geht denn die Schwester.
»Solch ein hilfreicher Engel,« flüstert Rosmarie. »Das muß das zweitschönste sein, was man werden könnte. Lisa, wenn die Menschen so nach einem verlangten und die Hände nach einem ausstreckten und auf die Schritte horchten! Die Schwester Eva kam wie ein Himmelsbild herein. Und nun ist's doch ein wenig besser.«
»Ach, Durchlaucht, nun gerade heute,« schluchzt die Lisa.
»Wir haben noch Zeit, angezogen bin ich im Augenblick, sieh nach meinem Kleid, das hat ja kurze Ärmel, und wenn jemand klopft, so sage, daß ich bei der Toilette sei. – Es darf es niemand wissen – niemand.«
Und nun liegt sie ganz still auf ihrem Bett und hält ihre verbundenen Arme über den Kopf, weil so der Schmerz leichter zu ertragen ist, und über ihre Wangen fließen große Tränenperlen.
Und Lisa muß sich eilen, und ihre Nadel fliegt durch Seide und Spitzen. Und ihre junge Herrin tut ihr so leid, die nun an ihrem schönsten Tag jeden Atemzug erkaufen muß mit Leiden. Aber in Rosmaries Herzen ist ein wilder Zorn und eine Empörung: zu gut hat sie den Blick der Fürstin gesehen. Dann steigt etwas anderes auf, ein ungeheures Erbarmen mit ihrem Vater, der an diese Frau gefesselt ist.
Der arme Vater! Was muß er wohl schon in der Stille gelitten haben! Und jene Sturmnacht taucht wieder vor ihr auf. Wenn jetzt ein Kind da wäre, von dieser grausamen Frau ein Sohn! Und Rosmarie fragt sich, ob sie das Vorgefallene verschweigen soll? Aber nur einen ganz kurzen Augenblick, und dann weiß sie, daß sie es sich selbst schuldig ist, zu schweigen. Und eine eisige Verachtung für ihre Stiefmutter fällt auf sie.
Ausgelöscht ist für den Augenblick alles, was sie in Monaten erkämpft hat an Mitleid, an Versuchen zu verstehen und zu vergeben.
Wie leicht und einfach war ihr alles erschienen, als sie in ihrem überströmenden Glücke dieser Frau ein paar Almosen der Liebe und Güte zuzuwerfen beschloß. Als sie auf das Grab des Hasses das Kräutlein Liebe pflanzen wollte, wie ihr selbst vergeben worden war. Damit, daß sie den Mantel des Schweigens über alles breitet, meint sie mehr als genug getan zu haben. Und die Fürstin soll fühlen, daß sie ihr wohl ein paar Stunden oder Tage bittern Schmerzes zufügen kann, aber doch nicht an ihr innerstes Herz zu rühren vermag.
Der giftige Hohnblick – nun, für heute habe ich dir deine Freude doch verdorben! Nein, diesen Triumph soll sie nicht haben.
Und Rosmarie erhebt sich plötzlich, aber sie muß erst lernen ruhig stehen und ihre Arme herabhängen zu lassen. Und Lisa betrachtet sie fast mit Furcht. Wie sie da auf und ab geht und vor dem Spiegel steht und versucht, selbst das verräterische Zucken um ihre Mundwinkel zu bekämpfen. Und ihr kommen doch wieder die Tränen, wenn sie denkt, wie wunderschön sie sich jetzt freuen könnte!
Auf das seidene Kleid, das ihr nun Lisa überwirft, fallen auch noch ein paar Tränen.
Der Fürst hat schon zweimal geklopft und ist abgewiesen worden. Heute muß sie sich ja ausgiebig schön machen, die Rosmarie! Und er lächelt ein wenig. Das tun wohl die Mädchen mit besonderem Eifer, wenn sie es am wenigsten nötig haben. Und als er zum drittenmal kommt, geht endlich die Türe auf, und seine Tochter kommt heraus. Ja, sie ist schön, wunderschön, aber nicht, wie sie heute morgen war.
Ihr Antlitz ist blaß und ihre Lippen sind dunkelrot und ihr weißes Kleid ist an ihr wie Schwanengefieder. Und sie trägt in den goldenen Haaren das alte Stirnband.
»Rosmarie, hast du eine Ahnung, wie Mama heute sein wird? Ihre Stimmung heute morgen war nicht die beste. Ich besorge wegen Harro...«
»Oh, du hast nichts zu fürchten, Vater,« antwortet sie, die plötzlich fühlt, daß sie heute eine Waffe gegen ihre Mutter in der Hand hat. »Gar nichts zu befürchten, bitte, gehe ihm entgegen, Mama und ich werden euch im blauen Saal erwarten.«
Und sie nimmt ihr Schwanengefieder zusammen und rauscht an ihm vorüber, den langen Gang hinunter, zwischen den vielen gemalten Augen, und jedesmal, wenn sie an einem der tiefen Fenster vorbeikommt, wo der Sonnenschein in schmalen Tafeln auf dem Boden und den Wänden liegt, leuchtet die weiße Gestalt mit dem stolz getragenen goldenen Haupte auf.
