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Der Kutscher Ignaz Freißler geht abends, schon nach neun, am Kanal spazieren. Die Hände hat er in den ledernen Hosen stecken und seine genagelten Röhrenstiefel plumpsen laut durch die Stille des Abends. Er geht jetzt schon gut eine Stunde lang immer den Kanal entlang und an manchem Polizisten, der ihn mißtrauisch genau ansah, ist er vorbeigekommen. Vielleicht sieht man es dem Freißler an, daß er vollständig blank ist. Nicht einmal Geld für seine Pfeife hat er in der Hosentasche, nicht einmal rauchen kann er. Er trampelt weiter und weiter und das gleichmäßige Schreiten, das Widerhallen seiner derben Schritte, die maschinenmäßige Bewegung tun ihm gut, die Musik des Marschierens beruhigt ihn. Er kann aus diesem Tempo gar nicht heraus und schreitet weiter, klippklapp, klippklapp, klippklapp . . . Schon malen sich die gelben Lichter der Laternenreihe im dunklen Spiegel des Kanals.
Plötzlich bleibt Freißler stehen. Er hat soeben einen kuriosen Lärm gehört, einen quietschenden, schrillen Schrei und dazu eine andere, schwere Stimme, die etwas wie einen Fluch murmelt. Im nächsten Augenblick beginnt der Kutscher in der Richtung, aus der die Schreie schrillten, zu laufen. Ehe er noch etwas wahrnehmen kann, hört er plötzlich das Geräusch eines schweren Gegenstandes, der klatschend ins Wasser fällt. Einige Sekunden später erblickt er im Laternenlicht einen kleinen, dicken Kerl, der einen Haufen Weiberkleider über die Achseln geworfen hat und mit gieriger Hast eine Börse öffnet und nachzählt, wie viel . . .
Freißler springt hin. Aber da hat ihn der Bursche eben bemerkt, ist schon auf und davon und seine genagelten Röhrenstiefel klirren schnell übers Pflaster. Mitten im Nachlaufen wird Freißler durch einen schrecklichen Laut gestört, der vom Wasser her tönt. Herrgott, da ertrinkt eine vielleicht . . . Der Kutscher hält inne, schaut zum Kanal hinüber, im Laternenlicht sieht er da plötzlich das gelbe Gesicht eines Mädchens, das auf dem Wasser treibt. Der Mörder ist indes schon wer weiß wo . . .
Der Kutscher tritt an den Kanal, ruft, schreit. Kein Mensch hört ihn hier in der Stille. Er schaut hinüber, dorthin, wo der dunkle Pack im Wasser schwimmt. Nichts ist im Schwarz der Nacht zu sehen. Oder doch? Jetzt? Ja, da im Lichtstreif der Laterne sieht er wieder das gelbe, von nassen Strähnen halb überdeckte Gesicht einer Frau, die sich nicht mehr regt, nicht mehr wehrt und nicht mehr schreit. Was dort treibt, ist eine Leiche.
Stumm steht Ignaz Freißler da, bis er nichts mehr im Kanal ausnehmen kann. Dann dreht er sich um und geht mit seinen schweren Röhrenstiefelschritten zurück. Kein Mensch begegnet ihm. Kein Polizist ist jetzt zu sehen. Soll er zur nächsten Wachstube? Nichts ist ihm verhaßter als Polizeibureau und Protokolle. Was braucht er den Herren zu helfen? Sollen den Halunken selber suchen! Uebrigens ist es schon spät nachts und er ist jämmerlich müde. Die Hände des Kutschers stecken noch tiefer in den Hosentaschen und seine Schritte hallen noch schwerer durch die Nacht, klippklapp, klippklapp.
