Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Reisende

Durch die Nacht poltert der Personenzug Bodenbach-Wien. Draußen ist abscheuliches Herbstwetter, es regnet, ein widriger Wind klatscht den Regen an die Waggonfenster. Flachland links und rechts von Bahndamm, weit und breit kein Licht, weitgedehnte schwarze Flächen, die nur vom Lichte der beleuchteten Waggons und vom funkelnden Sprühregen der glühenden Kohlenfunken der Lokomotive sekundenlang schwach beleuchtet werden. In Abständen von halber Stunde zu halber Stunde hält der Zug vor kleinen, halbfinsteren Bahnhöfen, auf denen keine Menschenseele zu sehen ist. Eine Bäuerin, mit Körben beladen, steigt hier zuweilen aus, eine andere ringt sich aus dem Bahnhofsdunkel heraus und erklimmt, vom Kondukteur gestützt, mühsam die Waggonstufen. Im nächsten Moment ein Zuschlagen der Coupétüren, ein kurzes Hornsignal des Kondukteurs, und langsam beginnt die Lokomotive wieder zu poltern: der Zug fährt wieder . . .

Die Coupés I. und II. Klasse sind verdunkelt, die Türen bleiben geschlossen, die Vorhänge sind heruntergelassen, kein Laut dringt von dort heraus. Dagegen wird in der III. Klasse laut gelärmt und gesprochen. Enggedrängt sitzen die Passagiere auf den harten Holzbänken nebeneinander. Im Tabakrauch, der den Waggon erfüllt, kann man nur gerade sein Visavis auf der Bank gegenüber sehen. Eine miserable Oellampe blinzelt spärlich vom Plafond herunter.

Aus der finstersten Ecke dringt auf einmal ein hartes, immer lauter werdendes Geräusch, regelmäßig wie das Lärmen einer schweren Holzsäge. Eine alte Bäuerin ist, über ihre Körbe gebeugt, fest eingeschlafen und schnarcht. Sofort beginnt ein junger Bursch, der eine Soldatenkappe auf dem Kopf trägt, neben ihr noch lauter zu schnarchen. »ch . . ch . . ch . .« tönt es schnarchend durch das Coupé und jedesmal, wenn der Junge das Schnarchen der Alten durch ein tieferes Brummen zu übertönen trachtet, lacht die ganze Gesellschaft. Infolge des lauten Gelächters wacht die Bäuerin auf, erhebt schwerfällig den Kopf von ihren Körben und schaut verschlafen um sich. »Schlafen S' nur weiter, Mutterl«, sagt der Bursch mit der Soldatenkappe gutmütig, es tut ihm leid, daß er jetzt plötzlich um seine komische Rolle kommen soll. Aber die Bäuerin wird dadurch, daß jemand mit ihr redet, noch munterer.

»Ich beneide diese Frau,« sagt ein junger Mann mit schön gezwirbeltem Schnurrbart und hohem Stehkragen zu seinem Visavis, »um diesen gesunden Schlaf. Ich kann in der Eisenbahn nicht schlafen. Gestern bin ich Schlafwagen zweiter Klasse von Leipzig nach Aussig gefahren, umsonst; die Schlafwagengesellschaft ist übrigens unverschämt teuer. Daß der Staat nicht . . .«

»Und diese Verpflegung!« erwidert das Visavis, ein älterer Herr, auch in halbnobler Stadtkleidung. »So ein Souper im Speisewagen kostet ein Heidengeld, und ich versichere Ihnen, im »Schwarzen Adler« in Neu-Bistritz bekomme ich das besser und um ein Drittel des Geldes.«

»O!« erwidert der junge Reisende mit dem aufgezwirbelten schwarzen Schnurrbart, »in Neu-Bistritz ist man überhaupt gut aufgehoben. Besser noch wie beim »Schwarzen Adler« sind Sie beim »Kaiser von Deutschland« aufgehoben. Uebrigens ist dort ein Stubenmädel, ein siebzehnjähriges Mädchen, aber schon ganz entwickelt, blond, stark, von einer Leidenschaft . . .«

»Ich bin nicht mehr für die Stubenmädel,« erwidert der Grauhaarige. »Wissen Sie, wenn man, wie ich, fünf Monate im Jahr in Frankreich reist, wird man verwöhnt.«

Der Zug hält.

»Spodinec!« ruft draußen der Kondukteur. Wieder ein stockfinsterer Bahnhof . . . Die Coupétür wird aufgerissen, ein Strom naßkalter Nachtluft dringt in die dicke Tabak- und Dampfluft des Coupés. Ein Bauer, die Pfeife im Munde, ein Paket unterm Arm, stapft herein. Langsam setzt sich der Zug wieder in Bewegung.

