Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Achtzehntes Kapitel: Iphigenie.

In einem Südzimmer eines der kleineren Hotels in Bordighera liegt auf dem Marmorbalkon im schönsten Sonnenschein, in einem Korbstuhl, ein junger, blasser Mann, sorgfältig in Tücher und Decken eingehüllt. Neben ihm sitzt eine freundliche, behäbige Gestalt, seine Mutter, an einem Tisch und schreibt emsig Briefe. Der junge Mann hat sein Buch sinken lassen.

»Bald fertig, mater? und weiß der pater nun, was wir treiben, und hast du ihm gewiß von Professor Schwarzen erzählt? Das freut ihn doch am meisten. Da lacht er wie ein Schneekönig, da kommen ihm die alten Tübinger Erinnerungen.«

»So gut ich konnte, Albrecht, aber all die Weisheit, die ihr miteinander redet, und die Welträtsel, die ihr löst und nicht löst, das konnte ich ihm nicht alles mitteilen.«

»Daß er mir so viel Zeit opfert; er will doch schreiben, hat seine Bücherkiste hier, – aus der ich ja auch lebe,« und er hob sein Buch in die Höhe. »Hör einmal, Mutter, den Spitteler:

Ich habe da in meinem Herzgänsespiel
Noch zwei Weltvoll Liebe zu viel,
Weiß nicht, wohin damit ...«

Die mütterliche Frau lacht auf: »Albrecht, kein Wunder, daß dir das gefällt ... o da kommt der Herr Professor.«

Der Herr Professor, dem man überall unschwer Stand und Nationalität angesehen hätte, tritt ein. Unter den schärfsten Brillengläsern glänzten hellblaue Augen, sein graublonder Bart wuchs ihm, wo und wie er wollte, sein Überzieher war in den Taschen weitläuftig geworden – von hineingesteckten Broschüren. Kurz, das heimatlichste Bild an der fremden Meeresküste. Jetzt schwenkte er seinen Hut, seine Stirne war ein wahrer Palast für all die Gedanken, die darin wohnten.

»Ei, Frau Mama und Herr Sohn, wie geht's! Die schöne Sonne! Und Herr Albrecht liest Spitteler.«

»Mein Sohn freute sich eben daran.«

»Heute müssen wir Korsika auftauchen sehen, es ist heute ein ganz besonderer Tag!« sagte der Professor und deutete mit seinem Stocke nach der schimmernden Meeresfläche.

»Herr Professor, erzählen Sie, was gab es diesmal am Capo? Keine himmelblauen Meereskornblumen?«

Der Herr Professor setzte sich behaglich in den ihm angebotenen Korbsessel. »Es freut mich, daß Sie es mir sofort ansehen, daß mir heute etwas ganz Außerordentliches geschehen ist. Was ich gesehen habe« – der Herr Professor schwenkte seine Hand wie auf dem Katheder gegen seine Zuhörer. – »Ein besonderer Tag heute und verdient ein rotes Kreuz im Kalender. Ich gehe das Capo entlang: blaue hüpfende Wellen, die letzten am Horizont mit weißen Kronen. Und alles voll Menschen, Herr Albrecht, old England for ever – Damen und wieder Damen, kurze, dünne, lange, und Kinder, sehr hübsche Kinder. Aber im ganzen doch die Menschheit etwas zu reichlich vertreten – mir sind ja immer die einzelnen Exemplare lieber.«

Dabei nickte er mit einem so guten Ausdruck dem blassen Jüngling zu, daß dem ein feuchtes Aufleuchten in die Augen kam. –

»Nun also, gegen Norden, wo die Steine größer werden und die Fischernetze zum Trocknen liegen, ist die Menschheit dünner gesät. Und ich bedachte bei mir, welch außerordentliches Rätsel dieser Strand der nachgrabenden Nachwelt wohl bieten würde, wenn wir durch eine jener plötzlichen unterirdischen Erdeinstürze verschüttet würden.«

»O Herr Professor, wir wollen nicht hoffen.«

Der Professor wehrt mit heiterer Ruhe die Wahrscheinlichkeit eines solchen plötzlichen Eingreifens der unterirdischen Mächte ab. –

»Herr Albrecht, bedenken Sie, die Engländervilla an der Marina und die Wohnungen in der Altstadt, der Englishstore und die Bäckerei am Kirchplatz. – Die Herren Kollegen werden behaupten, daß sie auf mindestens drei Kulturstufen gestoßen seien – daß das alles friedlich nebeneinander nur wenige Meter entfernt gleichzeitig bestanden haben soll, darauf werden sie nicht kommen.«

