Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Praxiteles oder Ostersetzer

Eine Prager Skizze

Jedermann kennt die Gedichte des Poeten Alfred Beatus aus Prag. Auch du kennst sie! Erinnere dich nur! Aber ja, du mußt sie kennen. Zum Beispiel jenes herrliche Gedicht, das Alfred Beatus den Zuständen einer erst dreimonatigen Ehefrau gewidmet hat. Herrgott, das mußt du doch kennen! Alfred Beatus hat nichts Sinnigeres gedichtet. Die junge Ehefrau wird eines Tages gewahr, daß ein junges Leben in ihr webt. Herrgott, daran erinnerst du dich nicht? Du bist wirklich ein seelenloser Klotz ohne tieferes Erinnerungsvermögen . . . Die junge Frau sagt's ihrem Manne. Der ist gerührt, muß aber nichtsdestoweniger in fünf Minuten ins Amt. Ein Vormittag angefüllt mit Akten, Kommissionen, Konferenzen. Aber um punkt zwölf wird die Arbeit abgeschnitten; schnell wird in den Ueberrock geschlüpft, der Zylinder aufgesetzt (um 1,25 Grad schiefer nach links als an einem gewöhnlichen Tage), Ecke des alten Graben werden zwei Rosen gekauft für die junge Frau (wie an gewöhnlichen Tagen), aber plötzlich in der Herrengasse vor einem Kunstgeschäft fällt Beatus etwas besonders Sinniges ein. Er tritt in den spiegelnden Laden und kommt bald mit einem sorgfältig verhüllten Paket heraus. Zu Hause: Besonders zarte Begrüßung, nicht bloß der schon traditionelle Rosendank, und am Schluß die überraschende Enthüllung des Packets. Es ist ein Apollo von Belvedere . . . Die junge Frau versteht, wird vor Freude rot und denkt in ihrer Hoffnung wirklich: Ich werde ihn täglich ansehen, vielleicht wird der kommende ihm ähnlich. Aber, wenn es eine Sie ist? Na, morgen ist auch noch ein Tag und morgen Mittags bringt er die Venus von Milo mit. Nächste Woche findet die junge Frau die Mileserin und den Apollo ein bißchen zu klassisch. Schad't nix! Er bringt ihr den sterbenden Gallier, was ihr wieder wegen des Sterbens nicht ganz recht ist. Die Aphrodite von Praxiteles gefällt ihr wunderbar, nur schade, daß sie die Hand so unanständig-auffällig vorhält; riesig leid tut es ihr, daß dem schönen schlanken Hermes mit dem Dionysosknaben die Arme fehlen und daß er auch von den Beinen nur die reizenden Oberschenkel hat. Allmählich hat die junge Frau eine riesige Sammlung von Gipsabgüssen. In ihrem Schlafzimmer sieht das schönste Griechenland auf sie hernieder. Sechs Monate lang! Und je näher der große Tag der jungen Frau heranrückt, desto mehr Griechen warten schon auf den Ankommenden . . .

Herrgott, dieses Gedicht kennst du nicht? Es ist das Schönste, das Lieblichste, was Alfred Beatus je gedichtet hat. Leider steht nicht drin, ob es ein Bub oder Mädel geworden ist und ob der Bub oder das Mädel mehr ins Klassische oder mehr in die raffinierte Dekadenzperiode der griechischen Skulptur hinüberscheangelt. Wenn ich das nächstemal nach Prag komme, werde ich mich danach erkundigen. Konnexionen genug hab' ich in Prag. Die Prager Deutschen sind ja eine Familie. Ich werde mich bei Stern und Singer erkundigen, was an dem Gedicht von Alfred Beatus eigentlich Wahres ist und wie die Sache eigentlich ausgegangen ist . . .

 

