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Tief verschneit liegt Schloß und Städtchen unter dem schwerherabhängenden grauen Himmel. In dem beginnenden Dämmer fangen die Lichter an aufzuglühen in den hohen Schloßfenstern. Und heute haben sich ein paar neue Augen aufgetan: Frau von Hardenstein, die neue Erzieherin der Prinzessin, ist angekommen und erwartet in ihren Räumen mit Ungeduld den Thorsteiner. Sie entspricht nicht ganz dem Bilde der Dame in schwarz, das der Fürst zeichnete. Sie ist noch zu frisch, rotwangig und energisch dazu. Man sieht es ihr nicht gleich an, wie vernichtend die Sense durch ihr Blumengärtlein gegangen ist. Nur in ihren blauen Augen liegt etwas, als ob sie schon in ein großes Entsetzen gesehen habe: das taucht auf und verschwindet wieder.
Und nun haben sie sich aufs freudigste begrüßt, und Harro schaut sich in dem großen Raum um, dessen Fenster in tiefen Nischen liegen und allerhand trauliche Winkel bilden, und dessen alte Stuckdecke graue Sandsteinsäulen tragen. Der Säulenschaft ist mit allerhand billigen Stoffdraperien verkleidet, was ihrem Ernst sehr wunderlich steht.
»Wie gefällt es Ihnen in Ihrem Reich, Frau Mutter?«
»Gut, sehr gut, wenn ich mich einmal gewöhnt habe, mit Säulen zu leben; wenn ich erwache, so habe ich regelmäßig den Schrecken, daß ich mitsamt meinem Bett in eine Kirche geraten sei. Ich schlafe hinter dem grünen Vorhang dort. In meinem Schlafzimmer steht auch eine Säule und schaut so streng auf mich herunter, daß ich mir die Nische ausgewählt habe. –«
»Können die Höschen, die man den Säulen angezogen hat, nicht entfernt werden,« riet Harro. – »Es steht so unglaublich lächerlich aus. Aber freilich, dann würden die Säulen noch kirchlicher.«
»Dieses Zimmer muß früher zu etwas Besonderem gedient haben, sehen Sie, die Wand schneidet durch das Ornament der Decke.«
»Eine vierte Säule gehörte noch dazu. Sie müssen in den Kauf genommen werden.«
»Und sonst noch manches!«
Frau von Hardenstein lacht.
»Ich traf also den Fürsten im Wartesaal erster Klasse in Würzburg. Eine gute halbe Stunde waren wir zusammen. Er war sehr liebenswürdig und überschüttete mich mit einer Fülle von Ratschlägen, Ermahnungen, Bitten, Warnungen, wobei er mich von der Seite ansah, ob ich nicht am Ende doch den Dolch im Gewände trüge. Ich wäre gern wieder entflohen, aber – eitel werden Sie ja nicht – wenn es auch nur eine Probezeit sein soll, ich kann in Ihrer Nähe einmal sechs Wochen leben und Sie oft, oft sehen, das müssen Sie mir versprechen.«
»Oh, Sie werden genug und übergenug von mir bekommen, und Sie besuchen mich ja mit dem Seelchen in meiner Ruine, sie brennt darauf, und Papa hat's erlaubt.«
»Lieber Harro, Sie finden ja immer die Bedrängten heraus. Diesmal ist's aber recht wunderlich, daß es kein buckliger Musiker, keine vor Jammer halbverrückte Mutter ist, sondern ein verwunschenes Prinzeßchen.«
Harro ruft ungestüm: »Sie haben das rechte Wort gefunden, verwunschen ist die Kleine! Nur was meinen Freund Hans Friedrich den Musiker betrifft, so irren Sie sich. Ich bin nicht ihm, er ist mir beigesprungen!«
»Harro, haben Sie ihn nicht auf der Friedenauer Heide mit Lebensgefahr von den vier Rowdies errettet?«
Harro lacht hell auf. »Lebensgefahr! – Schwächliches, dekadentes Berliner Lumpenpack, bläst man sie an, so fallen sie um.«
»Konnten die nicht Revolver haben?« »Revolver, die treffen nur in Romanen, man schüttelt sie denen aus der Hand. Nein, mein Freund hat mich in meiner allerschlimmsten Zeit mit seiner wundervollen Musik über Wasser gehalten; erst als er fort war, brach es so recht über mich herein. Aber Sie haben ein wundervolles Wort gesagt – von der verwunschenen Prinzessin. Wie wenn über des Kindes eigentlichem Wesen ein buntes, trauriges Narrenkleid hinge, wie über Allerleirauh im Märchen. Auf einmal streift es das ab, und es steht etwas so holdseliges da, daß Sonne und Mond sich verwundern.«
