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Das Kontor des Buchhalters war heute mit Blumen geschmückt. Wo sonst eine dicke Lage Löschpapier auf dem Schreibtisch lag, da war heute eine blühweiße Serviette ausgebreitet, in deren Mitte eine großmächtige Torte stand, auf der – zwischen einem süßen Kranz von eingemachten Früchten – mit weißem Zucker die Worte aufgetragen waren:
Unserem lieben Buchhalter Leopold Kaden zur Feier seines 40. Amtsjahres |
Auf dem Tisch, wo gestern das Kopierbuch gelegen, stand heute ein großer Korb, voll mit roten und grünen Papierschnitzeln, aus denen sechs hohe Flaschenköpfe pikant hervorlugten. Die Tür war mit Tannenreisig geschmückt. Auch über die Geschäftsbücher, die auf den Stehpulten lagerten, waren weiße Tücher gebreitet; hier wurden die Geschenke aufgestellt: Zigarrenkisten, eine Schachtel mit einer verheißungsvollen Lederbrieftasche, ein Stock mit schwerem Silbergriff und weiß der Teufel was noch.
Herr Kaden saß einigermaßen ermüdet in seinem breiten Schreibtischsessel. Nun, er war gerade kein Freund der feierlichen Ansprachen. Es kam ihm ziemlich kurios vor, daß da plötzlich das gesamte Personal, Kontoristen, Magazinsleute, Diener, alles in allem vierundneunzig Personen mit dem Chef an der Spitze, um ihn herumstanden, ihn angafften und in ihn hineinredeten . . . . . »Was stehen Sie denn da herum?« hätte er den jungen Angestellten am liebsten wie sonst zugerufen: »Jetzt ist Geschäftszeit!« Oder: »Hier ist kein Salon zum Plaudern!« Uebrigens hat das auch an Werktagen die jungen Leute am Weiterplaudern nicht gehindert, sie wußten, daß alle diese Mahnungen nur zur Einlullung des eigenen Gewissens gesprochen wurden. Am Ende stand der alte Buchhalter gewöhnlich bei ihnen und tratschte mit . . . . .
Der Chef selbst stand an der Spitze der vierundneunzig Leute vor ihm. Und Kaden mußte als der einzige sitzen, er mußte als der einzige stillhalten, die anderen durften von Zeit zu Zeit »Bravo!« oder »Hoch!« rufen, er mußte wortlos in dem breiten Schreibtischsessel sitzen bleiben und warten, bis die Reden abgelaufen waren. Der Schweiß rann ihm hinunter, als der Chef immer wieder von seiner unermüdlichen Arbeitskraft, seiner absoluten Verläßlichkeit, von diesem Muster redlicher Pflichterfüllung sprach. »Dieser Mann«, rief der Chef mit Pathos, »hat ein Leben redlicher, harter Arbeit hinter sich! Was er besitzt, seine Stellung . . . seinen guten Namen . . . seine allgemeine Beliebtheit . . . er hat es seinem grenzenlosen Fleiß, seiner makellosen Redlichkeit, seiner Liebe zur Arbeit, seiner Arbeit, nur seiner Arbeit zu verdanken!« Ganz irritiert saß der alte Buchhalter da und sah vor Verlegenheit bloß immer auf seine alten, übereinandergelegten, faltenreichen Hände . . . . .
Kaum hatte der Chef geendigt, so begann der Prokurist »im Namen der Kollegen«, hüstelnd, räuspernd, steckenbleibend. Nur »einige aus dem Herzen kommende Worte« wollte er sagen, aber sie nahmen kein Ende, weil er sie schlecht auswendig gelernt hatte. Dann sprach noch ein Praktikant, der sich einbildete, Talent fürs Theater zu haben, ein Gedicht »im Namen der Jugend«. Da hätte Kaden nun zwar lächeln dürfen, aber der Jüngling deklamierte so leidenschaftlich, daß er ihn nicht stören wollte. Dann kam die Geschenkebesichtigung. Zu jedem Päckchen mußte er »Ah! Das ist aber wirklich hübsch!« sagen, denn er wollte niemanden kränken. Am Schluß kam das Händeschütteln. Jeder von den vierundneunzig Leuten mußte ihm noch etwas besonders Herzliches oder Lustiges sagen und er konnte nicht abbrechen, denn am Schluß kamen die kleinen Schreiber, die Diener und die Hausknechte, und gerade mit denen war er während der 40 Jahre immer auf bestem Fuß gestanden.
Endlich, endlich konnte er das Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, nachdem die »Gratulationshorde«, wie er sagte, zu ihren Schreibtischen und sonstigen Arbeitsplätzen zurückgekehrt war. Nur der alte Kamerad, der Prokurist, war geblieben.
»Mir brummt der Schädel ein wenig!« sagte Kaden erschöpft, »ich vertrag' es nicht, daß vierundneunzig Leute fortwährend auf mich sehen!« . . .