Am nächsten Morgen steht der Kutscher Freißler wieder vier Stunden im Bureau der Arbeitsvermittlung. Vergebens. Keine Arbeit. Seine Pfeife steckt noch immer kalt im Rocke; die paar Heller für Tabak sind nicht aufzutreiben. Vor dem Schalter warteten noch vier Dutzend Schwerfuhrwerker mit ihm. Mürrisch und wortlos steht Freißler in der Ecke. Von Zeit zu Zeit fliegt das Fenster am Schalter des Beamten rasselnd in die Höhe, eine Nummer wird überlaut in die Menge der Wartenden hinausgerufen. Jeder sieht sich seinen kleinen, schmutzigen Pappendeckel an, auf dem die eigene Vormerkziffer steht, und von den fünfzig stecken neunundvierzig mißmutig ihre schmierige Nummer wieder ein.
Plötzlich, nach zehn Uhr vormittags, tritt eine Polizistenpatrouille in den Warteraum. Ein Wachmann postiert sich breit versperrend vor die Ausgangstür, ein Kommissär mit einem Detektive zur Seite stellt sich in die Mitte der Kutscher und mustert ein Gesicht nach dem anderen sekundenlang. Die Kutscher haben keine Ahnung, was die Untersuchung soll. Der Kommissär ist nicht gelaunt, seinen Besuch zu erklären. Fällt ihm gar nicht ein, den Kerlen erst eine Geschichte zu erzählen, was übrigens vielleicht auch unklug wäre . . . Plötzlich öffnet der Detektive den Mund: »Alle, die Röhrenstiefel tragen, treten zur Seite!« Vierundzwanzig von den fünfzig sondern sich ab. Noch immer stumm geht der Kommissär herum, jetzt ganz in die Stiefel versunken, die er ununterbrochen bestarrt. Noch einige durchdringende Blicke in die Gesichter der Kutscher, plötzliches Umdrehen nach einer Gruppe, die mit Lachen herausplatzt, und dann entfernt sich das lebendige Vorhängschloß, der Polizist, von der Tür. Der Kommissär geht ab, hinter ihm der Detektive, und der Wachmann schließt draußen die Tür.
Jetzt erst merkt man die Totenstille, die durch den unerklärlichen Besuch im Warteraum entstanden war. Jetzt zischen die Gespräche auf. Das Schalterfenster des Beamten fliegt in die Höhe, aber diesmal geht sein Ausruf im Gesurre der erregten Kutscher unter. Was haben die wollen? Wen haben die gesucht? Was ist geschehen? . . . Nur einer schwatzt nicht mit. Das ist der Ignaz Freißler, vor dem plötzlich das grausige Abenteuer von gestern abend steht und der sich jetzt im Zimmer umsieht, ganz wie der Kommissär, einem jeden ins Gesicht starrend, ob er den wieder erkenne, den er gestern nacht, Weiberkleider über die Achsel gehängt, die Geldbörse gierig durchstöbernd, einen Moment lang im Lichte der Laterne gesehen hat. Ein kleiner Knirps war es, wahrscheinlich ein Kutscher. Da hatte der Kommissär schon recht. Einer mit Fuhrwerkerstiefeln ist es gewesen . . .
»Vierundachtzig!« schreit der Beamte vom Schalter.
Da erwacht Freißler und zieht seine Nummer heraus. Richtig, er ist's. Er hat Arbeit gefunden.
»Na, daß Sie sich endlich melden!« murrt der Beamte.
Melden! Jetzt fällt dem Freißler wieder ein, daß er eigentlich noch eine Meldung zu erstatten hätte. Nachmittags will er aufs Polizeibureau schauen. Zuerst muß er seine Arbeit haben. Seine Pfeife wieder anzünden! Dann ist noch immer Zeit. Viel nützen wird seine Aussage ohnehin nicht.
Freißler hat die Adresse seines neuen Herrn in der Tasche. Er tritt gut gelaunt und froh aus der Arbeitsvermittlung heraus. In diesem Augenblick, beim ersten Schritt ins Freie, wird er verhaftet. Der Kommissär hat draußen schon auf ihn gelauert.