Und er sieht ihr nach, bis sie verschwunden ist.
Im blauen Saal, wo das große Bild von Rosmaries Mutter hängt, ist Mama noch nicht. Einen Augenblick steht sie vor dem Bilde, und ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen.
Du hättest dich heute gefreut mit deinem Kinde, Mutter!
Da rauscht es hinter ihr. Die Fürstin in feierlicher Toilette, und beim ersten Blick sieht Rosmarie, daß sie Rot aufgelegt hat. Rot und Weiß, und es ist sehr kunstvoll gemacht, und sie glitzert von allerhand feinem Schmuckwerk.
Eine Sekunde messen sich die beiden mit den Augen, und dann fallen die Blicke der Fürstin zu Boden, und Rosmarie sieht, wie der Diamantstern an ihrer Brust blitzende vielfarbige Lichter wirft. Darunter muß ein sehr unruhiges Herz schlagen.
Rosmarie weiß, daß sie heute nichts mehr von ihr zu fürchten hat.
Und nun rollen Räder über den Hof, eine holde Röte steigt in ihre Wangen. Im Augenblicke ist sogar jeder Schmerz ausgetilgt.
Ihre grauen Augen richten sich leuchtend nach der Türe – Schritte – es stürzen von neuem Freudenbäche über ihre Seele. Und dann hält sie Harro in seinen Armen, ihre Augen tauchen ineinander, und die Welt ist für den Augenblick vergessen.
Harro spricht kein Wort, aber man kann sich sonnen in seinen Augen. Wie Harro die Fürstin begrüßt, zuckt einen Augenblick ein leichtes Erschrecken über sein Gesicht.
Wie man erschrickt und es zu verbergen sucht, wenn man einen Menschen wohl verlassen hat und findet ihn wieder vom Tode gezeichnet. Der erste Eindruck ist immer der erschreckendste, dann findet man die alten Züge, und vielleicht wundert man sich nach einer Weile, daß man so erschrocken ist.
Und die Fürstin ist gnädig, sehr gnädig. Nicht einmal herablassend, sondern ganz so, wie sie nur hätte sein können, wenn Harro der allererwünschteste Schwiegersohn gewesen wäre. Den Fürsten wundert es sehr, und der denkt, wie so oft: Die Damen sind doch immer überraschend, und sie auszukennen und im voraus zu berechnen, das wird wohl nie ein Mann fertig bringen. Aber er ist doch sehr erleichtert.
Und dann muß er seine Tochter von der Seite betrachten und hat wieder das sonderbar drückende Gefühl, als habe er sie so, eben so, schon einmal gesehen, und nun müsse es sich endlich offenbaren, wem sie eigentlich gleich sehe.
Dann ist feierlicher Empfang, und Rosmarie muß vielen Leuten die Hand geben und sie sich schütteln lassen und leidet große Pein, daß es ihr manchmal ganz schwarz vor den Augen wird. Sie lächelt nur noch mechanisch. Und die holde bräutliche Seligkeit von heute morgen ist von ihrem Antlitz verschwunden.
Endlich ist auch dies vorüber, und Rosmarie geht an Harros Arm langsam hinter ihren Eltern her durch den Geweihgang, der jetzt in tiefem Schatten liegt, ins Eßzimmer.
Harro flüstert: »Was ist dir, Holdseligste? Es ist etwas Fremdes an dir, ich sah es gleich, – und so schön! Ich erschrak fast, als ich dich sah.«
Rosmarie erhebt ihre Augen zu ihm und lächelt das allerschönste Lächeln, und dazu werden die Augen naß.
»Es ist nichts Fremdes an mir, Harro, nur ist alles so traumhaft und unwahrscheinlich; ich meine, ich müsse aufwachen und wieder das häßliche Entlein sein. Ach, Harro, ich danke dir, ich danke dir! Ach, ohne dich wäre ich so arm.«
»Nein, Seele, du verbirgst mir etwas, du leidest.«
»Schweig, Harro, ich bitte dich... Es ist nichts. Nur ein kleines Ungeschick von heute morgen... meine Hände darfst du nicht anrühren, Liebster... aber bitte, verrate es dem Vater nicht. Und bis morgen ist's vorbei und gar nicht wert, daß man davon redet.«
Sie sind schon im Eßzimmer, das nach Rosen duftet und so köstlich kühl ist, und wo die gemalten Augen auf sie warten. Sie sind heute allein, nur die vier Menschen, das festliche Diner wird später sein. Rosmarie und ihr Bräutigam haben sich so lange nicht gesehen, und darum soll ihnen dies erste Beisammensein nicht gestört werden. Harros Stirn hat sich umzogen. Er muß ihr ja den Willen tun und sie schweigen lassen. Ihre Augen sehen ihn so flehend an.