»Herr Professor, Mutter bekommt ganz dunkle Augen ... und wenn heute nacht das Meer wieder so donnert! Erzählen Sie uns, was Sie am Strande gesehen.«

»Doch nicht Anzeichen nahen Bebens?« »Alles so fest wie möglich, meine Gnädigste. Nein, ich sah etwas Wunderbares. Schon vorher war's, als lenkten freundliche Genien meinen Weg. Ich stolperte nicht über die ungleichen Steine, ich verfing mich in kein Netz, und wie ich nun um einen Felsblock mich herumschwinge, da öffnet sich eine Felswand, das Meer wird nach Osten frei. – Da sitzt auf einem gelben Steine, zum Hintergrund das Meer, vor sich das Meer, mit feinen ewig unruhigen Wellen, wer meinen Sie? – Ich reibe mir die Augen, ich zwicke mich in den Arm, ich schließe die Augen und zähle auf drei und mache sie wieder auf, – das Bild bleibt da!

Da saß still und ruhig, in einem weißen Gewand, Iphigenie, Goethes Iphigenie, nicht die Griechin. In einem weichen, weißen Gewand, notieren Sie, Herr Albrecht, nicht in einem Kleide. – Sie sah hinaus aufs Meer, auf die eine Hand ein wenig gestützt, mit blassem Goldhaar, von dem der Meerwind eine Strähne hinauswehte. Sie trug sogar Sandalen oder etwas Ähnliches. – Ich stand da und dachte: Darum habt ihr mich hergeführt, ihr Kleinen von den Meinen! Ich stand und sah und dachte an meinen Herrn Albrecht, und wie sehr ich ihm ein paar Augen voll gegönnt hätte. Ich sah nur die schöne Kopfform und den wundervoll hingegebenen jungen Körper, in jeder Linie beseelt und wie vorgeneigt in unsäglicher Sehnsucht. Feuerbachs Iphigenie liebe ich sehr, diese war jünger und jungfräulicher und ebenso königlich!«

Des jungen Mannes Augen strahlten.

»Und ihr Gesicht haben Sie nicht gesehen?«

»Nein, ich wagte mich nicht weiter, ich wollte ihre Andacht nicht stören. Und dann: Ich bin kein Zergliederer meiner Freuden. Wenn sie nun das Antlitz gewendet hätte und das hätte nun irgend einen kleinlichen Zug gehabt – oder das ist's nicht einmal: Man sagt auch nicht zu dem Engel, der auf Rembrandts Bild den Propheten berührt: bitte, wenden Sie sich nach rechts! nein, man genießt ihn so, wie ihn der Maler hingestellt. Ich ging ganz leise und bescheiden zurück.« »O Herr Professor, gehen Sie doch bald wieder ans Capo und erzählen Sie doch gewiß dem Herrn Doktor nichts von der Iphigenie, er sagt sonst nur, es sei eine der vielen überzähligen Damen gewesen, die ein Rendezvous erwartete.«

»Geographisch unmöglich, sie sah nicht rechts, nicht links, und anlegen, das gibt es dort nicht einmal für Fischerboote. Und das ist Herrn Spittelers Herzgänsespiel. Freuen Sie sich nur recht daran.«

»Und wenn Sie die Iphigenie wiedersehen –«

»Das ist mir höchst unwahrscheinlich. Ich kann mir diese Gestalt mit dem besten Willen nicht unter den Britinnen an der Table d'hôte vorstellen, den Oberkellner mit der Weinkarte hinter sich, – ein unvollziehbarer Gedanke! Sie wird ins Land der Träume verschwunden sein – ein Mondnachen kam und holte sie ab, oder wie Sie das sonst bedichten wollen, mein lieber junger Freund ...« – – –

Aber nun kommen Regentage, und Iphigenie zu sehen wird unmöglich sein. Da, eines Tages kommt der Herr Professor wieder.

