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Rosmarie geht dieses Mal sicher mit nach Berlin. Die Fürstin seufzt zwar: »Die Luft bekommt ihr nie gut ... und es wird Schwierigkeiten haben, sie unterzubringen, da wir ja die Zimmer zu einem Wintergarten machen wollen ...«
»Für meine Tochter werden sich doch in dem ganzen großen Haus passende Räumlichkeiten finden,« sagt der Fürst eisig und ganz ohne seine gewohnte Höflichkeit.
Schon kann man die Braunecker Tage zählen, als Frau von Hardenstein sich bei der Fürstin, die sie sonst sehr ungern stört, melden läßt: Herr Stiftsprediger habe wegen des Konfirmandenunterrichts angefragt. Wenn die Prinzessin den Winter in Berlin zubringen werde, so wünsche er den Namen des dortigen Geistlichen zu erfahren, daß er sich mit ihm in Verbindung setzen könnte. Den letzten Unterricht werde die Prinzessin ja doch in Brauneck erhalten, und es sollte irgendein Plan der Unterweisung zugrund gelegt werden. Die Fürstin hatte mit allen Zeichen äußerster Langeweile zugehört, sie flocht Zöpfe aus den Fransen ihres Stuhles und gähnte kunstvoll und höflich durch die Nase. Plötzlich war sie ganz lebendig:
»Ich bitte Sie, Frau von Hardenstein, Rosmarie ist vorher schon verwirrt genug, – was werden da zwei geistliche Herren anrichten! Natürlich ist der eine orthodox und der andere liberal – und die arme Rosmarie mit ihren schon vorher verrenkten Ideen! Nein, das kann ich nicht gut finden. Ich werde mit dem Fürsten reden.«
Der Fürst ist ganz erstaunt, wie die Sache ihm vorgetragen wird. Ist es denn schon so weit – seine Kleine! Freilich, sie ist dreizehn, und der Unterricht geht über zwei Jahre, sie wird also fünfzehn ... Nein, zweierlei Unterricht soll Rosmarie gewiß nicht bekommen. –
Also wird der Herr Stiftsprediger zum Diner gebeten, und nachher, wenn die Herren zu einer Zigarre in die Sommerstube gegangen sind, kann die Frage mit ihm besprochen werden. Der Fürst kennt seinen Hofprediger und Seelsorger noch kaum. Er ist zwar schon einige Jahre da, aber der Fürst ist ja so selten daheim. Der allsonntägliche Predigtbesuch gehört wohl zu den Braunecker ererbten Gewohnheiten. Des Fürsten Vater hat seinen Erbprinzen, der an Sonntagen hie und da gegen die altgewohnte Sitte und milde Langeweile aufmucken wollte, stets abgefertigt: »Es gehört sich.« Gar zu regelmäßiger und gezwungener Besuch des Gottesdienstes ist nicht immer förderlich für die Gewohnheit des Aufmerkens; der Fürst hat selten eine bessere Gelegenheit gefunden, seinen Gedanken Audienz zu geben, als während der Sonntagspredigt. So kennt er also den Herrn Stiftsprediger recht wenig; es liegt ihm aber sehr daran, daß seine Tochter einen befriedigenden Unterricht bekommt. Er findet, daß einer Frau ein leichter religiöser Anhauch sehr wohl anstehe. Eine freidenkende Frau erscheint ihm auch ästhetisch unbefriedigend – vulgär.
Die Unterredung mit Hochwürden verlief aber etwas anders, als sich Serenissimus gedacht. Der Stiftsprediger fragt, ob die Prinzessin wohl die Kenntnisse habe, welche die Volksschüler schon mitbringen in den Unterricht? Herr Präzeptor habe sich gleich bei seinem Antritt von jedem Religionsunterricht dispensieren lassen ... und Frau von Hardenstein habe ihm gesagt, daß sie keinen Unterricht übernommen habe, sie fühle sich nicht vorgebildet genug ...
Der Fürst wird etwas ärgerlich und verlegen. Es ist nicht angenehm, seine Tochter unter dem Bildungsniveau der Volksschüler anzutreffen. Und allerdings bleibt da nur Miß Whart übrig, die ihm als eine sehr religiöse Dame gerühmt worden ist.
