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Der große Tag ist gekommen. Harro steht auf der Empore der Stiftskirche, eines Hauptes höher als alles Volk. Er ist sehr ernst und sieht mit seinen grauen Falkenaugen nach der reinen, zarten, weißen Gestalt unter den anderen schwarzgekleideten Kindern. Der Fürst steht auf seiner in den gotischen Chor eingebauten Empore, der ehemaligen Herrschaftslaube an dem schmalen Fenster, und sieht hinunter auf seine junge Tochter. Wie eine zarte schwanke Lilie steht sie da, und nun senkt sie ihren goldenen Kopf unter der Hand ihres Lehrers. Ein Zittern läuft durch die feine Gestalt. Harros Augen haben es auch gesehen und ein zorniger Blitz schlägt aus ihnen, er ballt seine Hände.
»Quälerei – warum können sie das Kind nicht lassen, es ist wahrhaftig fromm genug.«
Gottlob, sie kann wieder aufstehen und schneeweiß an ihren Platz gehen.
Harro bereut in fliegender Eile verschiedenes. Daß er da ist, daß er nicht vorher abgereist ist, daß er den heutigen Tag zum Abschied gewählt hat. Vor dem Kirchenportal drängt sich groß und klein, Kinder und Eltern, Rosmaries Mitschülerinnen, sie wollen die Herrschaften einsteigen sehen. Ach wie fern ist sie ihnen geworden ... Es legt ihr ein Diener den weißen Mantel um, sie sitzt neben der Fürstin, der Fürst sitzt auf dem Rücksitz. Sie grüßt noch sehr freundlich, es ist aber doch anders als sonst. Die Pferde ziehen an. Ja, da wird sie rot, sie beugt sich vor.
»Vater, Harro ist da, nimmst du ihn nicht mit in den Wagen?«
»Nein, Rosmarie, wir sehen ihn nachher.« Mama lächelt ein wenig und sagt: »Gewiß, es hätte sich sehr hübsch gemacht,« und der Wagen rollt weiter ...
In das Empfangszimmer kommen alle Schloßherren und der Herr Hofrat. Und Rosmarie muß sich daran gewöhnen, daß wirklich sie gemeint ist, wenn sie »Durchlaucht« angeredet wird. Schön ist es nicht. O nein. Zum Glück sagt der Herr Stiftsprediger, der später neben ihr an der Tafel sitzt, noch Rosmarie. Harros Platz ist neben der Fürstin. Die Tafel ist breit, nur hier und da hört Rosmarie das Wort: Paris ... Sie ist müde, sie hat heute zu viel erlebt, und der Tag ist lange noch nicht zu Ende. Und Harro, der durch das große mittlere Tafelstück hindurch hier und da das blasse Goldhaar sieht, denkt: Es ist doch gut, daß es heut zu Ende geht. Das Abschiednehmen ist etwas Entsetzliches und muß besser schnell und vor allen Leuten gemacht werden. Der Teufel hol die Sentimentalität! Wäre ich allein mit der guten Frau Mutter und dem Kinde, es wäre nicht durchzumachen. Schon die Fragen allein ...
»Gewiß, Durchlaucht, Versailles ist eine richtige Prachtwüste, außerordentlich melancholisch, besonders an Regentagen ... die große Oper, man verwechselt sie immer mit der Madeleinekirche: oder war's die Börse ...«
»Sie verwechseln schon zum zweiten Male die Madeleinekirche mit etwas anderem ... ich glaube, daß Sie sehr zerstreut sind, Graf Thorstein.« schmollt die Fürstin. »Ihre Gedanken sind schon ganz in Paris.«
Auch dieses Diner hat glücklicherweise ein Ende. Nachher ist ein klein wenig Herumstehens mit den Kaffeetassen – dann verabschiedet sich alles, und Harro denkt: Nun habe ich richtig kein Wort mehr als meine gemurmelten Wünsche ... Aber da faßt ihn der Fürst am Arm.
»Die Sonne ist so herrlich, ein wahrer Frühlingstag, wir wollen noch einmal ums Schloß gehen, oder lieber auf der Sonnenseite auf und ab. Machen Sie uns noch einmal die Freude, wir werden Sie jetzt lange nicht sehen.« Harro verneigt sich stumm. Die Fürstin, obgleich sie sehr müde zu sein behauptet, wird wieder munter und hat auch ein großes Verlangen nach Sonnenschein. Sie geht neben Harro, der Fürst führt seine junge Tochter am Arm.