»Heureka, Herr Albrecht! Sie sehen es mir ja an. Die Iphigenie!«

»Oh, wenn ihr Gesicht nicht so schön war wie ihre Haltung, so sagen Sie es mir nicht. Mutter ist ausgegangen, es drücken sie ihre anderen Jungen, die Weihnachten ohne sie zubringen müssen, und sie sucht jetzt schon jedem ein Pflaster auf seine Wunden. Und die Iphigenie?«

»Herr Albrecht, ich sollte Ihnen doch die portugiesischen Liebeslieder von Elisabeth Barrett Browning aus der Bibliothek besorgen. Ich halte eben die sehr achtungswerte Dame in etwas verschabtem Ledereinband unter dem Arme und gehe durch den Garten hinauf, da begegnet mir langsam schreitend Iphigenie, eine graue, offenbar untergeordnete Weiblichkeit neben sich, und, sollte man es für möglich halten, trägt wirklich ein Gewand, und, wie habe ich Ihre verehrte Frau Mutter herbeigewünscht, daß sie es mir bestätige, sie geht in Sandalen oder etwas dem ähnlichem. So geht man nicht in Schuhen von Schusters Gnaden. Sie kam so sanft daher und hatte, was ja für eine Iphigenie etwas merkwürdig ist, aber trotzdem recht gut aussah, einen Federhut auf. Wiegen Sie sich noch nicht in rhythmischen Gedanken, Herr Albrecht, warten Sie ab, es kommt noch manches, es kommt das reine Märchen!

Also ich wollte doch nicht nur die Barrett Browning versorgen, sondern hatte auch eine Broschüre vom Kollegen Leonhardi bekommen, und nun, um die guten Fliegenden Blätter doch mit weiterem Stoff über uns neben den Schwiegermüttern zu versorgen, muß mir diese Broschüre, mit der mir so wohlbekannten, von manchen aber bestrittenen Tücke des Objekts, entgleiten. Ich schritt weiter, Elisabeth um so fester unter dem Arme haltend, je dünner mir die Gute zu werden schien. Plötzlich berührt mich jemand. Da steht die Holdselige und sagt mit der lieblichsten hohen Stimme: »Mein Herr, Sie haben dieses verloren,« und gibt mir den Gilgamesch. Wie ein kleines Schulmädchen, so freundlich und ordentlich ist sie mir nachgelaufen.«

»Und ihr Gesicht, Herr Professor?«

»Das war das Schönste von allem. Ich reiße also meinen Hut herunter, dabei muß mir nun diese Elisabeth entgleiten, und wahrhaftig, sie bückt sich, die junge Königin, und hebt sie mir auf. Und nun habe ich das Recht, wenn ich sie sehe, den Hut herunterziehen zu dürfen. Und Herr Albrecht, sind Sie nun, der Sie mich nach der Bibliothek geschickt haben, mein Wohltäter oder nicht? Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. –

Nun, ich höre noch, wie die graue Dame sie wegen ihrer holden Güte in englischen Quetschlauten schilt. Die Damen gehen aus dem Garten, ich in respektvoller Entfernung hinten drein. Und nun entdecke ich in mir einen Sherlock Holmes. Ich folge ihren Spuren, nicht wie ein Jüngling, sondern wie ein Polizist. Sie verschwinden in einen Park, ich merke mir die Nummer, ich eile zu Schulte und studiere alle Fremdenlisten.«

»O Herr Professor, Sie wollten auch den Namen wissen!« »Nein, aber ein Gefühl hatte ich, als ob ich einer Gestalt aus unserer deutschen Vergangenheit nachginge. Herr Albrecht, ich erkannte sie, – die deutsche Kaiserstochter aus der Hohenstaufenzeit.«

»Aber Sie waren doch an der Griechin.«

»Herr Albrecht, ich vermisse genauere Geschichtskenntnisse. – Heirateten die Hohenstaufen nicht byzantinische Prinzessinnen, also möglicherweise griechischen Blutes? Sie ist eine Prinzessin von Brauneck und gehört einem unserer edelsten Geschlechter an. Mit den Hohenstaufen verwandt und verbunden kämpften sie mit ihnen gegen Papst und Guelfen; auf unzähligen deutschen Schlachtfeldern hat ein Brauneck geblutet. Jetzt ist die Familie in den meisten Linien ausgestorben. Sie sind jedem europäischen Herrschergeschlecht ebenbürtig. Die Iphigenie kann eine deutsche Königin werden.

