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9. Freud und Leid nah beisammen

Die Wiese um Nazis Bauernhof war abgemäht. Unter den heißen Strahlen der Junisonne hatte sich das gemähte Gras in duftendes Heu verwandelt. Auf hochgeschichteten Wagen wurde es in die Scheuer gefahren.

Jetzt war der Tisch reich gedeckt für die allzeit hungrigen Hühnermägen. Saftige Würmchen und Käfer, knusprige Heuschrecken, Fröschlein und Blindschleichen, all das Kleingetier, das sich bisher im hohen Gras versteckt hatte, konnte in den niedrigen Stoppeln den scharfen Hühneraugen nicht mehr entgehen. Als Zukost lagen die vielen Samenkörner da, die aus den reifen Gräsern ausgefallen waren.

Auf der ganzen Wiese zerstreut gingen Karlines geliebte Vögel immerzu pickend einher, alle zufrieden und wohlgelaunt. – Was gibt es Schöneres für eine Henne, als im Sonnenschein auf abgemähter Wiese lustwandeln und dabei Fressen im Überfluß finden und singen? – Da hörte man denn auch von allen Seiten das Jubellied der Hühner:

Gaa – ga – ga – ga – gaaa!
Heuernte da!
Voller Bauch – ga– gaa!
Gaa – ga – ga – ga – gaaa!

Wenn Karline jetzt unter die Türe trat und mit ihrer hellsten Stimme rief:

»Komm! bib – bib – bib – bib!«

wenn sie die schönsten Weizenkörner ausstreute, so kamen allenfalls zwei, drei ihrer Lieblinge, die in der Nähe waren, langsam angestapft, pickten ein paar Körner auf und gingen wieder weg. – Sonst waren sie alle flatternd auf den Ruf ihrer Herrin herbeigeeilt, auch wenn sie sich tausend Schritte vom Hause entfernt herumtrieben.

Die Glucke hatte ihre Kleinen weit hinaus in die Wiese geführt, machte sie dort auf alle guten Bissen aufmerksam, ließ sie, da kein Feind sich mehr verstecken konnte, unbesorgt in weitem Kreise um sich herum springen.

Die Küken waren schon zu beträchtlicher Höhe emporgewachsen. Noch einige Wochen, und sie konnten die schützende Mutter entbehren und selbständig durch das Leben gehen.

Küken wachsen schnell. Unglaublich rasch aber war Fluderle groß geworden. Das glich schon in allem einer fertigen Henne. Die Glucke wunderte sich manchmal darüber. Sie wußte eben nicht, daß Fluderle ein Zauberküken war, und kümmerte sich in ihrem Hühnerverstande auch nicht viel um solche Dinge.

War es nicht genug, daß die Jungen ihr Fressen fanden, daß sie bei kaltem Wetter warm unter den Flügeln der Alten geborgen waren, daß sie bei Nacht im sicheren Stalle schliefen, daß sie bei Tag gegen tückische Katzen und Raubvögel beschützt wurden? – Sind die Kleinen erst groß genug geworden, um für sich selbst sorgen zu können, was soll's dann noch die Glucke kümmern, wie sie's treiben?

Glücklich waren der braunen Glucke Kinder bisher immer gewesen unter der Mutter Obhut. – Alle? … Ja! bis auf eines. Und das war Fluderle. – Dem hatte es nicht einen Tag gefallen bei der Glucke, es hatte sich noch nie behaglich gefühlt im Kreise seiner Mitküken. Nun ging es meist mit den großen Hühnern. Nicht als ob es diese Hühner geliebt hätte! Mit keinem hatte es noch ein Wörtchen mehr gesprochen als ja oder nein. – Wenn es aufgefordert wurde: »Komm mit!« oder: »Bleib hier bei uns!« dann sagte es sicher: »Nein!«

Nur eine Zuneigung war in Fluderles Hühnerherz still weitergewachsen. Manchmal dachte es: »Kuh-hong ist tatsächlich ein vornehmer Herr. In seinen Adern fließt fraglos adliges Chinesenblut.«

Wenn er aber mit den Hühnern seiner Familie freundlich tat, dann sagte Fluderle: »Er ist ein Schöps!«

Alles in allem, Fluderle fühlte sich unglücklich, sehr unglücklich, noch unglücklicher, weil kein Hahn und keine Henne, nicht die Glucke und kein einziges Küken es merkten. Und Fluderle hätte so gern den Trost verspürt, daß es als unglückliches Huhn, als Huhn, das niemand verstand, ein Huhn, das etwas ganz Besonderes war, erkannt und durch mitleidvolle Liebe getröstet worden wäre. – Das arme Fluderle! – Ja! wenn es jemand begriffen und es ihm gesagt hätte!

Kuh-hong vielleicht? – Ach wo! – Der stolze Hahn war heute, wie schon oft, selbst sehr unglücklich. Darum ging er auch ganz allein für sich weit von allen Hühnern entfernt auf der Wiese spazieren. Er pickte nicht einmal nach einem feisten Heuschreck, der ihm vor dem Schnabel vorbeihüpfte, geschweige denn, daß er ihn gefangen und durch lautes tock – tock – tock eine Henne herbeigerufen hätte, um ihr den Happen vorzulegen.

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Amelia, die blendend weiße Henne, sonst sehr von ihm bevorzugt, kam langsam auf ihn zugeschritten und sprach sanft zu ihm:

»Was ist dir heute, Kuh-hong? – Ich habe dich noch nicht ein einziges Mal krähen hören.«

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»Mach, daß du weiterkommst, Kamelia! – Verschone mich mit deinem albernen Geschwätz!« brauste er seinen Liebling ab.

»Amelia ließ Kopf und Schwanz hängen, ging, ohne ein Wort zu erwidern, weg und begab sich zu ihren Freundinnen Lilli und Lolo.

»Laßt den Kuh-hong in Ruhe«, sagte sie zu ihnen, der muß heute eine giftige Kröte verschluckt haben. Wenn man ihn nur antupft, spritzt er seinen Zorn aus.«

Dann sprachen die Drei noch lange miteinander. Kuh-hong aber hüpfte auf einen Grenzstein am Rande der Wiese. Dort zog er sein rechtes Bein hoch, steckte es in die Federn und stand nun da auf einem Bein. Er schaute bald hinab ins Tal, bald hinauf ins Gebirge und sprach leise vor sich hin: »Es ist nicht mehr auszuhalten.«


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