»Ich muß mein großes Kind heute noch einen Augenblick neben mir haben.«
Sie gehen durch die noch kahlen Rosenbogen. Unten blinkt der blaue Fluß und über die Waldberge läuft schon der rosaviolette Hauch, der die jungen Blätter verspricht. Die Fürstin zieht ihre rauschende Schleppe über den goldglänzenden Kies und hält sich einen Fächer gegen die so teintverderbenden Frühlingssonnenstrahlen vor. Was sie spricht, versteht man nicht, aber lachen kann man sie hören.
»Rosmarie, du bist so still, die Feier hat dich doch recht angegriffen.«
»Ja, Vater, und es ist mir auch schwer geworden. Es ist mir, als müßte ich nun immer die allerschwersten Steine aufheben. Ob ich das können werde?«
»Aber Kind, hat dir der Herr Stiftsprediger das Herz so schwer gemacht?«
»O nein, er hat es mir immer leichter gemacht. Aber sieh, Vater, nun geht Harro fort, und ich kann kein Wort mehr mit ihm reden. Siehst du nicht an seinem Rücken, wie er sich ärgert, und an seiner Hand, die er immer auf und zu macht, siehst du so – wie wenn er etwas zerdrücke. Das tut er immer, wenn er zornig ist.«
Der Fürst lacht leise, sehr gut gelaunt. Also das Pariser Gespräch behagt dem Thorsteiner – die Kleine muß es ja wissen – nicht so sehr. Er sagt:
»Rosmarie, du sollst noch einmal die Sonnenseite entlang mit deinem alten Freunde gehen, das ist nicht mehr als billig. Heute ist ja doch dein Abschied aus dem Kinderland. Ich gehe mit Mama.« Und plötzlich sah Harro sich befreit von der Fürstin und im dünnen Schatten des Rebganges, an der warmen, sonnigen Mauer, um die ein leiser Veilchenduft schwebte, schritt Rosmarie neben ihm. Einen Augenblick gingen sie schweigend, aber die Minuten sind zu kostbar.
Rosmarie begann: »Du warst auch in der Kirche, hast du nun den Herrn Stiftsprediger gehört?«
»Nicht gerade alles. Er schien mir sehr menschlich zu sein!«
»Was könnte er denn sonst sein?«
»Nun, er könnte zum Beispiel auch geistlich sein.«
»Damit meinst du sicher nichts Schönes, Harro, ich hör's an deinem Ton.«
»Für meine Töne kann ich nichts, die Flöte ist ungeschmiert.«
»Harro, ich war heute morgen so froh, als die Sonne kam. Ich habe von der Gisela geträumt heute nacht, und das tue ich sonst nie. Im Schlafe, meine ich. Und sie ging auf der Himmelswiese, die war so grün und voll Sternblumen, und sie lächelte mir zu. Sie ging mit nackten, so schönen Füßen zu einer Quelle, die aus dunkeln, moosgrünen Steinen hervorkam und dann einen kleinen runden See bildete. Sie nahm ihr Gewand auf und ging hinein, daß die blanken Wellen über ihre Füße liefen. Ich fragte: ›Warum tust du das?‹ Da sagte sie: ›Ich bin doch über so viele Nadeln und kleine und große Schwerter und glühende Eisen gegangen.‹ ›O du Arme,‹ rief ich, ›hast du das tun müssen?‹ ›Das ist das Schlimmste nicht, viel, viel schlimmer ist, wenn der Saum nicht mehr rein ist.‹ Da bückte sie sich und nahm den Saum von ihrem Gewande, der war wie ein glänzendes Sommerwölkchen so weiß, und wusch daran. Ich sagte: ›Er ist doch so weiß.‹ Da antwortete sie: ›Von Tränen, von Tränen.‹ Und dann streckte sie ihre Hand nach mir aus und fragte: ›Wo ist denn Harro?‹ Da erschrak ich und wandte mich um, und du warst nicht da. ›Sie haben ihn nicht hereingelassen,‹ rief ich und weinte und fiel vor Weinen auf den Boden. Da kam sie zu mir und setzte sich auf einen kleinen Rain und nahm meinen Kopf auf ihre Knie und strich mir über das Haar und sagte: ›Von Tränen, von Tränen.