Und so wenig neues Weib ist sie,« – der Herr Professor lachte hell auf, – »so wenig neues Weib, – hebt wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften einem Herrn das Buch vom Boden auf! Nun, genügt das nicht für einen lyrischen Erguß, Herr Albrecht? Diese Enkelin hoher Ahnen, die so bescheiden und demütig ist ... oder nicht ... Doch das müssen Sie besser wissen.«

Es ist stark zu befürchten, daß Tante Helen, wenn sie nun ihren kleinen, wohleingerichteten Staat sähe, nicht sehr zufrieden wäre! Die Déroute fängt ganz unten an, bei dem kleinen italienischen Hausmädchen, deren Familie sich jeden Tag vermehrt und an der Hintertüre gespeist wird. Der Braunecker Lakai Adolf, der dem kleinen Haushalt beigegeben ist, damit nicht ganz der männliche Schutz fehle, steht die meiste Zeit an dem Drahtzaun, der die nächste, von einer englischen Familie bewohnte Villa umgibt, und treibt Sprachstudien mit einer kleinen, hübschen englischen Nurse und läßt deren Pflegebefohlene auf den Knien reiten und spielt ihnen den angenehmen deutschen Onkel. Die Köchin ist unwirsch und schlampig und verbraucht so viel Fleisch, daß eine zehnköpfige Familie reichlich davon leben könnte. Miß Granger erklärt der Prinzessin eines Abends, daß der Arzt ihr das späte Diner verboten habe, daß sie es als große Güte ansehen würde, wenn ihr abends einige leichtere Speisen aufs Zimmer gebracht würden. Rosmarie legt es der Köchin ans Herz, ja recht leichte Sachen herauszusuchen!

Jeden Tag geht Miß Granger in ihre teas, an der Hand einen schwarzseidenen Riesenbeutel, der seltsam schwer aussieht. Da englische Damen doch nicht wie gute deutsche Hausfrauen mit dem Strickbeutel zusammen kommen, so muß der Beutel einen andern Inhalt haben. Als Rosmarie sie eines Tages schüchtern danach fragt, bekommt sie die Antwort, daß der Mensch stets ein gutes Buch bei sich haben müsse, um durch einige vorgelesene Sätze der Unterhaltung einen höheren Schwung zu verleihen. Die guten Bücher scheinen alle recht voluminös zu sein, rechte Wälzer und Tröster. Rosmarie hat nach dem Inhalt des schwarzen Beutels kein Verlangen. So geht Miß Granger denn mit ihrer Geistesnahrung bewaffnet fort und kehrt um sieben sichtlich aufgemuntert zurück, dann verschwindet sie für den Abend in ihre oberen Gemächer. Des Morgens geht sie in die englische Kirche und kehrt da eben so gedrückt und niedergeschlagen zurück, wie sie aus den teas erheitert heimkam.

Rosmarie fürchtet ihre Kirchenstimmung und macht scheue Trostversuche. Mit unerwartetem Erfolg. Miß Granger gesteht ihr, daß sie täglich flehe, ein drohendes Schicksal von ihren Angehörigen abzuwenden. Sie gibt zu verstehen, daß das Schicksal durch eine kleine pekuniäre Hilfe gebessert werden könnte. Rosmarie holt schnell aus ihrer Kassette drei deutsche Goldfüchse, die ihr Vater ihr für die eigensten Bedürfnisse gegeben. Die Rechnungen werden ja nach Brauneck geschickt und von dort aus bezahlt. Miß Granger dankt würdevoll im Namen der Angehörigen und heitert sich sichtlich auf.

Aber Miß Granger macht sehr viel mit ihren Angehörigen durch, und seltsamerweise immer des Morgens, nach ihrem Kirchgang. Die Goldfüchse werden immer weniger, und eines Tages starrt Rosmarie der blaue Samt des Bodens entgegen.

Nun ißt Rosmarie auch das Diner allein, denn Miß Granger ißt ihre Puddings und Hors d'oeuvre oben.

Rosmarie sitzt allein in ihrem feierlichen Abendkleide an dem etwas nachlässig gedeckten Tisch, die Fenster, die mit Heliotrop, Rosen und Glycinien umwachsen sind, stehen offen. Der schokoladefarbene Adolf hat eben die Schüsseln aufgedeckt und ist entlassen worden, denn nur in seiner Gesellschaft zu essen ist zu trübselig. Die Schüsseln haben meist recht fremdartigen Inhalt, – Rosmarie betrachtet sie mit einem Seufzer.

Daß man sich so hinschleppen muß, essen und trinken, damit die Tage vergehen – die Tage eines nutzlosen und entehrten Lebens. Da macht sie ein Laut aufsehen. Durch das Blättergewirre am Fenster, das nicht sehr hoch vom Erdboden entfernt ist, schiebt sich eine kleine, magere, braunschwarze Hand und klammert sich an die Fensterbrüstung: dann ein schwarzzotteliger Kopf, ein elendes Körperchen in einem groben zerschlissenen Hemd folgt nach. Mit großen, runden, schwarzen Augen sieht das kleine Menschenwesen nach den guten Dingen da auf dem Tisch und flüstert mit gutturalen, Rosmarie ganz unverständlichen Tönen immer wieder das gleiche. – Rosmarie erhebt sich, das Kind erschrickt, so daß es beinah herunterfällt. So etwas Großes und Weißes hat es wohl noch nie gesehen.