»Leopold!« antwortete der Prokurist, »da gibt es nur ein Gegenmittel. Wir kosten den Wein.«
Während der andere die erste Flasche entkorkte, wehrte sich der Buchhalter:
»Nein, ich kann nicht arbeiten, wenn ich Vormittag einen Wein trinke.«
»Es ist Klosterneuburger Stiftswein«, erklärte der Prokurist, ohne sich stören zu lassen, und schenkte die Gläser voll. »Schau, wie hell, goldhell!«
»Nein, wirklich, ich kann nicht mehr arbeiten . . .«
»Aber Kaden, Freund, Jubilar, was fällt Dir ein, Du wirst doch heute nicht arbeiten . . . Prosit!«
Sie tranken mit gutem Zug, der Prokurist schnalzte noch mit der Zunge, wog einen Proberest auf der Zunge, prüfend, ehe er mit Behagen sagte: »Delikat!«
»Willst Du ein Stück Torte?« Der Buchhalter erinnerte sich jetzt an seine Wirtspflichten.
»Torte?« erwiderte der Prokurist. »Von der Jubiläumstorte? Was fällt Dir ein, die wirst Du doch nicht anschneiden! Sie sieht doch so hübsch aus, Du würdest ja die Zuckerschrift ruinieren! Nein, danke, laß sie ganz!«
Der Buchhalter brummte etwas. Der andere verstand es nicht. Den einen Satz: »Natürlich auch nur zum Bewundern, nicht zum Zugreifen!« überhörte er gänzlich.
Sie tranken.
»Ja, meine Rede!« gestand der Prokurist . . . »Bin ich froh, daß ich jetzt wieder zehn Jahre Ruhe habe. So was ist schwer zu lernen . . . Der Chef ist das freilich gewöhnt. Wenn er mit seiner Großartigkeit »Guten Morgen, meine Herren!« sagt, ist das schon eine halbe Rede!«
Der Buchhalter machte jetzt ein ziemlich fideles Gesicht. Kein Gedanke an die Arbeit mehr! »Seine Reden sind aber auch nur Wasser«, sagte er lächelnd. Das Lächeln blieb auf dem geröteten Gesicht des alten Herrn.
»Nun?« fragte der Prokurist, der mehr zum Tiefsinn neigte.
»Ein kleines Gläschen noch!« bat der Buchhalter, »und dann werde ich Dir etwas sagen, Du wirst spitzen!« . . .
Der Prokurist schenkte ein, sie tranken.
Das Gesicht des rotbackigen, weißhaarigen Buchhalters wurde noch lustiger.
»Weißt Du, was ich mir gedacht habe, wie der Chef so fortwährend von bewährter Treue und erprobter Redlichkeit und allen meinen Tugenden redete? Soll ich Dir's sagen? . . . Ganz entre nous. Ich möchte so gern einmal eine kleine, ganz kleine . . Defraudation erlebt haben.«
Der Prokurist starrte mit seinen tiefsinnigen Blicken den Buchhalter an.
»Ja wirklich«, flüsterte Kaden lachend, »das wünsch' ich mir seit vierzig Jahren! Eine leichte, gelungene . . . erschrick nicht! . . . Dieberei! . . . Ich kann's natürlich nicht, ich hätte zu viel Angst, ich bin zu offen und zu schwerfällig. Ich fürchte mich vor dem, was die Leute sagen würden, und vor meinen Gewissensbissen! Aber das ist eigentlich mein geheimer Wunsch während der vierzig Jahre gewesen: Wenn ich nur die Courage zu einer kleinen Dieberei aufbrächte!«
Herr Kaden lachte froh, er freute sich, daß er jetzt wenigstens den Mut zu diesem Geständnis aufgebracht hatte. Aber der Prokurist betrachtete ihn mit wirklich beklagenden Blicken. Erst die Aufforderung, noch ein Gläschen zu sich zu nehmen, weckte ihn aus trüben Seelenforschungen.
»Du verstehst das nicht,« schwatzte der rotbackige alte Kaden, dessen Augen jetzt aufgeregt glänzten, »und es wäre mir heute vielleicht nicht eingefallen, wenn mich der Chef nicht darauf gebracht hätte. Meine Beliebtheit habe ich mir mit saurer Arbeit verdient! Wie viele Jahre zahle ich für diese Torte?! Für diese Torte, die ich auch nur bewundern und nicht verzehren soll! . . .« schrie er jetzt, zornrot im Gesicht. Im nächsten Moment aber kam schon wieder ein kleines, besänftigendes Lächeln über sein Gesicht: »So eine leichte, kleine Dieberei ist doch was viel Vornehmeres! Nicht? Man muß keine schwere Lastfuhr Arbeit jahrelang vor sich hertreiben. Ein kleiner, leichter, eleganter Griff und . . man kostet wenigstens einmal die Torte . .«
»Kaden!« rief der andere bestürzt und erhob sich pathetisch, »vergiß nicht, daß ich zwar Dein Freund, aber auch der Prokurist des Hauses bin!«
Doch der Buchhalter, der ganz ausgezeichnet gelaunt war, puffte den Prokuristen bloß gemütlich in die Seite: »Bleib doch sitzen . . . Wir plaudern ja nur so . . . Jetzt bin ich endlich ein bißchen in Festlaune, da wirst Du tragisch!«
»Ich will Deine Worte der gehobenen Jubiläumsstimmung zuschreiben«, sagte der Prokurist fast mit dem großartigen Tonfalle des Chefs. Nachdem er noch ein Gläschen getrunken hatte, versank er in wortlos tiefsinniges Schweigen . . .
Die Jubiläumstorte aber blieb intakt, bis sie altgebacken und ungenießbar wurde . . .