Rosmarie hat ein wenig Wein bekommen und blüht plötzlich auf wie eine Rose, und ihre grauen Augen haben Feuer und einen Glanz, der fast erschreckend ist.
Aber der Fürst muß ihr doch zuflüstern:
»Rosmarie, nicht alle Teller an dir vorübergehen lassen, man lebt doch nicht ganz allein von Honig und Liebe.«
Es wird noch stehend eine Tasse Kaffee getrunken in der Fürstin Zimmer: wie gut Harro von früher her das ganze Braunecker Zeremoniell kennt, und welch ein Schauder ihn bei allem Bräutigamsglück ergreift, als er sich nun selbst darin verfangen sieht. Wie gerne hätte er jetzt Rosmarie in die Arme genommen, wäre mit ihr in das alte Lernzimmer gegangen und hätte versucht, ihre Leiden zu erleichtern. Aber er muß seine Kaffeetasse balancieren und mit der Fürstin Konversation treiben. Und nun wird ihn der Fürst zu einer Zigarre entweder in der Sommerstube oder auf dem Schießplatz, dort ist's jetzt am kühlsten, auffordern. Die Damen bleiben zurück und verschwinden. Das ist alles wie auf ewige Zeiten festgelegt. Und Harro fragt sich, ob der Fürst als junger Mann nicht auch darüber das Nervenkribbeln bekommen habe. Es fällt ihm plötzlich ein, daß die alten Germanen zuweilen ihre Bräute zu rauben pflegten, und er kann ihnen eine leise Anerkennung über ein so summarisches Verfahren nicht versagen.
Es geht alles nach den altbewährten Braunecker Regeln. Rosmarie geht in ihr Zimmer, und Harro raucht mit dem Fürsten eine nachdenkliche Zigarre, und sie besprechen die Dauer der Verlobung. Der Fürst ist für nächsten Sommer. Dann ist Rosmarie zwanzig Jahre alt. Ein Jahr ist ja eigentlich zu lang.
»Harro, du mußt selbst einsehen, daß bei Rosmaries zarter Konstitution doch das zwanzigste Jahr unbedingt erwartet werden muß. Die Zeit wird ja schnell herum sein.«
Alle älteren Leute, an denen die Jahre schon mit so unheimlicher Schnelligkeit vorüberzueilen beginnen, sind der Jugend gegenüber, für die ein Jahr eine so weite Reise ist, mit diesem Trost bereit. Harro kann nicht viel dazu sagen. Es widerstrebt ihm auch, jetzt schon als Fordernder aufzutreten.
Nun, da hätte er mit seinem Bau nicht so zu eilen brauchen, keine vier Stunden Schlaf hat er sich gegönnt, und seine hohe Gestalt ist ganz mager darüber geworden.
Überhaupt ist es ihm, als legten sich ihm wahre Zentnerlasten auf seine Schultern, da nun der Fürst den »durchaus nötigen« kleinen Wagenpark erörtert und er mit leichtem Angstschweiß bedenkt, wie er nur die äußeren Bedingungen für das alles beschaffen soll. Und noch immer hat er gehofft, den Haushalt auf Thorstein selbst bestreiten zu können. Rosmarie mag ja ihre Toiletten, und was alles dazu gehört, selbst besorgen; als Rosmaries Pensionär leben zu müssen, das ist eine Pille, die er noch nicht herunter gebracht hat. Und Porträtmalen, durch das er ja viel verdienen könnte bei all den Beziehungen, die er bekommen würde, das wird der Braunecker Standpunkt auch nicht ertragen.
So bleiben ihm nur seine Bilder und vielleicht hie und da eine plastische Arbeit zu verkaufen. Und es ahnt ihm schon, daß er um jedes Bild, das er hergeben wollte, mit Rosmarie einen Kampf haben werde.
Sie pflegte jeden Verkauf mit Entrüstung aufzunehmen. Nur durch die Notwendigkeiten des Baus konnte sie überwunden werden. Er stöhnt innerlich, während der Fürst ahnungslos und in behaglicher Breite die Notwendigkeit von mindestens, allermindestens vier Wagenpferden, zwei Reitpferden, zwei Arbeitspferden erörtert.
Und der Dank für das schöne Geschenk, das ihn heute morgen überraschte, bleibt ihm fast im Halse stecken. Rosmarie, dein Geldsack! Muß dein armer Harro ihn wirklich durch allen Schlamm schleppen?
Dabei fühlt er sich doch als Undankbaren, auf den so viel Güte gehäuft wird, und fast wie ein überfüttertes Kind, das nach dem immer wiederkehrenden süßen Breilöffel ausschlägt.
Endlich bemerkt der Fürst selbst den Druck, der auf ihm liegt, und denkt: Natürlich. Ein Verliebter. Und sie wollen allein sein, die beiden.