Rosmarie lächelt ihm zu und häuft Gemüse und ein Kotelette zierlich auf einen Teller, Messer und Gabel daneben und stellt alles mit einer einladenden Handbewegung auf die innere Fensterbrüstung. Die schwarzen Augen des Kerlchens leuchten, Messer und Gabel braucht er nicht, die schmutzigen Finger und die Mauszähnchen verrichten das Geschäft allein. Rosmarie versucht ihn zu bewegen, den schwebenden Sitz zu verlassen, aber wenn sie ihm zu nahe kommt, hebt er seinen Arm in Augenhöhe, wie es überall in allen Landen verprügelte Geschöpfe machen. Was hat das Kind Hunger! Wenn er sich doch hereinnehmen und ein wenig waschen ließe! Aber an sich herankommen läßt er sie nicht, und sein Kauderwelsch versteht sie nicht. Endlich ist er gesättigt und klopft sich, jedenfalls als Dankeszeichen, auf sein wohlgefülltes Bäuchlein, dann ist er ebenso blitzschnell verschwunden, wie er gekommen ist. –

Rosmarie läutet und läßt abtragen, und Adolf mag sich billig über ihren Appetit verwundern. Am nächsten Abend schickt Rosmarie gleich wieder den Diener fort, und sie braucht nicht lange zu warten. Mandarinenbäume umgeben diese Seite des Hauses, unter den tief herabhängenden Zweigen konnten wohl kleine Gestalten hindurchkriechen. Da kommt schon die Hand. –

»Spätzchen, bist du da?«

Aber es sind zwei Spätzchen diesmal. Zu dem Spatzen ist eine magere, noch elendere und womöglich noch scheuere Spätzin gekommen. Heute werden alle Schüsseln leer. Wenn nur die Kinder nicht gar so scheu wären. Halb tierisch kommen sie ihr vor, vielleicht werden sie sich gewöhnen. Sagt Rosmarie es der Köchin, so wird die sie wegjagen, wie sie es schon einmal mit einer armen Frau gemacht. Rosmarie kann auch am Tage nicht entdecken, wie die Kinder heraufkommen, vielleicht ist eine Leiste in dem Schlinggewächse verborgen, worauf sie ihre Füße stellen. –

Rosmaries Hauptmahlzeit ist abends, und für die ist nun gesorgt, doch empfindet sie nicht, daß ihr etwas entgangen ist. Nein, es ist ihr leichter und freier zumute, nun sie die sonderbaren Dinge nicht mehr essen muß. Es ist zu schön zu sehen, wie es den Kindern schmeckt, und vielleicht gelingt es doch, sie ein wenig zu zähmen. Und eines Abends sagt das Bübchen »Spatz.«

Er hat begriffen, daß die weiße Frau ihm den Namen gegeben hat. Das Wort ist ihm nun Ausdruck für alle Gefühle, wie er es bald flehend, bald ängstlich, bald fröhlich sagt, je mehr seine Sättigung fortschreitet. Sonderbar ist's, wie das Menschenwesen das Wort sagt, fast als ob ein Tier zu reden anfinge.

Leider genügt dies eine Wort schon, um die ganze Skala seiner Gefühle auszudrücken. Die Spätzin kommt überhaupt nicht so weit. Und schon nach wenigen Tagen sieht man ihnen an, daß sie rundlicher werden. Doch bleiben ihre Tischmanieren noch dieselben urwüchsigen, und berühren lassen sie sich immer noch nicht. Und doch freut sich die einsame Rosmarie jeden Tag auf die Zaungäste. Und es ist so seltsam, etwas hergeben zu können. Rosmarie hat noch nie etwas hergegeben, was ihr nicht sofort ersetzt worden wäre. Und der Tag hat so wenig Freuden. Jeder Tag bringt einen neuen Druck auf ihr Herz mit. Mag sie noch so schön auf weißem Marmorbalkon zwischen Palmen und am blauen Meere wohnen, es ist doch eine Verbannung. Ihr Vater wird sich daran gewöhnen, daß er eine Tochter hat, die heimtückisch, verlogen und trotzig ist, und er wird sie aus seinem Leben streichen. Er wird froh sein, wenn sie ihm keine neuen schlimmen Dinge bereitet.