»Ei, Harro, und Sie wollen erlösen?«
»Wenn ich könnte! Wie die das arme Seelchen gequält und mißverstanden haben, es ist kein Wunder, daß der Vater vor dem Dolch im Gewande zittert.«
»Und später, Harro.«
»Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.«
»Da können Sie sicher sein, totsicher, daß man das eines Tages Ihnen zu verstehen gibt. Je besser Ihnen die Entzauberung gelingt, desto sicherer.«
»Frau Mutter, glauben Sie, daß ich darauf warten werde, bis man mir das zu verstehen geben wird? Und es ist doch so schön, solange es geht. Wenn man so leer läuft wie ich, ein Höhlendachs, ein Erheiterungsgegenstand für die ganze Umgegend, und man findet an seinem Weg ein solches Blümlein Wunderhold, und noch dazu in Not! Mein Kopf ist ganz voll von der Kleinen. Ich male sie ja. Haben Sie schon die Füßchen gesehen! Ach sorgen Sie doch, daß die Form nicht durch schlechtes Schuhwerk verdorben wird. Sonderbar, daß die sich bis jetzt erhalten.«
»Ist das nun wirklich das Malerinteresse,« denkt Frau Mutter.
»Ist sie nicht schön?« drängt er.
»Lieber Harro, das müssen Sie wissen. Die Haare sind sehr schön, und die Augen hat sie von jemand anderem her im Kopf. Sie verändern sich sehr stark, und wenn sie ganz dunkel werden, sieht sie direkt unheimlich aus. Sie glauben ja, daß alles Sonderbare an ihr nur von ihrer poetischen Anschauung und äußerst lebendigen Phantasie komme.«
»Gewiß, und dann hat man sie gekränkt und ihre Phantasiegebilde Lügen genannt und so den Gegensatz erst künstlich erzeugt.«
»Nun, wir wollen sehen; und nun erzählen Sie mir aber von sich, Harro. Was machen die grimmen alten Tanten, zürnen sie immer noch?« Harro lächelt. »Oh, Tante Marga strickt mir schon wieder Strümpfe. Und weil ich doch immer lange Strümpfe und kurze Beinkleider trage und meine Beine ohnedies eine respektable Länge haben, Tante Marga auch die Idee mit sich herumtragen muß, ich wüchse noch, ist sie genötigt, das Strumpfwerk, wahrend sie daran strickt, in ein Leinwandsäckchen einzunähen, um es so dem Hohn der andern Stiftsdamen zu entziehen! Lieb, nicht? Tante Ulrike ist bereits wieder soweit erweicht, daß sie den Briefen ihrer Schwester hie und da ein Fragezeichen oder einen Unterstrich beifügt, und unten am Rand des Briefes ein imponierendes U. hinstellt.«
Harro hat nun von dem Fürsten den Auftrag bekommen, die Prinzessin zu malen, und ist sehr beglückt darüber. Zu seinem großen Bild kann er gar nicht genug Studien bekommen. Nun steht schon eine verhüllte Staffelei im Lernzimmer, und das Seelchen betrachtet alles mit Weihnachtsaugen. Die Pinsel, die Fläschchen, den langen Leinenkittel, wie komisch wird er darin aussehen! Frau von Hardenstein hat sich einen großen Knäuel silbergrauer Wolle gerichtet, den sie bei den Sitzungen verstricken will. Der Knäuel ist dick, so kann die Sache am Ende schön lange dauern, ein beseligender Gedanke. In des Seelchens Schlafzimmer liegen die schönen Kleidchen ausgebreitet, daß der Künstler darunter auswähle. Das Seelchen klettert auf die Kommode, wo der große Spiegel hängt, und betrachtet sich kritisch. Aber was da heraussieht, hat sie schon oft gesehen. Sie hört ihren Freund schon kommen und steigt etwas beschämt herunter. »Und nun, Seelchen, soll ich deine bunten Flügel sehen. Bunte Flügel meine Freude.«
Das Seelchen hängt sich an seine Hand und küßt den Rockärmel, so sehr er abwehrt. Aber Harro ist der Pracht gegenüber recht ratlos.