»Es schien mir eher zu viel Religion damals, als zu wenig ... Freilich, was meine Kleine davon behalten hat?«
Der Herr Stiftsprediger meint, es werde das einfachste sein, wenn er selbst der Prinzessin einige Fragen stelle, und danach werde er Seiner Durchlaucht einen Plan vorlegen, wie der Unterricht am besten zu gestalten sei. Der Fürst findet, daß sein Hofprediger ein umständlicher und pedantischer Herr sei, und überdies steigen ihm die dunkelsten Befürchtungen über Rosmaries fragebereite Wissenschaft auf.
»Meine Kleine, fürchte ich, wird etwas schüchtern sein, sie gewöhnt sich schwer an Fremde. – Auch drückt sie sich zuweilen etwas sonderbar aus. Darauf müssen Sie schon Rücksicht nehmen ...« Der Herr Siftsprediger lächelt auf eine besondere Weise und sagt:
»Ich glaube, daß Durchlaucht sich darüber beruhigen können. Ich habe von Herrn Präzeptor schon gehört, wie ungewöhnlich begabt und eifrig die Prinzessin ist.«
Der Fürst selbst sieht in diesem Moment nicht überwältigend geistreich aus. Hätte ihm der Herr Präzeptor etwas Ähnliches gesagt, so hätte er ihn für übertrieben höflich und zudringlich gehalten. Aber daß er sich andern gegenüber so geäußert, verwundert ihn sehr. Seine Kleine! Seine arme Kleine mit den konfusen Ideen sollte nun mit einem Male begabt sein!
Er teilte Rosmarie die Sache nicht ohne aufrichtiges Bedauern mit.
»Er wird dich etwas fragen, Rosmarie, und wenn du nicht viel weißt, geht es nicht ans Leben ... Schließlich wird der Herr Stiftsprediger dir schon etwas beibringen ... Und wenn die Fragerei ganz bedenklich werden sollte, so mußt du eben zu dem Mittel der Cousine Amy greifen.«
»Was tat die?«
»Sie war eine Waise und wurde mit uns erzogen. Wenn sie gefragt wurde, was ihr nicht paßte, oder wenn irgend etwas herausgekommen war, was wir gemeinsam verübt hatten, so fing sie herzbrechend zu weinen an. Ihr geschah dann immer am allerwenigsten, und ich muß sagen, sie hat sich trefflich durchs Leben emporgeweint.«
Rosmarie sieht ihren Vater bedenklich an, – das Mittel der Cousine Amy setzt eine schlimme Situation voraus.
Und nun ist der gefürchtete Augenblick da, der Herr Stiftsprediger sitzt in einem der tiefen Stuhle im Lernzimmer dem Kinde gegenüber. Frau von Hardenstein hat er gebeten, ihm die Kleine allein anzuvertrauen. Er ist lang und hager und hat sehr dunkle Haare, die ihm leicht ins Gesicht fallen, und eine gelbliche Haut. Seine tief liegenden Augen sind dunkelgrau und sehr still. Merkwürdig still für einen noch jungen Mann.
Des Fürsten schlimme Befürchtungen über Rosmaries Antwortfähigkeit sind eingetroffen. Von Propheten hat sie noch nichts gehört. Von Moses weiß sie nur, daß er in einem Babykörbchen schwamm und später Frösche regnen ließ. Wie viel Bücher das Alte oder Neue Testament enthält, ist ihr auch nicht bekannt. Vierundzwanzig englische Psalmen hat sie auswendig gelernt, ist auch bereit sie herzusagen, aber der Herr Stiftsprediger kann nicht englisch. Das Seelchen sucht verzweifelt in ihren Erinnerungen und findet nichts, was auf die Fragen paßt, und hat ein dumpfes Gefühl, als ob der Herr Stiftsprediger sich darum bekümmere, daß sie so dumm sei und nichts wisse. Ach, wenn man doch nach Griechen und Römern und deutschen Kaisern fragte und nicht nach den alten Juden! Und nun sagt ihr neuer Lehrer schon mit einer milden Hoffnungslosigkeit in der Stimme:
»Können Sie mir einen Spruch oder ein Gleichnis Jesu sagen?« Rosmarie gibt keine Antwort, es fallen ihr wohl Sprüche ein, aber ob die nun von Jesus sind? Und wieder sieht sie der Herr Stiftsprediger fast traurig an. Da überwindet sie sich, sie wird dunkelrot und sagt:
»Ich weiß Geschichten von Jesus.«