Ich führe in meinem Geschäft einen ganz neuen Artikel, der sehr guten Absatz findet: Filzsohlen mit Asbestunterlage. Unverwüstlich! 126000 Stück innerhalb vierzehn Tagen abgesetzt!! Richtig, was ich erzählen wollte. Auf der Tour berühre ich Prag. Ich komme wie gewöhnlich zu Stern und Singer, mache einen sehr hübschen Abschluß, übertrage ihnen für Prag die Generalvertretung meiner Filzsohlen mit Asbestunterlage und komme abends in die Familie. Sie wissen, die Kinder der Kompagnons haben sich geheiratet. Riesig gemütlich bei den Leuten. Großartiges Essen! Wissen Sie, noch nach der alten Schule. Keine modernen Experimente und Verkleidungen. Aber eine Gans wird da serviert, groß wie ein Bär und braun und glänzend, mit Aepfeln gefüllt . . . Richtig, also, was ich erzählen wollte. Die Kinder sind ungemein gebildet. Dabei nicht so anspruchsvoll, wie es sonst zu gebildete Kinder oft sind. Mit dem alten Stern habe ich gerade einen Hauptabschluß auf 1898er Sliwowitz gemacht, während die Tochter auf dem Pianino ein wunderschönes Stück gespielt hat. Wenn man so gemütlich beisammen sitzt, nicht pressiert, nicht gezwungen, fallen einem oft die günstigsten Abschlüsse ein. Ein anderes Kind als diese Olga hätte sich geärgert, weil wir im Gespräch unwillkürlich ein bissel lauter geworden sind; sie hat sich nicht einmal umgedreht am Klavier. Das ist ein so kluges Mädchen. Kunst ist Kunst, das weiß sie; aber das Geschäft muß auch sein! Wärst du nicht ein so leichtsinniger und hochnäsiger Mensch – dreh' dich nicht um, dich selber mein' ich –, das wäre wirklich ein Mädchen für dich, ein Mädchen, sag' ich dir . . .

Schon gut. Ich weiß . . . Ich sag' schon nichts mehr! Was hab' ich erzählen wollen? Ja. Also, da waren vielleicht zwanzig Personen um den Tisch. Wie der Sliwowitzabschluß mit dem alten Stern fertig war. Wir halten gerade bei einem Mohnfladen, wie man ihn nur in Prag essen kann, deliziös geradezu. Da frage ich Fritz, den zweiten Sohn von Singer, ob er sich an das Gedicht von Alfred Beatus erinnert. Das von der jungen Frau usw. Fritz, der selber dichtet und Freitag abends sehr oft bei Beatus oben zu Gaste ißt, sagt gleich: »Natürlich, das mit den vielen griechischen Statuen. Aber da haben Sie ja die Helden des Gedichtes.« Dabei zeigt er auf das andere Ende des langen Tisches.

Ich frage: »Was?« Weil ich nicht gleich verstehe, da sagt mir der alte Stern: »Die Herrschaften, auf welche sich das Gedicht bezieht, sind hier; sie sitzen oben am anderen Tischende. Wenn Sie mit Ihrer Portion Mohnfladen fertig sind, nicht noch eine zweite wollen, können Sie sich mit den Herrschaften persönlich über das Gedicht unterhalten.« Ich antwortete Herrn Stern leise, daß ich doch zuerst noch eine Portion Fladen wünsche. Dieser Fladen! Ich sage Ihnen, da ist drin: Mohn und Zibeben, Powidl, Aepfel, Marillenmarmelade, Nüsse . . . Ja, richtig, was ich eigentlich erzählen wollte: Also später setze ich mich zu dem Ehepaar Ostersetzer. Ich sehe schlecht, habe sie also von meinem früheren Platze nicht gut anschauen können. Die junge Frau, sah die aus! Mager, klein, verhutzelt, mit krummem Rücken, Lederteint, ein dünnes Schweiferl Haare, und die Nas'! Aber dafür – Reformkleid! Und er, der Herr Ostersetzer! Mit borstigen, ungewaschenen schwarzen Haaren. Den Kopf hat er vor Faulheit immer auf die Seite fallen lassen. Zwei melancholische Jammerfalten von der Nase über die Mundwinkel bis zum Kinn. Und eine Nase! Nein, diese zwei Nasen!! Weißt du, ich bin kein Antisemit, aber so verwelkt in der Jugend, so häßlich . . . na, ich will nichts sagen, es könnt' mir im Geschäft schaden.

Du weißt, ich habe vorgehabt, zu fragen, ob die griechischen Statuen während der neun Monate was genützt haben. Aber wie ich Herrn und Frau Ostersetzer sah, da hab' ich gewußt, daß der Apollo vom Belvedere und die Venus von Milo und die Abgüsse nach Praxiteles, mit einem Worte, daß die ganze Sammlung ganz vergebens angelegt war . . . Andererseits ist es von den Leuten gewiß sehr schön, daß sie neun Monate lang Tag für Tag versucht haben, ihr eigenes Bild durch schönere zu verdrängen. Leider genügen die Statuen nicht! Gegen die Familie Ostersetzer kommt Praxiteles nicht auf!


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