»Was gefällt dir denn selbst am besten, Seelchen?«
»Mein altes graues, Harro, es ist gar nicht dabei, weil es schon zum Verschenken beiseite gelegt ist. Röschen soll es bringen.« Ein ganz einfaches graues Hängerchen erscheint, von wundervollem Samt, einer von denen, die immer schöner werden, mit weichen Reflexen, das Seelchen läßt zur Probe eine Goldsträhne darüber fallen.
»Herrlich,« ruft er begeistert, »schnell zieh es an und komm herein.«
»Höre, Seelchen,« fragt er, als sie nun vor ihm sitzt in einem weißlackierten Stühlchen mit verblichenem grünseidenen Polster, »wie kommst du nun gerade auf dieses Kleid?«
»Ich kann auch nicht sagen, daß ich es billige,« meint Frau von Hardenstein, »Kinder sind immer am hübschesten in frischen weißen Kleidchen mit farbigen Schleifen. Nehmen Sie das weiße mit dem roten Samt, Juliane.«
Harro sieht ganz erstaunt auf: »Ja heißt du denn so, Seelchen?«
»Nein, ich heiße Juliane Charlotte Rosalie Marie, und keiner ist der rechte, und Miß Whart hat mich Juliet genannt und Mademoiselle July, wie ich doch niemals heiße.«
»Der Fürst nennt sie immer die Kleine.«
»Die arme Kleine,« verbessert das Kind.
»Die Namen passen freilich nicht für dich. Warum gaben sie dir nicht einen schönen altdeutschen Namen, einen Hohenstaufennamen, von denen stammst du ja ab, und dein Goldhaar ist eine Erinnerung daran. Es ist so lang her, aber nicht unmöglich. Mir erzählte ein Freund, in den Küstenstädten im Heiligen Land bei Akkon, wo die Kreuzfahrer waren, würden immer wieder Araberkinder mit blonden Haaren geboren. Das ist noch viel wunderbarer. Sie hätten dich Griseldis oder Gerhildis oder Windemut oder Gisela nennen müssen. Was hast du denn, Seelchen?«
»Es ist mir durchs Herz gefahren, wie du Gisela gesagt hast.«
»Wunderliches, du bist ganz blaß.«
»Du sollst auch den Namen nie wieder sagen,« befiehlt sie. Frau von Hardenstein steht von ihrem behaglichen grauen Knäuel auf und wirft dem Thorsteiner einen warnenden Blick zu.
»Seelchen, setze dich so recht gemütlich hin, und dann hältst du ein klein wenig still, wenn ich sage: jetzt. Und du brauchst gar nicht zu schweigen, erzähle mir etwas. Von deinem Lindenstamm. Was ist noch Schönes dort?«
Das Seelchen ist sehr bereit und beginnt mit ihrem hohen feierlichen Stimmchen zu erzählen: »Auf dem Lindenstamm, den man so nennt, weil früher eine Bastei dort war, lang ehe die Linde stand.«
Harro lachte: »Was für ein schöner Satz.« »Oh, den Anfang macht immer der Herr Kantor, denn anfangen kann iÿch die Aufsätze nicht. Und ich soll dir doch einen Aufsatz erzählen, mein Brief war doch auch ein Aufsatz.«
»Also der Anfang wäre gemacht, und nun kann's weitergehen.« Das Seelchen faßte nach ihrem Knie, das sie ein wenig hochzog, neigte ihr Köpfchen leicht nach der Seite und sah zu dem Freunde hinauf. Harro wollte schon »jetzt« rufen, aber er bezwang sich – nur einmal machen lassen, bis sie sich ganz vergessen hatte. Seine Künstleraugen leuchteten.