»Können Sie mir eine davon erzählen, Rosmarie, es muß ja nicht wörtlich sein.«
Rosmarie erzählt. Sie hat immer noch ihr hohes feines Stimmchen, das so leicht einen feierlichen Klang annimmt: »Ich will die Geschichte von Jesus erzählen, wie er so alt war wie ich. Es ist ein Fest gewesen in Jerusalem, und alle Leute gingen in die Stadt und trafen sich vor der großen Judenkirche. Alle, die man kannte, begrüßte man und freute sich und zog die großen Treppen hinauf, und Jesus und seine Eltern waren auch dabei. Und Jesus war noch nie dagewesen, und wie er hinein kam in die Kirche, da ging es ihm durchs Herz und er dachte: Bin ich nicht schon oft und oft dagewesen? Und er konnte nicht mehr reden und mußte auf den Zehen gehen und konnte nur flüstern. Aber die andern Leute kehrten sich nicht daran und sprachen laut miteinander, und die waren doch alle schon oft dagewesen. Und Jesus mußte an den Säulen hinaufsehen und nach dem großen Vorhang, wenn der sich ein wenig bewegte, und es tat ihm weh, daß die Leute so laut sprachen, und meinte, wenn es ganz stille wäre, so müßte er etwas hören und etwas sehen und es geschähe ein Geheimnis. Und so ließ er seiner Mutter Hand los und ging hinter die großen Säulen. Hinter denen waren wieder Säulen. Und so kam er in eine kleine Halle. Da saßen alte Juden und lasen in großen Büchern und sprachen so sanft miteinander. Da dachte er: ›Ach, vielleicht wissen die es, was da ist und mit mir geht, daß ich meine, ich müßte es hören und wissen und es bedrängt mich.‹ Da sagte einer der alten Juden: ›Was machst du für Augen, Junge,‹ und der andere sagte: ›Geh fort, Junge!‹ Aber wieder einer sagte: ›Laßt ihn da!‹ Da setzte sich Jesus hin und hörte, was sie sagten, und sie sprachen vom Himmel und von Gott. Und Jesus mußte sich wundern, denn er kam doch dort her und hatte es nur ein klein wenig vergessen gehabt, weil er ja ein kleines Kind gewesen war. Und das Herz schlug ihm, denn es war ihm, als wäre er nun wieder daheim und habe doch immer Heimweh gehabt und es nicht gewußt. Und die alten Juden waren sehr lieb mit ihm und gaben ihm Antwort, wenn er fragte. Aber Jesus Mutter hatte schon lange nach ihrem Sohn gesucht, und wie es Abend wurde, bekam sie Angst, denn Jesus war immer so gut gewesen und hatte sie nie betrübt. Und sie dachte, es ist etwas geschehen. Vielleicht hat ihn jemand Fremdes mitgenommen, weil er so schön und gut ist, oder sind Zigeuner da. Und sie fragte alle Leute: ›Habt ihr meinen Jesus nicht gesehen?‹ und lief alle Wege und konnte ihn nicht finden. Endlich ging sie wieder in die Judenkirche zurück. Da war es schon ganz dunkel, und alle Leute waren nach Hause gegangen. Sie ging an all den Säulen hin, und der Vorhang bewegte sich. Da kamen ihr die Tränen. Da sah sie ein kleines Licht zwischen den Säulen, dem ging sie nach. Da waren die alten Juden, und ihr Jesus dabei, und sie sah, wie ihr Jesus froh war. Da war sie froh und betrübt zugleich und sagte: ›Oh, warum hast du mir das getan? Dein Vater und ich, wir haben dich mit Schmerzen gesucht.‹ Da sagte Jesus: ›O Mutter, ich bin ja hier daheim.‹ Und Maria antwortete: ›Soll ich nun allein sein ohne dich?‹ Da ging Jesus wieder mit ihr nach Hause, und Maria mußte immerfort daran denken, was er gesagt hatte, und daß er nicht bei ihr daheim sei. Und alles mußte sie bedenken.«
Der Herr Stiftsprediger sitzt ganz versunken da, er hat sie kaum angesehen während ihrer Erzählung, und doch, wie er den Kopf herunter hängt und auf seine Hände blickt, da fühlt man wohl, daß er jedes Wort hört und daß sein Zuhören einen nicht stört. Und nun sieht er auf, und seine Augen sind nicht mehr traurig, nein, gar nicht.