‹ Und auf einmal war ich in einer Schlucht, wo hohe dunkle Felsen standen, da ging ein schwarzer Bach und ein Wind seufzte und immer noch hörte ich die Gisela sagen – ›von Tränen‹ – oder sagte es der Bach. Da dachte ich, es ist gewiß der Tränenbach, so viele Tränen sind schon geflossen – und die Winde seufzen dazu. Und immer suchte ich und sehnte mich und wollte zurück nach der Wiese, und konnte nicht ohne dich kommen und mußte dabei noch denken, ob ich gewiß meine Lieder für den Unterricht könnte, und suchte die zusammen. ›Gib allen denen ... die sich von Herzen sehnen, ein ...‹ Da gab es einen Stoß, und es war wie ein heller Freudenschein. Da, da bin ich aufgewacht.«
Harro hatte mit tiefstem Ernst zugehört. »Rosmarie, du hast eine Künstlerseele, ich habe deinen Traum ganz miterlebt. Du fühlst die Farben, du siehst Bilder –«
»Wovon sprechen die beiden so angelegentlich da hinten, Rosmarie hat ganz rote Wangen?«
»Nun, du hörst es doch, von Himmelswiesen, von Bildern.«
»Du hast die Farben so fein kontrastiert, die weiße Frau mit den ein wenig rosigen Füßen, die feinen Wellen, es werden nur Wasserringe gewesen sein, die schönen Wasserringe mit glänzenden Rändern, das dunkelgrüne Moos. Und was ist es denn für ein Lied?«
»Gib allen denen,
Die sich von Herzen sehnen
Nach dir und deinen Hulden,
Ein Herz, sich zu gedulden.«
»Schön ist das, Seelchen, du hast also auch schöne Dinge gelernt.«
»Viele schöne. Und ich bin so froh, daß ich konfirmiert bin, ich wollte es ja gar nicht werden, und daher kam wohl der Traum. Ich hatte Angst, Harro, ich verließe dich damit.«
Dem langen Thorsteiner gab es einen sonderbaren Stoß ins Herz.
»Du verließest mich damit ...« Hatte er es wirklich wiederholt, oder flüsterte es nur der leise, ach so duftbeschwerte Frühlingswind?
»Ich wäre auf den Himmelswiesen und du da draußen.« »Das Draußen, das ist wohl ein schlimmer Ort, Seelchen? Ich hoffe doch nicht. Es muß da auch sehr feine Leute geben. Solche, die sich nicht in die Hallelujagegenden trauen und doch nicht höllenreif sind. Es wächst Asphodelos dort und es murmelt ein Bach nach Vergessen.« –
»Ist es nicht ein wenig unpassend, dieses gar so innige tête à tête?«
»Laß sie doch, es ist ein geistliches Gespräch, nun sind sie an der Hölle – vorher waren sie am Himmel. Es ist sehr viel passender für den heutigen Tag als deine Pariser Reminiszenzen.«–
»Vergessen, Harro, will ich nicht ...«
»Oh, manchmal ein bißchen Vergessenheit nippen,« murmelt er.
»Was willst du vergessen?«
Da schrickt er auf.
»O Harro, wir haben uns nur so kurze Zeit. Mama wird ungeduldig, ich fühl's. Wie oft schreibst du mir? Jede Woche? Ich muß die Tage zählen bis Weihnachten. Und Harro, du denkst daran, daß ich nicht ohne dich auf die Himmelswiese kommen kann. So wie die Gisela mich gefragt hat: ›Wo ist denn Harro?‹ so wird Gott mich fragen. Heute habe ich mich doch Gott versprochen, daß ich ihm dienen will. Du hast es gehört: Gott und meinem Herrn Jesu dienen mein Leben lang.«
Die hohe feierliche Silberstimme dringt durch das Fliedergebüsch, das sie von den andern trennt. Da legt der Fürst eine eiserne Hand auf den Arm seiner Frau und sagt mit zusammengebissenen Zähnen: »Ich will nicht, daß dem Kinde die heutige Andacht gestört wird. Hörst du, ich dulde es nicht. Der Morgen ist ein ganzes Leben lang und hat für alles Zeit.« –
»Ja, ich habe es gehört,« antwortet Harro.