Und er sagt lächelnd: »Wir fahren nach dem Walde, um fünf Uhr, wenn die größte Hitze nachgelassen hat, und ich nehme die Fürstin auf mich, wir gehen vom kalten Brunnen nach den lichten Eichen, – natürlich, wenn es der Fürstin nicht zu viel wird, sie liebt das Spazierengehen nicht. Aber ihr geht dorthin, und der Wagen kann euch dort abholen.« –
Harro muß nun seine freudige Zustimmung ausdrücken, obgleich er nicht ohne Schauder an die Umständlichkeit denken kann, mit der ihm ein kurzer, gemeinsamer, von hinten beaufsichtigter Weg gewährt wird. Himmel, und das noch ein Jahr! Die Ungeduld zerreißt ihn fast. Zu den Geduldigsten gehört er ja ohnedies nicht. Aber häßlich wäre es, den Fürsten, der sich wohl als überaus weitherzigen Beschützer der Liebenden fühlt, zu kränken. – Fürs ganze Leben vertraut man sie mir an, ich kann mit ihr tun, was ich will, ihr langsam jede Lebensfreude nehmen, ihr das Herz brechen, aber jetzt eine halbe Stunde mit ihr in der köstlichen Hitze unter der blühenden Linde zu sitzen, auf dem Lindenstamm, – das vertraut man mir nicht an. Und sie leidet, die Sache ist nicht so geringfügig, wie sie behauptet.
Es wird endlich wahr. Sie fahren in den Wald, der Fürst und Harro mit den neuen Goldfüchsen, und der Fürst sieht mit kritischen Augen zu, wie Harro die Zügel führt, und kann nach kurzer Zeit seine ehrliche Anerkennung nicht unterdrücken.
»Man meint, du habest nie etwas anderes getan, Harro, als die Zügel geführt.«
»So etwas vergißt man doch nicht, Vater.«
»O doch, aber du kannst, scheint es, alles.«
Harro lachte. »Nein. Aber wenn man überhaupt etwas kann, dann kann man immer vielerlei, hab ich gefunden. Es sind übrigens prächtige Gäule. Mein Märt bringt den Mund nicht mehr zusammen, er ist ein Grinsen. Und die Pflege, die sie bekommen, wird sehr gut sein. Märt ist übrigens auch einer, der verschiedenes kann.«
»Nun, wenn er zuverlässig ist, kannst du ihm wohl am besten die Aufsicht im Stall übertragen, auf dem Kutschierbock macht er sich doch nicht gut. Sein Aussehen, auch wenn er gut angezogen ist, wirkt doch ein wenig gar zu grotesk.«
Harros Stirn hat sich schon wieder recht umwölkt, aber da ist zum Glück der Wald, und sein herrlicher kühler Atem weht ihnen entgegen. Noch ein paar Minuten traben die Pferde über den weichen Waldboden, ein leuchtend blau und weißer Nußhäher fliegt über den Weg, und der Fürst hat wieder Gelegenheit, Harros Zügelführung zu bewundern. Und dann hält der Wagen.
Der wenig dekorative Märt hat unter der breiten Eiche gewartet und bekommt nun die Zügel, und Harro kann den Damen beim Aussteigen helfen. Es geht ein breiter grasiger Weg durch den Wald, der hier gemischte Bestände hat. Große herrliche Buchen, mit Stämmen wie graue Marmorsäulen, über die an der Nordseite ein grünlicher Hauch wie die allerschönste Patina läuft. Und hohe Tannen mit langen Armen wie mit deutenden Händen dazwischen. Der Weg senkt sich ein wenig nach Osten, und wo ihn die Zweige abschließen, da ist sein Ende so heimelig, so hold umschlossen, als führe kein Weg mehr hinaus in die hastende, unruhige Welt. Diesen Weg, der aus unbekannten Gründen »das Gloria« heißt, lieben alle, und der Fürst hat einst dahin mit sieben Jahren seinen ersten weiten Ausritt gemacht, er kennt jeden Baum und kämpft mit seinem Forstmeister um ihre Erhaltung über die Zeit hinaus.
Und nun gehen Harro und Rosmarie über die freundlichen Sonnenflecken auf dem grünen Teppich dahin. Die hohen blassen Waldglocken, die am Wege stehen, nicken ihnen zu, die Waldtäuber rufen einander, und der Nußhäher wie ein lebendiger Edelstein flirrt vorüber.
Die alten Herrschaften sind zurückgeblieben, und nun schließen bald die Zweige sie ein.
Die beiden hohen Gestalten gehen nebeneinander. Harro fürchtet Rosmarie zu berühren oder ihr den Arm zu reichen, ehe er weiß, wo sie verletzt ist.