Freißler ist wütend. Jetzt hopp genommen werden, das heißt die noch nicht gefundene Arbeit schon wieder verlieren, sich frisch vormerken müssen, fünfzig Stellenbesetzungen wieder abwarten müssen, drei Wochen hungern. Die Pfeife soll also heute wieder nicht angezündet werden!
Zornig wehrt er sich gegen seine Verhaftung.
»Sie werden schon wissen, wozu wir Sie brauchen«, sagt der Kommissär ganz höflich.
Der Weg zum Kommissariat ist endlos. Ein dichter Haufe von blödsinnigen Müßiggängern marschiert hinter ihnen her.
Die Wachleute haben Freißler mit eisernem Griffe an den Armen gefaßt.
»Herr Kommissär! Die Wachleute zwicken mir ja die Haut vom Arm!«
Sofort gibt der Kommissär den Auftrag, den Kutscher milder anzufassen.
Immer größer wird der Zug und noch immer ist die Gasse nicht zu sehen, wo das Kommissariat ist. Jetzt hört der Kutscher eine Stimme hinter sich: »Jesus, der Herr Freißler!« Jemand hat ihn erkannt. Er will sich umdrehen, aber das lassen die Wachleute nicht zu und ihr Griff wird wieder eisern.
»Bedaure,« antwortet der Kommissär auf die Beschwerde, »Sie gehen zu unruhig. Es sieht ja aus, als wenn Sie sich nach Sukkurs umsähen.«
Stumm geht Freißler daher. Das Geschwätz seines Gefolges dringt bis zu ihm: Wegen was haben sie ihn denn gefaßt? Ist das der Einbrecher von der Rotensteingassen? Aber was fallt Ihnen denn ein, den haben sie ja schon längst! Schau'n S' nur, wie der dreinschaut! Jesus, vielleicht ist das der, der die alten Eheleut in der Engelgassen umgebracht hat? Aber, aber, der Herr Freißler is ja ein braver Mensch, vielleicht is was Politisches. Sie suchen ihn ja schon seit fünf in der Fruh! Na, na, da steckt was Aergeres dahinter. Schau'n S' nur, was der für einen bösen Blick hat!
Immer lauter, immer frecher, immer sicherer wird das Geschwätz der Nachläufer. Plötzlich wird's dem Kutscher zuviel und in einer Laune, die er später nicht mehr verstehen konnte, schreit er den Leuten mit schiefem Lächeln zu: »Was wollts denn? Den Mörder vom Kanal haben sie!«
Der kleine Kommissär erbleicht vor Aufregung, selbst der Detektive zuckt vor Erregung zusammen. Die Wachleute umklammern mit dreifacher Lust den Kutscher.
»Sie haben es gehört, meine Herren.« Der zapplige Kommissär wendet sich höchlichst aufgeregt an die Herren Mitmarschierer in der ersten Reihe: »Ein Geständnis!« . .
Freißler lächelt den ganzen Weg. Das belustigt ihn wirklich, daß alle jetzt ihn für den Mörder vom Kanal halten. Er zittert, ganz voll von einer ganz merkwürdigen Fröhlichkeit, und er empfindet es als eine brillante Rache für seine ungerechte Verhaftung, daß er die Herren jetzt so saftig foppen kann. Eine eigentümliche Lust treibt ihn, dem Herrn Kommissär, der atemlos lauschend neben ihm geht, zu erzählen, wie er gestern abend am Kanal spazieren gegangen ist, lang, lang, wie er bis in ganz verlassene, nächtliche Gegenden geschritten. Ein kitzliger Schauer überfällt ihn, als er dem Kommissär – die gröhlende Menge immer hinter sich – schildert, wie gelb die Leiche im Kanal ausgesehen, wie schrecklich ihr halberwürgter Schrei durchs Dunkel geschrillt . . . Der Kommissär trippelt, gierig auf jedes Wort lauschend, dicht neben ihm her. Von dem enteilenden kleinen Kerl erzählt Freißler nichts. Gerade nicht! Daß er den noch verschweigt, ist seine Rache, auf dem Kommissariat da werden sie dann spitzen!