»Auf dem Lindenstamm is auch ein dicker Turm, weißt du von dem etwas, Seelchen?«
Sie beginnt zögernd. »Er ist rot, der Turm. Es sind alle Gastbetten darin auf langen Holzfächern. Wenn einmal ein König oder der kommandierende General kommt, so bekommt er das schönste Bett mit hellblauer Seide. Die Fenster sind vergittert, einen grünen, dicken Busch hat der Turm auf seinem Hut stecken. Im Sommer ist der grün mit kleinen Beeren. Alle Vögel essen daran, da freut sich der Turm mit seinem einen Auge. Wenn Fräulein Berger Betten nachsieht, hat er ein kleines, rotes Licht im Kopfe, dann ist er erst lustig anzusehen. Oben im Turm ist eine Stube, heißt die Hexenstube, und man kann die Türe nie zumachen, immer geht sie bei Nacht wieder auf. Von wegen der Hexe. Die ist aber schon lange tot, und es ist alles ein alter Aberglaube.«
»Dieser Satz wird dem Herrn Kantor ausnehmend gefallen haben,« wirft Harro ein.
»Ist auch vom Herrn Kantor!« sagt das Seelchen stolz, »und da gehört er herein. Man kann keine fremde Kammerfrau in der Stube schlafen lassen, auch wenn noch so viel Gäste im Schloß sind und man sich nicht zu helfen weiß. Weil die Tür immer wieder aufgeht, mitten in der Nacht. Eine Treppe hat der Turm auch, die geht im Kreise herum, wie alle Treppen in den Türmen. Man nennt sie Wendeltreppe.«
»Bravo, Herr Kantor!«
»Die Treppe geht bis mitten in die Erde hinunter. Soll ich weiter erzählen?«
Das Seelchen blickt etwas besorgt nach Frau von Hardenstein; die hat aber ihren Knäuel weggelegt und sich in ein Buch vertieft, oder tut wenigstens so. Harro nickt ermutigend.
»Der Turm ist tausend Jahre alt. Mitten in der Erde ist der Turm nicht so freundlich wie oben, wo der Busch sitzt. Vielleicht hat er's vergessen, was unten ist, sonst könnte er nicht mit einem Auge lachen und mit dem Busch nicken, wenn alle Spatzen zum Besuch kommen. Vielleicht weiß er auch nicht, was vor tausend Jahren war, er muß ja Betten hüten. Es ging einmal jemand die Treppe hinunter.«
»Seelchen, ich fleh dich an, bleib so sitzen, nur einen Augenblick. Herrgott, ist das eine Freud! Kannst du so still sitzen? Und erzähl weiter, war's ein Ritter, ein Kellermeister?«
Den wundervoll geistig belebten Ausdruck möchte er auf dem Gesichtchen festhalten. Sein Stift fliegt.
»Weiter, Seelchen!« »Es war kein Ritter – es war sie!« »Eine Frau?« »Ich weiß nicht. Sie hielt ihre Hand vor sich, daß sie nicht an die grauen Steine stieß. Ihre Hand war weiß und ihr Gesicht. Das Haar, wie meine Haare sind, nur viel goldener, fiel ihr bis zu den Knien. Hinter ihr ging jemand, er darf sie aber nicht anrühren, er hat auch Angst davor. Unten ist eine dicke Säule und ein Gang. Es brennt ein kleines Licht, ein gelbes und ein rotes Licht. Die Steine sind schwarz und rauh, und sie steht an der Säule. Dann ist ihr Kleid weiß, vorher war es schwarz. Das ist vom Turm.«
»Deine Geschichte ist ein bißchen schauerlich, Seelchen, und du bist ganz blaß geworden.« Aber das Seelchen schweigt, und Harro malt mit inbrünstiger Hingabe.
