Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Straßenleben

Niemals haben die Menschen so viel in den Straßen gelebt! In den Märchen lebten die Menschen in dichten, einsamen Wäldern, in der Vergangenheit lebten sie in ihren Schlössern, Burgen oder in den uralten, ruhevollen Bürgerstuben. Aber auf der Straße, auf der unruhigen, massendurchfluteten, brausenden Straße haben sie nie gewohnt. Gewiß gab's auch ehedem arme Teufel, deren Dasein aus allen Geleisen geworfen war und die frierend, dürstend über die Landstraße zogen. Aber das war nicht so trostlos, so jämmerlich wie heute. Rechts und links von den Landstraßen dehnten sich grünende Wiesen, wallende, gelbe Felder. Es lag freier Horizont, Licht, Luft, ein unermeßlicher Himmel lag über allen Straßen.

Unsere Straßen sind düster geworden. Fürchterliche Mauern schroffen irrsinnig in die Höhe, keine Straße führt mehr ins Freie, nur in neues Häusergewirr. Und durch alle Gassen ziehen Menschen, die einander fremd sind; Menschen, die täglich des gleichen Weges ziehen und doch einander fremd sind! Menschen, die nur ein paar Sekunden, ein paar Blicke für einander Zeit haben. O, die Straße hat die Seelen abgestumpft! Wir alle haben das Aneinander-Vorübergehen gelernt und damit diese verfluchte Vergeßlichkeit der Eindrücke. Hier schreitet ein junges Mädchen an dir vorüber, deren Auge dir die Seele versengt. Du siehst die Schwebende mit einem bewundernden Blicke an, plötzlich spürst du ein erlösendes, erwachendes Freudegefühl in deinem Innern, du siehst ihr dankbar nach! . . . Da klingelt ein Omnibus, da schreit dich ein Kutscher zornig an, da tutet dir ein Automobil in die Ohren. Rasch gehst du weiter, drüben begegnet dir ein Krüppel ohne Beine, der auf Krücken schwer atmend forthüpft oder – wohin ist längst die schwebende Schöne? – ein Mann, der dich grüßt und dem du dankst, ohne zu wissen, wer es war. »Zum Teufel, ich erinnere mich nicht.« – Ich erinnere mich nicht! Dies ist das Wappenwort der Straße. Wir sehen so viel und erinnern uns an so weniges. Strahlende Auslagenfenster, blitzende Lichtinschriften an den Dächern, Zettel, die uns in die Hand gedrückt werden, Dinge, die uns zugerufen werden, Plakate an den Wänden, die uns zuschreien, Freunde die uns grüßen, Freunde, die wir nicht erkennen, alles, alles ist im Nu vergessen.

Und doch leben Hunderttausende in den Straßen. Ich meine: Sie gehen nicht durch das wüste Gelärm, sondern sie leben in ihm. Das Reich der Straße ist ein wenig breiter als der Raum zwischen zwei Trottoirs. Zur Straße gehört noch das Parterre der Hausfluren: die Hauseinfahrten, wo wir im Gewitterregen warten, die Kaffeehäuser, wohin die Heimlosen täglich flüchten und dort sinnlos herumlungern, die Automatenrestaurants, wo wir schnell des Magens Mahnung stopfend befriedigen, oder die großen, überfüllten Wirtshäuser, wo wildfremde Menschen an einem Tisch zur Mahlzeit sitzen. Zur Straße rechne ich noch all die Vergnügungslokale, wo Menschen »sich zerstreuen«, alle die schreienden, lärmenden, grellen Unterhaltungen für jedermann, all die Lokale, in denen fremde Menschen zum »Unterhalten« gezwungen werden, indem sie derb gekitzelt werden. Gekitzelt in Unterleibsgegenden, gekitzelt in patriotischen Gehirnpartien, gekitzelt mit blöden Allerweltsspäßen. Das alles noch ist Straße. Straße, wo jeder nur »ein Passant« ist, ein Vorübergehender, nicht du, nicht ich, nur ein Durchschnittsgeschöpf, das behandelt, unterhalten und gekitzelt wird, einer wie alle. Zur Straße rechne ich die Zeitungen, die in allen ihren Rubriken schreien wie die Kutscher bei den Kreuzungsstellen, wie die Plakate an den Mauern, wie die elektrischen Inschriften Nachts auf den Dächern der Großstadtstraßen. Hier, auf einstmals weißem, unversehrtem, nun über und über beschwärztem Papier scheint der ganze irrsinnige Lärm der Großstadtstraßen interniert, und dem Leser, der die Zeitung in die Hand nimmt, schwingt sogleich der trübe Dunst, die brausende Unruhe einer ganzen Stadt entgegen.

Sinnbild der Straße aber bist du, Mädchen, dessen Auge und Gang und Kleidung locken soll wie eine aufregende Zeitung, kitzeln soll wie das zotige Lied der Brettlsängerin. Die Liebe selbst kriecht allabendlich mit zehntausend grellen Mädchen aus heimlichen schwarzen Verstecken hinaus auf die Straße. Die vielen, die nur auf der Straße leben, holen sich auch die Liebste von der Straße weg. Aber die Liebe hat die gräßliche Hast der Straße und ihre fürchterliche Vergeßlichkeit erlernt. Wer, der jahrelang auf der Straße gelebt, kennt am Ende auch nur eine aus der langen, langen Reihe der Straßenmädchen, die er geliebt? »Ich erinnere mich nicht mehr.« Aber Tausenden Menschen der Straße gibt auch diese Liebe ihr dauerndes, gräßliches Erinnerungszeichen. Auch die Liebe der Straße will unvergessen sein! . .

Leben nicht auch wir Stilleren unser Leben im Straßenlärm? Frühmorgens, auf! aus der süßen Stille des Schlafes jäh geweckt: Hinaus in die Arbeit! Ehe wir noch recht wach sind, stehen wir auf der Straße. Eine halbe Stunde des Weges! Hunderttausende können es sagen, daß diese Stunden des Weges in die Arbeit und von ihr die einzige freie Zeit für ihre Hirne und Herzen sind. Hier können sie an sich denken, hier knallt keine Peitsche irgend eines Arbeitszwanggedankens hinter ihnen, hier werden Ferienträume und Sommerhoffnungen geträumt, hier werden Kindersorgen bedächtig erwogen, hier werden Fragen an die Geliebte konzipiert! Auf der Straße! Zwischen der Arbeit! Selbst die stillen Stunden der Menschen mußten auf die Straße flüchten!

Bis in die Nacht hinein wird diesem menschenfresserischen Götzen Arbeit geopfert. Was ward dem einzelnen belassen? Nur das bißchen Weg zur Arbeit, das bißchen Freiheit nach der Arbeit. Das aber ist Straße, denn die Menschen sind heimlos geworden. Selbst alle Hoffnung, alle Sehnsucht der Menschen, sie ist auf die Straße geflohen, in die tausendköpfigen Versammlungen, in die hunderttausendköpfigen Vereine, in die geistige Welt der Straße, die Politik heißt.

Zuweilen aber schließt einer die Augen und denkt an den blauen Himmel, von dem in enge Straßen nur selten ein erbärmliches kleines Stück gucken kann, an die Waldesstille, von der in den Märchen die Rede war, an die ruhevollen, alten Bürgerstuben, an denen das Herz unserer Väter hing. Eine Sehnsucht nach stillen Stunden überfällt uns: Fort von der Straße . . .


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