Der Polizei, die ihm die neue Arbeit ruiniert, brauchte er eigentlich überhaupt nicht zu helfen. Und wie gottsjämmerlich werden sich die Herren Polizeikommissäre blamiert haben, wenn erst der wirkliche, der kleine Mörder gefunden sein wird! Der Verdacht der Esel hinter ihm belustigt den Kutscher. Schleppt mich nur durch die Gassen, denkt er mit seinem schiefen Lächeln, eure Wohlmeinung, ihr Trottel, ist mir ganz gleichgültig! Ihr werdet mich alle noch um Entschuldigung bitten, ich bin ja doch der einzige, der Licht in die Geschichte bringen wird! . . .
Da plötzlich sieht der Kutscher auf seine Stiefel hinunter. Mit Entsetzen bemerkt er jetzt auf dem Rist einen großen, rotbraunen, von erstarrtem Blut herrührenden Fleck.
Jetzt erst fällt ihm ein: Wenn sie den anderen nicht erwischen! Und nun erst sieht er die ganze Vermessenheit seines Witzes von früher . . . Dem großen Kerl treten plötzlich Tränen in die Augen. Er will dem Kommissär doch noch schnell sagen, daß das ganze nur ein unglaublich blöder Witz war, aber in der Kehle sitzt ihm eine dicke Kugel. Kaum aufatmen kann der Freißler. Der aufgeregte Kommissär neben ihm entwirft indes schon seine Aussage: ›Unter Zeichen sichtbarer Erregung legte der Inkulpat während der Eskorte folgendes Geständnis ab:‹
Der Vorsitzende drängt sein Resumee in ein paar Schlußsätze: »Fassen Sie alle Umstände zusammen. Einen eigentlichen Tatzeugen haben wir allerdings nicht. Hingegen ist durch die Aussagen der Wachleute erwiesen, daß sich der Angeklagte an jenem Abend in der kritischen Gegend bewegt hat, und zwar stundenlang und ohne irgendwie erklärliche Begründung. Fassen Sie ins Auge, daß er sich in großer Notlage befand und im Besitz der Ermordeten mit Sicherheit größere Geldmittel und Schmuck vermuten durfte. Bedenken Sie endlich, daß sogar auf seinen Schuhen Blutspuren gefunden wurden, deren chemische Untersuchung genau dieselben Resultate ergeben hat wie die Untersuchung der Blutlachen am Tatort, am Kanal. Uebrigens hat auch der große oder eigentlich der kleine Unbekannte, den der Angeklagte als den Mörder bezeichnet, genagelte Röhrenstiefel getragen. Merkwürdigerweise haben die Fußspuren vom Tatort gerade zur Wohnung Freißlers geführt. Erwägen Sie ferner, daß der Angeklagte selbst zugibt, Zeuge des Mordes gewesen zu sein, daß er es aber unterließ, eine Anzeige zu erstatten, und würdigen Sie vor allem das Wichtigste, das Geständnis des Angeklagten, das er sofort nach seiner Arretierung, wie aus der Aussage von sechs Zeugen hervorgeht, abgelegt hat, ein spontanes, ganz ungezwungen abgelegtes Geständnis, das der Angeklagte später allerdings wieder zurückgezogen hat, mit der Erklärung, er habe nur das Bedürfnis gehabt, sich mit den Behörden einen Witz zu erlauben. Ich überlasse es nun Ihrem Ermessen, zu entscheiden, ob es wahrscheinlich ist, daß ein Mensch in so verzwickter, gefährdeter Situation Freude an derlei riskanten »Foppereien« (das Wort sprach der Präsident ironisch aus) haben kann.«
Der Kutscher Ignaz Freißler wurde natürlich schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Weil Mörder, die nicht durch Tatzeugen überwiesen sind, gewöhnlich nicht gehängt werden, ist er zu lebenslänglichem Kerker begnadigt worden.