»Liebste, sieh nicht immer hinweg, laß mich in deine Augen sehen. Mein Armes... ist es noch schlimm?«
»Nicht davon reden, Harro! Du sollst mir lieber sagen, was dir ist. Ich sehe eine Falte. War es dir nicht recht, daß Vater dir die Füchse sandte? – Ich erschrak ein wenig, als er es mir sagte, aber es sollte auch eine Überraschung für mich sein.«
»Du wirst mich doch nicht für so undankbar halten; die Pferde sind sehr schön.«
»Ich fühl es doch, es ist dir etwas nicht recht gewesen?«
»Liebste, warum sollen wir uns diesen wunderschönen Tag vergällen?«
Über Rosmaries Antlitz zuckt es bei seinen Worten. Ja vergällt! Aber das soll er nicht mit erleiden. Und nun legt er seinen Arm um ihre Schultern, nachdem er vorher mit einem Blick nach hinten sich vergewissert hat, daß eine freundliche Bodenwelle sie von den Nachkommenden abgeschlossen hat.
»Tu ich dir so nicht weh, Liebste?«
»Nein, aber Harro, ich sehe deutlich, es hat dich etwas bekümmert, waren es die Pferde? Mama war doch sehr angenehm, so wie sie nur überhaupt sein kann?«
»Über ihren Anblick bin ich erschrocken, greulich ist auch die weiß und rote Farbe, die sie im Gesicht trägt. Wie eine bemalte Holzfigur, fürchterlich!«
»Ich glaube, sie findet es schön! Was hat Vater mit dir geredet? Ich sagte ihm, du würdest über sein Geschenk erschrecken. Du hättest doch lange gern ein Reitpferd gehabt, aber da es ja nicht von leeren Farbentuben und durchrissenen Papierkuverts leben könne, könntest du es nicht haben. Aber er lachte mich aus und sagte: Du wüßtest schon, von was ein Pferd lebe.« –
»Ja, und von was sechs, nein acht Gäule leben!« grollte Harro. »Rein kahl auffressen werden sie mich.«
»Acht Gäule! Aber es sind doch nur zwei!«
»Liebste, ich bin doch heute belehrt worden, daß das mindeste, was du verlangen kannst, acht Gäule sind.«
»Ich verlange? Acht Gäule!«
Rosmarie sieht ganz weiß und schreckversteint aus. Da lacht er hell auf. Wie das aus seiner breiten Brust herauftönt. Mit einem Schlag ist die Wolke von Stirn und Augen verschwunden, und der helle Sommertag lacht aus ihm heraus.
»Nun ist mir's wieder wohl. Alle Sorgen soll der Teufel holen! Ach verzeih, man wird so sehr ursprünglich, wenn man wie ich zwischen Maurern, Kübeln und Leitern lebt. Nein, nicht einmal mich haben die acht Pferde so fassungslos entsetzt. Du mußt eben versuchen, dem Vater so nach und nach eins abzuhandeln.«
Sie lächelt auch wieder, aber noch ein bißchen verweint und bittet:
»Ein Reitpferd für dich, Harro –«
»Und eins für dich!«
»Ach, nicht für mich, du weißt, ich mache mir aus dem Reiten nichts. Du willst ja nur gerne so früh am Morgen reiten, und da ist Schlafen am allerschönsten.«
»Ganz wie du willst. Aber nun wollen wir von etwas anderem reden. Es ist ja eine Schande unter den Zweigen da! Hier ging ich heute morgen, als die Sonne aufging und ich deine Blumen suchte. Da dachte ich auch nicht, daß wir auf diesem Wege miteinander von Gäulen handeln würden.
Aber siehst du, ich bekam einen Schrecken. Den ganzen Braunecker Train sah ich nach und nach bei uns einrücken. Ich weiß, Liebste, du willst mich in Watte packen, aber ob da nicht eine richtige Sorgenlast dabei für mich herauskommt?«
»Harro, ich bin nun gar nicht mehr so dumm, wie du glaubst. Ich habe doch so viel gelernt bei Tante Helen. Nein, du mußt nicht lächeln. Hör mich doch an. Vater hat für mich das Vermögen meiner Mutter ganz unberührt gelassen, alle Zinsen dazu getan ... aber Harro, lache doch nicht immer, wenn ich einmal richtig praktisch bin.«
»Es ist so wundervoll, dich hier im Gloria von Zinsen sprechen zu hören! Es ist eine Komik dabei. Weißt du, was ein Zins ist?«
»Doch,« erklärt sie stolz. »Ich habe bei dem Herrn Kantor Zinsrechnungen gemacht, richtig herausgebracht habe ich sie allerdings nicht: aber Herr Kantor brachte es allemal wieder zurecht, und das könntest du doch auch, du kannst ja alles! Und Vater meint, wenn ich nicht zu extravagant sein wollte und es nicht mit dem Pariser Toilettenwahnsinn bekäme, so könnten wir sehr gut davon leben.«
Harro pflanzte sich vor sie hin in seiner ganzen Länge. »Und mich hast du dir ausgedacht als deinen Pensionär, den Prinzgemahl und Kuponabschneider! Das Malen wird mir vielleicht noch allergnädigst gestattet. Das Modellieren, als schmutzig und nur in einem Kittel zu machen, schon nicht mehr. Die Plastik ist ausgeschlossen, weil händeverderbend und überhaupt handwerksmäßig.