Wie ein täglich niedergehender giftiger Meltau senkt sich das auf sie. Wenn sie ausgeht, – es geschieht nur noch selten –, kann der Professor seinem jungen Freunde nichts Gutes von der Hohenstaufin berichten. Ans Capo geht sie gar nicht mehr, es sind zu viele elegante Menschen da, die auftauchen und verschwinden, Schemen. Am besten ist's noch, auf der grün umsponnenen Marmorveranda zu liegen, durch die drolligen kleinen Marmorlöwen, die sie bewachen, durchzusehen nach dem Stück Meeresblau. Dann wird es Rosmarie so seltsam leicht zumute, namentlich seit das Diner wegfällt. Dann tauchen allerhand Bilder vor ihr auf, glänzend liebliche, heimatlich vertraute.

Jeder Festtag aus der wundervollen Zeit der Kindheit, der Lilientag – sie sieht Harro durch den Wald gehen am kalten Brunnen, wie er durch das Riedgras streicht, die Hand über die Augen hält, um nach ihr auszusehen im Sonnenglast, wie er neben ihr am Rain unter den Federnelken und nickenden Gräsern liegt. Wie der Thymian duftet, mit dem sie ihm die Rocktasche füllt. Und all die Leute mit leichten Füßen, wie sie durch die Gänge und Wendeltreppen der alten Heimat schritten, sie kommen wieder.

Wie schön, daß Miß Granger hinter ihrer Riesenzeitung eingenickt ist und nicht mehr von da aus ihr eine Information zukommen lassen kann.

Und noch eine Entdeckung macht sie, – je weniger sie den Tag über fremde Eindrücke in sich aufgenommen hat, desto glänzender, deutlicher und klarer werden die Bilder. Sieht sie denn wirklich in die Ruine? Warum steht Harro neben einer gelben Marmorsäule, und warum gibt es ihr einen solchen Stoß ans Herz, wie das Bild plötzlich verschwindet?

Rosmarie sinnt darüber nach, wie sie an ihrer Rosendecke stickt. Und unter ihren Händen entsteht Stich für Stich ein seltsames Kunstwerk. Rosmarie hat aufgehört, etwas anderes zu frühstücken als ein wenig Tee, Honig und Brötchen. Das zweite Frühstück braucht um ihretwillen gar nicht aufgetragen zu werden, sie schickt es unberührt wieder fort. Die getreue Lisa würde sich ängsten, wenn nicht Adolf ihr von dem wundervollen Appetit der Prinzessin bei ihrem einsamen Diner berichtete.

Und Rosmarie stickt ihre schlimmen Gedanken in die Decke, und manchmal lächelt sie ganz seltsam vor sich hin. – »Ich mache es fein, sehr fein, Vater, und es ist besser für dich, du hast keine Kinder, als die dir der Haß geboren und die mit einem Schrägbalken herumlaufen müssen. Und du wirst es nie wissen, nie.«

Wenn sie einmal, sehr selten ist es noch, ausgeht, und dem Herrn Professor begegnet, – er hat etwas, das sie an den Stiftsprediger erinnert – so schrickt sie zusammen. Und Weihnachten kommt näher. Ihr Vater schreibt ihr.

»Es ist mir ein unbehaglicher Gedanke, daß Du Weihnachten so allein verbringst. Wenn Du es dringend wünschen würdest, könnte ich vielleicht doch auf einige Tage nach dem Feste abkommen. Dein Wunschzettel war recht bescheiden, und ich weiß nicht, ob ich es diesmal treffe –« Rosmarie erschrickt. Nein. Vater soll noch nicht kommen. Er würde neben ihr sitzen, sie würde seine Hand halten, seine Stimme hören und doch so sterneneinsam, so fern von ihm sein. In ihren Briefen, da tun sie ja, als ob die schreckliche Wand nicht zwischen ihnen sei. Und sie schreibt sehr freundlich und fast munter von den italienischen Bettlerkindern, die sie ernährt – daß es mit dem eigenen jungen Leben geschieht, kann er ja nicht ahnen –, und erwähnt sein Anerbieten, zu kommen, mit keinem Worte.

Mit einem tiefen Seufzer legt der Fürst den Brief beiseite. So weit ist er ihr entgegen gekommen, viel zu weit. Er ist ein schwacher Vater. Könnte er überhaupt einen Sohn erziehen, wenn er seinen Kindern gegenüber so schwach ist! Und sich so sehr nach seinem trotzigen, schuldbeladenen Kinde sehnen muß, und zu allem bereit wäre, wenn sie nur ein einziges Wort, eine einzige Bitte ihm gewähren wollte!