Und doch möchte er weiter das feine Stimmchen hören. Wenn sie schweigt, sieht sie so leidversenkt aus. Und das kann den Vater nicht freuen, wenn zu viel davon auf das Bild kommt. »Ist das nun alles von ›ihr‹«, fragt er. – »O nein!«
Das Seelchen ist ihm wieder geöffnet wie im Winterwald.
Sie beginnt leise. »Es war einmal Nacht, und es war jemand gestorben. Und die Linde hat gelbe Büschelchen. Weil sie nun tot ist, erzählt niemand mehr: Rapunzel, laß dein ellenlanges Haar herunter, – weh', weh' Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen – Brennesselbusch so kleine, was stehst du da alleine? Niemand kämmt mit lieben Händen mein Haar, daß es kein bißchen reißt, und erzählt dazu und kann spinnen, daß die Spindel tanzt am feinen Fädchen. Die Stube ist leer. Es steht ein Kreuz auf dem Kirchhof, daran wächst ein Kräutlein, heißt Herzeleid und eines heißt Nimmerfroh, und singt das Vögelein Niemalswieder. Niemals wieder.«
Hinter dem vorgehaltenen Buche laufen über das stolze Gesicht langsame Tränen herunter. Die Schultern zucken unter der grauseidenen Bluse.
»Es gibt nur noch Leute, die über einen seufzen, und Leute, die quälen. Und nie ist man allein, nie, nie. Immer muß man es jemand recht machen, auf französisch und englisch recht machen. Und es kommt gewiß nie besser. Aber man kann durchs Fenster klettern, weil ein Riegel ab ist, das weiß Babette nicht: und da kommt man auf den Lindenstamm. Und der Mond scheint auf die Linde – da weint die auch. Man kann auch einschlafen auf der Rampe, weil es so süß duftet, und im Schlaf herunterfallen. Der liebe Gott würde nicht einmal so sehr zanken, er weiß ja ganz gut, wie es ist. Es ist so schön warm, und die Linde glänzt mit ihren Tränen, daß einem die Augen zufallen, und streichelt einen mit ihrem Duft. Da rauscht es. Ein feines Klingen, und da ist sie. Das Mondlicht ist auf ihrem Kleid, und das ist von Silber. An ihrem Halse hat sie einen Schmuck von hängenden Tropfen. Von ihrem Haar hängt ein weißer Nebel. Und sie sieht einen an. Streng ist sie, sie weiß alles. Sie weiß Weh, Allein, – Niemalswieder. Man ist am frohesten, wenn man am traurigsten ist. Sie ist da, bis man einschläft.«
Seelchen schweigt. Es ist still, man hört nur Harros eilige Striche. Frau von Hardenstein ist hinausgegangen.
Dann legt er seinen Pinsel hinweg. »So, für heute kann ich's nur noch verderben. Geh schnell, Seelchen, und sieh nach Frau von Hardenstein, ich möchte sie noch sehen, ehe ich gehe.«
Das Seelchen geht hinein, kommt aber gleich wieder.