Der ganze Braunecker Pompe funèbre herüber verpflanzt. Der Hof voll grüner oder sonst papageienfarbiger Laffen.
Drei Glockenstunden essen.
Märt wegen Abweichung seiner Nasenlinie vom klassischen Ideal in den Stall verbannt. Köche, – ein hoffnungsloser Kampf mit dem Fett, das nicht nur den Leib, sondern auch die Seele überzieht. Da hast du deinen Rentenempfänger.« »Harro, hör auf! Schrecklich bist du. O hör mich doch an! Ich muß dir doch mein Geheimnis sagen! Vater und Mama dürfen es niemals wissen. Ich habe heimlich bei Tante Helen Kochen gelernt! Ich kann alles mögliche machen. Auch Dinge, die nicht teuer sind. Und Filetbraten und Reispudding, den ganz arme Leute essen. Ich habe mir solche Mühe gegeben!«
»O du süßes Närrchen, du süßes du! O du ganz weißes Unschuldslämmchen! Und du hast wirklich einen Kochlöffel in die Hand genommen! Das ist ein Stilfehler! Ja, ich glaube es dir ja, es ist dir immer Ernst, aber Mondscheinprinzessinnen oder junge Königinnen kochen nicht, da gibt es andere Menschen, die das für sie tun.
Die brauen höchstens Liebestränke und kredenzen sie unversehens armen Rittersleuten, Ruinenmenschen. Sieh das Gold dort durch die Tannen am tiefen Himmel.«
»Harro, du nimmst mich nicht ernst... du meinst...«
»Doch, Rose, ich sehe mitten hinein in dein Herz, mitten hinein! Ach, mein blauer Himmel. Nun ist er wieder über mir ausgespannt!
Nur deine Kochkunst nehme ich nicht zu ernst.«
»Ja, würdest du denn wie Tante Helen nichts davon essen wollen? Und denk dir: Schließlich... ach, nun lachst du wieder –«
»Darf ich mich denn nicht freuen? Freilich eß ich davon im zuckrigen Häuschen im Walde, wo du mir Pfannkuchen bäckst.«
»Harro,« sagte sie kleinlaut, »das tu ich nun wirklich nicht so sehr gerne. Sie zischen gewaltig, und es eilt sehr, und das Feuer tut nicht immer, was man will.«
»Gut, dann backe ich und du nimmst einen Rührlöffel in deine schlohengelweiße Hand und rührst damit! O du blauer Himmel! Und ein ganzes Jahr soll ich noch warten, bis ich dich nach dem Thorstein hinüber bekomme. Und habe mich so beeilt! In drei Monaten könnte das Nötigste fertig sein. Natürlich nicht alles, bei manchem möchtest du doch auch dabei sein!«
»Das ist ganz unmöglich, Harro! Ein Jahr noch in Brauneck! Wie soll das werden?« Er sah sie erstaunt an. »Was ist dir, Rosmarie? Ich dachte, ich könnte dich einmal nur mit tausend Tränen von Brauneck losreißen.«
»Es ist eine andere Luft dort, Harro. Es ist nicht mehr mein altes Brauneck. Ich fühlte es schon gestern, als ich nach Hause kam. Wie hatte ich mich gefreut. Aber da war etwas Fremdes, etwas, das sich wie eine Last auf mich legte. Und heute, – nein, es geht nicht. Du mußt mit dem Vater reden, ihn bitten. Wenn ich's tue, so schmerzt es ihn zu sehr.«
»Um dich bitten, ja das will ich, aber dein Vater hatte Gründe, sehr gute Gründe, warum er es nicht wollte.«
»Ach, Harro, Mama kann uns nicht beisammen sehen! Sie erträgt es nicht. Ich sah in sie hinein heute! Frag mich nicht! Nein, aber glaube mir!... Und ich fürchte mich vor ihr. Ich zittre. – Nur wenn du dabei bist, bin ich ruhig.
