Stefan Großmann
Herzliche Grüße
Stefan Großmann

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Ideale

Der Advokat Dr. Metzner hatte das Prinzip, mit allen Gerichtspersonen, vom Präsidenten angefangen bis hinab zum letzten Schreiber, in eine persönliche Beziehung zu treten. Er hatte nicht viel Methoden zu diesem Zwecke, ein paar Fragen für die jeweiligen Jahreszeiten genügten ihm schon. »Ja, die Feiertage stehen vor der Tür«, pflegte er bei Gerichtsverhandlungen im Dezember zum Staatsanwalt zu sagen, während der Gerichtshof über das Urteil beriet. Begegnete ihm im Februar ein junger Gerichtsbeamter auf dem Korridor, so stellte er stets die liebenswürdige Frage: »Angenehmer Fasching heuer?« Im April pflegte er zu sagen: »Gott sei Dank, der Frühling steht vor der Tür.« Vom Mai bis in den Oktober dienten ihm der Sommer, Sommerreisen, Sommerurlaub, Sommerfrische zum Anknüpfungspunkt. Es ist gut, dachte er, wenn man einen sozusagen rein menschlichen Kontakt mit den Richtern hergestellt hat. – Und nicht nur mit den Richtern, auch mit den Kanzleibeamten der Gerichte, die ja schließlich auch oft ein Wort dreinzureden haben bei den Ausschreibungen der Verhandlungen, bei der Akteneinsicht, bei der Protokollverfassung usw.

Ein alter Bekannter des Advokaten Metzner ist der Gerichtskanzlist Schönbauer. Der Advokat hat jedes Jahr zehn-, zwölfmal beim Landesgericht zu tun und immer hält er mit dem Kanzlisten ein kleines Gespräch.

»Nun, Herr Schönbauer,« fragte er den Kanzlisten einmal im April, »wir sind schon mitten im Frühling. Voriges Jahr haben Sie ja gar keinen Urlaub gehabt! Was werden Sie denn heuer tun?«

Der Kanzlist ist ein bißchen beschämt, weil er voriges Jahr solche Geldnöten hatte, daß er seinen vorschriftsmäßigen Urlaub gar nicht brauchen konnte. Aber heuer!

»Wissen Sie, was ich mir für dieses Jahr vorgenommen habe? Für unsereinen ist es ja schwer, Ferienreisen zu machen. Man hat seine Familie, eine Frau, drei Kinder, die in die Schule gehen. Da kommt die Fahrt sehr teuer. Heuer, wissen Sie, was ich heuer tue? Heuer übersiedle ich gleich anfangs Mai mit meiner Familie in die Umgebung von Wien. Da nehm' ich mir im Kahlenbergerdörfel eine kleine Wohnung mit Küche. In der Früh marschiere ich mit den Kindern täglich herein, das ist sehr gesund, abends um sechs Uhr kann ich draußen sein. Da setze ich mich in den Garten oder gehe bergaufwärts im Walde spazieren. Da habe ich dann ganz Wien unter mir liegen . . . Aber eine Kegelbahn muß dabei sein! Es geht nichts über eine gemütliche Kegelpartie an einem schönen Sommerabend. Glauben Sie mir's, wenn ich mich nur daran erinnere an dieses freundliche Donnergeräusch von umfallenden Kegelfiguren, wird mir schon wohler . . .«

»Gewiß,« beeilte sich der Advokat ihn zu unterbrechen, »in der Nähe von Wien ist der angenehmste Sommeraufenthalt . . . Apropos, wann wird denn endlich die Verhandlung im Prozeß Zwirzina angesetzt werden?«


Im Juni war die Verhandlung über den Fall Zwirzina noch nicht angesetzt, der Advokat Metzner erkundigte sich hierüber, als er eines Tages an der Kanzlei des Landesgerichtes vorbeikam. Er drückte dem Kanzlisten Schönbauer, als er ihn sah, herzlichst die Hand und fragte ihn voll Interesse, wie es sich denn draußen im Kahlenbergerdörfel wohne?

»Das war ein verfehlter Plan,« erklärte der Kanzlist entschieden, »es sind nur lauter große Wohnungen dort zu kriegen. Und nirgends ein hübscher Garten. Dabei hat man den ganzen Lärm der Großstadt unter sich und die vielen Wirtshäuser für die Wiener Ausflügler. Das ist keine Ruhe, das ist keine Erholung. Den ganzen Abend das Singen und Dudeln fremder Leute, ja sogar das Kegelspielen. Sie wissen, ich bin ein Freund davon – wenn man es aber bis Mitternacht anhören muß, ist es einem doch zuwider. Nein, ich gehe im Juli mit meiner Familie auf drei Wochen nach Oberösterreich. An einen der kleinen Seen. Da wohnen wir zu Spottpreisen in einem Bauernhaus, haben den See vor uns, wo die Kinder baden und schwimmen und rudern können. Ein größeres Wasser gehört zum Sommeraufenthalt. In drei Wochen können sich die Kinder da besser erholen als während eines Jahres im Kahlenbergerdörfel. Nicht?«

»O gewiß,« erwiderte der Advokat etwas ungeduldig, »aber ich habe in fünf Minuten eine Verhandlung. Ich wollte Sie im Vorbeigehen nur fragen, wann denn endlich der Fall Zwirzina verhandelt wird?«


Im August fand die Verhandlung gegen Zwirzina statt. Der Advokat gewann den Prozeß, vergaß aber, sein Kostenverzeichnis beizulegen, und mußte deshalb nach der Verhandlung in die Kanzlei gehen, um es dort nachträglich zu deponieren.