Aber an ihrem Weihnachtsgeschenk soll trotz alldem nichts abgebrochen werden.

Und die Braunecker Weißtanne macht allen Zollscherereien zum Trotz ihren Weg, und da steht sie nun in der Villa Riposa zwischen den vielen goldenen Spiegeln, dunkel, streng und einfach, denn Rosmarie hat nur Lichter aufgesteckt. Alle möglichen schönen und kostbaren Dinge hat Lisa der Kiste entnommen und auf dem Tisch ausgebreitet, und Miß Granger hat mit etwas zitternden Händen – in der letzten Zeit ist sie recht zitterig geworden – daran herumgezupft. Es kamen auch die köstlichen Braunecker Lebkuchen, die nach uraltem Rezept in der Schloßküche bereitet werden und einen so heimatlichen Duft verbreiten.

Die Post hat noch eine Kiste gebracht an Ihre Durchlaucht aus Rom. Soll man das auch öffnen?

Lisa macht alle möglichen wilden Zeichen mit einem Stemmeisen in der Luft und schreit: »Open, open!« Miß Granger ist erst fünfzehn Jahre in Deutschland, und man kann es ihr daher nicht zumuten, daß sie die schwere Sprache beherrscht, und namentlich, wenn sie, wie bei der guten Lisa, etwas dialektgefärbt ist. Miß Granger erschrickt, »no, no« und setzt sich konfus und jämmerlich auf einen hellen Morgenrock der Prinzessin.

»Die wird immer einfältiger,« denkt Lisa ärgerlich.

Und Rosmarie kommt zu ihrer Bescherung herein, langsam und mühselig, und die Lisa erschrickt heftig. Sie sieht ja ihre Herrin jeden Tag, und darum bemerkt sie es nicht so sehr. Aber nun ist's, als sähe sie zum erstenmal genau, wie sie aussieht. Kaum daß sie noch auf den Lippen einen blassen rosa Schein hat, und sie hängt ganz vorne herein. Und die Hände! Wie hat Lisa das übersehen können? – ganz kraftlos und weiß hängen sie herunter mit dicken blauen Adern wie Schnüre darauf.

O wenn wir zu Hause und in Brauneck wären! Und da fällt auf die arme Lisa eine schreckliche Last herein. Sie sieht nach der zittrigen schnüffelnden Miß Granger, den braunen Knopfaugen der kleinen Angelina. Der verliebte Adolf ist schon wieder außer Sehweite. –

Was werden sie in Brauneck sagen! Lisa ist dafür angestellt, daß sie Kleider instand halten, frisieren, bei der Toilette helfen soll, und, wie ihre gute Mutter ihr noch aufgegeben hat, nicht, was unter den Nagel geht, von fremdem Gut sich aneignen und den Mund halten. Kein Mensch hat der Lisa Lader, Schlosserstochter von Brauneck, die Prinzessin Rosmarie von Brauneck anvertraut. Und doch, die Lisa ist kaum imstande, all die guten und schönen Dinge anzusehen, die sie bekommen hat. Sie muß so viel Gedanken in ihrem Kopfe wälzen, wie im Leben noch nicht. Die Prinzessin hat im Augenblick niemand, der sich um sie kümmert, außer ihr, der Lisa. Und der Fürst, der Herr Domänenrat, sogar der Herr Stiftsprediger tauchen vor ihr, der einen Lisa Lader, auf und sagen: »Ja, hat denn kein Mensch es gesehen und niemand geschrieben und es wissen lassen und beizeiten einen Doktor geholt?«

Es muß ja auch in diesem Lande einen deutschen Doktor geben, es gibt ja hier alles, auch eine deutsche Kirche, in der sich Lisa freilich nie recht heimisch fühlt. Die Prinzessin liegt schon wieder in ihrem Korbstuhl, gottlob; an ihrer schrecklichen Decke, die Lisa haßt, stickt sie nicht. Sie sieht an ihrem Christbaum hinauf. Ihre schönen Geschenke hat sie kaum angesehen. Miß Granger, noch zittriger als sonst, bedankt sich mit einem angreifenden Geschnüffel und geht zu ihrer geheimnisvollen abendlichen Unterhaltung. Die Köchin und die Angelina ziehen mit ihrer Beute ab, und Lisa hat keine Veranlassung mehr dazubleiben.

Und doch ist der Kopf ihr so voll und das Herz so schwer. Sie bleibt noch stehen und schaut verlangend und wie hilfesuchend nach ihrer jungen Herrin.