»Sie ist nicht allein, ich mag jetzt nicht.«
Harro packt seine Sachen zusammen und verhängt sein Bild und verbietet dem Kind, die Decke aufzuheben. Da kommt Frau von Hardenstein mit einem ganz hellen Glanz in den Augen wieder und sagt: »Warum kommen Sie nicht, Harro, wenn Sie fertig sind, in mein Säulenheim?«
»Ich wollte nicht stören, Frau Mutter, es war doch jemand bei Ihnen.«
»O nein, ich war ganz allein.«
Harro sieht das Seelchen an, das wird dunkelrot. Und Harro eilt heute nach Hause und verabschiedet sich von dem Kinde mit einem ernsten Blick. Da schreit sie mit ihrem allerhöchsten Stimmchen: »Du hast mir dein Wort gegeben, daß du es nie sagst.«
»Habe ich etwas gesagt, kleine Dame? Das Denken wird doch noch erlaubt sein.« – – –
»Lieber Harro, kommen Sie doch heute herüber, und wenn's erst am Abend ist. Sie haben gestern ein Unglück angerichtet ...« schreibt ihm Frau von Hardenstein am nächsten Tage. Harro geht im Dämmer hinüber. Es kommt ihm kein Seelchen entgegengestürzt, aber Frau von Hardenstein geht ihm mit sehr roten Wangen entgegen. »Ich kann gleich einpacken, Harro, ich komme mit dem Kinde nicht zurecht. Sie hat nicht einen Bissen angerührt, nicht auf gute, nicht auf ernste Worte. Hat das Kind einen Eigensinn! – In meinem Leben habe ich keine so hartnäckige kleine Person gesehen. Ich habe ihr gedroht, ich ginge, aber sie sagt nur, dann kommt Miß Whart wieder, als wäre ihr das eine so lieb wie das andere. Und ich hatte mir schon eingebildet ...«
Harro eilt an ihr vorbei, da sitzt das Seelchen in ihrem Stuhl, hält ihr Schneewittchen in den Armen und rührt sich nicht. Graublaß und elend sieht sie aus.
»Seelchen, warum machst du Frau von Hardenstein Kummer?«
»Ich habe auch Kummer.«
»Das sehe ich, und er ist scheint's so überwältigend, daß du deinen Freund nicht begrüßen kannst. Soll ich wieder gehen?«
»Das kannst du, es hilft ja doch nichts.«
»Kann ich wirklich ... Ja weißt du denn, ob ich wieder komme?«
Sie steht auf und stampft mit dem kleinen Fuße. »Ich will auch nicht mehr gehorsam sein, ich tue, was ich will, schlagen dürft ihr mich nicht.«
»Seelchen, warum beleidigst du uns – Frau von Hardenstein, die dir nur Liebe erwiesen hat, und mich?«
»Mich beleidigt man!«
»Wer hat das getan?« »Du. Du hast mich angesehen und gedacht: Lügen!«
»Wenn du willst, daß man dich wie eine vernünftige kleine Dame behandeln soll, so mußt du dich auch so benehmen. Ich schickte dich zu Frau von Hardenstein, die allein war, und du kommst wieder und sagst, es sei jemand bei ihr.«
Frau von Hardenstein zog das widerstrebende Kind zu sich her.
»Seelchen,« sagte sie zum erstenmal sehr sanft und freundlich. »Wer soll es denn gewesen sein?«
Es zuckt etwas über das Kindergesicht – da plötzlich schlingt sie ihren Arm um den Hals der guten Frau Mutter und flüstert mit ihr. Harro sieht zum Fenster hinaus. Als er sich wieder wendet, hat Frau Mutter das Kind auf ihren Knien und küßt mit Weinen das Goldhaar und die feine blasse Hand. Dann steht sie auf und trocknet ihre Tränen. »Harro, Prinzeß ist wieder lieb und wird jetzt ihre Milch trinken, und dann geht sie zu Bett. Gehen Sie einstweilen hinüber, Harro, ich komme nach.«
Harro geht hinüber und wandelt zwischen den Säulen hin und her, die ihre lächerlichen Höschen verloren haben. Er betrachtet die Stuckdecke und pfeift leise; drüben ist er sich recht überflüssig vorgekommen. Die halbierte Decke ist aber sehr interessant. Lauter weinende Engel, Sanduhren, dicke Blumengirlanden. Besonders ein fettsüchtiges Engelein mit langen Locken weint herzbrechend und benützt sogar ein Taschentuch dabei.