»Heuer war ich drei Monate in Paris,« fängt der ältere Reisende wieder an. »Ueber die Pariser Weiber geht halt doch nichts. Wissen Sie, so ein Abend in den Folies bergères. Wenn Ihnen da so ein Frauenzimmer entgegenkommt, in schwerem Seidenkleid, mit Diamanten geschmückt, dekolletiert und dabei gar nicht so anspruchsvoll . . . . Sie begreifen, daß man da den Sinn für Stubenmädchen in Neu-Bistritz verliert . . .«

»Nun,« erwidert der Jüngere, etwas geärgert: »Nach Paris komme ich nicht, ich halte den französischen Markt für uns nicht für ergiebig, aber ich bin doch eine Woche in Leipzig, die andere in Berlin, die dritte in Hamburg. In punkto Weib, hehehe, kann man da auch einiges sehen.«

Rückwärts beginnt die Bäuerin, deren Kopf wieder auf die Körbe gesunken ist, zu schnarchen. Langsam und vorsichtig fängt der Bursche mit der Soldatenkappe wieder an, lustig mitzuschnarchen . . .

»Herr Kollega,« fragt der Aeltere, »wo ist man denn in Hamburg am besten aufgehoben?«

»In Hamburg . . .« erwidert der Reisende mit dem hohen Stehkragen und dem aufgezwirbelten Schnurrbart, ». . . ich bin jetzt längere Zeit nicht dort gewesen. Zu meiner Zeit war der »Kronprinz Friedrich« das beste. Alles elektrisch beleuchtet, table d'hôte, Aufzug, sehr schöne Zimmer zu Mark 1,50.«

Plötzlich sieht er auf die Uhr. »Um 3 Uhr 20 Minuten sind wir in Drobran, ich muß mich fertig machen . . . Ich steige nämlich in Drobran aus.« Er räumt seinen Handkoffer hinunter, eine kleine Musterkassette und eine große Schachtel. Dann nimmt er wieder Platz. »Ich werde in Drobran erwartet, denn von dort aus muß ich noch zwei Stunden mit der Kalesche fahren nach Wißnitz.«

»Wißnitz?« nickt der Aeltere kundig. »Da sprechen Sie wohl bei Leopold Winkler und Sohn vor?«

»Stimmt. Von Wißnitz fahre ich dann nach Hosteletz und Preblau nach Kunschitz. Und Sie, Herr Kollega?«

»Zwei Stationen weiter, nach Fiala.«

Der Zug hält.

»Drobran!« ruft der Kondukteur.

Der junge Reisende will die Coupétür öffnen. Es geht nicht. Wütend läßt er das Waggonfenster hinuntersausen und ruft in die Nacht hinaus: »Kondukteur, öffnen!« Grüßend steigt er mit all seinen Paketen aus. Man hört seine Schritte draußen, man hört ihn laut rufen: »Ja, ist denn nicht der Wagen nach Wißnitz da?« Tiefe Stille. Im nächsten Moment hört man ihn tschechisch schreien. Wißnitz ist das einzige Wort, das man versteht . . . Der grauhaarige Reisende beugt sich beim Fenster hinaus. Eben will er den Kollegen fragen, ob vielleicht . . . Da gibt der Kondukteur das Signal, der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Dort hinten in tiefster Finsternis liegt schon der Bahnhof von Drobran, wo der Reisende wütend auf- und abgeht und schreit: »Ja, zum Teufel, ist denn kein Wagen nach Wißnitz da?« . . .

»Es geht eine zu kalte Luft herein,« sagt der grauhaarige Reisende und schließt das Waggonfenster wieder. Nun sitzt er da und hat keinen Gesprächspartner.

Die Bäuerin, die auf ihren Körben schläft, ist inzwischen wieder wach geworden und der Bursche mit der Soldatenkappe lacht ihr ins Gesicht. Endlich sagt der Reisende zu ihm:

»Setzen Sie sich daher, wo der Herr, der ausgestiegen ist, gesessen ist, da sitzen Sie bequemer.«

Der Bursche tut's.

»Rücken Sie jetzt ein?« fragt der Reisende auf die Kappe deutend.

»Ah, woher! I haa' schon 'dient. i fahr' nach Wien.«

»Hat's Ihna g'fall'n in Wien?« Unwillkürlich versucht der Reisende wienerisch zu reden.

»Na ja, 's tuat's, i bin schon als klaner Bua hinkommen.«

Der Reisende schweigt. Endlich sagt er:

»Was würden Sie erst zu Paris sagen. Wien ist ja nichts im Vergleich zu Paris. Wenn man so ein paar Monate im Jahr mitten im Trubel von Paris lebt, da lernt man erst das Leben genießen . . .«

Aber in der zweiten Station, in Kralinec, muß auch der Pariser Lebemann aussteigen, mitten in der Nacht, im Regen, ohne eine menschliche Seele im Bahnhof zu finden, den finsteren Weg zum Ort stolpern und eine Stunde lang läuten, ehe er den Hausknecht des »Hostinec Klapka« wach bringt . . .


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