Die greift nach ihrem Baume hinauf und läßt die Zweige durch ihre dünnen Hände gleiten.

»Lisa, ist das nicht schön, daß der Fürst uns den Braunecker Baum geschickt hat, daß wir hier nicht allein sind? Du hast wohl auch Heimweh, Lisa?«

Die Lisa seufzt aus voller Brust: oh, daran darf man nicht denken! Daß man jetzt in Brauneck wäre, und die andern sagten zu einem: »Dumme Lisa, mußt du Prinzessinnen hüten und versorgen?«

»Durchlaucht, es ist noch ein Paket angekommen, soll ich's aufmachen?«

Sie fühlt, wenn die Prinzessin jetzt noch ein Wort sagt, muß sie weinen.

»Von wem ist es denn?«

Und plötzlich wird die Prinzessin dunkelrot, sie hat die Aufschrift gelesen: »Roma.« Lisa öffnet mit Mühe, und Rosmarie nimmt mit zitternden Händen einen Brief, der oben auf liegt. Es sind nur wenige Zeilen, sie hat ihn gleich überflogen. Und nun schält sich aus vielen Hüllen ein schwerer Gegenstand. Eine holzgeschnitzte Gruppe, etwa drei Hände groß. Eine lange schlanke Mädchengestalt. – Lisa denkt, man könnte meinen, sie sähe der Prinzessin ähnlich. Mit ausgestrecktem Arm hält sie eine lange Flechte von sich, an der sie mit feinen Fingern flicht, die andere Hälfte des Haares fällt auf die Schultern und um die schwanke Gestalt, die barfuß nur mit einem Hemde und dünnem Röckchen bekleidet ist. An das Mädchen schmiegt sich eine köstliche Gans mit ausgebreiteten Flügeln, die sie zu verteidigen scheint. Eine zweite Gans streckt zischend den Hals gegen einen Buben, der mit gelüstigem Gesicht mit einer Hand nach den Flechten tastet. Die schönste Gans ist die vorderste, die mit unglaublich drolliger Würde, wie die Gänse sie zuweilen haben, der ganzen Gruppe vorangeht.

Der Prinzessin große Augen strahlen: »Kennst du das, Lisa? Die Prinzessin, die die Gänse hüten mußte, im fremden Lande, und schweigen und erleiden, wie man ihr alles nahm, ihren Namen, ihre Liebe.«

Nein, die Lisa kennt es nicht. Und darum erzählt es ihr die Prinzessin. Es ist eine wunderschöne Geschichte, aber beinahe zum Weinen. Denn die Prinzessin sagt:

»O Falada, da du hangest,
O Jungfer Königin, da du gangest,
Wenn das deine Frau Mutter wüßte!«

Und zum großen Glück kommt alles zu einem guten Ende. Die Lisa heitert sichtlich dabei auf. Und als sie geht, küßt sie der Prinzessin die dünne Hand. Die anderen Kammerfrauen, die ausländischen, die richtige Kammerfrauen sind und nicht nur Garderobemädchen wie die Lisa, tun das immer. Aber die Lisa ist ein Braunecker Kind, wo man keine Handküsse gibt und die Leute, die das tun, lächerlich und etwas verächtlich findet. Und die Prinzessin läßt's geschehen und sagt nur:

»Du liebe Lisa, wie bin ich froh, daß ich dich habe, und nun haben wir etwas so Wunderschönes zu Weihnachten bekommen.«

Und Lisa geht hinaus und beschließt: »Also morgen lasse ich der jämmerlichen Miß keine Ruhe, bis sie nach einem Doktor schickt, und wenn sie's nicht tut – dann –, dann schreibe ich dem Herrn Stiftsprediger!« Und der Lisa wird ganz leicht zumute, wie sie ihren duftenden Braunecker Lebkuchen ißt. –

Rosmarie liegt unter ihrem Tannenbaume und sieht nach ihrem schönen kleinen Kunstwerk, und ihre Augen liebkosen jede Linie!

»O du Kluge, du Graue! Die Leute heißen dich dumm, die dich noch nie hinter einem Hund drein lachen und schwatzen haben hören und dir nicht auf deinen nachdenklichen Schnabel gesehen haben! O Harro, und diesmal habe ich dir nichts, und nur so arme, leere Worte hast du mir zu schreiben getraut. Aber ich verstehe ja deine Linien und daß du mich nicht vergessen hast. Und daß du mir dieses schickst! Weißt du denn, daß ich in der Verbannung bin und alles verloren habe ... Meine Liebe, meine Heimat, meine Ehre ...«


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