Sie stehen sich gegenüber, die lange, schwanke Gestalt in dem weißen Kleide, und der hohe Mann mit finster zusammenzogener Stirn.
»Ich habe es gehört, sie versprachen alle das gleiche.« »Dann müssen sie es auch halten. Ich fühlte, daß mich etwas berührt hat. Und ich habe es einmal getan.«
»So siehst du aus,« sagte der Thorsteiner leise ... »Und ich wünsche dir von Herzen, daß du immer recht glücklich dabei sein mögest.«
»Nie ohne dich, Harro. Immer muß ich dich suchen gehen. Und wenn ich schon tot wäre, wie heute nacht im Traum, so müßte ich wieder zurück und dich suchen. O Harro, du hast mir so viel Liebes getan. Ohne dich wären mir Brennesseln und Stechranken in meinem Garten gewachsen und Giftblumen. Weißt du, wie du mein Bild gemalt hast, den Ehrensaal? Sieh, so gehe ich, so lange ich lebe, und wenn ich tot bin, und trage meine Liebe und so bringe ich sie einmal zu Gott.«
»Seelchen, hör auf. Du weißt nicht, was du sagst. Das ist nicht auszuhalten, komm herauf zu deinem Vater – du Kind – du Seele.«
Er ging voraus mit langen, stolzen Schritten. Rosmarie folgte ihm langsam und traumverloren. Fürst und Fürstin kamen durch den Rosengang, ein leichtes Abendgold lag schon am Himmel. Sie stiegen miteinander die hohe steile Treppe hinauf zur Sonnenuhr. Der Fürst sprach noch einige hastige Worte über die morgige Abreise und die besten Zugverbindungen. Sie gingen durch die Waffenhalle, wo Harro abgelegt hatte. Es war kein Diener da, und der Fürst half ihm selbst danach sehen. Die Fürstin lächelte, Rosmarie war so weiß wie ihr Kleid. Harro verabschiedete sich von der Fürstin und küßte ihr die Hand und murmelte etwas von untertänigstem Danke. Auch er sah graufahl aus, oder machte es nur der schattige Raum nach all dem Frühlingsglanze draußen?
»Nun, ich hoffe, wir sehen uns im nächsten Jahre wieder, Graf Thorstein. Und vergessen Sie uns nicht ...«
Und nun beugt sich Harro auch über Rosmaries Hand, die totenblaß und aufrecht dasteht und den größten Schmerz ihres Lebens so tapfer wie möglich zu ertragen sucht.
»Nochmals tausend Dank für alles, und nun wünsche ich Eurer Durchlaucht die schönsten Jugendjahre ... alles Gute und ...«
»So sollst du nicht sagen.« Das Wort hat sie getroffen wie ein Dolchstich – »Ich bin immer für dich, was ich war und wie ich dich bis jetzt geliebt habe, so werde ich dich immer lieben.«
Sie schlang ihre jungen Arme um seinen Hals, so weit konnte sie gerade reichen, und drückte schluchzend ihren goldenen Kopf an seine Brust.
Harro war auch totenblaß geworden, nahm sie mit sanfter Gewalt von sich weg und führte sie zu ihrem Vater und sagte leise: »Herrschaften, ich bitte tausendmal um Vergebung, ich habe dies nicht gewollt und gewußt. Und muß nun vor Ihnen, die Sie mir Güte erwiesen haben, dastehen wie einer, der Vertrauen mißbraucht hat ...«
»Harro, so sollen Sie doch nicht fortgehen, wir glauben Ihnen ...«
»Tausend Dank Euer Durchlaucht für das Wort ...« und Harro war schon die Treppe hinunter.
Die Fürstin hatte ihre Augen, in denen ein unheimliches Licht flackerte, nicht von Rosmarie gewandt, die sich auf einen kleinen Diwan geworfen hatte und bitterlich schluchzte.
O Rosmarie, warum hast du dein blaues Männlein vergessen!