»Wie?« rief der Advokat gleich beim Eintreten, »Herr Schönbauer, Sie sind in Wien?«

»Meine Frau ist krank geworden«, sagte der Gerichtskanzlist etwas verlegen.

»Wie schade!« erwiderte der Advokat. »Ich komme übrigens nur her, weil ich das Kostenverzeichnis in den Akt Zwirzina zu legen vergessen habe. Nicht wahr, Sie tun mir die Gefälligkeit und legen es ein? Ja? Schön. Danke. Und was ist's mit dem Rest des Sommers? Sie werden doch nicht ganz hier bleiben?«

»O nein,« antwortete Schönbauer, »ich habe vor, anfangs September mit meinem ältesten Buben eine Fußtour nach Tirol zu machen. Ist das nicht eine glorreiche Idee? Aufrichtig gesagt, die Krankheit meiner Frau hat mich schon etwas zu viel gekostet, da kann ich nur den einen Buben mitnehmen. Aber . . . Gehen, Gehen ist das Allergesündeste für mich! Bitt' Sie, wenn man so das ganze Jahr im Bureau zwischen Akten und Protokollen hockt. Aber jetzt, im Herbstanfang durch die Tiroler Berge zu marschieren, durch die gelben und roten Wälder, jetzt, im September! Es ist auch nicht mehr heiß. Und was braucht man denn auf so einer Tour durchs Stubaital? Da schläft man im Dorfwirtshaus, trinkt Milch und ißt Obst. Einen Pappenstiel wird mich das kosten! Die Bahnfahrt krieg ich ja ermäßigt!«

»Viel Glück auf die Reise, und bitte, vergessen Sie auch mein Kostenverzeichnis nicht!« sagte der Advokat sehr herzlich und empfahl sich.


Der Fall Zwirzina war erledigt. Nun verreiste der Advokat, kam erst im Oktober zurück, aber erst im Winter, im November, hatte er wieder im Landesgericht zu tun.

Der Gerichtskanzlist Schönbauer begegnete ihm dort, grüßte ihn, blieb aber bei ihm nicht stehen. Was hat er, dachte der Advokat, der auf die Aufrechthaltung aller seiner Beziehungen Gewicht legte. Er folgte ihm in die Kanzlei.

»Jetzt haben wir uns lange nicht gesehen,« sagte der Advokat nach der Begrüßung; »na, wie ist damals die Tiroler Fußtour verlaufen?«

»Was?«

»Die Fußtour, die Sie im September mit Ihrem Sohn machen . . .«

Etwas wortkarg erwiderte der Kanzlist: »Ach, die ist zu Wasser geworden. Ich habe eine Nebenbeschäftigung für die Abende bekommen und die mußte ich gleich antreten.«

»Es hat ohnedies fortwährend geregnet«, sagte der Advokat zuvorkommend.

Der Kanzlist taute ein bißchen auf: »Das war überhaupt eine närrische Idee von mir. Marschieren? Ich?! Marschieren?! Ich werde schon müde, wenn ich in der Früh die Viertelstunde ins Bureau gehen muß. Das hat mir damals mein Bub eingeredet, aber ich hab' mich rechtzeitig besonnen: dazu bin ich nicht mehr jung genug. Ich kann auch nicht mehr in diesen Dorfwirtshäusern auf Stroh schlafen, ich kann nicht stundenlang aufs Mittagessen warten und überhaupt, ich bin schon viel zu kaput für solche Sachen . . .«

Der Advokat nickte zustimmend: »Ja, das ist nichts mehr für uns!«

Da taute der Kanzlist noch mehr auf und sagte: »Wissen Sie, ich bin ja ein Naturfreund; in der Stadt ist's ja gräßlich! Aber ich hab' mir vorgenommen, heuer, wenn der Winter zu Ende ist, wird endlich ein alter Plan von mir durchgeführt. Gleich anfangs Mai wird aufs Land gegangen, und zwar in die Nähe von Wien. Heuer will ich das endlich durchführen. Für unsereinen ist es ja unmöglich, weite Ferienreisen zu machen, da kommt die Fahrt gleich zu teuer. Aber schon im Winter werde ich mich genau umschauen, ob es nicht da am Kahlenberg doch irgend eine billige kleine Wohnung gibt. Da kann die Frau draußen die Wirtschaft führen; das kommt nicht teuer und da kann ich jeden Abend hinausfahren, setze mich in meinen Garten oder spiele Kegel . . .«

Der Advokat, der auf die Aufrechterhaltung aller seiner Beziehungen Gewicht legte, hütete sich, den Kanzlisten zu unterbrechen.


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