»Rosmarie, Sie müssen die Worte Jesu, auch wenn Sie die Geschichte erzählen, wie sie Ihnen im Herzen aufgegangen ist, nie verändern. Halten Sie fest an den Worten, man muß sie so wiedergeben, wie Luther oder die andern großen Übersetzer sie uns gegeben haben. Wenn Sie einmal die Matthäuspassion von Bach hören, ich möchte es Ihnen wünschen, es wird Ihnen eine ganz neue Welt aufgehen, so werden Sie hören, daß die Worte Jesu, die gesungen werden, stets von den zartesten Geigentönen begleitet, wie mit Gold umwoben sind. Da hat ein großes Herz den innigsten Ausdruck für seine Andacht und Liebe gefunden. Denken Sie daran, wenn Sie ein Wort Jesu wiederholen. Diese Worte bringen ihre himmlische Melodie schon mit sich, wir können nur daran verderben. – Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist.«
Und Rosmarie wiederholt: »Ich muß sein in dem, das meines Vaters ist.«
»Und nun wollen wir uns einen Plan machen, damit Sie auch erfahren, was uns die alten Juden gegeben haben.«
Am Abend kommt das Seelchen zu ihrem Vater, um gute Nacht zu sagen.
»Und wie ist's dir heute morgen ergangen?«
»Ich war sehr dumm und Herr Stiftsprediger war sehr traurig zuerst. Dann habe ich ihm einen Aufsatz über den kleinen Jesus gesagt, den ich einmal in mein blaues Heft geschrieben habe. Das ist nicht für den Herrn Präzeptor, und da darf ich alles hineinschreiben, was mich freut. Und das liest Harro jedesmal, wenn er kommt, und fragt: ›Was steht Neues in dem blauen Heft?‹ Harro ist sehr klug, Papa, aber den argen Fehler, den ich gemacht habe, hat er nicht gemerkt.«
»Aber der Herr Stiftsprediger! – Welch ein Glück, Rosmarie, daß nun jemand noch klüger ist als dein langer Freund: ich hatte gedacht, gegen ihn komme niemand auf.« Vater und Tochter sind in dem Fürstenzimmer, der Sommerstube, die so heißt, weil sie eine sehr schöne Stuckdecke besitzt, auf der im Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts der Sommer als schöner Jüngling mit Ährengarbe und Sichel abgebildet ist. Die Sommerstube geht nach dem Tale zu, und man sieht so schön hinunter auf das Dorf, den Fluß im sanften Bogen und die Waldberge. Über des Fürsten Schreibtisch hängt nun das Bild des Seelchens, dem sie schon leise zu entwachsen anfängt und das ihrem Vater immer teurer geworden ist.
»Papa, von der himmlischen Melodie hat Harro nichts gewußt.«
»Also dein Lehrer ist eine Nummer über den unvergleichlichen Harro hinaufgekommen. – Nun, ich weiß jetzt, wie man bei dir daran ist ... dem Herrn Stiftsprediger ist es gelungen, dich so zu gewinnen, daß du an deinen alten Freunden Fehler findest.«
Rosmaries Augen stehen voll Tränen. »Hab ich das getan?«
»Ich bitte dich, Kleine, sei nicht so weichmütig. Harro ist sakrosankt, und es freut mich, daß dich der Unterricht nicht schreckt. Und laß mich auch dein blaues Heft sehen.«
»Ich habe auch ein rotes Heft, Papa, für mich ganz allein.«
»Das Harro nicht zu sehen bekommt?«
»Wenn er wollte, schon. Aber er will nicht. Er will nichts davon hören, und Frau von Hardenstein auch nicht.«
»Von dem roten Heft?«
»Nein, von dem, was darin steht.«
»Ja und ich? Will ich auch nichts davon hören?«
Seelchen sieht ihren Vater zweifelnd an. »Vielleicht wirst du auch böse sein!«
Der Fürst lacht: »Bring mir dein rotes Heft, das nicht einmal Harro kennt, wenn du glaubst, daß ich vertrauenswürdig bin. Dein allertiefstes Geheimnis!«
»Papa, aber lachen darfst du nicht. Es tut mir weh. und es ist auch den andern gegenüber nicht recht.« »Was werd ich. Nein, ich fühle mich sehr geehrt, wenn ich dein Geheimnis empfangen darf. Lege mir dein rotes Heft auf meinen Schreibtisch. Nun geh, da ist der Gong.« – – –