Ich will nicht wieder mit ihr allein sein. Ihre Diamanten blitzen so sehr. Ich hasse Diamanten. Es sind böse Steine. Es träumte mir einmal, ein großer, blitzender, leuchtender Diamant werfe seine Strahlen nach mir, seine sieben Strahlen. Und der letzte traf mein Herz. Da ging ich noch zwei Schritte, dann fiel ich, zuerst auf mein rechtes Knie und dann vornüber, und dann wußte ich, nun bist du tot.«
»Rosmarie, du bist seltsam! Nein, auf das Träumen ist bei dir wirklich nichts zu geben. Ich habe auch schon im Traum allerhand Todesarten erlitten, – so viele, als gar nicht nötig gewesen wären, selbst mich umzubringen. In Berlin war das greulich. – Aber wenn du bange bist... Nur Vaters Gründe –«
»Und vor meinen Ansprüchen, Harro, brauchst du dich nicht zu fürchten. Ich kann auch hartnäckig sein. Und wie sehr! Und wie du es nicht haben möchtest, weiß ich ja...«
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Dort plätscherte schon der kalte Brunnen, ein wundervoller Abendglanz lag auf den uralten Eichen, die ihn umstanden. Alte, blitzgestreifte Recken mit langen Schlangenarmen und wild zerrissener Rinde. Jeder eine Individualität. Lange, lange über die Zeit hinaus. wo sie noch nützen könnten, geschont, dem forstlichen Auge ein Greuel als nutzlos und den Platz versperrend, für ein Malerauge köstlich, so standen sie da, die Eichen der Braunecker. Dort warten die Wagen, und man sieht, daß Mama schon eingestiegen ist.
»Kann ich mit dir fahren, Harro, o bitte!«
»Wenn man dich mir anvertraut. Ich glaube übrigens, Vater hat mir scharf genug auf die Hände gesehen.«
Es wird genehmigt, nicht ohne daß man es dem Fürsten ansieht, daß er mit dieser Heimfahrt neben seiner Gemahlin ein Opfer bringt.
Ach, wenn sie nur länger währte, die herrliche Fahrt. Durch den goldenen Abend, die feurigen Pferde vor sich, die Harro so sicher lenkt, geborgen, hoch über den Erdendingen, beschützt vor lauerndem Haß.
»Fahren ist schön,« sagt Rosmarie. »Ich wußte es gar nicht. Aber nur, wenn man da oben frei sitzen kann.
Sieh, wie der Himmel blüht mit Rosen, und dort der Fluß ein goldenes Band, und der sanfte Wälderschatten! Ach und sieh dort den Parkrand nach der Bergwiese zu, wie geheimnisvoll der Übergang zum Dunkel ...
Oh, wie ist das Leben schön, Liebster. Und die Heimat. Und ich möchte nicht sterben. Ich möchte leben mit dir, bis wir ganz alt und weiß geworden sind!«
»Wer redet vom Sterben, Holdseligste, das ist nur, weil du noch nicht recht an das Glück glauben kannst und meinst, es werde dir plötzlich wieder aus der Hand gerissen. Nein, da habe ich doch mehr Zuversicht. Sieh, wie das Fenster glänzt im roten Turm, wie ein kleines rotes Feuer!«
»Es ist sein Auge. Er sieht so weit übers Land. Er hat schon so viele gesehen von uns, die da geritten und gefahren sind, und sieht sie nicht mehr. Wie Schatten sind sie vorüber gezogen.«
»Wenn sie nur auch ihren goldenen Tag gehabt haben wie wir heute, Liebste.«
Wer die Fürstin an jenem Abend sah, der mochte wohl erschrocken sein, so scharf und unnatürlich standen die Farben auf ihrem Gesicht. Das ewig gleiche umzirkelte Rot und das gefällige Weiß, und die unruhigen flackernden Augen.
Dem Fürsten, der ja nicht Harros Maleraugen hat, fällt doch etwas auf und auch ihre seltsam sprunghafte Lebendigkeit.
Rosmarie spricht fast kein Wort bei dem einsamen Mahl. Von Harro hatte man sich an der Schloßpforte verabschiedet. Rosmarie hatte ihm zugeflüstert: »Geh, Harro – auf morgen!«
Und so war er fortgefahren, zum größten Erstaunen des Fürsten. Sollten die zwei schon etwas miteinander haben?
Harro schien ihm selbst ja ein wenig verstimmt. Und hatte doch wahrhaftig keinen Grund. Nicht einmal die Fürstin war ungnädig gewesen. Aber Rosmarie zu fragen ging nicht an. Verliebte haben ja so häufig Differenzen, wenn alle Gefühle so gesteigert sind. Noch hätte er Rosmarie gerne allein gehabt, aber die Fürstin klebte förmlich an ihm, und Rosmarie sah mit einem Male so erschreckend müde aus, daß er sie schnell zu Bett schickte. Bis sie zum Zimmer hinaus war, sie hatte sich nur stumm von ihrer Mutter verabschiedet, hingen die Augen der Fürstin an ihr, und erst dann verlor der Diamantstern auf ihrer Brust sein siebenfaches Leuchten und Zittern.
Rosmarie hatte geschwiegen. Hielt sie mit ihrer Rache zurück, oder wollte sie diesen geheimen Vorteil über sie behalten? Aber dann hätte sie wenigstens gestehen können, daß sie verletzt war.
Die Fürstin ist plötzlich auch müde und erklärt, daß es eine große Befriedigung sei, daß wenigstens dieser Tag vorüber. Das Langweiligste auf Erden, ein Brautpaar!