Was für ein tränenreiches Volk da oben, denkt er ... da ist zu viel geweint worden in den alten Mauern und da ist wohl etwas an den Wänden hängen geblieben. Am Ende ist es gut, wenn nicht alle alten Mauern gar so lange stehen bleiben.
Endlich kommt Frau von Hardenstein. »Ich habe Sie lange warten lassen. Studieren Sie die betrübte Gesellschaft da oben? Ich wunderte mich auch schon darüber. Es ist ein wunderliches Haus, und die Höschen um die Säulen nehme ich meinen Vorgängerinnen nicht mehr übel. Also Harro, der ganze Schmerz galt Ihnen.«
»So.«
»Ach Harro, die Sache ist traurig, und das Engelein da droben mit seinem Tränentüchlein hat viel Schicklichkeitsgefühl. Haben Sie sich nicht über die Geschichten verwundert, über die Frau, die die Treppe herunter ging, bis mitten in die Erde?«
»Und das Kräutlein Nimmerfroh und Vöglein Niemalswieder,« sagte Harro. »Es ist ein Dichtkind.«
»O Harro, wie sie das erzählte, mit dem hohen feinen Stimmchen, das einen Klang nach Saiten hat, – Gott, poetisch bin ich nicht – so, wie das klang – Niemals wieder. Ich mußte hinaus zu meinem eigenen Niemalswieder.«
Sie nahm ein Bild von ihrem Tisch und legte es vor sich hin.
»Harro, dies Zimmer muß einmal eine Totenkapelle gewesen sein, doch das gehört nicht hierher. Aber wie soll ich's nur beschreiben, etwas, wofür es keine Worte gibt. Ich fühlte – deutlicher kann ich's nicht sagen – eine sanfte Nähe. Es wurde mir ganz feierlich und leicht. Warum soll ich nicht in einer Totenkapelle wohnen, wenn mein Herz eine ist! – Ja, und dann kam ich wieder heraus. Inzwischen muß die Kleine hereingesehen haben. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen wiederhole, was sie mir gesagt hat. Ich war doch nicht allein.«
Einen Augenblick herrscht tiefes Schweigen in der Stube, aus der die Schatten nie weichen, in der immer, glänzt die Sonne auch noch so schön, zwei dunkle Schattenbalken liegen – dann sagt Frau Mutter energisch:
»Genug von mir. Nur noch dies. Ich bleibe hier, bis sie mich hinauswerfen oder meine Aufgabe zu Ende ist. Sehen Sie, lieber Harro, wie alles zusammenpaßt, die Stube, das Kind und ich. Sie wissen ja, daß ich keinem eine Stunde unnötig verderbe, aber der Schatten ist da. Entweder ist das Kind, das die Seelen der Abgeschiedenen herummandeln sieht, ein Todgeweihtes, oder ein armes Unglückliches, dem etwas anhaftet, was es für die meisten Menschen unheimlich macht. Sahen Sie nicht, wie sie blaß wurde, wie ihre Augen sich veränderten? Und Sie sollen nicht sagen: »Weiter, Seelchen.« Ich entsetzte mich darüber. Man darf das Kind nicht dabei auch noch ermutigen.«
Harro rief: »Das feine Dichtwerk – alles zuschütten – ist das nicht ein Unrecht?«
»Wenn Sie sie gehört hätten, Harro! Sie will nicht mehr mit uns leben, und sie will zu den andern, denen mit leichten Füßen – –. Ach, lassen Sie mein armes Verwunschenes. Glauben Sie mir, wenn Sie helfen wollen, das Kind tüchtig zum Leben zu machen, so dürfen wir das Geranke nicht wuchern lassen.«
»Ich ordne mich unter Ihre Weisheit, Frau Mutter. Ich bin auch bereit, dem Seelchen zu sagen, daß ich ihr Unrecht getan, und daß ich mit dem Denken vorsichtig sein will, gesagt habe ich nichts.«
»Eher wird sie nicht zufrieden sein, Harro!«