Dann geht auch sie. Dort, wo früher die Tür zum Gang war, steht jetzt ein hohes Zierschränkchen von Messing und Kristall. Die Fürstin trat vor den dreifachen Spiegel, eigentlich drei Spiegelwände, die ihre Gestalt von vorne und im Profil zeigten, und erschrak.
War sie denn das wirklich? Die Farbe saß ja falsch, entsetzlich falsch. – Warum hatte sie das nicht zuvor gesehen? Hat Denise es wirklich gewagt, sie so lächerlich zu machen? Ihre Hand, die schon nach der Klingel gegriffen, sank zurück.
Nein, nicht diese Person mehr sehen heute!
Schrecklich, wie das Spiegelbild die Bewegung ihr zeigte –
War sie denn das, – die Unheimliche dort? –
»War ich denn immer so: war ich nicht einmal schön und weich...
Alles, was ich nur ersehnt hätte, das trägt sie vor meinen Augen davon. Und nun habe ich mich, nur weil sie mich reizte, so unsäglich reizte, in einer Sekunde in ihre Hand gegeben...
Daß ich schwieg, das sieht nicht gut aus. Ich hätte eine große Szene machen müssen, abstreiten...
O Gott, was habe ich in diesem Haus schon alles ausgestanden! Es muß ein verfluchtes Haus sein. Und es wird immer fürchterlicher, das Haus. Es verändert die Menschen und macht sie schrecklich. Oh, hätte ich's nie gesehen!
Und diese Rosmarie ist mein böser Dämon.«
Die Fürstin zerrt mit ungeduldigen Händen an ihrer Spitzentaille, sie muß dieser Kammerfrau doch läuten.
»Wenn sie nur mit den Augen lächelt, so schicke ich sie fort.«
Aber die Französin mit den kunstvoll aufgetürmten Haaren, der Wespentaille und den hohen Stöckelschuhen kam so unschuldig, das heißt, so unschuldig wie die Denise Dubourg eben aussehen kann, herein.
Und die Fürstin, die sich eigentlich vor diesem Faktotum fast ein wenig fürchtet, läßt sie gewähren.
Bald haben die geschickten Hände sie ihrer Pracht entledigt, sie läßt sich ein weites Négligé überwerfen und alle Flammen bis auf die neben ihrem Bett ausdrehen. Dann versinkt sie in den tiefen Stuhl neben ihrem Bett.
Läuft da nicht ein ferner Lichtschimmer am Horizont? Es wetterleuchtet. Nun, dann kann sie sich auf eine schlaflose Nacht gefaßt machen. Die Braunecker Gewitter! Wie sie die haßt! All der böse Braunecker Zauber faßt sich darin zusammen. An Schlafen ist nun nicht zu denken. Sie starrt vor sich hin und zuckt zusammen. Zwei schneeweiße Arme, über die ein dunkelrotes Band läuft, sieht sie vor sich.
Sie geht im Zimmer auf und ab. Die Spiegelwände zeigen ihre Gestalt ... ihre gehetzten Augen, ihre zuckenden Lippen. Ruhelos wie ein Geist geht sie und ihr Bild wandert mit ihr. Nie wieder wird die blanke Fläche das verlorene Antlitz wieder spiegeln.
»Ich muß mich fürchten ... Vor dieser Rosmarie fürchten! Hat sie es dem Thorsteiner gesagt? Nein, sie tat es nicht. Er küßte mir die Hand, als er ging ... Er hätte es doch nicht getan, er hat einen steifen Nacken.
Sie wird es morgen tun. Ich muß sie fürchten, die Rosmarie. Ich werde es an seinen Augen sehen.
Wie er sie ansieht! Nie hat mich ein Mensch so angesehen. Wenn er gewollt hätte ... Habe ich nicht auch das Recht auf Liebe und Genuß wie all die andern? Ewig eingeschnürt in alte, steife Formen, in Geisterhäusern, zwischen Wänden, die sich plötzlich öffnen, leben müssen ... Einen Skandal. Oh, sie hätten schon gesorgt, daß es keinen gibt – diese Braunecker mit ihrem Familiengötzen. Einmal hätte ich doch gelebt ... Und nun das mit ansehen müssen ... Tag für Tag. Daß ich so unglücklich werden mußte! Und dabei gibt's Menschen, die einen beneiden! Soll ich allein zum Leiden auf der Welt sein? Und für die andern alle Freuden?
Wir wollen teilen, Rosmarie, wir wollen teilen!«
Und der Spiegel, an dem sie eben vorüber eilt, zeigt ein Bild so schlimm, wie es die Räume noch nicht oft gesehen haben. Sie ständen sonst nicht mehr. Sie wären offene, ausgebrannte Höhlen, die alten Mauern, in die die Stürme hereinschauten und in deren tiefen Fensternischen Eulen und Käuze wohnten.